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Die Oper Europas kannte den Topos der Azteken (bzw. der Incas) und und namentlich Montezumas seit den brutalen Feldzügen der Spanier unter Hérnand Cortez ab 1519. Die zwei Indio-Herrscher dieses Namens (Moctezuma I und II 1390–1469 bzw. 1465–1520) gaben Anlass zu zahlreichen Dichtungen und Vertonungen (so an Opern 1733 Vivaldi, 1755 Graun (im Auftrag Friedrich des Großen), 1765 de Majo, 1771 Myslivecek, 1775 Sacchini, 1781 Zingarelli. 1809 komponiert Gaspare Spontini im Auftrag Napoleons I. seine spektakuläre Oper Fernand Cortez, die in ganz Europa erfolgreich war. In der Neuzeit folgten 1903 Sessions, 1987 Rihm, 2005 Ferrero und 2010 Adler.
Besonders folgenreich war der Roman von Jean-François Marmontel, Les Incas, ou la destruction de l’empire du Pérou, von 1777 in Paris, der den Prototyp des Edles Wilden setzte. Nach der europäischen Entdeckung und Eroberung Süd-Amerikas fand dieser Gedanke einigen Anklang; er nahm bereits in dem Epos La Araucana (um 1570) von Alonso de Ercilla y Zúñiga Gestalt an. Hundert Jahre später griff John Dryden die Idee wieder auf. Im 18. Jh. war der Philosoph Jean-Jacques Rousseau einer ihrer prominenten Vertreter, und in der Romantik fand diese Vorstellung viele Anhänger. Schon Louis-Armand de Lom d’Arce, genannt Baron de Lahontan, ein Forschungsreisender in Neufrankreich, verknüpfte 1705 mit der Figur des „edlen Wilden“, seinem Gesprächspartner aus dem Volk der Huronen, und bot eine radikal sozialkritische und politische Sicht auf die Verhältnisse im alten Europa. Das Fremde dient also als Platform für die Kritik am Eigenen.
Der von Jean-Jacques Rousseau 1755 in seinem Werk Discours sur l’inégalité postulierte Naturzustand des Menschen wird im Allgemeinen als Ursprung dieses idealisierten Menschenbildes gewertet. Im Jahr 1771 erschien Louis Antoine de Bougainville ausführlicher Reisebericht seiner Weltumsegelung, Voyage autour du monde par la frégate du roi La Boudeuse et la flûte L’Étoile. In diesem Bericht stellte der Aufenthalt in Tahiti seine interessanteste Station dar, hier treffen die europäische Zivilisation mit der Kultur der Tahitianer zusammen, den „edlen oder guten Wilden“. Friedrich Melchior Grimm, damals federführend für die Correspondance littéraire, philosophique et critique verantwortlich, bat Denis Diderot, eine Buchbesprechung des Bougainville´schen Reiseberichts zu verfassen. Diderot entsprach diesem Wunsch, arbeitete aber die Rezension noch weiter aus zu einem Essay, Supplément au voyage de Bougainville 1771. Die Lederstrumpf-Romane von James Fenimore Cooper (erschienen 1823–1841) sind eines der ersten bekannten Werke, die das Konzept des „edlen Wilden“ literarisch verarbeiteten und gilt als klassisches Beispiel des „edlen Wilden“ in der Literatur.
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Zurück nach Lateinamerika: Il Guarany ist eine Oper („opera-ballo“) in vier Akten von Antônio Carlos Gomes von 1870 und gilt als die erste südamerikanische Oper mit indogenen Personal im Konflikt mit den Weißen. Die literarische Vorlage bildete der Roman O Guarani des Schriftstellers José de Alencar. Das Libretto wurde von Antonio Scalvini und Carlo D’Ormeville in italienischer Sprache verfasst. Il Guarany wird als erste große brasilianische Oper angesehen und ist dem romantischen Genre des Indianismo zuzurechnen. Sie ist von nationaler Bedeutung und auch über die Grenzen Brasiliens hinaus bekannt. Aber sie bietet wie eben alle anderen Dokumente dieser Art nur eine westliche, europäische Sicht auf die Geschichte Südamerikas, in Mailand geschrieben und dort erstaufgeführt. Und erst danach in Brasilien importiert, wo Gomes heute als Nationalkomponist gilt. In operalounge.de haben wir reichlich über Gomes berichtet.
