Frau Venus und die klare Brühe

 

Tannhäuser kann nicht mehr. Zu viel! Zu viel! Er muss fliehen. Er hat die Nase voll. Es verlangt ihn nach des Waldes Lüften. Nach etwas Frischem. Im Venusberg sind die ros’gen Düfte verflogen. Es verbreitet sich Küchendunst – der Feind von Erotik, Lust und Begehren. Noch schaut Venus ungläubig drein. Ist sie überrascht, oder tut sie nur so? Ist sie mit ihrem Zauber am Ende? Ist es wirklich schon so weit, dass Liebe durch den Magen geht? Wie dem auch sei. Jedenfalls hat sie vorsorglich im Rücken ihrer mit rosenumrankten Recamiere ein Fass mit Fleischextrakt platzieren lassen. Daraus kann mancher Liter Boullion hergestellt werden.

Klare Brühe statt Liebestrank – Liebigs Sicht auf den „Tannhäuser“/ OBA

Man weiß ja nie. Schon ein halber Teelöffel reicht, um ein Gericht für vier Personen anzureichern. Sie sind aber nur zu zweit. Amor, diese halbe Portion, ist frech auf das Gefäß geklettert und bringt den berühmten Bogen in Anschlag. Er zählt ja nicht. Denn er kommt in der Oper gar nicht vor. Die Mythologie ist umgeschrieben worden für diese Szene. Wo sind wir eigentlich? Keine Bange. So weit geht selbst das Regietheater noch nicht. Es ist der Versuch, ein Liebig-Bild aus der Tannhäuser-Serie zu beschreiben.

Diese CD-Rom ist eine Fundgrube für Liebig-Bilder. Sie ist derzeit nur antiquarisch erhältlich.

Diese CD-Rom ist eine Fundgrube für Liebig-Bilder. Sie ist derzeit nur antiquarisch erhältlich.

Diese bunten Bilder gibt es seit 1875. Sie dienen der Werbung für den berühmten Fleischextrakt, einer Erfindung des deutschen Chemikers Justus von Liebig (1803-1873). Er hatte das Verfahren Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Dabei wird kochendes Rindfleisch so weit eingedampft, dass nur noch das Konzentrat übrig bleibt. Im umgekehrten Verfahren kann es wieder in Brühe zurückverwandelt werden und dient auch dazu, Speisen zu würzen und zu verfeinern. Von 1864 an wurde der Extrakt – nicht zu verwechseln mit gekörnter Brühe – industriell hergestellt und verbreitete sich von Antwerpen aus in viele Länder. Noch heute wird er nach dem ursprünglichen Verfahren produziert, wie eh und je nicht eben preiswert. Der anhaltende Erfolg des beliebten Produkts beruht nicht zuletzt auf einer beispiellosen Werbekampagne, die in ihren Grundzügen die Werbeindustrie bis in unsere Tage vorwegnimmt. Ihr Kern waren die Bilderserien, die es beim Einkauf kostenlos dazu gab. Für Liebig selbst fiel fast nichts ab. Er verfügte lediglich über hundert Aktien und das Recht, sein Produkt auf seine Qualität zu überprüfen. Insgesamt sollen 1870 Serien mit etwa 11500 Bildern in 12 Sprachen erschienen sein, wobei diese Angaben schwanken.

Eines der seltenen Bilder ohne Fleischextrakt: die Überreichung der silbernen Rose im "Rosenkavalier"

Eines der seltenen Bilder ohne Fleischextrakt: die Überreichung der silbernen Rose im „Rosenkavalier“.

Ihren Höhepunkt erreichten die Serien vor dem Ersten Weltkrieg, versanken danach in völliger Bedeutungslosigkeit und erholten sich von 1925 an, ohne aber den ursprünglichen Verbreitungsgrad wieder zu erlangen. 1940 war in Deutschland Schluss, in Belgien 1962 und in Italien 1975. Oft ist das Behältnis mit dem Fleischextrakt mit übertriebenen Proportionen in eine auf vielen Bildern dargestellte Handlung einbezogen. Wenn sich dafür keine Gelegenheit bietet, tritt das Töpfchen in einer Ecke etwas ausgespart in Erscheinung. Fehlen tut es nur ganz selten wie etwas auf den Bildern zum Rosenkavalier von Richard Strauss. Nie sind die Bilder signiert. Die Grafiker waren angestellt und arbeiteten quasi im Akkord. Eine Serie umfasst sechs farbige Bilder sowohl im Hoch- als auch im Querformat. Eine DVD-Rom mit den Serien ist in der Zeno.org-Reihe im Verlag Direkctmedia Publishing erschienen.

