Archiv für den Monat: November 2022

Grossräumig und zeremoniell

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Anders als das Stabat Mater und die Petite Messe Solennelle, den beiden viel aufgeführten geistlichen Werken aus Rossinis später und sehr später Phase, nachdem er sich längst von der Bühne zurückgezogen hatte, war seine Messa di Gloria, das einzige geistliche Werk aus seiner Zeit als aktiver Opernkomponist, eineinhalb Jahrhunderte lang in Vergessenheit geraten. Als Antonio Pappano als Musikdirektor von Chor und Orchester der Accademia Nazionale di Santa Cecilia im Januar 2022 die Messa di Gloria auf das Programm setzte und mit seiner Aufnahme (Warner Classics 5054197234521) in Konkurrenz zu Neville Marriners Großtat von 1992 (mit Jo, Murray, Gimenez, Araiza und Raimondi) trat, handelte es sich beispielsweise um die erste in Rom seit 30 Jahren.

Erstmals erklang die von der Erzbrüderschaft von San Luigi in Auftrag gegebene neunteilige Messa di Gloria mit der Vertonung der Texte des „Kyrie“ und des „Gloria“ am 24. März 1820 in der Chiesa di San Ferdinando in Neapel. „Das Gratias wurde für jene Art von Stimme geschrieben, die wir mit Giovanni David verbinden, von hoher Tessitur und großer Flexibilität. Das Qui tollis dagegen erfordert eine kraftvollere Stimme von tiefer reichendem Umfang, die mühelos extreme Sprünge bewältigt und dem Vokalstil in den für Andrea Nozzari geschriebenen Partien ähnelt“, resümierte Philip Gossett. „Dass sowohl David als auch Nozzari am 19. März 1820 im Teatro San Carlo in Pietro Raimondis Ciro in Babilonia auftraten, lässt den Schluss zu, dass sie wahrscheinlich auch an der Erstaufführung von Rossinis Messa di Gloria mitwirkten“. In Pappanos exquisitem Ensemble singen zwei der großen Rossini-Tenöre unserer Zeit, Lawrence Brownlee bzw. Michael Spyres, diese Abschnitte. Brownlee mit süßem einheitlichem Ton das „Gratias agimus tibi“, Spyres virtuos im extremen, sehr dramatischen und in einer Cabaletta opernhaft gipfelnden „Qui tollis“, betörend beider von den „Kyrie“-Chören umrahmtes Duett („Christe, eleison“). Kaum weniger eindrucksvoll der sicher schwebende und doch volle Ton der musikalischen Eleonora Buratto in der zweiteiligen Arie „Laudamus te“, dazu die feste Bass-Linie von Carlo Lepore im Solo „Quoniam tu“ und die prägnante Teresa Iervolino im „Domine Deus“-Terzett mit Sopran und Bass. Überragend der Chor, der vom kraftvollen „Kyrie“ bis zum abschließenden „Cum Sancto Spirtu“ nachdrücklich die theatralische Wucht des Werkes unterstreicht. Ebenso ausgezeichnet das Orchestra dell’accademia Nazionale di Santa Cecilia, das nicht nur die zahlreichen mit obligaten Instrumenten ausgezierten Passagen, wirkungsvoll einstreut. Pappano breitet das liturgische Gewicht der reizvollen einstündigen Messa aus Rossinis aufregender Opernphase in Neapel breit und zeremoniell aus.  Rolf Fath

Hommage an John Neumeier

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Mit einem prachtvollen Bildband würdigt der Henschel Verlag das 50jährige Jubiläum von John Neumeier und dem Hamburg Ballett. Der Untertitel „Bilder einer Ära“ sagt viel aus über die luxuriöse Veröffentlichung, die auf 256 Seiten nicht weniger als 330 Schwarz/Weiß- und Farbabbildungen enthält. Darunter befinden sich viele erstmals veröffentlichte Fotodokumente, welche die Bedeutung des Buches ausmachen und seinen Wert noch erhöhen. Nicht zuletzt trägt das elegante Design von Kiran West dazu bei, dass sich der Band auch optisch ansprechend präsentiert und man ihn gern in die Hand nimmt. Der ehemalige Tänzer der Compagnie hat sich nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn der Fotografie zugewandt und betreut seit einigen Jahren die Produktionen des Ensembles fotografisch. So finden sich von ihm viele Zeugnisse der Geschichte des Hamburg Ballett neben jenen von Holger Badekow, der über Jahrzehnte dessen Haus- und Starfotograf war und 1993 die Veröffentlichung im Hans  Christians Verlag Zwanzig Jahre John Neumeier und das Hamburg Ballett mit seinen Fotos ausstattete.

„Bilder einer Ära“ im Henschel Verlag/Kiran West

Das Buch ist aufgeteilt in fünf Dekaden. In jeder werden die Neuinszenierungen dieses Zeitraumes in einer Fotoserie vorgestellt. Darüber hinaus gibt es in jedem Kapitel Statements des Ballettintendanten und prominenten Begleitern seiner Laufbahn. Im ersten ist es Marianne Kruuse, langjährige Erste Solistin der Compagnie, die viele von Neumeiers Partien kreierte – 1973 die Chloë, 1974 die Juliet und die Marie im Nussknacker, 1977 die Ophelie in Der Fall Hamlet, 1978 die Aurora in Dornröschen. Ähnlich prominent und bedeutend war Gigi Hayatt, die im dritten Kapitel zu Wort kommt. Für sie schuf Neumeier unvergessliche Porträts wie die Desdemona in Othello (1985), die Solveig in Peer Gynt (1989) sowie Soloauftritte in Einhorn (1986), Magnificat (1989), Soldatenlieder (1989), Fenster zu Mozart (1991), Spring and Fall (1991), On the Town (1991) und A Cinderella Story (1991). Noch 1996 wirkte sie in der Uraufführung von Vivaldi oder Was ihr wollt als Viola mit. Hier hätte man sich auch Beiträge von Alina Cojocaru, Alessandra Ferri, Marcia Haydée, Ivan Liska. Kevin Haigen, Jirí und Otto Bubenicek, Lloyd Riggins und weiteren verdienstvollen und unvergessenen Künstlern der Compagnie vorstellen können und gewünscht.

Zu Wort kommen auch zwei Persönlichkeiten, die sich engagierten, Neumeiers Werk auf andere Bühnen zu übertragen – Vladimir Urin, Intendant des Bolshoi Theaters Moskau, der dort  Die kleine Meerjungfrau, Tatjana, Die Kameliendame und Anna Karenina zeigte, und Brigitte Lefèvre, Directrice du Ballet de l’Opéra de Paris von 1995 – 2014, die Neumeier sogar für Uraufführungen in der französischen Hauptstadt verpflichtete (wie Sylvia von Delibes), darüber hinaus mehrere seiner Kreationen (so Die Kameliendame) in der Opéra Garnier und Opéra Bastille präsentierte. Der Dirigent Kent Nagano hat sich neben seinen Opernverpflichtungen als Generalmusikdirektor der Staatsoper Hamburg mehrfach auch für Neumeiers Ballettschöpfungen eingesetzt und sie musikalisch betreut, so Turangalila und das Beethoven-Projekt II. Daher wird ihm im letzten Kapitel Gelegenheit gegeben, sich über seine Wertschätzung des Choreografen zu äußern.

„Bilder einer Ära“ im Henschel Verlag/Kiran West

In jeder Dekade gibt es zudem von John Neumeier ausgewählte und kommentierte Highlights, in denen er an Großereignisse in Hamburg (wie die alljährlichen Ballett-Tage mit der abschließenden Nijinsky-Gala, die Gründung der Ballettschule des Hamburg Ballett und des Bundesjugendballetts und Gastverpflichtungen anderer Choreografen) sowie Gastspiele des Ensembles im In- und Ausland erinnert. Ein umfangreiches Register listet das Werk John Neumeiers auf und verzeichnet darüber hinaus die Gastspiele und Tourneen der Compagnie sowie deren Mitglieder. Jörn Rieckhoff, der die Projekt – und Redaktionsleitung der Ausgabe verantwortete, hat hier sehr sorgfältig recherchiert. Der repräsentative Bildband ist ein würdiger Nachfolger des 1980 erschienenen Buches Traumwege mit Fotos von Joachim Flügel und sollte in keiner Sammlung eines Ballettliebhabers fehlen (ISBN 978-3-89487-840-5). Bernd Hoppe

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Dazu auch die Information vom NDR: Das Königliche Ballett in Kopenhagen hat die Zusammenarbeit mit John Neumeier auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Grund sind Rassismusvorwürfe zu einer geplanten „Othello“-Inszenierung. Hamburgs Ballettchef wehrt sich gegen die Vorwürfe. An der geplanten „Othello“-Aufführung hatte es Kritik von Tänzerinnen und Tänzern der dänischen Compagnie gegeben. Es seien „rassistische Stereotype“ in der Inszenierung. Dabei ging es vor allem um die Darstellung Othellos in einer Traumszene. In dieser führt Othello, der Schwarze Feldherr aus dem gleichnamigen Shakespeare-Drama, einen afrikanischen Jagdtanz auf. Eine exotische Traumfigur ist dabei dunkelblau bemalt.

„Bilder einer Ära“ im Henschel Verlag/Kiran West

Die jungen Tänzerinnen und Tänzer fühlten sich damit unwohl. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung sagte Neumeier, er habe der Compagnie angeboten, das Kostüm zu ändern und auf die Körperbemalung zu verzichten, die Choreografie wollte er jedoch nicht anpassen. John Neumeier verteidigt sein Konzept und den dramaturgischen Zweck des „Wilden Kriegers“ im Kontext des Balletts. „Ich kann mir vorstellen, dass man diskutiert, ob man heutzutage einen Körper bemalt oder nicht“, sagt Neumeier im Gespräch mit Annette Matz von NDR 90,3. Er habe versucht, die Elemente eines afrikanischen Jagdtanzes in seiner Choreografie zu realisieren. Der „Wilde Krieger“ sei eine Heldenfigur. „Ich finde, wenn man etwas rassistisch intendiert hat, dann soll man es nicht machen. Aber wenn man etwas positiv damit ausdrücken möchte, ist es schwer für mich zu verstehen, warum das falsch ist“, so Neumeier.

Mit Ärger liest John Neumeier die Schlagzeilen in den Zeitungen. Manche Dinge seien einfach falsch: „Die ‚Bild‘-Zeitung schreibt, die Tänzer müssen Affengeräusche machen und sich auf den Kopf klopfen. Das existiert nicht in dieser Choreografie“, sagt Neumeier, der die Diskussion absurd findet. „Othello“ dauere über zwei Stunden und jetzt gehe es um eineinhalb Minuten. (Quelle NDR)

Von Feen und Zauberern

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Zauberoper. Unter diesem vielversprechenden Titel präsentieren Alpha und BR Klassik die neue CD von Konstantin Krimmel (Alpha 892). Zudem werden die Namen der Komponisten Mozart, Haydn und Salieri genannt. Der charismatische junge Bariton posiert auf dem Cover so, als sei er selbst ein Zauberer, der aus dem Dunkel heraustritt. Der Blick starr auf den Beschauer gerichtet. Beide Hände gegen Wände gestemmt, die es gar nicht zu geben scheint. Eine Stimmung wie von der guten alten Laterna magica beschworen. Fantastische Gewandung muss nicht sein. Geste ist alles. So trefflich die Neuerscheinung optisch ausgefallen ist, ihre Beschriftung verkauft ihren Inhalt etwas unter Wert. Nach den Highlights will gesucht sein. Und das lohnt sich allemal.

Am Beginn stehen vier Nummern aus dem 1790 uraufgeführten zweiteiligen Singspiel Der Stein der Weisen oder Die Zauberinsel. Schon mal gehört oder schon wieder vergessen? Auf mich trifft beides zu. Es wurde erst 1996 vom amerikanischen Musikwissenschaftler David J. Buch in der Musikabteilung der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek entdeckt. Zwei Jahre später legte der Dirigent Martin Pearlman mit dem von ihm gegründeten Boston-Baroque-Ensemble eine Aufnahme vor, die bei Telarc erschien. Aufführungen gab es 2001 in Augsburg, 2006 beim englischen Festival Garsington Opera und 2017 in Innsbruck. Für den 10. Dezember 2022 ist erneut eine Vorstellung in Augsburg geplant – und zwar im Parktheater des Kurhauses Göggingen. Musikalisch wird sie von der Hofkapelle München unter der Leitung von Rüdiger Lotter bestritten. Dieses Ensemble begleitet auch Krimmel auf seiner CD mit wunderbar federndem und durchsichtigem Klang.

Benedict Schack in dem Singspiel „Die Zween Anton.“ Schack in der Mitte, die Hand von der Sopranistin Josepha Hofer haltend/ Wikipedia

Die Ausgrabung des Werkes wurde seinerzeit schon deshalb als Sensation gefeiert, weil sich eine Verbindung zur Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart zeigt, die ein Jahr nach dem zweiteiligen Singspiel ebenfalls im Wiener Theater auf der Wieden uraufgeführt wurde. Nicht genug. Emanuel Schikaneder (1751-1812) verfasste für beide Stücke die Texte. An der Kompositionen des Singspiels waren neben Mozart drei Männer beteiligt, die – wie Schikaneder in der Rolle des Papageno – an der ersten Aufführung der Zauberflöte beteiligt gewesen sind: Benedict Schack (1758-1826) als Tamino, Franz Xaver Gerl (1764-1827) als Sarastro sowie Johann Baptist Henneberg (1768-1822), der die musikalische Einstudierung besorgte und die Oper von der dritten Aufführung an dirigierte. Drei junge Musiker also, die offenkundig sehr vielseitig ausgebildet waren, nicht nur singen oder dirigieren, sondern auch komponieren konnten. Vier weitere Künstler wirken in den Uraufführungen beider Werke mit, darunter Anna Gottlieb, die erste Pamina, die im Stein der Weisen die Nadine gab.

Nach der effektvollen Ouvertüre singt Krimmel drei Arien in zwei verschiedenen Rollen, die nicht gegensätzlicher sein können. Zweimal ist er der Waldaufseher Lubano, einmal Eutifronte, der Bruder des Halbgottes Astromonte, Herrscher von Arkadien, in dessen Landschaft das Stück zur Märchenzeit spielt. Lubano, der einerseits die strengen die Regeln im Tempel bricht, andererseits die ihm angetraute Lubanara von der Außenwelt eifersüchtig und misstrauisch abschirmt. Allein gelassen sehnt sie sich nach Freiheit, die ihr Eutifronte bringen soll, der als Geist unter der Erde wohnt. Es braucht zwanzig Szenen, um die verzwickte Geschichte auszubreiten. Eine Rolle spielt auch ein Vogel in einem prächtigen Käfig, den der Halbgott Astromonte schließlich als Zeichen vermeintlicher Güte auf einem Wolkenwagen zur Erde sendet. Mit diesem Symbol ergibt sich auch ein inhaltlicher Verweis auf die Zauberflöte, die mit Papagenos Arie „Der Vogelfänger bin ich ja“ ins Programm der CD aufgenommen wurde. Sie gelingt Krimmel genauso leicht wie die beiden vorangegangenen Auftritte als Waldaufseher. Männer aus dem Volk weiß er mit seinen reichen stimmlichen Möglichkeiten überzeugender zu gestalten als den Bruder eines Halbgottes.

Peter von Winter (1754-1825), Gemälde (1880), von Enrico Rossi (1858-1916)/ Wikipedia

Das gilt auch für den anderen liebenswürdigen Papageno in Der Zauberflöte zweyter Teil von Peter von Winter (1754-1825), dessen Arie „Nun adieu, ich reis, ihr Schätzen“ geboten wird. Er muss Prüfungen bestehen und findet sich vielen Versuchungen ausgesetzt. Seine Arie ist wie ein dreistrophiges Lied angelegt und baut auf einem Thema auf, dass sich auch dank Krimmels leichter Vortragsweise und der musikalischen Begleitung durch den Mann am Pult aufs Angenehmste mitteilt. Im Vergleich mit Mozarts Oper verliert sich deren Fortsetzung in einem verwinkelten Irrgarten, in dem sich sogar ein von Affen und Papageien bevölkerter ägyptischer Wald auftut, wo Papageno mit seiner Papagena ein gemütliches Fest feiern will. Monostatos aber versucht das traute Glück auf die Probe zu stellen, indem er Papageno gleich drei Mohrinnen für Liebensdienste anbietet. Nicht nur Goethe hatte sich an einer Fortsetzung der Zauberflöte versucht, sie aber nicht zum Abschluss gebracht. Sein Stück blieb auch deshalb unvollendet, weil sich kein Komponist fand. Schikaneder, der eine eigene Weiterführung seines bekanntesten Librettos schrieb, hatte mit Winter, mehr Glück. Der stand als Komponist und Kapellmeister weit über Deutschland hinaus in hohem Ansehen. Mit ihrer Zauberflöte hatten Mozart und Schikaneder einen Nerv der Zeit getroffen.