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Diesen Aspekt gilt es zu berücksichtigen, wenn man sich der anderen „indogenen“ Oper des neunzehnten Jahrhunderts aus Mexico nähert, Atzimba von Ricardo Castro, 1900 in Mexiko-Stadt uraufgeführt, die im Folgenden vorgestellt werden soll. Kunst und Kultur in Südamerika bis zum Ende der 1880er Jahre ist immer importierte Kunst aus Europa, die mit einer Verspätung von rund 50 Jahren in den Kolonien der besetzten und von Europa gehaltenen Gebieten eintraf. Waren es zu Beginn die spanischen Jesuiten in der Folge von Cortez und seiner Soldateska, so wurde und war Musik und Literatur später neben Sprache, Wirtschaft und Militär das eigentliche Band zum Mutterland und wichtiges Instrument zur Bestätigung und Berechtigung der Identität der weißen Gesellschaft auf der anderen Seite des Ozeans. Eine Gesellschaft Mexikos oder Brasiliens (in der die Reinheit der spanischen/portugiesischen Abstammung extrem wichtig war) im mittleren neunzehnten Jahrhundert versuchte fast sklavisch, europäische Standards, Regeln und Rituale Europas zu kopieren bzw. zu leben. Dazu gehören auch die Theater und Opernhäuser, die sich in fast allen mittleren und großen Städten des Kontinents finden. Wenn also die nachstehenden mexikanischen Autoren von der Funktion des Theaters und der Oper in dieser Zeit schreiben, dann ist es bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eine Sicht der weißen Arroganz, eben der erzwungenen Anpassung der Indogenen an die post-spanischen, weißen Normen.
Oper in Mexiko, schreibt der mexikanische Musik-Wissenschaftler Janitzio De la Concha Pichardo angesichts der Wiederaufführung der Oper Atzimba von Ricardo Costas 2014 im Palacio de las Bellas Artes von Mexico City, hatte viel mit der Neu-Gestaltung der Gesellschaft und dem, was heute als moderner Staat Mexiko bekannt ist, zu tun. Die damalige Vorstellung von Oper war mit der Idee der Zivilisation verbunden, um die ästhetische, theatralische, musikalische und literarische Sprache eines solch aufwendigen Spektakels zu verstehen, das perfekt mit der neuen (westlichen) Zivilisation übereinstimmte, die im neunzehnten Jahrhundert nicht nur in Mexiko dominant war (und ist). Die Bedeutung der Oper in Latein-Amerika zielte im Mexiko des 19. Jahrhunderts vor allem auf die Erziehung der Bevölkerung ab, die sich durchaus von bestimmten einheimischen Bräuchen (der prä-kolonialen Vergangenheit) lösen wollte (oder sollte), die in verschiedenen Gesellschaftsschichten als rückständig angesichts dieser sich allmählich entwickelnden Annäherung an Europa und den Westen angesehen wurden; in der Erwartung, dieses „Modell“ für Verhalten, Ideale und Leben zu verwirklichen.
Wobei sich die ketzerische Frage stellt, welche sozialen Gruppen eigentlich – damals wie heute – in die Oper gehen und ob diese Bemühungen zur Akzeptanz indogener und anderer Minderheiten eben diese erreichten oder nicht nur ein Feigenblatt einer sich zunehmend unwohl fühlenden Mehrheits-Gesellschaft angesichts der ausgebeuteten und aufbegehrender Gruppen dienten… Die Darstellung indogener Minderheiten, Nachfahren der besiegten Azteken etc., zeigt diese natürlich als quasi-Europäer mit Bastrock, Goldschmuck und romantisch-bukolischem Hintergrund, wie sie bereits in der Aufklärung Europas gepriesen wurden: die „edlen Wilden“ im Rousseauschen Sinne. Mit der Realität haben diese Figuren so wenig zu tun wie Castorffs Penner mit dem schicken Publikum der Bayreuther Festspiele, das auf teuren Plätzen die Unterschicht beklatscht, der sie im Alltag lieber aus dem Wege gehen.
Und welches Mexiko ist gemeint? Der lange Weg von den ausgeplünderten spanischen Besitzungen über das implantierte Kaiserreichs Maximilians bis zur Revolution eines Benito Juarez und Diaz über die ungeliebte Liebesgeschichte mit den USA und elender Militärdiktatur bis zum heutigen autonomen, demokratischen Staatsbegilde ist ein langer und steiniger (aber immer weißer!) gewesen. Kultur also im Sinne der ehemals Besiegten oder im Sinne des fernen Europas, dessen Kunstformen sich nationalen Veränderungen widersetzen, ist hier die Frage. Denn Oper ist und bleibt bis heute eine alte europäische Kunstform. Auch wenn mir da viele widersprechen werden.