1-Siegfriedidyll Liebig

Richard Wagner bringt seiner Frau Cosima das „Siegfried-Idyll“ als Geburtstagsständchen dar.

Richard Wagner, selber ein Gourmet, war ein gefundenes Fressen für die Fleischextrakt-Werbung. In seinen Opern spielen Getränke und Speisen eine nicht unwichtige Rolle. So ist es nicht verwunderlich, dass seine Person und sein Werk am häufigsten vertreten sind in der musikalischen Abteilung der Serien. Dabei war der Meister selbst oft auf Diät und schmale Kost gesetzt, weil ihn bis zum Schluss Verdauungsbeschwerden und Unterleibskrämpfe plagten. Die Lust am Bier soll dadurch nicht beeinträchtigt worden sein. Er und Frau Cosima schätzten Weizenbier, an dem in Bayreuth – die Region hat die größte Brauereidichte in Bayern – schon zu ihrer Zeit kein Mangel gewesen ist. Kräftig eingeschenkt wird im Fliegenden Holländer. Wenigstens musikalisch findet das turbulente Hochzeitsfest in Lohengrin im Vorspiel zum dritten Aufzug rauschhaften Ausdruck. Über den Liebestrank in Tristan und Isolde ist alles gesagt. In den Meistersingern gilt‘s der Kunst. Hans Sachs lehnt gelegentlich seines Namenstages das freundliche Anerbieten des Lehrbuben David ab, den Kuchen oder die Wurst zu versuchen, die ihm Magdalene heimlich zugesteckt hat. Im Rheingold werden nur Äpfel gereicht, die Wotan zum Ende hin nicht mehr anrührt. Nicht, weil sie nicht schmecken, sondern weil es der Handlungverlauf so will. In der Walküre muss Sieglinde den Männern das Mahl rüsten und ihrem wenig geliebten Ehemann Hunding den Nachttrunk reichen, den sie aus gutem Grund mit einem gehörigen Schuss Betäubungsmittel würzt. Statt ein Schwert zu schmieden, betätigt sich Zwerg Mime in Siegfried als Koch und braut eine fiese Lorke zusammen, mit der er den Helden zur Strecke bringen will. Vergebens. Am häufigsten getrunken wird in der Götterdämmerung – nach den unterschiedlichsten Rezepturen, bei den verschiedensten Gelegenheiten und nicht immer zum Besten derer, die sich daran versuchen.

1-Meistersinger Liebig

Walter von Stolzing bringt im dritten Aufzug der „Meistersinger“ Glanz in die Schusterstube.

Trinken wird gefährlicher. Gutrune reicht dem Ankömmling Siegfried in der Halle der Gibichungen einen manipulieren Begrüßungstrunk mit der für ihn fatalen Wirkung, dass er Brünnhilde vergisst und dem Liebreiz der Tochter des Hauses verfällt. Wenig später begießen Siegfried und Hausherr Gunther ihre Brüderschaft mit frischem Wein, dem beider Blutstropfen beigemischt sind. Hagen stimmt die Mannen auf den Empfang der reingelegten Brünnhilde mit dem Versprechen einer rüstigen Zecherei ein – „bis der Rausch euch zähmt“. Im dritten Aufzug findet die Jagdgesellschaft schließlich ein kühles Plätzchen, wo gerastet und das Mahl gerüstet werden soll. Noch bevor dies geschieht, lässt Hagen die Schläuche bieten mit den für Siegfried tragischen Folgen. In Parsifal ist die Kost – der heiligen Handlung entsprechend – nur noch symbolischer Natur. Das Brot ist der Leib, der Wein das Blut des Gekreuzigten. Wasser wird nicht getrunken. Es dient der Taufe. Schließlich tritt an die Stelle heil’ger Speisung gemeine Atzung. Kräuter und Wurzeln stehen auf dem Speiseplan des hinfällig geworden Gralsritters Gurnemanz. Aus den Wagnerschen Helden sind fundamentalistische Veganer geworden. Nix Fleischbrühe.

1-Turandot Liebig

Breite Treppe, lange Schleppe: Die prachtvoll ausgestattete Rätselszene in Puccinis „Turandot“.