Joseph Noel Paton: „Titania et Oberon“, 1832/ Wikipedia

Da es noch kein verbindliches Urheberrecht gab, wurden Aufführungen auch mit Zutaten anderer Komponisten angereichert. Ein besonders markantes Beispiel für diesen freien Umgang mit dem Original ist die Aufführung 1801 in Paris unter dem neuen Titel Les Mystères d’Isisd. Der Komponist Ludwig Wenzel Lachnith und sein Librettist Étienne Morel de Chédeville hielten sich nur noch in groben Zügen an die ursprüngliche Handlung und nannten auch die Figuren um. Einen Beitrag dazu widmete operalounge in der Reihe Die vergessene Oper.

Mit Paul Wranitzky (1789-1808) tritt ein weiterer Zeitgenosse auf den Plan, der mit Mozart befreundet gewesen ist und wie dieser Freimaurer war. Seine Oper Oberon erfüllt alle Merkmale einer Zauberoper, in der reale Menschen auf Fabelwesen, Gespenster, Magiere oder wilde Tiere treffen. Fremdes und Exotisches schieben sich wie eine Kulisse vor das Geschehen. Am Ende aber siegt die Liebe über alle Gefahren und Prüfungen, denen sich handelnden Figuren ausgesetzt sehen. Erst Webers gleichnamige Oper verdrängte Wranitzkys Oberon von den Spielplänen. Sie wurde 1789 ebenfalls im Theater auf der Wieden mit großem Erfolg erstmals gegeben. Unter den Zuschauern soll auch Mozart gewesen sein. Den Hüon sang übrigens Schack, der bereits als einer der Komponisten vom Stein des Weisen Erwähnung fand, Franz Xaver Gerl, den Bassa von Tunis Almansor, womit sich wieder neue Verknüpfungen des CD-Programms ergeben.

Christoph Martin Wieland auf einem Gemälde von Kügelchan/ Wikipedia

Wie später Weber bediente sich auch der mährisch-österreichische Komponist bei Christoph Martin Wieland. Krimmel fährt mit zwei Rollen –Aristone und Scherasmin – wieder zweigleisig. Ein begeistertes Publikum fand bei der Uraufführung die Scherasmin-Arie „Einmal in meinem achten Jahr“. Sie setzt sich aus Traumerzählungen zusammen. Als ihm endlich „ein Weib wie Trojas Königin / Geschaffen zu der Liebe Freude“ erscheint, wird er durch „der wilden Katzen Teufelschor“ jäh in die Wirklichkeit zurückgeholt. „Miau, miau, miau hört nun mein Ohr.“ Die Nummer macht viel her und scheint wie geschaffen für einen Sänger, der seinen Vortrag auf der Bühne mit eigenen Zutaten und entsprechenden Grimassen würzen kann. Krimmel hat diese Möglichkeiten im Studio nicht. Er verzichtet auf Übertreibungen und hält sich an die musikalischen Vorgaben, weshalb der Erfolg der Szene bei der Premiere nicht ganz nachzuvollziehen ist. Der hintergründige Witz der Nummer ist mehr aus dem Orchester zu hören, wo die Violinen tatsächlich eine Art Katzenjammer anstellen.

Die große Bühne, nämlich das Wiener Burgtheater, tat sich 1785 für Antonio Salieris La Grotta di Trofonio auf. Den Bau an der Ringstraße, wie wir ihn heute kennen, gab es allerdings noch nicht. Gespielt wurde in einem ehemaligen Ballhaus mit 1200 Plätzen, das einen direkten Zugang von den kaiserlichen Gemächern in die Ehrenloge hatte. „Am 17. Februar 1776 erklärte Kaiser Joseph II. das Theater zum Teutschen Nationaltheater. Er war es auch, der per Dekret anordnete, dass die angesetzten Stücke keine traurigen Ereignisse behandeln sollten, um die kaiserlichen Zuschauer in keine schlechte Stimmung zu bringen. Viele Stücke mussten deswegen geändert und mit einem ,Wiener Schluss‘ (Happy End) versehen werden, beispielsweise Romeo und Julia oder Hamlet“, ist bei Wikipedia zu lesen. Salieri erfüllt mit seiner Oper diese Anforderung. Sie endet im Jubel mit einer Doppelhochzeit von Zwillingsschwestern. Doch bevor es so weit ist, müssen sie und ihre Bräutigams – ähnlich dem Geschehen in Mozarts Cosi fan tutte – herausfinden, ob sie wirklich zueinander passen. Dabei spielt der Zauberer Trofonio eine maßgebliche Rolle. Krimmel singt zwei Arien des um das Wohl seiner Töchter besorgten Vaters. Zusätzlich gibt es noch die dramatische Ouvertüre der Oper, die als eine der besten Schöpfungen von Salieri gilt. 2005 wurde sie mit Aufführungen unter der Leitung von Christophe Rousset in Lausanne und Poissy für den Theaterbetrieb wiederentdeckt. Der Dirigent besorgte im Folgejahr auch die erste CD-Einspielung (Ambroisie AMB 9986). Umso erfreulicher ist es, dem Werk mit wenigsten drei Nummern erneut zu begegnen.

Die von Erich Kleiber betreute szenische Uraufführung erfolgte am 9. Juni 1951 in Florenz im Teatro della Pergola mit Maria Callas als Euridice und dem dänischen Tenor Thyge Thygesen als Orfeo/ Wikipedia

Vertrautes Terrain betritt der Sänger Konstantin Krimmel mit Joseph Haydn. Dessen Opern Orfeo ed Euridice und Orlando Palladio sind durch diverse Einspielungen und Aufführungen bekannt geworden. Dirigenten wie Antal Dorati, Nicolaus Harnoncourt, Richard Bonynge, Tom Koopman oder Thomas Hengelbrock haben ihre Bedeutung erkannt. Orfeo, die letzte Oper des Komponisten, wurde schon 1950 komplett bei Vox eingespielt und 2011 von Music&Arts auf CD herausgegeben. Beteiligt waren Judith Hellwig und Herbert Handt in den Titelrollen sowie das Orchester der Wiener Staatsoper unter Hans Swarowsky. Dieses frühe Interesse der Plattenindustrie hat keine seiner anderen Opern gefunden. Warum? Die Uraufführung, die noch zu Lebzeiten Haydn für das King’s Teatre in London geplant war, zerschlug sich. Erst in den späten 1940er Jahren wurde aus dem überlieferten Material eine spielbare Fassung erarbeitet, die Swarowskys Studioproduktion ermöglichte.

Die von Erich Kleiber betreute szenische Uraufführung erfolgte am 9. Juni 1951 in Florenz im Teatro della Pergola mit Maria Callas als Euridice, dem dänischen Tenor Thyge Thygesen als Orfeo und Boris Christoff als Creonte (die RAI folgte 1958 mit Ornelia Fineschi und Francesco Albanese konzertant, und an das Dokument mit Joan Sutherland und Nicolai Gedda von 1967 sei erinnert). Verglichen mit der Gluck-Oper, deren Reigen seliger Geister das Finale der Krimmel-CD bildet, stirbt Euridice erst gegen Ende des zweiten Aktes. Es gibt eine Vorgesichte, in der auch ihr Vater Creonte, König von Theben, erscheint. Krimmel singt zwei seiner Arien. Obwohl anderweitig versprochen, liebt Euridice Orfeo und will mit ihm vermählt werden. Sein betörender Gesang lässt schließlich auch den König in diese Verbindung einwilligen. Von seiner Ergriffenheit und Milde lässt Krimmel einiges erahnen. Es klingt wie ein sehr junger Vater, dem die Gefühle seiner Tochter Euridice nicht fremd sind (06.11.2022). Rüdiger Winter

„Selige Öde auf wonniger Höh‘!“

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Meine erste Begegnung mit der Musik Richard Wagners verdanke ich dem Rheingold. Rudolf Kempe hatte 1959 für die Electrola in der Berliner Grunewaldkirche eine Szenenfolge dirigiert. Schon in Stereo. Die Sänger kamen aus dem Westen, das Orchester – die Staatskapelle Berlin – aus dem Osten der Stadt, die damals noch nicht durch die Mauer getrennt war. Aus Dresden stammend und in westlichen Musikmetropolen zu internationalem Ruhm gelangt, verkörperte der Dirigent beide Seiten Deutschlands und deren Zusammenhalt durch die Musik. Folglich wurde die Langspielplatte auch in beiden Landesteilen veröffentlicht, die Ost-Ausgabe zunächst nur in Mono und mit eigener Aufmachung bei Eterna. Soviel Unterschied musste sein. Rheingold. Der Titel hatte auf den Jüngling (mich) eine magische Anziehungskraft. Darunter vorstellen konnte er sich wenig. Einschlägige Bücher, die Aufklärung hätten schaffen können, waren im Elternhaus auf dem Lande in Thüringen oder in der bescheidenen Rathaus-Bücherei nicht vorrätig. Dafür ein Plattenspieler. Die Wellen brachen sich auch aus dem schlichten Lausprecher Bahn.

Erst nach Jahren wurde mir bewusst, dass das Vorspiel später einsetzte als im Original. Kein tiefes Es, aus dem die musikalischen Themen auf einzigartige Weise erst entstehen. Sie sind schon da. Bei mir reichte das, um für das Leben von dieser Musik regelrecht infiziert worden zu sein. Die einzelnen Szenen waren ohne Pause geschickt miteinander verbunden, so dass sie sich wie aus einem Guss anhörten. Noch heute habe ich diese Abfolge im Kopf und muss mir jedes Mal vergegenwärtigen, dass sich Erdas Warnung nicht nahtlos an Alberichs Fluch anschließt. So tief sitzt der frühe Eindruck.

Bald wusste ich es besser. Das Libretto war auch in der DDR aufzutreiben, für Pfennige in einem Antiquariat im nahegelegenen Jena. Dieses Reclam-Heft habe ich heute noch. Um mir die Texte einzuprägen, hätte ich es allerdings nicht gebraucht. Wagners Ring-Sprache lernt sich leicht. Zumal dann, wenn die Sänger so deutlich singen wie auf meiner Schallplatte, die inzwischen auch mehrfach als CD und in astreinem Stereo aufgelegt wurde. Jedes Wort ist zu verstehen. Keine Silbe wird verschluckt. Nichts geht unter im Orchester. Aus dieser Genauigkeit erwächst das inhaltliche und musikalische Verständnis in seinen Grundzügen ganz von allein. Wenngleich sich der Vortragstil über die Jahrzehnte verändert hat, die Notwendigkeit der inhaltlichen Verständlichkeit ist geblieben. Ich war „verdorben“. So perfekt sollte ich Wagner nur noch selten hören.

Mir gingen diese Dinge durch den Kopf, als ich mich in den Leitfaden zu Wagners Ring von Wolfgang Kau vertiefte, der bei Königshausen & Neumann erschienen ist. Für jeden Teil ein handliches Taschenbuch von 138 bis 172 Seiten: Das Rheingold (ISBN 978-3-8260-7657-2), Die Walküre (978-3-8260-7658-9), Siegfried (978-3-8260-7658-6), Götterdämmerung (978-3-8260-7660-2). Auf Fotos im Inneren der sparsam aber übersichtlich ausgestatten Bücher wurde verzichtet. Bühnenbilder auf der Rückseite der broschierten Bände – passend zu den jeweiligen Teilen – lassen gewisse Schlüsse auf den Ansatz des Autors, über den der Verlag keine Angaben macht, zu. Für Rheingold und Walküre gibt es Entwürfe zu den Schlussszenen von Helmut Jürgens für Aufführungen 1952 in München. Dabei handelte es sich um Neuinszenierungen des Regisseurs Heinz Arnold im Prinzregententheater, die musikalisch von Georg Solti geleitet wurde, jenem Dirigenten, der bei Decca alsbald die berühmteste aller Ring-Einspielungen vorlegen würde (und dessen Ring-Einspielung nach und nach gerade wieder in absolut exzellenter Qualität neu herausgegeben wird – ein Meilenstein in jeder Hinsicht!). Siegfried erschaut sein Antlitz im Wasser auf einer Illustration des Engländers Arthur Rackham von 1911. Für den Götterdämmerung-Band wurde mit dem brennenden Walhall wieder ein Bühnenbild gewählt. Der Entwurf dazu stammt von Max Brückner, den schon an der Ausstattung der ersten geschlossenen Ring-Aufführung zur Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses 1876 beteiligt gewesen ist. In allen vier Fällen dürfe es dem eingeweihten Betrachter nicht schwer fallen, den Darstellungen das richtige Werk zuzuordnen. Heute wäre das weniger einfach – bis unmöglich. Die Götterburg Walhall kommt auch stilistisch angedeutet kaum mehr vor. Siegfried trug – wie zuletzt an der Berliner Staatsoper – Jogginghose und Brünnhilde lag zuletzt in Bayreuth am Ende im Abendkleid mit dem toten Siegfried in einem leeren Wasserbecken aus Beton.

Wagner Denkmal Berliner Tiergarten, 1901, von Gustav Eberlein Wikipedia/ Foto Wolfgang Perlemann

Kau will offenkundig zurück zu den Quellen: „Der Ring fasziniert. Doch was passiert an den vier Abenden auf der Bühne? Und warum? Dieser Leitfaden führt Zeile für Zeile durch den Originaltext der Orchesterpartitur und erläutert auf unterhaltsame Weise das Bühnengeschehen.“ Leser bekommen dieses gleichlautende Versprechen schriftlich zu den Grafiken auf den hinteren Umschlagseiten. Auch das Vorwort wiederholt sich, weil die Teile mit ihren eigenen ISBN-Nummern auch einzeln erworben werden können. Der Autor weiß um das weitverbreitete Unverständnis für den Text, während die Musik „enthusiastisch verehrt“ werde. Die „Unlust am Text“ habe Gründe. „Der gewundene Satzbau, der artifizielle Zeilenumbruch und eigenwillige Wortschöpfungen stören den Lesefluss und schrecken ab“, so der Autor. Was den Umbruch anbelangt, wird bei Kau meist aus zwei Zeilen eine. Das liest sich in der Tat besser und spart zudem Papier.

Die einzelnen Bände wären ohne diesen Eingriff in die Textstruktur fast doppelt so dick. Und Stabreime – Alliterationen – die auf das germanische Versmaß zurückgehen, sind dadurch zumindest optisch weniger auffällig. Gleiche Anfangslaute sollen die am stärksten betonten Wörter eines Verses herausheben. Dieses Verfahren betrifft aber nicht den gesamten Textbestand. Nur gelesen, dazu noch laut, ist diese Dichtung auch bei nun verändertem Zeilenumbruch für heutige Ohren nur schwer erträglich. Kein Wunder, dass Kritiker damit den Dichter Wagner gern vorführen. Eines der grellsten Beispiele liefert Alberich, wenn er im Wasser erfolglos den Rheintöchtern nachstellt: „Garstig glatter glitschiger Glimmer! Wie gleit‘ ich aus! Mit Händen und Füßen nicht fasse noch halt‘ ich das schlecke Geschlüpfer! Feuchtes Nass füllt mir die Nase: verfluchtes Niesen!“ Wer Wagners Verse verteidigt, bekommt zuerst dieses Zitat um die Ohren gehauen. Welche Wirkung Wagner damit vorgeschwebt haben dürfte, lässt sich auf meiner alten Schallplatte erkunden. Dort singt Benno Kusche den Alberich. Singt ihn so, dass sich an der bewussten Stelle durch Worte und Noten genau das dargestellt findet, was Menschen, die tauchen können oder in trüben Flüssen erste Schwimmversuche unternommen haben, erlebten. Dieses unsichere Tasten an moosbewachsenen Steinen. Nirgends gibt es einen festen Halt. Mit Händen nicht und nicht mit Füßen. Man ist wie in einem Schwebezustand.

Nicht vorher und nicht nachher wurde Musik auf solche Verse komponiert. Diese Plastizität ist einzigartig, wenn sie denn durch Sänger dargestellt werden kann. Als Kronzeugen für den Dichter Wagner ruft Kau den Musik- und Literaturkritiker Joachim Kaiser auf. Der spricht von einem „klugen, tiefsinnigen, bewusst das Strabreim-Schema einsetzenden Text, der höchsten Respekt verdient und nicht den Spott derjenigen, die in Opern keineswegs nachdenken wollen“. Wer ihn nicht genau gelesen und sozusagen Wort für Wort begriffen habe, der werde in den Aufführungen das tun, was nur die Rheintöchter dürften – schwimmen. Bleibend belohnt werde, wer sich dem Text vorurteilsfrei nähere, findet Wolfgang Kau. Denn das Textdrama sei so vielsichtig wie die Musik. „Und die Musik hört mit anderen Ohren, wer den Text kennt und versteht.“ Damit kommt er auf den Punkt – auf seinen Punkt. In Debatten um aktuelle Inszenierungen lässt er sich nicht ein. Opernbesucher von heute dürfte aber die Erfahrung gemacht haben, dass auch neue Deutungen – und seien sie noch so ungewöhnlich – umso genauer zu erleben sind, wenn man weiß, was im Libretto steht. Insofern kann dieser Leitfaden auch eine aktuelle Bedeutung für sich beanspruchen.