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In der Welt des 19. Jahrhunderts sah das gehobene Bürgertum Mexikos in seinem neuen Empfinden für die eigene gesellschaftliche und politisch prekäre Position und vielleicht mit beginnendem schlechten Gewissen in puncto Indios die zivilisatorische (erzieherische) Funktion der Oper als eine ihrer wichtigsten. Theater und Opernhäuser waren sowohl Orte der Sozialisierung für Gesellschaft (i. e. Adelige und das obere Bürgentum) und Orte des künstlerischen Schaffens, an denen die diversen Künste zusammenkamen. Aber sie spielten auch und vor allem eine politische und ideologische Rolle bei der der Schaffung einer nationalen Identität.
Oper wurde ein Modell zur Beruhigung des schlechten Gewissens der (post-)kolonialen Gesellschaft benötigt, das die Mehrheit der Bevölkerung überzeugen sollte (sicher nicht die indogene Minderheit, die nicht ins Theater ging): ein Gründungsmythos, der sie von einem gemeinsamen Ursprung, einer gemeinsamen Geschichte und einer gemeinsamen Richtung überzeugte, die sich von der anderer geografischer Gebiete und Kulturen unterschied. Diese (weiße!) Suche nach einer Identität kristallisierte sich in Brasilien Ende der fünfziger Jahre im Neunzehnten Jahrhunderts mit José de Alencar und seinem O Guarani (vertont von Carlo Gomes) – dem ersten Roman einer indigenen Trilogie, dem in den sechziger Jahren die Fortsetzungen Iracema und Ubirajara folgten. In Mexiko schlug der liberale Reformpolitker Ignacio Ramirez (* 22. Juni 1818 in San Miguel el Grande, Guanajuato; † 15. Juni 1879) in den 1860er Jahren vor, „alle Spuren vor der Eroberung Amerikas zu sammeln, zu erklären und zu veröffentlichen; die nationale Weisheit muss auf einer indigenen Grundlage aufgebaut werden“.
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Die beiden einzigen Opern Südamerikas im 19. Jahrhunderts mit einem indogenen Topos, O Guarany von Carlo Gomes 1870 und Atztimba von Ricardo Castro 1900, sind im 16. Jahrhundert angesiedelt und entwickeln ihre Argumente in einer (Entstehungs-)Zeit der angestrebten gegenseitigen gesellschaftlichen Anerkennung und aber auch der zunehmenden Kollision zwischen Europa und Amerika. Beide Werke drehen sich um eine antagonistische Liebesbeziehung. Obwohl Cecilia und der Indio Pery (in O Guarany) zusammenbleiben und die Möglichkeit haben, sich ein Leben in der Zukunft aufzubauen, muss Indio Pery zuerst seine Götter verleugnen und den westlichen Glauben anerkennen. Die Azteken-Prinzessin Atzimba erdolcht sich angesichts der Unversöhnlichkeit ihrer eigenen Volksgruppe, die den spanmischen Eindringling hasst und rituell opfert – Bellinis Norma und Verdis Aida grüßen..
In musikalischer Hinsicht haben beide Komponisten ihren Opern Lokalkolorit verliehen. Gomes enthält synkopische Rhythmen, Kontrapunkte und Triolen, die typisch für die „modinhas“ (das erste Genre der brasilianischen Volksmusik), zum Beispiel, wenn sich die Aimorés am Ende des zweiten Akts der Burg nähern und sie angreifen oder wenn ein Stammestanz aufgeführt wird, während der Aimoré Cecilia und Pery im dritten Akt im dritten Akt gefangen hält. Castro bezieht in Atzimba originale Instrumente in die die Instrumentierung des Taraszenischen Tanzes und des Kriegertanzes mit ein (Muscheltanz und anderes – das Intermezzo aus der Oper bleibt bis heute eine beliebte Konzertzugabe). Der Gesangspart von Atzimba, der Hauptfigur, ist sehr anspruchsvoll. Zu Beginn schon hat sie eine Arie, die alle Elemente der großen Arien der europäischen traditionellen Opern jener Zeit enthält. Sie ist schwer zu singen, voller Melismen – aufeinanderfolgende Noten, die Verzierungen auf demselben Vokal bilden – an die „Casta diva“ Normas erinnernd, wie auch die Handlung die Verdische Aida streift..