Einen gehobenen künstlerischen Anspruch wollten die Liebig-Bilder nicht erheben, trotz der gelegentlichen Ausflüge in die Kunst. Dafür die Themen zu simpel, zu naiv, zu verschlagen. Oft sind sie den praktischen Seiten des Lebens entlehnt. Der Alltag wird grundsätzlich verklärt. Dabei spielen Kinder in allen Lebenslagen eine große Rolle – unter dem Weihnachtsbaum, vor dem Aquarium, auf dem Schaukelpferd, bei der Dressur von Hunden – aber auch schon mal beim Kriegsspiel. Hübsch herausgeputzte Mädchen und Knaben vermitteln in ihrer Unschuld selbst für Fleischbrühe eine positive Botschaft, obwohl sie eher Kakao trinken würden. Diese Kinder sind niemals arm und abgerissen. Liebigs Welt ist heil und gut situiert. Als Volksbildung sind ganze Serien über Tiere, Pflanzen, Bäume, Städte, Bauten, Verkehr, Sternbilder, Geflügel, Käse, Märchen, Schiffe oder historische Anlässe angelegt. Nicht selten sind imperiale Absichten zu erkennen, wenn nämlich die Kolonien der europäischen Mächte zu Themen werden und die Ureinwohner nach Art einer Völkerschau, wie sie bis in die 1940er Jahre stattfanden, in Szene gesetzt werden.

1-Stumme von Porrtici

„Den Buben, nenn ihn mir!“ Der Fischer Masaniello bedrängt seine Schwester in „Die Stumme von Portici“.

Richard Wagner ist der Komponist, der am häufigsten thematisiert worden ist. Er passt in die Zeit und ist deren vollkommenster Ausdruck, wie es Thomas Mann ausdrückte. Die ersten Bayreuther Festspiele und die Premiere der Bilder-Serien fallen zeitlich zusammen. Neben Tannhäuser haben auch Lohengrin, Die Meistersinger von Nürnberg, Die Walküre und Parsifal ihre eigenen Serien. Gestalten aus anderen Opern des so genannten Bayreuther Kanons treten in den zusammenfassenden Editionen „Frauengestalten“ und „Männergestalten“ sowie in markanten „Szenen aus Wagner-Opern“ auf. Es versteht sich, dass der Meister auch in einer Zusammenstellung „Berühmter Componisten“ neben Bach, Beethoven, Mozart, Verdi und Rossini, der gern kochte, nicht fehlt. Darüber hinaus sind in einer weiteren Folge sechs Stationen im Leben Wagners nachgestellt, die auf das eine große Ziel hinaus laufen: Bayreuth, wo ihm der deutsche Kaiser huldvoll die Hand schüttelt.

1- Liebig Othello

Der vor Eifersucht rasende rasende Otello wirft in Verdis Oper Jago zu Boden.

Zu solchen biographischen Ehren kommen auch Giuseppe Verdi, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Ludwig van Beethoven und Christoph Willibald Gluck. Verdis Aufstieg zum berühmtesten Komponisten Italiens beginnt in seiner Bilderfolge rührend an der Orgel seines Geburtsortest Le Roncole. Der Elfjährige greift mit dem Blick nach oben in die Tasten, als würde er seinen Segen vom lieben Gott höchst persönlich empfangen. Verdi widmete sich fortan mit Feuereifer der Musik. Welche Freude empfand er, als er schon mit 11 Jahren zum Organisten seines Heimatortes erwählt wurde. War neben der Würdigung seiner Tüchtigkeit damit doch ein Jahresverdienst von 36 Lire verknüpft! – Um diese Zeit lenkte Verdi die Aufmerksamkeit des angesehenen Kaufmannes Barezzi aus Busseto auf sich, der Konzerte einer musikalischen Gesellschaft dirigierte. Dieser nahm sich des strebsamen Knaben an und gab ihm zunächst eine Anstellung in seinem Handelsgeschäft, aber lediglich zum Schein, denn Verdi durfte sich währenddessen der Musik widmen so viel er wollte; damals machte er auch die ersten Versuche, selbst zu komponieren.

1-Freischütz Liebig

„Schieß nicht, Max, ich bin die Taube!“ Agathes dramatischer Auftritt am Schluss des „Freischütz“.