Illustration auf der Rückseite des „Götterdämmerung“-Bandes: Walhall in Flammen. Den Bühnenbildentwurf von Max Brückner für die Uraufführung 1876 in Bayreuth. /Wikipedia

Wagner greift im Ring auch tief in die Kiste des altdeutschen Wortschatzes. Es tauchen Begriffe auf, die nicht mehr gebräuchlich und deshalb oft nicht mehr allgemein verständlich sind. Ob „Friedel“ für Lebenspartner, „Neidinge“ für Menschen, die schimpfliche Handlungen begehen, „kiesen“ für erwählen, „Gauch“ für Narr, Tor und Dummkopf – die Liste ist lang. „Gegrüßt ihr Reisige“, rufen Helmwige, Ortlinde und Siegrune ihren auf dem Walküren-Felsen eintreffenden Schwestern zu, was so viel bedeutet wie berittene Kriegsknechte. Siegmunds „Harst“ erklärt Kau in einer Fußnote mit Streit bzw. Kampf, während etliche andere Ausdrücke nicht explizit in heutiges Verständnis übertragen werden. Lesern bleibt also genug Gelegenheit, eigene etymologische Studien zu betreiben. Szene für Szene arbeitet sich der Autor durch das gewaltige Werk. Auf einzelne Text-Passagen folgen umfassende Erläuterungen, in denen auch inhaltliche Widersprüche aufgedeckt werden. Immer wieder kommen Reaktionen von Handelnden auf den Prüfstand. Was bedeuten sie im Einzelnen? Was steckt hinter einer bestimmten Bemerkung? Wie ist eine ganz konkrete Geste zu verstehen? Mit „Selige Öde auf wonniger Höh‘!“ lässt sich Siegfried zu Beginn der dritten Szene in dem nach ihm benannten Werk vernehmen. Umgehend hat Kau den Hinweis auf den Roseg-Gletscher an der Nordseite der Bernina-Gruppe im Kanton Graubünden parat, der Wagner als landschaftliches Vorbild gedient haben soll. Fußnoten verfolgen nicht nur derlei erklärende Absichten. Sie lenken zudem auf Sekundärliteratur, die im Anhang kompakt aufgelistet wird und stellen durch konkrete Verweise Zusammenhänge innerhalb des Gesamtwerkes her, was sich als unabdingbar erweist. Kau versetzt sich auch gern in die Figuren hinein, um besser zu verstehen, was sie warum im jeweiligen Moment tun – oder unterlassen. Besonders spannend liest sich das tiefgründige Psychogramm von Hagen in der Götterdämmerung.

Wagners „Rheingold“ 1876: Minna Lammert/Flosshilde, Lilli Lehmann/Woglinde, Marie Lehmann/Wellgunde/ Zeno.org

Rätselhaft bleibt der Verzicht auf die Personenverzeichnisse aus der originalen Partitur, auf die sich Kau ja bezieht. Im Text werden zwar alle Mitwirkenden genau beschrieben und charakterisiert, nicht aber zu Beginn des jeweiligen Teils einzeln in Rolle und Funktion vorgestellt. In dem 2009 bei Reclam erschienen Textbuch mit Varianten der Partitur hatte der Wagner-Forscher Egon Voss diese Listen um eben direkte Hinweise aus der Partitur ergänzt, die sich auf die Stimmlage beziehen. Auffällig dabei ist, dass beispielsweise im Rheingold Wotan, Donner, Alberich und Fasolt übereinstimmend als „hoher Bass“ geführt werden. Bariton als Stimmlage verwendete Wagner nicht. War das für Kau deshalb unwichtig, weil sein Leitfaden sängerische Belange außen vor lässt? Ungeklärt bleibt auch eine Textstelle, über die ich mir Aufschluss versprach. Kau lässt Brünnhilde in ihrem Schlussgesang „der Eide ewige Hüter“, womit die Götter gemeint sind, anrufen. „Heilige Hüter“ sind es bei Voss, während die im Leitfaden gewählte Form nur als Fußnote auftaucht. Wagner selbst soll nach der Komposition immer mal wieder in seine Textvorlagen eingegriffen haben. Offenbar ist auch besagte Stelle so ein Vorgang. In den Aufnahmen und Mitschnitten, die ich kenne, sind die Hüter ewig. Nur Berit Lindholm singt am 8. April 1969 in einem von Leopold Stokowski in der New Yorker Carnegie Hall geleiteten Konzert „heilige Hüter“ an. Rüdiger Winter

Foto oben: Ritt der Walküren auf einem Gemälde des italienischen Malers Cesare Viazzi (1857-1943). Foto/Wikipedia

Bitte nur die Tonspur …

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Er war einer der Ersten, die ein in den Achtzigern noch völlig unvorbereitetes Publikum schockierten, als er im Sferisterio von Macerata den Italienern eine an der Kokserei sterbende Mimi zumutete, und er hat bis heute trotz mancher Selbstzweifel sein Wirken fortgesetzt und mit einem Giulio Cesare in Egitto 20121 im Theater an der Wien vorläufig gekrönt. Da kommt in Keith Warners Produktion einiges an Regietheatertypischem zusammen wie flimmernde Leinwände im Hintergrund, abgeschlagene Schweine- und Menschenköpfe, wechselnde, aber meistens hässliche Kostüme, so für Cesare Fremdenlegionsuniform neben Antikem und Franz-Joseph-Uniform (man ist in Wien), Leichenwanne und Leichenwagen, ein abgewracktes Kino, in dem aber adrette Anbieterinnen von Eis und Süßigkeiten ihr Wesen treiben, wenn sie sich nicht auch in Söldneruniformen werfen müssen. Es wird fleißig gefoltert oder Banalstes wie die Vermessung des Cesare ausgerechnet zu „Al lampo dell’armi“ neben- und gegeneinander gestellt, und ab und zu geistert sogar das Gespenst des ermordeten Pompeo (aber mit Kopf) über die Szene. (Für die Bühne und die Kostüme ist Ashley Martin-Davis verantwortlich.)  Es ist schade, dass es den fast durchweg ausgezeichneten Sängern durch Dauerablenkung wie durch Lächerlichmachung kaum noch gelingen kann, ihr Können ins beste Licht zu setzen, denn zum einen beansprucht das dauernde Umherwieseln einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit, zum anderen lenkt es das Publikum ab und hindert es daran, ihre vokalen Leistungen  zu würdigen.

Einen extremen Kontrast zur Optik bildet die musikalische Gestaltung durch den wunderbaren Concentus Musicus Wien auf barocken Originalinstrumenten unter dem erfahrenen, die Musiker zu äußerster Stringenz anhaltenden Ivor Bolton. Einen stärkeren Kontrast kann man sich nicht vorstellen als den zwischen der akustischen Klarheit, dem instrumentalen  und  vokalen Glanz im Orchestergraben und auf der Bühne dem chaotischen Trübsinn für das gestresste Auge.

Trotz einer inzwischen schon beachtlich langen Karriere hat sich Bejun Mehta das verführerische Timbre seiner Stimme bewahrt, lässt sich bei „Va tacito e nascosto“ nicht durch das ihm abgeforderte Tennisspiel beirren, hat zärtliche Töne für „Aure deh, o pietà“ und gerät auch durch das überschnelle „Quel torrente“ nicht an seine Grenzen. Bewundernswert ist die raffinierte Agogik, die immer wieder aufhorchen lässt. Louise Alder ist eine auch optisch attraktive Cleopatra, die neben vielem Entstellendem auch Liz Taylors Goldgewand tragen darf, deren junge Stimme spritzig, geschmeidig und erotisch flirrend klingt und die nicht nur erstaunen, sondern in „Piangerò, la sorte mia“ auch berühren kann. Unberührt vom szenischen Treiben und stoisch in ihrer Leidensfähigkeit imponiert Patricia Bardon als Cornelia mit sanftem Mezzosopran. Ein optisch schmieriger Tolomeo mit Sonnenbrille und schmuddeligen Haarsträhnen ist Christophe Dumaux mit guten Höhen und angenehmem Timbre. Heller timbriert ist die Stimme, die ein zart-jugendlicher Jake Arditti dem hart herangenommenen Sesto angedeihen lässt. In der countertenorreichen Oper kann ein zartstimmiger Nireno, dargestellt von Konstantin Derri, wenig punkten. Erholsam für die überstrapazierten Ohren ist da die einzige tiefe Stimme, die von Simon Bailey für den Achilla. Joni Österlund ist der unglückliche,  handlungsbedingt sehr schnell das Zeitliche segnende Pompeo. Vokal und instrumental könnte es kaum besser sein, die Optik aber…… (Unitel 807804). Ingrid Wanja  

Russisch Glück

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„Die surreal-fantastischen, grotesken und komödiantischen Elemente“ erregten die Neugierde von Regisseur Christof Loy und ließen ihn die Aufgabe akzeptieren, Rismky-Korsakovs Oper Die Nacht vor Weihnachten an der Oper Frankfurt zu inszenieren und dem Haus damit die Performance oft the Year zu sichern. Die Oper nach Gogols gleichnamiger Novelle enthält viel vom „anarchischen Humor“ und der „tiefen Verzweiflung“, die typisch nicht nur für diesen, sondern generell für viele russische Künstler  sind, erzählt die Geschichte vom Schmied Vakula, dessen Mutter eine Hexe und sämtlichen Honoratioren des Städtchens in Liebesdiensten verbunden ist, dazu noch dem Teufel. Zu Menschen und überirdischen oder vielmehr unterirdischen Wesen kommen noch Naturgewalten, verkörpert durch eine Tänzerin  und einen Bären, die die Handlung durchkreuzen, den Versuch des Schmieds, die schöne Oksana für sich zu gewinnen, indem er ihren Wunsch nach den Schuhen der Zarin erfüllt, befördern oder behindern. Am Schluss werden Verlobung und das Weihnachtsfest in schöner Eintracht miteinander gefeiert. Die Premiere dieser russischen Oper, die in einem ukrainischen Dorf spielt, fand wenige Wochen vor Ausbruch des Kriegs in Osteuropa statt.

Die Musik enthält viele volkstümliche Elemente in den Arien und besonders in den Tänzen, die Orchestrierung ist raffiniert, zauberisch schillernd die Ballettmusik, und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter Sebastian Weigle erweckt sie zu raffiniertem Zauber. Ganz schlicht wie eine graue Kachelwand ist die Szene von Johannes Leiacker, doch Tausende Lichtlein oder Schneeflocken können auch sie verzaubern. Phantasievoll mit wenigen Mitteln wie vielen Pelzmützen sind die Kostüme von Ursula Renzenbrink gestaltet, die für den Zarenhof eine bunte Rokokogesellschaft bereithält. Neben dem Choreografen Klevis Elmazaj gibt es auch einen Flight Choreographer namens Ran Arthur Braun, denn auf der Reise zum Zarenhof und auch auf anderen Wegen muss manchmal auch durch die Lüfte gerauscht werden. Es herrscht eine schöne Ausgewogenheit zwischen Sentimentalität und Groteske und man spürt während jeder Minute des abwechslungsreichen Spiels mit wie viel Liebe und Respekt ans Werk gegangen wurde.

Den liebeskranken Schmied Vakula spielt der Tenor Georgy Vasiliev, ein schmucker Bursche, den Oksana längst lieben muss, ohne es sich einzugestehen. Die Stimme kann bereits in seinem Auftrittslied einen schönen, schwärmerischen Klang annehmen. Oksana ist Julia Muzychenko, ebenfalls attraktiv und mit einer feinen, klaren Sopranstimme begabt, im vierten Akt in einer wehmütigen Weise wie eine Naturstimme klingend. Enkelejda Shkoza hat für die Hexe Solokha die passende üppige Physis und einen satten Mezzosopran. Oksanas Vater Chub ist mit Alexey Tikhomirov ein Trumm von einem Kerl und dazu mit seinem markanten Bass auftrumpfend.  Mit schneidendem Charaktertenor ist Andrei Popov ein beeindruckender Teufel, der allerdings mit dem Nahen der Wintersonnenwende immer mehr an Präsenz verliert. Schließlich findet er sich wie auch die Hexe durchaus unter dem riesigen Weihnachtsbaum zum Mitfeiern ein, so dass die Geschichte ohne jeden Missklang, aber auch ohne pathetische Feierlichkeit endet (Naxos NBDO154V). Ingrid Wanja  

Von Hass und Freundschaft

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In elegantem Design präsentiert sich das neue SONY-Album mit Jonas Kaufmann und Ludovic Tézier, das die beiden Stars der aktuellen Opernszene unter dem Titel Insieme in Duetten von Verdi, Puccini und Ponchielli vereint (19439987002). Die zwei Sänger ähneln sich deutlich im Klang, denn der Tenor ist baritonal und der Bariton recht hell getönt, so dass es gelegentlich sogar schwer fällt, die beiden Stimmen zu unterscheiden. Der Autor des Einführungstextes im Booklet übertitelte seinen Beitrag sogar „Zwei Sänger, eine Stimme“. Mit Antonio Pappano und dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia hat das Duo prominente und im italienischen Repertoire kompetente musikalische Partner.

Mit der populärsten Nummer aus dem letzten Akt von Puccinis La bohème beginnt das Programm – dem Duett „Mimì, tu più non torni“ von Rodolfo und Marcello. Sehr lebhaft und pointiert leitet Pappano mit dem Orchester die Szene ein, welche eine authentische Live-Atmosphäre suggeriert. Schon dieses erste Duett zeigt die perfekte Verblendung der beiden Stimmen, die Kaufmanns lässt den für sie typischen gutturalen Klang vernehmen.

Es folgt das Duett zwischen Enzo und Barnaba, „Enzo Grimaldi, Principe di Santafior“, aus La Gioconda. Die Oper markiert den Beginn des Verismo, was in Barnabas harter Deklamation erkennbar ist. Der Straßensänger lässt in der Begegnung mit dem Fürsten Enzo keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit, bis zum Äußersten zu gehen. Die orchestrale Einleitung allerdings ist schwelgerisch und filigran. Für den Barnaba wünschte man Tézier mehr dämonische Schwärze. Kaufmann wirft sich emphatisch in das „O Laura mia!“, das seine Liebe zu ihr verdeutlicht.

Alle weiteren Titel der Platte sind Verdi gewidmet, beginnend mit zwei Duos von Henri und Montfort aus Les Vepres siciliennes – dem ersten Werk des Komponisten für die Opéra de Paris. Mit dem jungen sizilianischen Freiheitskämpfer Henri und dem Gouverneur der französischen Besatzer Montfort findet sich hier die häufige Konstellation des Tenors als Liebhaber und des Baritons als Bösewicht. Im Duett des 1. Aktes bleiben die Emotionen zunächst gezähmt, bis sie sich steigern und in dramatischen Spitzentönen entladen. Die des Tenors wirken forciert und wiederum sehr kehlig, der Bariton steigert sich in einen Gesang voller Verve. Auch das Duett des 3. Aktes setzt verhalten ein, doch auch hier verfallen die Sänger geradezu in einen ekstatischen vokalen Taumel

Danach erklingt eines der berühmtesten Duette Verdis, das von Carlos und Rodrigue aus Don Carlos, also der 1867 in Paris gezeigten Urfassung. Es schildert eine der bedeutendsten Männerfreundschaften der gesamten Operngeschichte. Kaufmann sang die Titelpartie bei den Salzburger Festspielen und in Paris, für Tézier ist der Rodrigue (oder Posa in der italienischen Fassung der Oper) eine Kernrolle seines Repertoires. Die Vertrautheit der beiden Sänger mit ihren Partien hört man in jeder Note trotz der Einschränkung, dass Kaufmann stimmlich für den Titelhelden (vor allem in der französischen Originalversion) zu schwer wirkt.

Aus La forza del destino sind sogar drei Duette von Alvaro und Carlo zu hören. 2013 interpretierten die Sänger diese Partien an der Bayerischen Staatsoper in einer Neuinszenierung. Das erste der drei Duette („Solenne in quest’ora“) aus dem 3. Akt ist das berühmteste mit seiner schmerzlichen Kantilene. Kaufmann bemüht sich hier sehr um lyrische Zwischentöne und setzt die Kopfstimme wirkungsvoll ein. Das zweite Duett („No, d’un imene il vincolo“) ist ungleich dramatischer und hektisch erregt, hat Carlo doch in Alvaro den Mörder seines Vaters erkannt. Das dritte Duett schließlich („Le minaccie, i fieri accenti“) markiert den dramatischen Höhepunkt, da die verfeindeten Männer sich wieder treffen und in ein Duell stürzen. Die beiden Sänger finden hier zu farbenreichem Gesang und starker Intensität im Vortrag, was diese Nummer zu einer der eindrücklichsten der Anthologie macht. Beide sind damit auf direktem Weg zu jenen Opernhelden, denen sie sich im Finale der CD widmen: Jago und Otello. Zuerst bringen der Tenor und der Bariton ein weiteres bekanntes Duett aus Verdis Feder („Sì, pel ciel marmoreo giuro“). Kaufmann schickt diesem Zwiegesang noch den Monolog Otellos voraus („Ora e per sempre addio“), in welchem der sich betrogen fühlende Gatte Desdemonas in seiner Raserei jedes Maß verliert. Kaufmann hat sein Rollendebüt 2017 in London gegeben, zwei Jahre später die Partie für Sony auch eingespielt, beides gleichfalls unter Pappano. Diese Erfahrungen auf der Bühne und im Studio spiegeln sich auch hier wider. Die beiden Ausschnitte aus dem 2. Akt stellen für mich den Höhepunkt der Platte dar, weil Kaufmann mit ungeheurer Spannung singt und Tézier, der 2021 an der Wiener Staatsoper als Jago debütierte, mit geradezu schönsten Tönen die hinterhältige Intrige ausbreitet. Und nicht zuletzt wegen des Atem beraubend begleitenden Orchesters sind diese Otello-Szenen von ungeheurer Eindringlichkeit. Bernd Hoppe

A la Francaise

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Ihren beiden Leidenschaften, der französischen Sprache und der italienischen Musik, frönt die amerikanische Sopranistin Lisette Oropesa mit ihrer zweiten CD (Die erste widmete sich Konzertarien Mozarts.) mit dem Titel French Bel Canto Arias, und zwar solchen von Rossini und Donizetti. Auf der CD taucht zwar auch eine allbekannte Opernheldin wie Lucia di Lammermoor als Lucie de Lammermoor auf, allerdings in völlig ungewohntem akustischem Gewand, während die anderen Titel höchstens einmal in Pesaro und Bad Wildbad oder in Bergamo mit ihren speziellen Festivals zu erleben sind. Im Booklet bekennt sich die Sängerin zu ihrem Wunsch, möglichst oft dieses Repertoire auch auf der Bühne zu vertreten, wünscht sich eine Mathilde, nachdem sie bereits Charlotte (!) und Marguerite de Valois war.

