Die 70er sind die neuen 50er. Nachdem die 1950er Jahre zweitweise die Bühnen beherrschten und alle Handlungen in die Rock and Roll-Ära verlegt wurden, sind nun die 70er Jahre dran. Zumindest in der Pelléas et Mélisande–Inszenierung des 40jährigen Benjamin Lazar, der Debussys Drame lyrique in Malmö herausbrachte, wozu die deutsche Übersetzung im Beiheft der DVD behauptet (BelAir BAC 144), „Die Malmöer Oper und ihr Direktor Bengt Hall haben uns im Jahr 2016 die Uraufführung von Pelléas und Mélisande in ihrem Haus anvertraut, also in den Räumen des Theaters, das Ingmar Bergmann von 1952 bis 1958 geleitet hatte“. Natürlich handelt es sich „nur“ um die Erstaufführung in dem Haus, in dem tatsächlich in den 1950er Jahren Schauspieler wie Ingrid Thulin und Max von Sydow unter Bergmann auftraten.
Bühnenbildnerin Adeline Caron ließ sich von Golauds Worten „Diesem Wald werde ich nicht mehr entkommen können“ anregen und schuf ein wandelbar helldunkles Waldbild, in das auch die Szenen in den Innenräumen von Schloss Allemonde, dessen Fenster und Einrichtungsgegenstände wie aus dem Nichts auftauchen, eingebettet sind. Lazars Inszenierung trifft auf starke Konkurrenz. Von Guth über Kosky, Sellars, Marelli, Katie Mitchell, Tcherniakov und Warlikowski haben sich Exegeten des geheimnisvollen Stücks angenommen, das an der Berliner Staatsoper auch noch in der inzwischen schon historischen Berghaus-Inszenierung existiert, in der Villazón im kommenden Jahr den Pelléas geben will. Neben den schönen, von Mael Iger höchst stimmungsvoll illuminierten Naturbildern, die geradezu zum Verweilen einladen, bringt Lazars hoch ästhetische Inszenierung keinen neuen Erkenntnisgewinn. Die Beziehung zwischen dem musterschülerhaften Pelléas, den Marc Mauillon, mit leichtem Bariton singt, von dem man sich fragt, was ihm ansonsten für Partien zufallen könnten – vermutlich ist der Pelléas eine Grenzpartie für ihn – und der süßen Mélisande von Jenny Daviet, der es im kurzen Röckchen und grünem Pollunder etwas an der unwirklichen Aura der Figur fehlt, hat er zärtlich wie eine erste Teenagerliebe ausgemalt. Aber auch zwischen den beiden Jungen und dem deutlich älteren, in seiner resignativen Zurückgezogenheit sympathischen Golaud, für den Laurent Alvaro einen grobkörnigen Bariton bereithält, ergeben sich nachvollziehbare Begegnungen. Das schüchtern scheue Zusammenspiel der drei mir bislang unbekannten Franzosen, die auch den Text mit exquisiter Prononciertheit gestalten, gelingt bemerkenswert subtil. Ein paar Stunden beim Vocalcoach hätten Emma Lyréns Geneviève und vor allem Stephen Bronks Arkel, dessen Bass-Bariton es auch an gravitätischer Würde fehlt, nicht geschadet. Schön, wie zärtlich Yniold (Julie Mathevet) am Ende Mélisandes Tochter aus dem Kinderwagen nimmt.
Selten war die Wagnernähe so deutlich zu spüren, und vielleicht dachte man deshalb bei diesem Wald mehrfach an Parsifal, wie bei Maxime Pascal, der Chor und Orchester der Malmö Opera mit Energie leitete. Gut denkbar, dass die Zuschauer in Malmö die Balance nicht so vorteilhaft erlebten und der spannungsreiche Orchesterklang die Sänger etwas überdeckte. Rolf Fath