Und über den kleinen Wolfgang Amadeus ist zu lesen: Im Herbste 1762 unternahm Mozarts Vater mit seinem Söhnchen und der um 4 Jahre älteren Schwester Nannerl eine Kunstreise, um die Welt auf die begabten Kinder aufmerksam zu machen, denn auch Nannerl war trotz ihrer 10 Jahre eine vollendete Klavierkünstlerin. Die Kinder erweckten durch ihr Spiel überall höchste Bewunderung, besonders der sechsjährige Knabe, der auch durch sein drolliges Wesen überall die Herzen gewann. Die Kaiserin Maria Theresia nahm ihn auf den Schoß, herzte und küsste ihn. Solcher Art sind die Erklärungen, mit denen die allermeisten Bilder auf der Rückseite versehen sind. Wenngleich die Erklärungen sehr populär gehalten sind, vermitteln sie stets klare Informationen, so konzentriert wie der Extrakt. Die Opern La Traviata, Der Troubadour und Othello waren den Herausgebern noch eigenständige Serie Wert genauso wie Die Hochzeit des Figaro, Don Juan und Die Zauberflöte von Mozart. Titel werden in deutscher Übersetzung wiedergegeben.

Offiziere zücken während einer Aufführung von Glucks "Iphigenie in Aulis" ihre Degen

Offiziere zücken während einer Aufführung von Glucks „Iphigenie in Aulis“ ihre Degen.

Obwohl keine von Glucks Opern im Einzelnen gewürdigt wird, gewährt seine biographische Bilderserie auch einen Blick in ein nicht näher bezeichnetes Opernhaus: Offiziere ziehen begeistert ihre Degen bei der Aufführung der Iphigenie in Aulis. Glucks bisherige Opern waren ganz im herkömmlichen Stil der damaligen italienischen Schule gehalten. Sie wurden daher auch von den Zeitgenossen sehr beifällig aufgenommen, und der Papst verlieh dem Verfasser sogar den Orden vom goldenen Sporn. Allmählich aber trat ein Wandel in den Kunstanschauungen Glucks ein und er trachtete nunmehr, die Oper von der Verflachung zu befreien, in die sie nach und nach geraten war. Da zu jener Zeit das dramatische Kunstinteresse zu Paris am lebhaftesten war, begab er sich dorthin, um seine Bestrebungen zur Geltung zu bringen. Mit der ersten durchweg nach den neuen Prinzipien geschaffenen Oper »Iphigenie in Aulis« errang er einen ungeheuren Erfolg, doch dauerte es noch mehrere Jahre, ehe der Einfluss Piccinis und seiner Anhänger, der Hauptgegner der neuen Richtung, überwunden war. Mit Noten versehene Opernszenen sind erstmals 1884 verbreitet worden. Nur gestreift wird das Thema Operette mit einer Folge, in der Szenen aus beliebten Werken von Johann Strauß machgezeichnet sind.

1-Liebig Oberon

„Ozean, du Ungeheuer!“ Rezia in Webers Oper „Oberon“ am Gestade des Meeres (und das gibts auch in Französisch).

Welche Opern finden sich noch? Der Rosenkavalier war schon erwähnt. Mehr findet sich nicht zu Strauss. Dann Der Freischütz und Oberon von von Weber, Fidelio von Beethoven, Die Königin von Saba von Goldmark, Boris Godunow von Mussorgski, Wilhelm Tell von Rossini, Turandot von Puccini, Sappho von Pacini. Sappho? Wer heutzutage im Internet nach Bildmaterial über diese Oper und ihren Schöpfer Giovanni Pacini (1796-1867) sucht, stößt bald auf die Liebig-Serie, als hätte sie dazu beigetragen wollen, die Erinnerung an diesen italienischen Komponisten, der in der Hauptsache Opern schrieb, wachzuhalten.

Ernest Reyer ist in einer Serie über französische Komponisten dargestellt

Sogar Ernest Reyer gibt´s in einer Serie über französische Komponisten

Auffällig ist die starke Präsenz von Opern aus Frankreich, dem damals ungeliebten Nachbarland der Deutschen. Während das Schwert des 1875 im Teutoburger Wald eingeweihten Hermannsdenkmals drohend gegen Frankreich gerichtet wurde, öffnete sich auf den im selben Jahr in Serie gegangenen Liebig-Bildern im Laufe der Zeit der Vorhang für zwölf französische Musikdramen: Die Hugenotten, Die Afrikanerin und Robert der Teufel von Meyerbeer, Carmen von Bizet, Faust von Gounod, Hamlet und Mignon von Thomas, Die Stumme von Portici von Auber, Samson und Dalila von Saint-Saens Der Cid von Massenet sowie Faust’s Verdammung von Berlioz. Gounod, Thomas, Massenet, Saint-Saens, Halevy und Reyer sind dazu noch einer der Serie abgebildet, die französischen Komponisten gewidmet ist. Liebig-Bilder als völkerverbindend, als kulturelle Botschaften für Toleranz? Ein bisschen schon. Rüdiger Winter