Es beginnt mit zwei Arien der Pamyra aus Rossinis Le Siège de Corinthe, jeweils mit Damenchor, in denen die Sängerin viele ihrer Stärken, so die gute Diktion, die Beachtung auch der kleinen Notenwerte, ein fein flirrendes Timbre mit einem Hauch von Melancholie einsetzen kann. Der lyrische Koloratursopran ist in allen Lagen von gleicher Farbe, die Phrasierung ist generös, das Piano farbig. Als Mathilde aus Guillaume Tell offenbart sie die empfindsame Seele der Figur bereits im Rezitativ, ehe in der Arie ein schöner Schwellton und die reiche Agogik erfreuen, die Kadenz fein ausgekostet wird. Schillernd und funkelnd mit einem ironischen Touch und sprühend vor Lebensfreude äußert sich die Adèle in Le Comte Ory, der Spitzenton in der Arie wird mühelos erreicht.

Der Donizetti-Block wird mit der Arie der Pauline aus Les Martyrs eröffnet, in der Oropesa die Verzierungen gekonnt in den Fluss der Melodie einbettet. Lucie de Lammermoor hat zumindest in der ersten Arie der Italienerin „Regnava nel silenzio“ absolut nichts zu tun, auch inhaltlich nicht. Die Musik stammt aus der in Frankreich damals nicht bekannten Oper Rosamonde d’Inghilterra, ist keine Erinnerung an die tote Ahnin, sondern eher von der Vorfreude auf das Wiedersehen mit Edgard geprägt. Es handelt sich um eine reine, variationsreiche  Bravourarie, die die Sängerin auch mit Bravour bewältigt, der sie aber auch einen perfekten canto elegiaco zukommen lässt. Die beiden Arien der Marie aus La Fille du Régiment sind auch dem vertraut, der nur die italienische Fassung kennt, und ihre Darbietung vereinigt noch einmal alle Vorzüge in sich, die man bereits zuvor bewundern konnte.

Die Dresdner Philharmonie lässt, und das wird wohl das Verdienst von Dirigent Corrado Rovaris sein, nichts davon verlauten, dass dieses Repertoire nicht gerade das ihr vertrauteste ist (Pentatone PTC 5186 955). Ingrid Wanja 

Und noch einer …

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Für Glückskinder müssten sich eigentlich Berliner Wagnerfreunde halten, denn sowohl Staatsoper wie Deutsche Oper haben einen frischen Ring des Nibelungen im Programm, und alle anderen Verehrer des Bayreuther Komponisten können diese entweder als Streaming bei Arte, was die Staatsoper angeht, oder als DVD von Naxos, was den Ring der DOB betrifft, genießen. Beide Ringe allerdings schienen unter einem unguten Stern zu stehen, der der Deutschen Oper kam wegen Corona anders als vorgesehen auf die Bühne, der der Staatsoper verlor durch Krankheit seinen Dirigenten, dessen 80. Geburtstag eigentlich damit gefeiert werden sollte. Gemeinsam hatten beide Aufführungszyklen, dass sie musikalisch zum Triumph, szenisch zum Desaster wurden, was nicht nur von manchen aus dem „alten Westberliner Publikum“, das der Intendant der DO missbilligend als „den Traditionen verhaftet“ anklagte, so empfunden wurde, sondern auch von großen Teilen des Feuilletons.

Es gehe um nichts Geringeres und Betrüblicheres „als die Totenfeier für die Gattung Oper“, hatte Regisseur Stefan Herheim im Vorfeld über seine Produktion an der Deutschen Oper gemeint. Das beflügelt doch die Schaffenskraft und –freude ungemein, lässt aber umso mehr in Staunen geraten, wenn man auf der Bühne nicht allüberall Särge, sondern Fluchtkoffer sieht, diese doch nun zum unsäglich großen Überdruss immer wieder von Renaissanceoper bis modernem Musikdrama missbrauchten Gebrauchsgegenstände, die neben dem für viele Überraschungen guten Flügel die  Bühne beherrschen. Die von der Musik gerechtfertigte Hoffnung auf einen Neuanfang,  da die zum Menschsein verurteilte Walküre durch die Rückgabe des Rings an den Rhein den Zustand der ursprünglichen Harmonie wieder hergestellt hatte, will die Regie nicht wahrhaben.  Herheim entzieht sich dem Drama um Götter, Halbgötter und Fabelwesen, indem er aus dem Weltendrama ein gesellschaftskritisches Stück macht mit den  Göttern als Aristokraten, den Riesen als Bürgertum und den Nibelungen als Proletariat. Platter geht’s nimmer! Die Existenz des Flügels auf der Bühne rechtfertigt die Regie mit den schönen Worten, er sei das „musikalisch-optische Tor zur Phantasie“, da er beim Schaffensprozess präsent gewesen sei. Da dürfte wohl kaum eine Operninszenierung mehr ohne denselben auskommen. Ein weiteres Moment sind die Mephistomaske von Gustaf Gründgens für Loge oder der Hitlergruß deutscher Soldaten (=gleich Nibelungen, aber in der Wehrmacht erst nach dem 20.7.44 Pflicht) von der Regie damit begründet, dass die Berliner Oper viel Wagner, so auch in der Nazizeit gespielt habe. Dabei wird übersehen, dass die Städtische Oper, die Vorgängerin der Deutschen, eine Gründung der Charlottenburger Bürger als Gegenstück zur Residenzoper, der Staatsoper, war. Einmal mehr wird hier ein Weltbild nicht aus den Tatsachen heraus entwickelt, sondern eine individuelle Sicht der Dinge den Tatsachen übergestülpt.

Ist die Inszenierung als Totenfeier für die Gattung Oper gedacht, dann hat diese wenigstens einmal mehr vielen Menschen einen Arbeitsplatz verschafft, eben den bereits erwähnten Kofferträgern, die sich schnell nicht nur derselben, sondern auch ihrer Kleidung bis auf die Unterwäsche, natürlich Schiesser-Feinripp (später auch Wotans Lieblingsmarke, Kostüme Uta Heisecke), entledigen und mit oder ohne Rheintöchter  und ohne Rücksicht auf das Geschlecht sich allerlei sexuellen Vergnügungen hingeben. Außerdem beginnen sie damit, das Stück Der Ring des Nibelungen aufzuführen. Der Betrachter des Videos ist insofern gegenüber dem Besucher des Opernhauses im Vorteil, als eine geschickte Kameraführung  ihn davor bewahrt, alle Absonderlichkeiten dessen, was die Statisten aufführen, wahrnehmen zu müssen. Sind diese ca. 30 Statisten mal nicht auf der Bühne, weil sie auch nicht für die Bewegung unendlicher Stoffbahnen (Bühne neben Herheim Silke Bauer) benötigt werden, dann können sehr packende Szenen entstehen, denn der Regisseur versteht etwas von Personenregie und provoziert die Sänger zu darstellerischen Höchstleistungen, auch wenn diese nicht immer goutiert werden können, so wenn Freia, zunächst ein hirnloses Dummchen, später, durch die Liebe Fasolts erweckt, zur hingebungsvollen Geliebten wird. Insgesamt sind die Götter rechte Deppen, und was bei Wagner noch leichte Ironie ist, so die Eifersucht Frickas, wird in der Herheim-Produktion zur schonungslosen Satire.  Wenig nachvollziehbar ist, dass Alberich einer der Flüchtlinge bzw. Kofferträger, das Rheingold sein Blasinstrument ist- wozu dieses dann noch rauben? Die Regie verstrickt sich in viele Widersprüche und Ungereimtheiten, deren letzte der der Zwillinge im Uterus von Erda ist, die bekanntlich Mutter der Walküren, aber nicht von Siegmund und Sieglinde ist. Da hat sich Wotan wohl im Souffleurkasten, in den er zu einem Schäferstündchen mit Erda gestiegen ist, anstatt mit Fricka nach Walhalla zu wallen, vertan.

Hervorragend und damit den Rezensenten versöhnlich stimmend sind die meisten Sängerleistungen. Derek Walton ist ein sehr jugendlicher Göttervater, attraktiv auch im Schiesser-Slip, mit farbigem, angenehm timbriertem Bassbariton und lobenswerter Textverständlichkeit.  Markus Brück als Alberich beginnt verhalten, verhilft der Boshaftigkeit des  Nibelungen durch Timbreverfärbungen  Gehör und kann voll überzeugen mit der Verfluchung der Liebe wie der des Ringes, macht aus dem Nachtalben eine tragische Figur. Kaum eine Wagnerpartie ist dankbarer als die des Loge. Thomas Blondelle zieht alle Register eines alle Qualitäten eines lyrischen wie eines Charaktertenors  besitzenden Sängers und dazu eines großen darstellerischen Talents, das durch die Regie häufig in Puck-Nähe gerückt wird.  Großsprecherische Tölpelhaftigkeit bzw. eitles Schönlingsgetue kennzeichnen Donner und Froh. Die Sänger Joel Allison und Attilio Glaser müssen dies in überzogener Form darstellen, werten die Partien jedoch vokal auf.  Richard-Wagner-Karikatur mit entsprechendem Barrett, in KZ-Jacke, dazu mit einem durchdringenden Charaktertenor begabt, ist Ya-Chung Huang ein hervorragender Mime.  Andrew Harris und Tobias Kehrer verkörpern Fasolt und Fafner, beide mit markanten Bässen begabt. Annika Schlicht hat für Fricka das Königinnenmuttergehabe in der Darstellung und  lässt einen wunderschön ebenmäßigen Mezzosopran strömen. Mit jugendlich klingendem Sopran singt Flurina Stucki die Freia, die die jugendspendenden Äpfel als ihre Brüste vor sich herträgt. Kein Wunder, dass die Kerle andauernd danach grapschen. Judit Kutasi ist die warmstimmigste Erda, die man sich denken kann. Harmonisch fügen sich die Stimmen der drei Rheintöchter Valeriia Savinskaia, Arianna Manganello und Karis Tucker zueinander, auch das Orchester unter Donald Runnicles ist in Hochform, zeichnet feinste Stimmungen und erfüllt das Herz mit Andacht, akustisch ist das keine Totenfeier für die Oper, sondern ein Wiederauferstehungsfest.

Als besonders unselige Idee erweist sich in Die Walküre die Erfindung eines Sprosses aus der Verbindung von Sieglinde und Hunding, eines geistig behinderten Halbstarken, der messerfuchtelnd den ersten Akt durchlebt, ehe ihm die Mutter kurzerhand die Kehle durchschneidet . Das dürfte sie natürlich nicht wenige Sympathien beim Publikum kosten, denn selbst Hunding, geschweige denn Siegmund bekundet einige Zuneigung gegenüber dem armen Kerl , und so kann man ganz am Schluss, als sie mit Siegfried in den Wehen liegt und ihr ein Mime mit Wagnerbarrett das zullende Kind entreißt, auch nicht viel Mitleid mit ihr aufbringen. Wie alt sind die Zwillinge eigentlich, wenn Sieglinde bereits ein halbwüchsiges Kind hat? Mitte dreißig? Dann ist es kein Wunder, dass sie sich mit der Zeugung Siegfrieds beeilen müssen, diese durch Schiesser Feinripp hindurch sofort auf dem Flügel, der immer noch die Mitte der Bühne einnimmt, in Angriff nehmen. In dieser auf deutschen Bühnen häufig anzutreffenden Wäschemarke entsteigt auch Wotan dem Souffleurkasten, als käme er schon wieder von  einem Besuch bei Erda. Eine weitere personelle Zutat sind äußerst  (im ursprünglichen Sinne) geile Helden, die trotz vielfältiger blutender Wunden die Walküren  sexuell bedrängen, ihren Rüstung und mehr von den Leibern reißen und wohl die Bezeichnung „Wunschmaid“ missverstanden haben. Soviel über die Aufstockung des Personals, und nun wieder zur Bühne,  die aus einer Auftürmung von Hunderten, wenn nicht Tausenden von Koffern besteht, ein Teil davon als Mauerwerk zu Hundings Haus, wohl von den Flüchtlingen erbaut. Im Mittelpunkt der Bühne steht alle drei Akte wieder der schwarze Flügel, der bis in den Bühnenhimmel fahren, aber auch alles, was auf der Bühne gerade überflüssig ist, in sich aufnehmen kann, der Esche mit haftendem Schwert ebenso ist wie der Felsen, auf dem Brünnhilde ruht und aus dem sich hin und wieder Ballons erheben, so mit freundlichem Grün gefüllt zu „Winterstürme wichen dem Wonnemond“. Verfremdungseffekte werden mit gelegentlichem Griff zur Partitur erzielt, und der Feuerzauber hätte einer ambitionierten Schüleraufführung Ehre gemacht. Ach ja, mit einem sehr schönen Schäferhund, der eine Runde in Hundings Haus dreht, ist das Personal dann wirklich komplett.

Hätte die Regie auf viele dieser Ingredienzien verzichtet, könnte man sich uneingeschränkt über eine sehr stimmige, sehr feinsinnige, sehr detailliert gezeichnete Personenregie freuen,  die nun in diesem Wust unangebrachter „Zutaten“ fast untergeht.

Und die akustische Seite? Da kann man wieder schwelgen ohne Ende mit einem Orchester , das strahlt, das sonst nie vernommene Details auskostet, das den großen Atem für die große Musik hat und die Könner für die solistischen Stellen. Auch die Sänger lassen kaum einen Wunsch offen. Eine hoheitsvolle Fricka, natürlich wieder in weißem Pelz,  dazu ein weißes Köfferchen, ist Annika Schlicht mit machtvollem, Autorität heischendem Mezzosopran wie aus einem Guss und von schöner Farbe. Natürlich ist  Nina Stemme, wenn es um die Brünnhilde geht, die für mich erste Wahl, und einmal das Hojotoho beachtlich gestemmt, ist sie nicht nur eine die Herzen berührende, perfekte Darstellerin der Wotanstochter, sondern erfreut auch mit einem ausgeruhten, in warmen Farben leuchtenden, zu vielen Nuancen fähigen Heldensopran. Mit hellleuchtendem Sopran ist Elisabeth Teige eine strahlende Sieglinde.

Die Walküren können auf erfahrene, altgediente Kräfte wie Ulrike Helzel  oder Stipendiatinnen wie Karis Tucker bauen und aus Freia wurde Helmwige.

Mit herbem, baritonal gefärbtem Tenor singt Brandon Jovanovich einen darstellerisch agilen Siegmund. Seine Wälse-Rufe dürften zu den ausdauerndsten, nicht unbedingt den schönsten aller Ring-Zeiten gehören. Eine Wucht von Bass ist Tobias Kehrer als Hunding, optisch wie akustisch imponierend.  Als Wotan kann Iain Paterson einen recht textverständlichen und markanten Bariton präsentieren.  Und da war noch dieser Unglückswurm von Hundingling, in akrobatischer Gewandtheit gespielt von Eric Naumann, dessen Schuld es nicht ist, dass er wie ein überflüssiger Fremdkörper wirkt.

Im Siegfried hat man sich an Koffer, Feinripp, Flügel und Riesentücher bereits so sehr gewöhnt, dass sie nichtmehr so störend wirken wie an den beiden ersten Abenden, und erfreut sich an der manchmal sensationellen   Lichtregie (Ulrich Niepel). Erda wohnt noch immer im Souffleurkasten und singt wunderbar mit der Stimme von Judit Kutasi. Überaus witzig im Spiel und prägnant im Singen ist der Mime von Ya-Chung Huang, mit Pagliacci-Maske zeigt sich der Alberich von Jordan Shanahan und kann mit einem hochpräsenten Bariton gefallen. Fafner Tobias Kehrer singt so effektvoll wie seine Augen glänzen und sich in seinem Rachen ein Ballett abspielt, zwei Riesenengel sich an seinem Leichnam versammeln. Nina Stemme lässt für mich die Sonne hochleben und leuchten, auch wenn sie wie Siegfried ab und zu in der Partitur nachschauen muss, während die Feinripp-Statisten meistens heterosexuell, aber auch mal als flotter Frauendreier Siegfried Nachhilfeunterricht in Sexualkunde geben. Vokal weit ausholend ist Iain Paterson ein sonorer Wanderer, der Waldvogel ist mit dem Knaben Sebastian Scherer niedlich, aber nicht durchgehend den richtigen Ton treffend besetzt. Das Orchester unter Donald Runnicles setzt seine tadellose Reise durch den Ring fort.