Atzimbas Partitur ist alles andere als einfach. Sie besitzt eine großbesetzte Orchestrierung, die oft an Gounod gemahnt. Es gibt einen Teil namens ‚Marcha Tarasca‘, in dem die Anfänge des musikalischen Nationalismus Mexikos zu hören sind. Aber im Allgemeinen ist die Partitur stark von der europäischen romantischen Oper beeinflusst. Atzimba, die mit wagnerianischen Anklängen die szenische Darstellung der Eroberung von Michoacán zeigt, ist genau die Mischung, die all diese Hinwendungen zu westlichen (i. e. europäischen) Einflüssen jener Zeit veranschaulicht, die aber gleichzeitig als idyllischer, ursprünglicher Nationalismus empfunden wurde und die heute mit Stolz als Hommage an den Komponisten und die mexikanische Oper betrachtet wird. Und da ein Teil seines Werkes stilistisch der Spätromantik zuzuordnen ist, kann man auch sagen, dass der Komponist mit der europäischen Musik seiner Zeit im Dialog stand und natürlich von ihr mehr als beeinflusst wurde..
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Atzimba beginnt im Königspalast von Michoacán, wo aztekische General Hierepan (Bariton), der Anführer der indigenen Armee, mit dem Huépaclunar-Priester Huépac (Bass) spricht, der die unerwartete Anwesenheit der Weißen beklagt. Hierepan erklärt, dass Moctezuma, der Aztekenkönig, ein Feigling sei, der sein Kommando dem Feind überlassen habe. Huépac ermahnt seine Priester und Krieger, sich gegen die Invasion der bärtigen Weißen zu wehren. In der darauf folgenden Szene offenbahrt Hierepant Huépac, dass er die aztekische Prinzessin Atzimba (Sopran) liebe, aber er bemerkt habe, dass sie in den spanischen Kapitän Jorgebra (Tenor) verliebt sei. Huépac schwört, dass der weiße Mann getötet und dem Mondgott geopfert werden soll. Später stürmt dieser leidenschaftliche Spanier Jorgebra de Villadiego in Atzimbas Germach. Die Prinzessin, Schwester des Königs, fällt ihm in die Arme. Man hört Geräusche, Atzimba wähnt die Anwesenheit eines Spions und verhilft ihrem Liebhaber zur Flucht. Huépac findet die Prinzessin und droht ihr, er wisse von ihrer geheimen Affäre mit dem Feind. Atzimba offenbart ihre Gefühle für den Fremden und ihren Hass auf den Taraskanerkrieger Hierepant. Huépac beschimpft das Mädchen, nennt sie unanständig und lüstern, woraufhin Atzimba erwidert, er dürfe seine Stellung in der Hierarchie nicht vergessen, da er mit einer Prinzessin und Schwester des Königs spreche. Nach zahlreichen Handlungssträngen, die für die damaligen Opern typisch sind, wird der besiegte spanische Hauptmann zum Altar des Mondgottes geführt. Die Oper endet damit, dass Atzimba, verzweifelt über das Schicksal ihres Geliebten, Huépac den Opfer-Dolch entreißt und sich damit ersticht. Diese Wendung ist ein Referenz an die nationale Legende von Cuauhtémoc (der als letzter General gegen Cortez kämpfte), aber auch an das gewohnte Finale vieler europäischer Opern (wenngleich unterschiedliche Quellen andere Todesfinali berichten, 1900 wurde Atzimba offebar erst eingemauert/ Aida und dann oder gleich verbrannt/ Norma, der junge Mann geopfert – die Lage ist so unklar wie die Genesis der Oper selbst)..