Die Wagner-Götter glänzten ja bekanntlich in der Götterdämmerung durch Abwesenheit, in der alten Götz-Friedrich-Inszenierung sah man sie im brennenden Walhalla verglühen, nun sind sie überaus und in großer Zahl einschließlich aller Walküren präsent, teilen mit den Flüchtlingen aus Rheingold und Walküre die Liebe zu Schiesser-Feinripp , und noch immer oder wieder  füllen Berge von Hunderten von Fluchtkoffern die Bühne, obwohl die Flüchtlinge, wenn nicht gerade zu Göttern, dann doch  zu Besuchern der Deutschen Oper mutiert  sind, die im auf die Bühne versetzten Parkettfoyer samt seinem Mobile, dieses allerdings außer Funktion, mit Sektgläsern in der Hand flanieren. Und dank der Regie haben sich auch die Chordamen, allerdings stumm bleibend, die Götterdämmerung erobert.

Nicht nur was die Anwesenheit von Damen, abgesehen von den von Wagner konzipierten betrifft, ist Herheim schöpferisch tätig geworden, auch in der Behauptung, Hagen würde zu seinen Untaten nicht von Alberich angestiftet, sondern von Wotan, der auch mal am viel, so als Scheiterhaufen,  beanspruchten Flügel sitzen und wie die anderen in die Tasten hauen darf. Ähnlich vielseitig ist wieder der Einsatz von riesigen weißen Tüchern, natürlich als Brautschleier, Leichentuch, Betttuch, Zudecke, Fanggerät und des Rheines Fluten.  Sehr oft hat man den Eindruck, die Inszenierung erstarre in der Ausstellung des Dekorativen , statt dass Interaktion zwischen den Figuren stattfindet. Und wenn Alberich, Siegfried und Gunther mit Clownsmasken auftreten , Gunther auch bei der Überwältigung Brünnhildes dabei ist   und die Nacht mit ihr verbringt, dann fragt man sich, wie der Verdacht aufkommen kann, Siegfried habe nicht Nothung zwischen sich und die Braut des Blutsbruders  gelegt, dann reiht sich eine Ungereimtheit an die andere.  Viele alte Regiehüte werden noch einmal ausgekramt, so die Lichtkegel ins Publikum, das Abgehen des Chors, der, was die Damen betrifft, keiner ist, durch die Saaltüren, die Benutzung der Rampen seitlich über dem Orchestergraben für Aktionen, das Platzieren eines Solisten unter den Zuschauern, alles schon gehabt und nie für gut befunden. Und wenn Hagen Siegfried nicht nur ersticht, sondern ihm auch noch den Kopf abschlägt, dann setzt es doch sehr in Erstaunen, dass der abgeschlagene Kopf eine andere Frisur hat als der kurz zuvor noch auf dem Rumpf befindliche, ganz abgesehen von Assoziationen mit Salome, wenn die Damen sich des Hauptes annehmen. Den Anspruch, den der Text im Programmheft erhob, löste die Aufführung nicht ein, die am besten gelingt, wenn all der erwähnte Schnickschnack entfällt wie in der Szene mit Waltraute oder der mit den Rheintöchtern.

Keine bessere Brünnhilde als die von Nina Stemme kann sich in meinen Augen ein Haus wünschen, und auch an diesem Abend erfüllt sie meine hochgespannten Erwartungen mit einem für mich dunkel strahlenden, unermüdlichen Sopran der unangefochtenen Höhensicherheit und mit einer der Wotanstochter würdigen Darstellung trotz des schlichten Flatterhemdchens, das ihr für den gesamten Abend verordnet worden war. Fast zu einer Karikatur hatten Regie und Kostümierung den Siegfried von Clay Hilley gemacht, von Kopf bis Fuß oder Flügelhelm bis Wadenbändern das Klischee eines germanischen Helden erfüllend, dann aber auch im Frack und, angesichts der Körperfülle des Sängers grenzwertig, ebenfalls in Schiesser-, ja Feinripp. Voll entschädigen für die verstörende Optik konnte der Sänger mit einem nimmermüden, nie matt werdendem Heldentenor, der sich unterschiedslos großzügig nie verausgabte, so aber auch zu keiner Steigerung mehr für Brünnhilde, die heilige Braut fähig war, sondern sein bemerkenswertes Stimmmaterial unterschiedslos verschwendete.  Mit einem sonoren Bariton und mit der besten Diktion des Abends erfreuend, war Thomas Lehman ein vorzüglicher Gunther, Aile Asszonyi gab das Dummchen von Gutrune mit schönem lyrischem Sopran.  Albert Pesendorfer sang einen markant-imposanten Hagen, Jordan Shanahan war der ungemein eindringliche Alberich. Okka von der Damerau glänzte durch eine eindringliche, klangvolle Bittstellerin Waltraute . Schöne junge Stimmen aus dem Ensemble konnte die Deutsche Oper für Rheintöchter (Meechot Marrero, Karis Tucker, Anna Lapkovskaja) und Nornen (Anna Lapkovskaja, Karis Tucker, Aile Asszonyi) aufbieten. Der Herrenchor ließ sich durch die Anwesenheit der Damen nicht irritieren, sondern ließ die Mannen so machtvoll wie kultiviert schmettern (Jeremy Bines) . Im schimmernden, glanzvollen Orchesterklang kann  man genussvoll baden, ohne zu überhören, wie fein und nuancenreich im Orchestergraben ausgelotet wird, was auf der Bühne oft in allgemeiner Betriebsamkeit untergeht. Generalmusikdirektor Donald Runnicles hat aus seinem Klangkörper ein wunderbares Wagnerorchester gemacht (Naxos NBD0156VX). Ingrid Wanja

Luxurious

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Nicht weniger als drei Stars versammelt die neue Theodora bei Erato, die im September 2021 in der Philharmonie Essen aufgenommen und auf drei CDs veröffentlicht wurde (5054197177910). Auch das begleitende Ensemble Pomo d’Oro hat längst den Status eines Ausnahmeorchesters erzielt. Es ist bei allen großen Barock-Festivals und internationalen Aufführungen dieses Genres vertreten, zumeist unter Maxim Emelyanychev, der auch bei dieser Aufnahme am Pult stand. Er garantiert eine lebendige Lesart dieses 1750 uraufgeführten Oratoriums, das der Komponist selbst als sein bedeutendstes einstufte. Es fußt nicht auf einem alttestamentarischen Stoff, sondern erzählt die Geschichte einer standhaften Christin im Römischen Reich, die als Märtyrerin endet. Der Dirigent breitet die g-MollOuverture gravitätisch aus, setzt im hurtigen Allegro-Thema einen gewichtigen Kontrast, um im Trio fein ziselierte instrumentale Details hören zu lassen. Seine beherzte Leitung animiert die Solisten und den Chor zu bedeutenden Leistungen.

In der Titelrolle überzeugt Lisette Oropesa, die sich neben dem Belcanto-Repertoire (Rossini in Pesaro, Bellini in Salzburg) auch dem Barock widmet. Ihr warmer, sinnlicher Sopran berührt schon im Auftritt, „Fond, flatt’ring world, adieu“, mit einer ganzen Skala von Gefühlen. Im Accompagnato „O, worse than death inded“ und im folgenden Air „Angels, ever bright and fair“ am Ende von Part I kann sie wiederum mit reichem emotionalem Einsatz aufwarten. Im zweiten Teil hat sie mit „The pilgrim’s home“ ein wunderbares Solo von großem Empfinden.

Joyce Di Donato ist eine Ikone in Sachen Händel, singt gleichermaßen seine Sopran- wie Mezzo-Partien. Ihre Irene berührt durch innigen Ausdruck in den vor allem getragenen Arien, doch weiß sie sich enorm zu steigern in dramatischen Momenten. Das erste Air, „Bane of virtue“, ist von lebhaftem Charakter, das zweite, „As with rosy steps the morn“, gefühlvoll, „With darkness deep“ in Part II ergreifend in seiner Schlichtheit. Auch „Defend her“ und „Lord, to thee each night and day“  sind getragene Airs, welche die Sensibilität der Interpretin herausstellen. Letzteres hat einen bewegten Mittelteil mit Koloraturläufen, welche die Bravour der Sängerin belegen. Mit der Titelheldin hat sie in Part III ein dynamisches Duet „Whither, Princess“. Schier unendlich ist das Repertoire des Tenors Michael Spyres, der den römischen Offizier Septimius singt. Seine noble Stimme entfaltet sich eindrucksvoll im ausgedehnten Air „Descend, kind pity“, trumpft im an Koloraturen reichen „Dread the fruits“ energisch auf und imponiert auch im resoluten „Tho’ the honours“ in Part II. Von heiterer Ausgelassenheit ist das verzierte „From Virtue springs each gen’rous deed“ – ein schöner Kontrast zu den heroischen Nummern.

Septimius’ Freund, der Römer Didymus, der Theodora liebt, ist der Counter Paul-Antoine Bénos-Dijan. Sogleich in seiner lieblichen Auftrittsarie „The raptured soul“ lässt er eine weiche, empfindsame Stimme hören und auch bei „Kind Heav’n“ am Ende des ersten Teils weiß er sich mit schwebenden Tönen wirkungsvoll in Szene zu setzen. Im wiegenden Air „Deeds of kindness“ in Part II tupft er die Töne besonders sanft. Eine seiner berühmtesten Nummern ist das kosende „Sweet rose and lily“ und am Ende des zweiten und dritten Teils hat er mit Theodora Duets, „To thee, thou glorious son of worth“/“Streams of pleasure“, in welchen sich beide Stimmen harmonisch verblenden. John Chest als römischer Präsident Valens komplettiert die Besetzung. Er eröffnet die Handlung mit dem Air „Go, my faithful soldier, go“, in welchem er mit resolutem Bass aufwartet, der sich auch in der Höhe als souverän erweist. Mit wilder Erregtheit, rasenden Koloraturen und herausgeschleuderten Spitzentönen kommt „Cease, slaves“ im letzten Teil daher.

Il Pomo d’Oro Choir (Leitung: Giuseppe Maletto) hat mit „And draw a blessing down“ seinen ersten Einsatz, den er engagiert und wohllautend absolviert. Dem Chor fällt in diesem Werk eine bedeutende Rolle zu Nach dem gewichtigen „All pow’r in Heav’n above“ beendet er den Part I mit dem verinnerlichten „Go, gen’rous, pious youth“. Im zweiten Teil singt er am Ende jenen Chorus, den Händel noch über das „Halleluja“ des Messiah stellte: „He saw the lovely youth“. Nach introvertiertem Beginn wechselt dieser zu lebhaftem Ausbruch. Und dem Chor gehört auch der letzte Auftritt – „O love divine“ führt das Werk zu erhabenem Schluss. Bernd Hoppe

Ricardo Castros Oper „Atzimba“

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Die Oper Europas kannte den Topos der Azteken (bzw. der Incas) und und namentlich Montezumas seit den brutalen Feldzügen der Spanier unter Hérnand Cortez ab 1519. Die zwei Indio-Herrscher dieses Namens  (Moctezuma I und II 1390–1469 bzw. 1465–1520) gaben Anlass zu zahlreichen Dichtungen und Vertonungen (so an Opern 1733 Vivaldi, 1755 Graun (im Auftrag Friedrich des Großen), 1765 de Majo, 1771 Myslivecek, 1775 Sacchini, 1781 Zingarelli.  1809 komponiert Gaspare Spontini im Auftrag Napoleons I. seine spektakuläre Oper Fernand Cortez, die in ganz Europa erfolgreich war. In der Neuzeit folgten 1903 Sessions, 1987 Rihm, 2005 Ferrero und 2010 Adler.

Der mexikanische Komponist Ricardo Castro Herrera/ Wikipedia

Besonders folgenreich war der Roman von Jean-François Marmontel, Les Incas, ou la destruction de l’empire du Pérou, von 1777 in Paris, der den Prototyp des Edles Wilden setzte. Nach der europäischen Entdeckung und Eroberung Süd-Amerikas fand dieser Gedanke einigen Anklang; er nahm bereits in dem Epos La Araucana (um 1570) von Alonso de Ercilla y Zúñiga Gestalt an. Hundert Jahre später griff John Dryden die Idee wieder auf. Im 18. Jh. war der Philosoph Jean-Jacques Rousseau einer ihrer prominenten Vertreter, und  in der Romantik fand diese Vorstellung viele Anhänger. Schon Louis-Armand de Lom d’Arce, genannt Baron de Lahontan, ein Forschungsreisender in Neufrankreich, verknüpfte 1705 mit der Figur des „edlen Wilden“, seinem Gesprächspartner aus dem Volk der Huronen, und bot eine radikal sozialkritische und politische Sicht auf die Verhältnisse im alten Europa. Das Fremde dient also als Platform für die Kritik am Eigenen.

Der von Jean-Jacques Rousseau 1755 in seinem Werk Discours sur l’inégalité postulierte Naturzustand des Menschen wird im Allgemeinen als Ursprung dieses idealisierten Menschenbildes gewertet. Im Jahr 1771 erschien Louis Antoine de Bougainville ausführlicher Reisebericht seiner Weltumsegelung, Voyage autour du monde par la frégate du roi La Boudeuse et la flûte L’Étoile. In diesem Bericht stellte der Aufenthalt in Tahiti seine interessanteste Station dar, hier treffen die europäische Zivilisation mit der Kultur der Tahitianer zusammen, den „edlen oder guten Wilden“. Friedrich Melchior Grimm, damals federführend für die Correspondance littéraire, philosophique et critique verantwortlich, bat Denis Diderot, eine Buchbesprechung des Bougainville´schen Reiseberichts zu verfassen. Diderot entsprach diesem Wunsch, arbeitete aber die Rezension noch weiter aus zu einem Essay, Supplément au voyage de Bougainville 1771. Die Lederstrumpf-Romane von James Fenimore Cooper (erschienen 1823–1841) sind eines der ersten bekannten Werke, die das Konzept des „edlen Wilden“ literarisch verarbeiteten und gilt als klassisches Beispiel des „edlen Wilden“ in der Literatur.

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Zurück nach Lateinamerika: Il Guarany ist eine Oper („opera-ballo“) in vier Akten von Antônio Carlos Gomes von 1870 und gilt als die erste südamerikanische Oper mit indogenen Personal im Konflikt mit den Weißen. Die literarische Vorlage bildete der Roman O Guarani des Schriftstellers José de Alencar. Das Libretto wurde von Antonio Scalvini und Carlo D’Ormeville in italienischer Sprache verfasst. Il Guarany wird als erste große brasilianische Oper angesehen und ist dem romantischen Genre des Indianismo zuzurechnen. Sie ist von nationaler Bedeutung und auch über die Grenzen Brasiliens hinaus bekannt. Aber sie bietet wie eben alle anderen Dokumente dieser Art nur eine westliche, europäische Sicht auf die Geschichte Südamerikas, in Mailand geschrieben und dort erstaufgeführt. Und erst danach in Brasilien importiert, wo Gomes heute als Nationalkomponist gilt. In operalounge.de haben wir reichlich über Gomes berichtet.

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Ricardo Castro: „Atzimba“/ Chole Goyzueta war 1900 die erste Titelsängerin/ OBA

Diesen Aspekt gilt es zu berücksichtigen, wenn man sich der anderen „indogenen“ Oper des neunzehnten Jahrhunderts aus Mexico nähert, Atzimba von Ricardo Castro, 1900 in Mexiko-Stadt uraufgeführt, die im Folgenden vorgestellt werden soll. Kunst und Kultur in Südamerika bis zum Ende der 1880er Jahre ist immer importierte Kunst aus Europa, die mit einer Verspätung von rund 50 Jahren in den Kolonien der besetzten und von Europa gehaltenen Gebieten eintraf. Waren es zu Beginn die spanischen Jesuiten in der Folge von Cortez und seiner Soldateska, so wurde und war Musik und Literatur später neben Sprache, Wirtschaft und Militär das eigentliche Band zum Mutterland und wichtiges Instrument zur Bestätigung und Berechtigung der Identität der weißen Gesellschaft auf der anderen Seite des Ozeans. Eine Gesellschaft Mexikos oder Brasiliens (in der die Reinheit der spanischen/portugiesischen Abstammung  extrem wichtig war) im mittleren neunzehnten Jahrhundert versuchte fast sklavisch, europäische Standards, Regeln und Rituale Europas zu kopieren bzw. zu leben. Dazu gehören auch die Theater und Opernhäuser, die sich in fast allen mittleren und großen Städten des Kontinents finden. Wenn also die nachstehenden mexikanischen Autoren von der Funktion des Theaters und der Oper in dieser Zeit schreiben, dann ist es bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eine Sicht der weißen Arroganz, eben der erzwungenen Anpassung der Indogenen an die post-spanischen, weißen Normen.

Ricardo Castro: „Atzimba“ 2014/ Szene/ (3MEXICO, D.F. A 8 DE ABRIL DE 2014.OPERA ATZIMBA. FOTO MARTIN SALAS)

Oper in Mexiko, schreibt der mexikanische Musik-Wissenschaftler Janitzio De la Concha Pichardo angesichts der Wiederaufführung der Oper Atzimba von Ricardo Costas 2014 im Palacio de las Bellas Artes von Mexico City, hatte viel mit der Neu-Gestaltung der Gesellschaft und dem, was heute als moderner Staat Mexiko bekannt ist, zu tun. Die damalige Vorstellung von Oper war mit der Idee der Zivilisation verbunden, um die ästhetische, theatralische, musikalische und literarische Sprache eines solch aufwendigen Spektakels zu verstehen, das perfekt mit der neuen (westlichen) Zivilisation übereinstimmte, die im neunzehnten Jahrhundert nicht nur in Mexiko dominant war (und ist). Die Bedeutung der Oper in Latein-Amerika zielte im Mexiko des 19. Jahrhunderts vor allem auf die Erziehung der Bevölkerung ab, die sich durchaus von bestimmten einheimischen Bräuchen (der prä-kolonialen Vergangenheit) lösen wollte (oder sollte), die in verschiedenen Gesellschaftsschichten als rückständig angesichts dieser sich allmählich entwickelnden Annäherung an Europa und den Westen angesehen wurden; in der Erwartung, dieses „Modell“ für Verhalten, Ideale und Leben zu verwirklichen.

Wobei sich die ketzerische Frage stellt, welche sozialen Gruppen eigentlich – damals wie heute – in die Oper gehen und ob diese Bemühungen zur Akzeptanz indogener und anderer Minderheiten eben diese erreichten oder nicht nur ein Feigenblatt einer sich zunehmend unwohl fühlenden Mehrheits-Gesellschaft angesichts der ausgebeuteten und aufbegehrender Gruppen dienten… Die Darstellung  indogener Minderheiten, Nachfahren der besiegten Azteken etc., zeigt diese natürlich als quasi-Europäer mit Bastrock, Goldschmuck und romantisch-bukolischem Hintergrund, wie sie bereits in der Aufklärung Europas gepriesen wurden: die „edlen Wilden“ im Rousseauschen Sinne. Mit der Realität haben diese Figuren so wenig zu tun wie Castorffs Penner mit dem schicken Publikum der Bayreuther Festspiele, das auf teuren Plätzen die Unterschicht beklatscht, der sie im Alltag lieber aus dem Wege gehen.

„La conquista de Michoacán“, Detalle del mural „La Historia de Michoacán“ (Juan O’Gorman, 1942)/ Biblioteca Gertrudis Bocanegra, Pátzcuaro, Michoacán.

Und welches Mexiko ist gemeint? Der lange Weg von den ausgeplünderten spanischen Besitzungen über das implantierte Kaiserreichs Maximilians bis zur Revolution eines Benito Juarez und Diaz über die ungeliebte Liebesgeschichte mit den USA und elender Militärdiktatur bis zum heutigen autonomen, demokratischen Staatsbegilde ist ein langer und steiniger (aber immer weißer!) gewesen. Kultur also im Sinne der ehemals Besiegten oder im Sinne des fernen Europas, dessen Kunstformen sich nationalen Veränderungen widersetzen, ist hier die Frage. Denn Oper ist und bleibt bis heute eine alte europäische Kunstform. Auch wenn mir da viele widersprechen werden.

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In der Welt des 19. Jahrhunderts sah das gehobene Bürgertum Mexikos in seinem neuen Empfinden für die eigene gesellschaftliche und politisch prekäre Position und vielleicht mit beginnendem schlechten Gewissen in puncto Indios die zivilisatorische (erzieherische) Funktion der Oper als eine ihrer wichtigsten. Theater und Opernhäuser waren sowohl Orte der Sozialisierung für Gesellschaft (i. e. Adelige und das obere Bürgentum) und Orte des künstlerischen Schaffens, an denen die diversen Künste zusammenkamen. Aber sie spielten auch und vor allem eine politische und ideologische Rolle bei der der Schaffung einer nationalen Identität.

Oper wurde ein Modell zur Beruhigung des schlechten Gewissens der (post-)kolonialen Gesellschaft benötigt, das die Mehrheit der Bevölkerung überzeugen sollte (sicher nicht die indogene Minderheit, die nicht ins Theater ging): ein Gründungsmythos, der sie von einem gemeinsamen Ursprung, einer gemeinsamen Geschichte und einer gemeinsamen Richtung überzeugte, die sich von der anderer geografischer Gebiete und Kulturen unterschied. Diese (weiße!) Suche nach einer Identität kristallisierte sich in Brasilien Ende der fünfziger Jahre im Neunzehnten Jahrhunderts mit José de Alencar und seinem O Guarani (vertont von Carlo Gomes) – dem ersten Roman einer indigenen Trilogie, dem in den sechziger Jahren die Fortsetzungen Iracema und Ubirajara folgten. In Mexiko schlug der liberale Reformpolitker Ignacio Ramirez (* 22. Juni 1818 in San Miguel el Grande, Guanajuato; † 15. Juni 1879) in den 1860er Jahren vor, „alle Spuren vor der Eroberung Amerikas zu sammeln, zu erklären und zu veröffentlichen; die nationale Weisheit muss auf einer indigenen Grundlage aufgebaut werden“.

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Die beiden einzigen Opern Südamerikas im 19. Jahrhunderts mit einem indogenen Topos, O Guarany von Carlo Gomes 1870 und Atztimba von Ricardo Castro 1900, sind im 16. Jahrhundert angesiedelt und entwickeln ihre Argumente in einer (Entstehungs-)Zeit der angestrebten gegenseitigen gesellschaftlichen Anerkennung und aber auch der zunehmenden Kollision zwischen Europa und Amerika. Beide Werke drehen sich um eine antagonistische Liebesbeziehung. Obwohl Cecilia und der Indio Pery (in O Guarany) zusammenbleiben und die Möglichkeit haben, sich ein Leben in der Zukunft aufzubauen, muss Indio Pery zuerst seine Götter verleugnen und den westlichen Glauben anerkennen. Die Azteken-Prinzessin Atzimba erdolcht sich angesichts der Unversöhnlichkeit ihrer eigenen Volksgruppe, die den spanmischen Eindringling hasst und rituell opfert – Bellinis Norma und Verdis Aida grüßen..

Ricardo Castro: „Atzima“/ Rosa Rimoch sang die Titelfigur in der Wiederaufnahme 1952/ Wikipedia

In musikalischer Hinsicht haben beide Komponisten ihren Opern Lokalkolorit verliehen. Gomes enthält synkopische Rhythmen, Kontrapunkte und Triolen, die typisch für die „modinhas“ (das erste Genre der brasilianischen Volksmusik), zum Beispiel, wenn sich die Aimorés am Ende des zweiten Akts der Burg nähern und sie angreifen oder wenn ein Stammestanz aufgeführt wird, während der Aimoré Cecilia und Pery im dritten Akt im dritten Akt gefangen hält. Castro bezieht in Atzimba  originale Instrumente in die die Instrumentierung des Taraszenischen Tanzes und des Kriegertanzes mit ein (Muscheltanz und anderes – das Intermezzo aus der Oper bleibt bis heute eine beliebte Konzertzugabe). Der Gesangspart von Atzimba, der Hauptfigur, ist sehr anspruchsvoll. Zu Beginn schon hat sie eine Arie, die alle Elemente der großen Arien der europäischen traditionellen Opern jener Zeit enthält. Sie ist schwer zu singen, voller Melismen – aufeinanderfolgende Noten, die Verzierungen auf demselben Vokal bilden – an die „Casta diva“ Normas erinnernd, wie auch die Handlung die Verdische Aida streift..

Ricardo Castro: „Atzimba“/ Foto Aufführung 1900/ OBA

Atzimbas Partitur ist alles andere als einfach. Sie besitzt eine großbesetzte Orchestrierung, die oft an Gounod gemahnt. Es gibt einen Teil namens ‚Marcha Tarasca‘, in dem die Anfänge des musikalischen Nationalismus Mexikos zu hören sind. Aber im Allgemeinen ist die Partitur stark von der europäischen romantischen Oper beeinflusst. Atzimba, die mit wagnerianischen Anklängen die szenische Darstellung der Eroberung von Michoacán zeigt, ist genau die Mischung, die all diese Hinwendungen zu westlichen (i. e. europäischen) Einflüssen jener Zeit veranschaulicht, die aber gleichzeitig als idyllischer, ursprünglicher Nationalismus empfunden wurde und die heute mit Stolz als Hommage an den Komponisten und die mexikanische Oper betrachtet wird. Und da ein Teil seines Werkes stilistisch der Spätromantik zuzuordnen ist, kann man auch sagen, dass der Komponist mit der europäischen Musik seiner Zeit im Dialog stand und natürlich von ihr mehr als beeinflusst wurde..

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Ricardo Castro: „Atzimba“/ Foto Aufführung 1900/ OBA

Atzimba beginnt im Königspalast von Michoacán, wo aztekische General Hierepan (Bariton), der Anführer der indigenen Armee, mit dem Huépaclunar-Priester Huépac (Bass) spricht, der die unerwartete Anwesenheit der Weißen beklagt. Hierepan erklärt, dass Moctezuma, der Aztekenkönig, ein Feigling sei, der sein Kommando dem Feind überlassen habe. Huépac ermahnt seine Priester und Krieger, sich gegen die Invasion der bärtigen Weißen zu wehren. In der darauf folgenden Szene offenbahrt Hierepant Huépac, dass er die aztekische Prinzessin Atzimba (Sopran) liebe, aber er bemerkt habe, dass sie in den spanischen Kapitän Jorgebra (Tenor) verliebt sei. Huépac schwört, dass der weiße Mann getötet und dem Mondgott geopfert werden soll. Später stürmt dieser leidenschaftliche Spanier Jorgebra de Villadiego in Atzimbas Germach. Die Prinzessin, Schwester des Königs, fällt ihm in die Arme. Man hört Geräusche, Atzimba wähnt die Anwesenheit eines Spions und verhilft ihrem Liebhaber zur Flucht. Huépac findet die Prinzessin und droht ihr, er wisse von ihrer geheimen Affäre mit dem Feind. Atzimba offenbart ihre Gefühle für den Fremden und ihren Hass auf den Taraskanerkrieger Hierepant. Huépac beschimpft das Mädchen, nennt sie unanständig und lüstern, woraufhin Atzimba erwidert, er dürfe seine Stellung in der Hierarchie nicht vergessen, da er mit einer Prinzessin und Schwester des Königs spreche. Nach zahlreichen Handlungssträngen, die für die damaligen Opern typisch sind, wird der besiegte spanische Hauptmann zum Altar des Mondgottes geführt. Die Oper endet damit, dass Atzimba, verzweifelt über das Schicksal ihres Geliebten, Huépac den Opfer-Dolch entreißt und sich damit ersticht. Diese Wendung ist ein Referenz an die nationale Legende von Cuauhtémoc (der als letzter General gegen Cortez kämpfte), aber auch an das gewohnte Finale vieler europäischer Opern (wenngleich unterschiedliche Quellen andere Todesfinali berichten, 1900 wurde Atzimba offebar erst eingemauert/ Aida und dann oder gleich verbrannt/ Norma, der junge Mann geopfert – die Lage ist so unklar wie die Genesis der Oper selbst)..

Ricardo Castro: „Atzimba“/ der Librettist Alberto Michel/ Wikipedia mex.

Atzimba wurde am 20. Januar 1900 im Arbeu-Theater von einer spanischen Zarzuela-Truppe in spanisch uraufgeführt. Die Kritik lobte das Werk von Castro und Michel, kritisierte aber die begrenzte Leistung der Kompanie: „Großartig, offen, spontan, riesig und lärmend beschreiben den Triumph des gestrigen Abends, den die Autoren von Atzimba. Der Enthusiasmus des Publikums war von Anfang an überwältigend […] Allerdings war die Interpretation jedoch schlecht […] Luján war kalt, verstimmt und kannte kein einziges kein einziges Wort seiner Rolle […] Parra, ungeheuerlich ignorant, und Valdivieso, fade und schlaksig, hatten die schlechtesten Leistungen des Abends“. Und eine andere Quelle schreibt: “ Der Erfolg der Oper bescherte Alberto Michel und Alejandro Cuevas einen Erfolg für Alberto Michel und Alejandro Cuevas, Autoren der Texte, und Ricardo Castro, Komponist der Musik der Musik. Die Handlung gliedert sich in zwei Akte und sechs Szenen. Der patriotische Teil der Geschichte wurde mit Fingerspitzengefühl behandelt, um nicht in lächerliche Übertreibungen Übertreibungen. Sechs prächtige Dekorationen von Solórzanos Pinsel erhielten einhelligen Beifall. Castro schrieb keine Ouvertüre nach dem System der modernen Komponisten, nur ein paar Takte vor au lever du rideau, wie die Franzosen sagen würden. Dieser immense Vorteil kann von denjenigen von uns geschätzt werden, die Giordanos Opern Fedora und Andrea Chénier gehört haben Chénier gehört haben. Die Instrumentierung ist äußerst delikat, dem System folgend, das von dem gerade erwähnten erwähnt. Die Nummer, die dem Publikum am besten gefiel das Publikum am meisten erfreute, war das Intermezzo aus dem zweiten Akt, denn es denn es verdiente die Ehre der Zugabe. R. N. Montante  in Diario del Hogar, 14. November,1900; übersetzt mit www.DeepL.com)

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Ricardo Castro: „Atzimba“/ Leandro Diaz als Hierapan 1900/ OBA

Mit dem Triumph von Atzimba sagten die Kritiker eine glänzende Zukunft für den Musiker voraus. Am 1. Februar und 23. April 1900 wurde Atzimba erneut im Arbeu-Theater aufgeführt. Für die Aufführung durch die Italienischen Truppe Sieni-Pizzorni-López und um eine größere internationale Ausstrahlung zu erreichen, wurde das Libretto bearbeitet und ins Italienische übersetzt, und am 10. November 1900 fand die „endgültige Premiere“ im Principal Theatre statt. Trotz seines offensichtlichen Erfolgs blieb das Werk 28 Jahre lang unangetastet, bis am 16. September 1928, der Regisseur José F. Vasquez es im Palacio de Bellas Artes neu inszenierte. Es wurde am 3. August 1935 am selben Ort wiederaufgeführt, im Juli 1952 dann zum letzten Mal (mit der berühmten Sopranistin Rosa Rimoch und dem Bariton Roberto Silva unter Leitung von José F. Vázquez im Palacio della Bellas Artes von Mexico City – eine Radioaufnahme ist in einem kurzen Ausschnitt bei youtube zu hören). Erst 2014 gab es eine (spanischsprachige)  Wiederbelebung. Einer der Gründe, warum Atzimba nicht mehr aufgeführt wurde, ist der, dass der zweite Akt unter noch unbekannten Umständen verschollen war. Die nationalistischen Revolutionäre wollten, dass diese bahnbrechende Oper für immer verloren ging.

Denn zu dieser Zeit war Carlos Chávez der Direktor des INBA (Nationalen Theaters), und die gesamte Musik der Spät-Romantik wurde abgelehnt, galt als bürgerlich und nicht korrekt.  Chávez verabscheute aus ästhetisch-politischen Gründen die Musik der mexikanischen Spät-Romantik aus der Zeit des „Porfiriato“ (ein Begriff, der von dem mexikanischen Historiker Daniel Cosío Villegas für die Zeit geprägt wurde, in der General Porfirio Díaz Mexiko als Präsident im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert an der Macht war. Die betrügerischen Wahlen von 1910 werden gewöhnlich als das Ende des Porfiriato angesehen. Gewalt brach aus, Díaz musste zurücktreten und ins Exil gehen, und Mexiko erlebte ein Jahrzehnt des regionalen Bürgerkriegs, die Mexikanische Revolution.) Chávez hielt sich für den authentischen Übersetzer indigener Impulse und einheimischer Klänge in kultivierte (i. e. offiziell gesellschaftlich anerkannte) Musik. Atzimba war nicht opportun, sie galt als „reaktionär“, weil der spanische Eroberer hier der galante Tenor war und die indigenen Häuptlinge unsympathisch und verschlagen. Man meint mit einiger Sicherheit, dass Chavez es war, der den zweiten Akt der Oper hat verschwinden lassern.

Pedro Peres, Elevação da cruz em Porto Seguro, Bahia, 1879 Museu Nacional de Belas Artes, Rio de Janeiro (imagem cedido pelo museu)

Auf 7. Februar 2014 wurde die restaurierte dreiaktige Atzimba im Rahmen der Feierlichkeiten zum 150. Geburtstages des Komponisten im Theater Ricardo Castro de Durango wiederaufgeführt. Der Komponist Arturo Márquez war für die Orchestrierung der verlorenen Fragmente und Passagen auf der Grundlage eines Klavierauszugs verpflichtet worden.