Atzimba wurde am 20. Januar 1900 im Arbeu-Theater von einer spanischen Zarzuela-Truppe in spanisch uraufgeführt. Die Kritik lobte das Werk von Castro und Michel, kritisierte aber die begrenzte Leistung der Kompanie: „Großartig, offen, spontan, riesig und lärmend beschreiben den Triumph des gestrigen Abends, den die Autoren von Atzimba. Der Enthusiasmus des Publikums war von Anfang an überwältigend […] Allerdings war die Interpretation jedoch schlecht […] Luján war kalt, verstimmt und kannte kein einziges kein einziges Wort seiner Rolle […] Parra, ungeheuerlich ignorant, und Valdivieso, fade und schlaksig, hatten die schlechtesten Leistungen des Abends“. Und eine andere Quelle schreibt: “ Der Erfolg der Oper bescherte Alberto Michel und Alejandro Cuevas einen Erfolg für Alberto Michel und Alejandro Cuevas, Autoren der Texte, und Ricardo Castro, Komponist der Musik der Musik. Die Handlung gliedert sich in zwei Akte und sechs Szenen. Der patriotische Teil der Geschichte wurde mit Fingerspitzengefühl behandelt, um nicht in lächerliche Übertreibungen Übertreibungen. Sechs prächtige Dekorationen von Solórzanos Pinsel erhielten einhelligen Beifall. Castro schrieb keine Ouvertüre nach dem System der modernen Komponisten, nur ein paar Takte vor au lever du rideau, wie die Franzosen sagen würden. Dieser immense Vorteil kann von denjenigen von uns geschätzt werden, die Giordanos Opern Fedora und Andrea Chénier gehört haben Chénier gehört haben. Die Instrumentierung ist äußerst delikat, dem System folgend, das von dem gerade erwähnten erwähnt. Die Nummer, die dem Publikum am besten gefiel das Publikum am meisten erfreute, war das Intermezzo aus dem zweiten Akt, denn es denn es verdiente die Ehre der Zugabe. R. N. Montante in Diario del Hogar, 14. November,1900; übersetzt mit www.DeepL.com)
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Mit dem Triumph von Atzimba sagten die Kritiker eine glänzende Zukunft für den Musiker voraus. Am 1. Februar und 23. April 1900 wurde Atzimba erneut im Arbeu-Theater aufgeführt. Für die Aufführung durch die Italienischen Truppe Sieni-Pizzorni-López und um eine größere internationale Ausstrahlung zu erreichen, wurde das Libretto bearbeitet und ins Italienische übersetzt, und am 10. November 1900 fand die „endgültige Premiere“ im Principal Theatre statt. Trotz seines offensichtlichen Erfolgs blieb das Werk 28 Jahre lang unangetastet, bis am 16. September 1928, der Regisseur José F. Vasquez es im Palacio de Bellas Artes neu inszenierte. Es wurde am 3. August 1935 am selben Ort wiederaufgeführt, im Juli 1952 dann zum letzten Mal (mit der berühmten Sopranistin Rosa Rimoch und dem Bariton Roberto Silva unter Leitung von José F. Vázquez im Palacio della Bellas Artes von Mexico City – eine Radioaufnahme ist in einem kurzen Ausschnitt bei youtube zu hören). Erst 2014 gab es eine (spanischsprachige) Wiederbelebung. Einer der Gründe, warum Atzimba nicht mehr aufgeführt wurde, ist der, dass der zweite Akt unter noch unbekannten Umständen verschollen war. Die nationalistischen Revolutionäre wollten, dass diese bahnbrechende Oper für immer verloren ging.
Denn zu dieser Zeit war Carlos Chávez der Direktor des INBA (Nationalen Theaters), und die gesamte Musik der Spät-Romantik wurde abgelehnt, galt als bürgerlich und nicht korrekt. Chávez verabscheute aus ästhetisch-politischen Gründen die Musik der mexikanischen Spät-Romantik aus der Zeit des „Porfiriato“ (ein Begriff, der von dem mexikanischen Historiker Daniel Cosío Villegas für die Zeit geprägt wurde, in der General Porfirio Díaz Mexiko als Präsident im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert an der Macht war. Die betrügerischen Wahlen von 1910 werden gewöhnlich als das Ende des Porfiriato angesehen. Gewalt brach aus, Díaz musste zurücktreten und ins Exil gehen, und Mexiko erlebte ein Jahrzehnt des regionalen Bürgerkriegs, die Mexikanische Revolution.) Chávez hielt sich für den authentischen Übersetzer indigener Impulse und einheimischer Klänge in kultivierte (i. e. offiziell gesellschaftlich anerkannte) Musik. Atzimba war nicht opportun, sie galt als „reaktionär“, weil der spanische Eroberer hier der galante Tenor war und die indigenen Häuptlinge unsympathisch und verschlagen. Man meint mit einiger Sicherheit, dass Chavez es war, der den zweiten Akt der Oper hat verschwinden lassern.