Die Bearbeitung der Atzimba (2014) konnte zusätzliche künstlerische Ausdrucksformen in die Wiedergabe integrieren, die dann in einer interdisziplinären Präsentation die theatralische, tänzerische, musikalische und mexikanische Komposition der Entstehunjgszeit hervorheben sollte. Bei der Rekonstruktion dieses zweiten Aktes ist es interessant zu wissen, dass Arturo Márquez die europäische Formel auf eine etwas andere Art und Weise als Castro verwendete, indem er die westliche Musik als Grundlage nahm, aber in hohem Maße versuchte, die traditionellen Rhythmen und Melodien, die zu Zeit der originalen Komposition als populär bezeichnet wurden, hervorzuheben, wie sie die das Mexiko des 19. Jahrhunderts aber hinter sich lassen wollte, um die ersehnte kosmopolitische Anbindung an die transatlantische Welt zu erreichen. (…)

Der Komponist Ricardo Castro am Klavier neben seiner Frau/ Wikipedia mex.

Der Komponist Ricardo Castro  (* 7. Februar 1864 in Durango, Mexiko; †28. November 1907 in Mexiko-Stadt) war einer der bedeutendsten mexikanischen Komponisten der Spät-Romantik, der sich von Jugend an in diese aufbrausende Kultur und Entwicklung einfügte, die der Staat hervorheben wollte, nicht nur wegen seines Talents, sondern auch wegen der Musik, die er komponierte, in der der Einfluss mancher  europäischer Komponisten deutlich spürbar war, die ja das künstlerische, soziale und ästhetische Vorbild waren, dem man folgen wollte.

Das Werk Ricardo Castros war vielfältig und umfasste Kompositionen für Klavier, Polonaisen, Mazurken, Capricen, Kammermusik, zwei Konzerte, eine Sinfonie und fünf Opern. In Mexiko (1902) wurden unter der Militärherrschaft von Porfirio Díaz, um das Bild des Landes im Ausland zu verbessern, einige Künstler nach Europa geschickt, darunter Ricardo Castro. Diesem es gelang, hochrangige Freundschaften zu schließen (wie zum Beispiel mit Camille Saint-Saëns), die ihn dabei unterstützten, Konzerte in angesehenen Konzertsälen des alten Kontinents zu geben. Dort lobten Kritiker ihn als Pianisten und zeigten gleichzeitig Interesse an seinen Kompositionen, so das Klavierkonzert und Fragmente der Oper Atzimba wie das „Intermezzo“ und der „Heiliger Marsch“ .

Ricardo Castro: Montezuma/ Gemälde von Jsér Maria de Medeiros, 1878/ Wikipedia mex

Castro studierte Komposition bei Melisio Morales und Klavier bei Julio Ituarte. Seit 1882 feierte er als Pianist Erfolge in New Orleans, Washington, D.C. und New York. 1892 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Sociedad Anónima de Conciertos. Seit1902 lebte er in Paris, wo er die Pianistin Cécile Chaminade kennenlernte und von wo aus er die Konservatorien in Berlin, London, Brüssel, Rom, Mailand und Leipzig besuchte. Für den belgischen Cellisten Marix Loevensohn komponierte er 1904 die Concertos pour pianos et violoncelles . Außerdem schrieb er eine Sinfonie und eine sinfonische Dichtungen, ein Klavierkonzert, Opern ( Atzimba, 1900/ youtube 2014 und La Leyenda de Rudel/youtube 2021, 1906 sowie Satán vencido und La Rousalka) sowie zahlreiche Klavierwerke. Geerd Heinsen.

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Wie immer hat ein Bericht über unbekannte Opern viele Väter. Diese sind in diesem Fall der Musikwissenschaftler Janitzio De la Concha Pichardo (La princesa tarasca; “Atzimba” Opera, drama y narración histórico-cultural. » in Las nueve musas) und Jaime Aldaraca Ferrao (Under the Designs of Gods_ Il Guarany and Atzimba, 1920 Rio de Janeiro, v. X, n. 1, Jan./jun. 2015) deren Aufsätze die Grundlag ebenso  meines Artikels über Ricardo Castros Oper Atzimba bildeten wie auch mehrfache Blicke in die mexikanischen Seiten von Wikipedia; allen und dem Chefredakteur  von Las Nuevas Musas, José Rico, sei hiermit gedankt. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Paolo Silveri

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Durch Zufall fiel ich bei Durchsuchung von youtube über den alten Portatore d´Aqua/ I due Giuornate Cherrubinis. Und die markanteste Stimme in dieser streng historischen, zudem in Italienisch gesungenen, entzückenden RAI-Aufnahme aus den Fünfzigern war die von Paolo Silveri, einem von mir schon immer  geliebten Bariton jener Jahre. Grund also für einen Rückblick auf ihn und auf Verfügbares mit ihm.

Bei Warner/Cetra sind (neben Naxos und Bongiovanni) Wiederauflagen mit dem italienischen und heute vergessenen Bariton Paolo Silveri erschienen, so der spannende Simon Boccanegra und auch der gebieterische Nabucco, Don Carlo oder eine Tosca, Arlesiana, Favorita, ehemals von Opernsammlern meiner Generation in der Fabbri-Serie am italienischen Kiosk (in Mailand, gleich neben der Scala) erstanden, wohin man pilgerte, um diese wunderbaren Opernausgaben mit den bunten Beiheften plus LPs/ später CDs zu erwerben. Alles damals für uns eine terra incognita, von der man in Deutschland nicht einmal Kenntnis hatte. Cetra-Aufnahmen wurden so gut wie nie zu uns importiert, wenngleich man sehr gelegentlich diese wie auch die eher im kleinen Berliner-Grenzverkehr verfügbaren Russenkästen nach Leim riechenden Originalausgaben ergatterte – ich erinnere mich an die Norma mit der Cigna oder an eine Paisiello-Nina mit buntem Bild und grünem Leim-Einband, mörderisch teuer, in der Zeit, als ich bei Bote & Bock im Berliner Europacenter LPs/ CDs verkaufte.

Überhaupt müssten wir mal einen Artikel über die Freuden des alten LP-/CD-Marktes machen, auf dem es im Ausland sehr viel mehr gab als im kargen westlichen Deutschland, weit vor den grauen Firmen wie Melodram, Arcadia oder Myto. Wer erinnert sich noch an LPs der Firmen Morgan (mein erster Callas-Macbeth), BJR (toll ausgestattet) oder LR; MRF? Die meisten ersten Live-Aufnahmen kamen aus den USA. Die Brüder Gonzales hatten sogar Mikrophone in den Met-Panelen installiert, die bei Wartungsarbeiten entdeckt wurden.

In Italien gab es die zum Beispiel wunderbare alte Monteverdi-Popea unter Ewerhart (ehemals Vox), auch eine italienische Zauberflöte mit der Jurinac oder eine Turandot mit der Grob-Prandl (ehemals Remington) ebenso wie Übernahmen aus dem tschechischen Programm, so eine Bohéme mit dem betörenden Bariton Gianni Maffeo (Bohème), auch Aufnahmen mit der bezaubernden Margherita Rinaldi (Lucia oder Idomeneo neben Leyla Gencer), Adriana Guerrini (Gioconda-Querschnitt), Margherita Guglielmi (Lucia); geistliche Musik von Angelicum Mailand mit Petre Munteanu, Wanda Madonna oder Adriana Lazzerini. Und und und ….

Anders als heute im gleichgeschalteten Europa boten die Ricordi-Shops oder die Schallplattenläden in Bologna (damals schon Bongiovanni), Pesaro, Martina Franca (lange Jahre ein Grund zur Anreise), San Marino oder Rom Ungeahntes, Nationales. Eben LPs von kleineren Firmen, die die cisalpinen Nordländer nicht erreichten.  Heute steht überall das Gleiche, Langweiliges, fast nur noch all zu bekannte DVDs. Damals waren die nationalen Märkte (vor allem auch Großbritanien) lohnende Ausflugsziele zum Stöbern (niemand wird die schmutzigen Keller mit dem zerrissenen Pappkartons voller LPs in der Londoner Duke Street vergessen, natürlich auch kein Transatlantik-Reisender den Sesam-Laden von Sam Goodies oder Tower Records in New York und San Francisco… oder die Cut-out-Lager ebendort)  Ach ja, che tempi passati.

Paolo Silveri neben Maria Callas und TullioSerafin nach „Il Trovatore“ an der Scala/ Fabbri

Zurück zu Paolo Silveri, meinem Italo-Bass-Bariton-Schwarm. Denn von seiner Stimme bin ich seit meinen Studententagen besessen, seit ich während meiner Tätigkeiten als Sprachcoach (u. a. Zauberflöte mit Kiri Ke Tanawa bei starker Resistenz gegen deutsche Rachenlaute wie in ich und Nacht)  an der Santa Fé Sommeroper bei Freunden  diese vom Material her hochverdächtigen LPs der Cetra- US–Tochter Everest kennenlernte –  LPs in den weiß-goldenen Boxen, meist leicht gewellt, extrem schlecht gepresst (ganze Baumstämme ruinierten die Nadeln), mit krude getipptem Beiheft versehen.  Das Repertoire umfasste neben der Mödl-Elektra weitgehend die Cetra-Serie der italienischen Rundfunk-Opern-Gesamtaufnahmen, namentlich die Verdi-Einspielungen von 1951 zum 50. Todestag des Komponisten. Sie gehörten zu meinen ersten eigenen Schätzen, haben sie doch meinen Musikgeschmack prägend italienisch gesungen und waren eben so wohlfeil, dass ich sie mir leisten konnte und schwerbepackt mit nach Hause schleppte (Übergewicht war damals noch teurer als heute). Auf mein Drängen importierte sie danach das Electrola-Musik-Haus auf dem Berliner Ku-Damm, wenn auch irre teurer. Dort walteten Herr von Malottky und sein „Bekannter“ Herr Teppich (mit Toupée), beide liebevoll uns Jungen zugewandt., sodass man ganze Opern an der Kopfhörerbar durchhören konnte, ohne sie kaufen zu müssen (sogar den ganzen Pelleas mit der De los Angeles auf Odyssee, eine Leistung). Was für Erinnerungen!

Paolo Silveri neben Sophia Loren in dem „Favorita“-Film der RAI/ RAI

Paolo Silveri gehört zum eisernen Bestand der Verdi-Renaissance in Italien, und seine männliche, unverkennbar virile, körnige und hoch-individuelle Baritonstimme mit ihrer dunklen Färbung und auch etwas nasaler Tongebung in der leicht erreichten Höhe machte mich einfach „an“, bis heute. Es ist ja mit dem ersten Hören immer so eine Sache. Man ist von ersten Erfahrungen besonders geprägt. Und Silveris Doge Simon Boccanegra (neben dem gerade in Tenorfach gewechselte Bergonzi und der ganz jungen Stella) hat eben dieses gewisse Etwas, das mir unter die Haut geht: die Noblesse, die animalische Direktheit, das Pathos, die Menschlichkeit – später für mich mit der Wirkung Ingvar Wixells vergleichbar. Silveri besitzt nicht die Eleganz eines Bastianini oder den infamen Gestaltungswillen eines Gobbi. Angesichts der Weltkarrieren seiner Mitbewerber wie eben Gobbi, Bastiani, Panerai und anderer, später der vielen Amerikaner, sind seine weltweiten Auftritte umso erstaunlicher. Er singt – wie viele seiner Kollegen aus jenen Jahren – unverstellt und mit weniger Raffinement, dafür mit jenem „Herz“, jenem direkten Engagement, das sich bei Catarina Mancini, Maria Vitale, Giacinto Prandelli, Mirto Picchi aber auch bei Anita Cerquetti oder Gino Penno und so vielen anderen italienischen Stimmen der Zeit findet: eine unverstellte Leidenschaft und eine Wahrheit des Ausdrucks.

Die immense Kraft und unter die Haut gehende Virilität dieser nachdrücklichen Stimme sind nicht eben üppig, aber doch ausreichend dokumentiert. Der Simon Boccanegra mit der ganz jungen Antonietta Stella und dem nicht minder jugendlichen Carlo Bergonzi in einer seiner ersten Partien beim Rundfunk wurde bereits erwähnt. Auf Cetras Don Carlo mit Maria Caniglia ist er der Posa. Einige weitere Gesamtaufnahmen wie die Arlesiana und andere gibt es auch dort (alle Warner inzwischen, die sehr früh die Cetra aufkaufte). Bei Melodram-LP fand man den Trovatore mit Callas, Silveri und Lauri Volpi sowie heute bei Warner live die Callas- Alceste, auf der Silveri den Gran Sacerdote gibt. Beim Falstaff de Sabatas (Warner, Nuova Era u. a.) ist er als Ford zu hören. In einer Carmen mit Rise Stevens unter Fritz Reiner macht er den Escamillo (m. W. nur bei ehemals Cetra Opera Live als LP). Nur als LP hatte Cetra Opera Live eine Tosca mit ihm und der unterrepräsentierten Guerrini. Die abenteuerlicher Favorita von 1952 (Film der RAI bei Hardy, youtube) sollte man sich beim Ferienaufenthalt gönnen; es spielt neben Silveri eine gewisse Sofia Lazzaro, die sich als die später berühmte Loren herausstellt (was für ein Busen im machtvollen BH), dazu singen Palmira Vitali Marini und Piero Sardelli. Der Cetra-Nabucco stand am Kiosk in der Serie von Fabbri Editori (und hat die fulminante Catarina Mancini als Partnerin) und ist bei Warner herausgekommen. Melodram, Mailand, verfügte noch über das Doppel-LP-Album mit Auszügen aus Silveris Schaffen, darunter sein Boris, Otello und Don Giovanni – alles live. Die absolut wahnsinnige erste Gioconda-Aufnahme der Callas bei Cetra (von 1952, ebenfalls Warner, besser bei Naxos) hat ihn als maßstabsetzenden Barnaba (leider auch Gianni Poggi als Enzo). Seine RAI-Favorita mit Simionato und Poggi ist ebenfalls bei Warner. Bongiovanni, die Tüchtigen, haben ihm ein-zwei Recital-CDs gewidmet. Ein  Tauschfreund schenkte mir seinen Macbeth live aus Montevideo, aus Dublin (wo er Künstlerischer Direktor war)  gibt es einen Otello, an der Met, London und andernorts sang Silveri erfolgreich den Don Giovanni (in New York neben der Welitsch). Youtube hat vieles von ihm. Und Kenner fahnden nach dem EMI-Recital von 1953, das im Wesentlichen die genannten Partien, aber auch den machtvollen Posa, den Re de Lahore und vor allem seinen bewegenden Gugliemo  Tell enthält. Bewegend: Das ist vielleicht die beste Beschreibung für die Wirkung dieser schönen Stimme. Geerd Heinsen

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Paolo Silveri als Scarpia an der Scala/ Künstlerpostkarte

Dazu ein Auszug zu Paolo Silveri aus dem tapferen Wikipedia: Paolo Silveri (* 28. Dezember 1913 in Ofena; † 3. Juli 2001 in Rom) war ein italienischer Opernsänger (Bariton) und Gesangspädagoge. Silveri begann seine Gesangsausbildung bei Don Diego, einem Franziskaner aus Capestrano und ging dann nach Rom, wo er bei Luigi Perugini studierte. 1933 wurde er zum Militärdienst einberufen. Wegen einer Verwundung entlassen, setzte er seine Ausbildung bei Perugini fort und studierte an der Accademia di Santa Cecilia bei Riccardo Stracciari. 1939 debütierte er halbprofessionell am Teatro dell’Opera di Roma als „Hans Schwarz“ in Die Meistersinger von Nürnberg. Mit Unterstützung von Nazzareno De Angelis konnte er seine Ausbildung an der Accademia di Santa Cecilia fortsetzen. Auf Anraten von Beniamino Gigli wechselte er 1943 vom Bass- zum Baritonfach und debütierte im Folgejahr am Teatro dell’Opera als „Germont“ in La traviata.

In den Folgejahren trat er vor allem in Theatern Süditaliens in Opern wie Il trovatore, Rigoletto, Der Barbier von Sevilla, La Wally, Tosca und Pagliacci auf. Mit dem Ensemble des Teatro San Carlo in Neapel gastierte er 1946 an der Covent Garden Opera, wo er im Folgejahr in der ersten englischsprachigen Aufführung von Rigoletto auftrat. Am Teatro alla Scala debütierte er 1949 als Vertretung für den erkrankten Gino Bechi in Il Trovatore. Er gehörte dem Ensemble der Oper bis 1955 an und spielte u. a. in Faust, I puritani, Otello, Carmen, Andrea Chénier und Lucia di Lammermoor.

An der New Yorker Metropolitan Opera debütierte Silveri 1950 unter der Leitung von Fritz Reiner als Don Giovanni und hatte so großen Erfolg, dass er einen Vertrag für die folgenden drei Saisons erhielt. 1959 sang er in Dublin mit Otello zum einzigen Mal eine Tenorrolle. Neben seinen Bühnenauftritten sang Silveri mehrere Gesamtaufnahmen von Opern auf Schallplatte, darunter La traviata, Don Carlo, Nabucco, Simone Boccanegra, L’Arlésienne, Tosca und La Gioconda (mit Maria Callas). 1967 zog er sich von der Opernbühne zurück und unterrichtete dann an der Accademia di Santa Cecilia in Rom und an der Royal Academy of Music in London. Quelle Wikipedia   

Legendäres aus den BBC-Archiven

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Sukzessive setzt das verdienstvolle Label ICA Classics die Reihe BBC Legends – Great Recordings from the Archive fort und ist jetzt bei Volume 3 angelangt (ICAB 5167). Wie bereits in den (leider schon vergriffenen) Vorgängerboxen, sind auch diesmal 20 Silberscheiben enthalten. Tatsächlich handelt es sich durchgängig um eigentlich Altbekanntes, sind diese Mitschnitte der BBC doch bereits seit 1998 einzeln auf dem Eigenlabel erschienen. Freilich waren diese CDs teils seit Jahren selbst gebraucht nicht mehr zu beschaffen, so dass die Neuerscheinung ohne Einschränkungen begrüßt werden darf. Wie gewohnt, wird auch diesmal eine breite Palette an klassischem Repertoire abgedeckt, wobei nicht nur Dirigenten, sondern auch Instrumentalsolisten und Sänger im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die Aufnahmen – wie im Titel bereits angedeutet ausnahmslos live im Konzert entstanden – sind überwiegend, aber keineswegs sämtlich in Stereo festgehalten, so dass klanglich teilweise Einschränkungen in Kauf genommen werden müssen. Die BBC übertrug im Rundfunk zwar vereinzelt bereits ab 1959 stereophon (der in Vol. 1 enthaltene legendäre Aufführungsmitschnitt der achten Sinfonie von Mahler unter Jascha Horenstein), doch setzte sich die überlegene Zweikanal-Tontechnik erst ab 1966 überwiegend durch, auch wenn es noch bis zu Beginn der 1970er Jahre mitunter monaurale Aufnahmen gab (etwa das letzte Konzert Otto Klemperers von 1971).

Den Anfang macht ein 1977er Mitschnitt des London Symphony Orchestra unter dem greisen Karl Böhm mit der jeweils zweiten Sinfonie von Schubert und Brahms. Beide Werke waren Spezialitäten des gestrengen Grazers und gelingen dementsprechend überzeugend. Gerade für das Jugendwerk Schuberts hatte Böhm eine besondere Liebe, wie etliche Aufnahmen davon belegen. Erst spät in seinem Leben verband ihn die Zusammenarbeit mit dem Londoner Klangkörper, die dafür umso fruchtbarer war und in einer Einspielung der drei letzten Tschaikowski-Sinfonien für die Deutsche Grammophon Gesellschaft gipfelte.

Es folgt ein künstlerisch nicht minder wertvolles Tondokument, nämlich das letzte auf Tonträger festgehaltene Konzert des bereits angeschlagenen Sir John Barbirolli aus seinem Todesjahr 1970, gerade fünf Tage vor seinem Ableben mitgeschnitten in der St Nicholas‘ Chapel, Kings Lynn, Norfolk. Verantwortlich zeichnet das Hallé Orchestra aus Manchester, dem er von 1943 an bis zuletzt treu blieb. Mit der ersten Sinfonie von Elgar stand zudem eine Stück auf dem Programm, das Barbirolli zwischen 1927 und 1962 nicht weniger als sechsmal einspielte. Diese ganz späte Lesart ist gewissermaßen eine Art musikalisches Vermächtnis, in Sachen Ausdruck und Gesamteindruck kaum zu überbieten, selbst wenn die orchestrale Ausführung nicht immer den höchsten Ansprüchen genügen mag. Als Beigabe wurde Elgars Introduction and Allegro gespielt.

Der große französische Dirigent Pierre Monteux wird ebenfalls bedacht. Die CD beinhaltet vier Werke, alle in den Jahren 1960 und 1961 in jeweils anderen Konzerten mitgeschnitten, leider sämtlich in Mono. Cherubinis selten gespielte Anacréon-Ouvertüre eröffnet die Disc, gefolgt von einer gallisch angehauchten Eroica von Beethoven, beides mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Es schließt sich Don Juan von Richard Strauss an, dargeboten vom damals so bezeichneten BBC Northern Symphony Orchestra aus Manchester. Den Abschluss bildet der Ungarische Marsch von Berlioz, diesmal mit dem London Symphony Orchestra.

Die dem Klangmagier Leopold Stokowski gewidmete Platte widmet sich zuvörderst der zweiten Sinfonie von Sibelius, eine beseelte Aufführung mit dem BBC Symphony Orchestra von den Proms 1964, bei der man wehmütig den mittelmäßigen Mono-Klang in Kauf nimmt (aus demselben Jahr existiert übrigens ein interpretatorisch sehr ähnlicher, klanglich allerdings ungleich besserer Stereo-Mitschnitt aus Philadelphia). Die üppig dargebotene Dornröschen-Suite von Tschaikowski, festgehalten 1965 und ebenfalls monaural, wird vom New Philharmonia Orchestra intoniert, wie auch die abschließende, sehr exzentrische aber gleichwohl überzeugende Egmont-Ouvertüre von Beethoven, die als einziges Stück 1973 stereophon aufgezeichnet wurde.

Für diesen Dirigenten typisch intensiv gelingt die Aufführung der Faust-Sinfonie von Liszt unter Jascha Horenstein, stereophon mitgeschnitten 1972 in Salford. Ihm stand mit dem bereits genannten BBC Northern Symphony Orchestra zwar kein erstklassiger Klangkörper zur Verfügung, doch macht seine nachdrückliche und tiefgehende Interpretation dies wett. Mit John Mitchinson ist zudem einen vorzüglichen Tenor mit von der Partie.

Als schlechterdings sensationell darf der hochemotionale 1985er Proms-Mitschnitt der neunten Sinfonie von Beethoven unter Stabführung von Klaus Tennstedt gelten. Unter den zahlreichen erhaltenen Tennstedt-Aufnahmen dieses Werkes kann man diese mit guten Gründen für die herausragendste erachten. Das Solistenquartett ist mit MariAnne Häggander, Alfreda Hodgson, Robert Tear und Gwynne Howell erfreulicherweise kongenial besetzt. Und sowohl der London Philharmonic Choir als auch das nämliche London Philharmonic Orchestra, dem Tennstedt seinerzeit als Chefdirigent vorstand, geben ebenfalls ihr Bestes. Als einzigem Dirigenten in dieser Box ist Tennstedt eine weitere CD gewidmet, die mit Webers Ouvertüre zu Oberon, Schuberts Großer Sinfonie in C-Dur sowie Brahms Tragischer Ouvertüre gut bestückt ist. Wiederum handelt es sich um Mitschnitte mit „seinem“ London Philharmonic, entstanden in den Jahren 1983 und 1984. Besonders der vorwärtsdrängende Schubert präsentiert diesen Dirigenten auf seinem Zenit.

Eine besonders spannende Aufnahme stellt die Achte von Schostakowitsch dar, welche der sowjetische Dirigent Jewgeni Swetlanow im Jahre 1979 mit dem London Symphony Orchestra vorlegte. Es handelt sich tatsächlich um den einzigen erhaltenen Mitschnitt des Werkes unter diesem Dirigenten, was ihn umso bedeutsamer macht. Erwartungsgemäß darf Swetlanows Interpretation unter die hochkarätigsten gerechnet werden, hatte er doch naturgemäß ein Händchen für diesen Komponisten, wovon vor allem seine Referenzeinspielung der Leningrader Sinfonie von 1968 für Melodia zeugt. Er schafft es zudem, auch diesem urenglischen Orchester einen sowjetischen Anstrich zu verpassen, was der Idiomatik gewiss nicht abträglich ist.

Mit Gennadi Roshdestwenski wurde erfreulicherweise ein weiterer bedeutender Dirigent aus der Sowjetunion aufgenommen, der zudem zwischen 1978 und 1981 als Chefdirigent des hier auch eingesetzten BBC Symphony Orchestra amtierte. Drei russische Komponisten werden repräsentiert: Tschaikowski mit dem zweiten Akt des Nussknackers, Schostakowitsch mit der Suite aus Der Bolzen und Strawinski mit den Scènes de ballet. Die Aufnahmen datieren auf 1981 (Strawinski) und 1987 und stellen eine gelungene Symbiose aus Ost und West dar.

Dass Benjamin Britten nicht nur einer der wichtigsten britischen Komponisten des 20. Jahrhunderts war, sondern auch ein ernstzunehmender Dirigent, ist heutzutage nicht mehr jedermann bewusst. Die lange vergriffene Reihe Britten the Performer, ebenfalls von der BBC aufgelegt, legt davon nachdrücklich Zeugnis ab. Die hier inkludierte, ausgezeichnet besetzte Aufführung des Requiems von Mozart (Heather Harper, Alfreda Hodgson, Peter Pears, John Shirley-Quirk), mitgeschnitten beim Aldeburgh Festival 1971, zeigt Britten als einen der damals aufkommenden historischen Aufführungspraxis nicht abgeneigten Interpreten. Einen Wermutstropfen stellt indes das mäßige und für das Entstehungsjahr eigentlich vorgestrige monaurale Klangbild dar.

Der gerade für seinen Haydn gefeierte Eugen Jochum – neben Bruckner eine seiner Spezialitäten – verantwortet auf einer weiteren Disc zwei der sogenannten Londoner Sinfonien, nämlich die Militär-Sinfonie (Nr. 100) sowie Die Uhr (Nr. 101), zwei der gewisslich populärsten. Besagter Konzertmitschnitt fand interessanterweise im gleichen Jahre 1973 statt, also Jochum mit demselben London Philharmonic Orchestra die zwölf späten Haydn-Sinfonien für die Deutsche Grammophon vorlegte. Die Spielzeiten sind beinahe auf die Sekunde identisch, auch wenn die Live-Aufnahmen noch mehr Lebendigkeit vermitteln. Als Bonus ist Hindemiths Sinfonische Metamorphose über Themen von Carl Maria von Weber beigefügt, die auf einem Mitschnitt mit dem London Symphony Orchestra von 1977 beruht.

Einen besonderen Glücksfall stellen die beiden von Sir Macolm Sargent verantworteten Werke dar, jeweils die vierte Sinfonie von Vaughan Williams und Sibelius, Stereo-Mitschnitte von 1963 beziehungsweise 1965. Sargent, der heutzutage zu Unrecht im Rufe steht, vor allem leichtgewichtige Proms-Programme dirigiert zu haben, war freilich ein begnadeter Orchesterleiter mit einem ungemein breiten Repertoire. Die Vierte von Vaughan Williams, eines seiner expressivsten Werke, kommt heißblütig daher. Die Vierte von Sibelius, die schroffste unter seinen Sinfonien, besonders im Kopfsatz mit unheimlicher Schwärze. Trotz der hörbaren Publikumsgeräusche ein fesselndes Erlebnis.

Die Sopranistin Sena Jurinac und die Mezzosopranistin Christa Ludwig stehen im Mittelpunkt einer weiteren Scheibe, die Werke von Richard Strauss, Mahler und Brahms enthält, wobei das Groß die Vier letzten Lieder mit der Jurinac unter Sargent (1961) sowie die Lieder eines fahrenden Gesellen mit der Ludwig unter Cluytens (1957) ausmachen. Die Jurinac ist zwar nicht mehr ganz auf derselben Höhe wie zehn Jahre zuvor unter Fritz Busch, liefert indes gleichwohl eine charaktervolle Darbietung. Eine schöne Ergänzung zur berühmten Studioeinspielung der Ludwig unter Sir Adrian Boult stellt diese einige Jahre zuvor entstandene Konzertaufnahme dar.

An großen Instrumentalsolisten besteht in der Box ebenfalls kein Mangel, wobei die Pianisten dominieren. Einen Höhepunkt stellt ein Recital von 1969 mit Wilhelm Kempff dar, wo unter anderem die Klaviersonate Nr. 22 von Beethoven und mehrere Klavierstücke von Schubert (Klaviersonate f-Moll, Drei Klavierstücke, zwei der Vier Impromptus) auf dem Programm standen. Nicht weniger gelungen Swjatoslaw Richter mit den Beethoven’schen Klaviersonaten Nr. 9 und 10 sowie der Wanderer-Fantasie von Schubert (1963). Emil Gilels ist mit der 27. Klaviersonate repräsentiert, dazu weitere Klavierstücke von Scarlatti, Debussy, Scriabin und Prokofjew (1957 sowie 1984). Rudolf Serkin steuert schließlich 1973 die Klaviersonaten Nr. 21 und 24 von Beethoven sowie Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Bach bei. Hervorzuheben ist zudem Shura Cherkassky als Solist in Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1 unter Sir Georg Solti mit dem London Symphony Orchestra (1968).

Bekrönt wird das Ganze durch die Streichersolisten. Der Violinist Henryk Szeryng gibt in Personalunion als Solist und Dirigent mit dem English Chamber Orchestra Vivaldis Vier Jahreszeiten zum Besten (wobei die berühmte Studioeinspielung klanglich noch vorzuziehen ist), daneben des Komponisten Konzert für zwei Violinen an der Seite von José-Luís Garcia. Ergänzt wird dieser stereophone Konzertmitschnitt von 1972 durch Mozarts Violinkonzert G-Dur KV 216. Beschlossen wird die Box mit dem Cellisten Mstislaw Rostropowitsch in feurigen Live-Aufnahmen aus dem Jahre 1965, bedauerlicherweise sämtlich in Mono. Drei Konzerte für Cello und Orchester standen in drei Auftritten auf dem Programm, wobei Rostropowitsch in Haydns Cellokonzert Nr. 1 selbst auch das Dirigat übernahm, während ihm im ersten Cellokonzert von Saint-Saëns sowie im Cellokonzert von Elgar mit dem bereits erwähnten Gennadi Roshdestwenski ein begnadeter Begleiter auf dem Dirigentenpult zur Verfügung stand.

In der Summe lässt sich diese Kollektion als künstlerisch ausgezeichnet bewerten. Die angesprochenen teilweise vorhandenen klanglichen Defizite sind angesichts dessen hinnehmbar. Die Textbeilage ist vollauf zweckdienlich (05. 11. 22). Daniel Hauser

Klaus Weise

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Mit Bedauern hörten wir vom Tode des deutschen Dirigenten Klaus Weise am 4. September im Alter von 86 Jahren in Cagnes-sur-Mer. Er wurde am 30. Januar 1936 in Pommern geboren und begann seine Karriere in Trier, bevor er nach Kiel ging, wo er von 1981 bis 1985 Musikdirektor des Theaters Kiel war und 2001 und 2007 als Gastdirigent an die Kieler Philharmonie zurückkehrte. Von 1985 bis 1990 war er Musikdirektor der Dortmunder Philharmonie und von 1990 bis 1997 Chefdirigent der Opera de Nice. Als freiberuflicher Dirigent arbeitete Weise mit der Königlichen Dänischen Oper, der Königlichen Schwedischen Oper, der Opera National de Bordeaux, der New York City Opera und der Chinesischen Philharmonie in Peking zusammen. Von seinem Posten als Chefdirigent der Staatskapelle Halle trat er 2007 nach einem Streit mit dem Orchester zurück, woraufhin er eine Reihe von Dirigaten in der Türkei und in Asien übernahm (Foto Archivportal).

Daniele Barioni

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Der italienische Bariton/Tenor Daniele Barioni (* 6. September 1930 in Copparo, Italien) starb am  5. November 2022.  Zu Karrierebeginn als Bariton tätig, sang er in der Folgezeit als Tenor. 1949 debütierte er am Mailänder Circolo Italia in einem Konzert, an dem auch die chilenische Sopranistin Claudia Parada teilnahm. 1954 gab er sein Opern-Debüt am Teatro Nuovo in Mailand in der Rolle des Turiddu in der Oper Cavalleria rusticana. Am 20. Februar 1956 trat er dann erstmals in der New Yorker Metropolitan Opera auf, als er den Cavaradossi in der Oper Tosca an der Seite von Delia Rigal und George London sang. Insgesamt war er sieben Jahre lang in 54 Auftritten für die New Yorker Oper tätig und beendete seine Zeit dort mit der Rolle der italienischen Sängers in Der Rosenkavalier.

In seiner Karriere folgte neben weiteren weltweiten Auftritten auch die Mitwirkung im italienischen Film Carosello di Canzoni. 1966 sang er an der Mailänder Scala den Turiddu und Pinkerton in Madama Butterfly (unser Foto/Piccagliani). Bis 1975 war er ebenfalls weiter regelmäßig in verschiedenen US-amerikanischen Städten musikalisch aktiv.

Zu seinen weiteren Rollen gehörten: Alfredo in La traviata (u. a. 1958 an der Met mit Maria Callas), Dick Johnson in La fanciulla del West, Ismaele in Nabucco, Macduff in Macbeth, Loris in Fedora, die Titelrolle in Andrea Chénier, Edgardo in Lucia di Lammermoor, Calàf in Turandot und Enzo in La Gioconda. Youtube hat vieles davon, Aufnahmen findet man bei Discogs.

Er trat am 18. Juni 1966 als Gast in der deutschen Fernsehshow Einer wird gewinnen auf. Zwischen 1975 und 1980 wurden seine Auftritte seltener. Im Jahre 1981 gab er, mit Renata Tebaldi als Partnerin, sein letztes Konzert im Teatro Comunale in Ferrara. Hier erhielt er den Premio Frescobaldi 1980. (Wikipedia)