Auf 7. Februar 2014 wurde die restaurierte dreiaktige Atzimba im Rahmen der Feierlichkeiten zum 150. Geburtstages des Komponisten im Theater Ricardo Castro de Durango wiederaufgeführt. Der Komponist Arturo Márquez war für die Orchestrierung der verlorenen Fragmente und Passagen auf der Grundlage eines Klavierauszugs verpflichtet worden.
Die Bearbeitung der Atzimba (2014) konnte zusätzliche künstlerische Ausdrucksformen in die Wiedergabe integrieren, die dann in einer interdisziplinären Präsentation die theatralische, tänzerische, musikalische und mexikanische Komposition der Entstehunjgszeit hervorheben sollte. Bei der Rekonstruktion dieses zweiten Aktes ist es interessant zu wissen, dass Arturo Márquez die europäische Formel auf eine etwas andere Art und Weise als Castro verwendete, indem er die westliche Musik als Grundlage nahm, aber in hohem Maße versuchte, die traditionellen Rhythmen und Melodien, die zu Zeit der originalen Komposition als populär bezeichnet wurden, hervorzuheben, wie sie die das Mexiko des 19. Jahrhunderts aber hinter sich lassen wollte, um die ersehnte kosmopolitische Anbindung an die transatlantische Welt zu erreichen. (…)
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Der Komponist Ricardo Castro (* 7. Februar 1864 in Durango, Mexiko; †28. November 1907 in Mexiko-Stadt) war einer der bedeutendsten mexikanischen Komponisten der Spät-Romantik, der sich von Jugend an in diese aufbrausende Kultur und Entwicklung einfügte, die der Staat hervorheben wollte, nicht nur wegen seines Talents, sondern auch wegen der Musik, die er komponierte, in der der Einfluss mancher europäischer Komponisten deutlich spürbar war, die ja das künstlerische, soziale und ästhetische Vorbild waren, dem man folgen wollte.
Das Werk Ricardo Castros war vielfältig und umfasste Kompositionen für Klavier, Polonaisen, Mazurken, Capricen, Kammermusik, zwei Konzerte, eine Sinfonie und fünf Opern. In Mexiko (1902) wurden unter der Militärherrschaft von Porfirio Díaz, um das Bild des Landes im Ausland zu verbessern, einige Künstler nach Europa geschickt, darunter Ricardo Castro. Diesem es gelang, hochrangige Freundschaften zu schließen (wie zum Beispiel mit Camille Saint-Saëns), die ihn dabei unterstützten, Konzerte in angesehenen Konzertsälen des alten Kontinents zu geben. Dort lobten Kritiker ihn als Pianisten und zeigten gleichzeitig Interesse an seinen Kompositionen, so das Klavierkonzert und Fragmente der Oper Atzimba wie das „Intermezzo“ und der „Heiliger Marsch“ .
Castro studierte Komposition bei Melisio Morales und Klavier bei Julio Ituarte. Seit 1882 feierte er als Pianist Erfolge in New Orleans, Washington, D.C. und New York. 1892 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Sociedad Anónima de Conciertos. Seit1902 lebte er in Paris, wo er die Pianistin Cécile Chaminade kennenlernte und von wo aus er die Konservatorien in Berlin, London, Brüssel, Rom, Mailand und Leipzig besuchte. Für den belgischen Cellisten Marix Loevensohn komponierte er 1904 die Concertos pour pianos et violoncelles . Außerdem schrieb er eine Sinfonie und eine sinfonische Dichtungen, ein Klavierkonzert, Opern ( Atzimba, 1900/ youtube 2014 und La Leyenda de Rudel/youtube 2021, 1906 sowie Satán vencido und La Rousalka) sowie zahlreiche Klavierwerke. Geerd Heinsen.
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Wie immer hat ein Bericht über unbekannte Opern viele Väter. Diese sind in diesem Fall der Musikwissenschaftler Janitzio De la Concha Pichardo (La princesa tarasca; “Atzimba” Opera, drama y narración histórico-cultural. » in Las nueve musas) und Jaime Aldaraca Ferrao (Under the Designs of Gods_ Il Guarany and Atzimba, 1920 Rio de Janeiro, v. X, n. 1, Jan./jun. 2015) deren Aufsätze die Grundlag ebenso meines Artikels über Ricardo Castros Oper Atzimba bildeten wie auch mehrfache Blicke in die mexikanischen Seiten von Wikipedia; allen und dem Chefredakteur von Las Nuevas Musas, José Rico, sei hiermit gedankt. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier.
Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.