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Meine erste Begegnung mit der Musik Richard Wagners verdanke ich dem Rheingold. Rudolf Kempe hatte 1959 für die Electrola in der Berliner Grunewaldkirche eine Szenenfolge dirigiert. Schon in Stereo. Die Sänger kamen aus dem Westen, das Orchester – die Staatskapelle Berlin – aus dem Osten der Stadt, die damals noch nicht durch die Mauer getrennt war. Aus Dresden stammend und in westlichen Musikmetropolen zu internationalem Ruhm gelangt, verkörperte der Dirigent beide Seiten Deutschlands und deren Zusammenhalt durch die Musik. Folglich wurde die Langspielplatte auch in beiden Landesteilen veröffentlicht, die Ost-Ausgabe zunächst nur in Mono und mit eigener Aufmachung bei Eterna. Soviel Unterschied musste sein. Rheingold. Der Titel hatte auf den Jüngling (mich) eine magische Anziehungskraft. Darunter vorstellen konnte er sich wenig. Einschlägige Bücher, die Aufklärung hätten schaffen können, waren im Elternhaus auf dem Lande in Thüringen oder in der bescheidenen Rathaus-Bücherei nicht vorrätig. Dafür ein Plattenspieler. Die Wellen brachen sich auch aus dem schlichten Lausprecher Bahn.
Erst nach Jahren wurde mir bewusst, dass das Vorspiel später einsetzte als im Original. Kein tiefes Es, aus dem die musikalischen Themen auf einzigartige Weise erst entstehen. Sie sind schon da. Bei mir reichte das, um für das Leben von dieser Musik regelrecht infiziert worden zu sein. Die einzelnen Szenen waren ohne Pause geschickt miteinander verbunden, so dass sie sich wie aus einem Guss anhörten. Noch heute habe ich diese Abfolge im Kopf und muss mir jedes Mal vergegenwärtigen, dass sich Erdas Warnung nicht nahtlos an Alberichs Fluch anschließt. So tief sitzt der frühe Eindruck.
Bald wusste ich es besser. Das Libretto war auch in der DDR aufzutreiben, für Pfennige in einem Antiquariat im nahegelegenen Jena. Dieses Reclam-Heft habe ich heute noch. Um mir die Texte einzuprägen, hätte ich es allerdings nicht gebraucht. Wagners Ring-Sprache lernt sich leicht. Zumal dann, wenn die Sänger so deutlich singen wie auf meiner Schallplatte, die inzwischen auch mehrfach als CD und in astreinem Stereo aufgelegt wurde. Jedes Wort ist zu verstehen. Keine Silbe wird verschluckt. Nichts geht unter im Orchester. Aus dieser Genauigkeit erwächst das inhaltliche und musikalische Verständnis in seinen Grundzügen ganz von allein. Wenngleich sich der Vortragstil über die Jahrzehnte verändert hat, die Notwendigkeit der inhaltlichen Verständlichkeit ist geblieben. Ich war „verdorben“. So perfekt sollte ich Wagner nur noch selten hören.
Mir gingen diese Dinge durch den Kopf, als ich mich in den Leitfaden zu Wagners Ring von Wolfgang Kau vertiefte, der bei Königshausen & Neumann erschienen ist. Für jeden Teil ein handliches Taschenbuch von 138 bis 172 Seiten: Das Rheingold (ISBN 978-3-8260-7657-2), Die Walküre (978-3-8260-7658-9), Siegfried (978-3-8260-7658-6), Götterdämmerung (978-3-8260-7660-2). Auf Fotos im Inneren der sparsam aber übersichtlich ausgestatten Bücher wurde verzichtet. Bühnenbilder auf der Rückseite der broschierten Bände – passend zu den jeweiligen Teilen – lassen gewisse Schlüsse auf den Ansatz des Autors, über den der Verlag keine Angaben macht, zu. Für Rheingold und Walküre gibt es Entwürfe zu den Schlussszenen von Helmut Jürgens für Aufführungen 1952 in München. Dabei handelte es sich um Neuinszenierungen des Regisseurs Heinz Arnold im Prinzregententheater, die musikalisch von Georg Solti geleitet wurde, jenem Dirigenten, der bei Decca alsbald die berühmteste aller Ring-Einspielungen vorlegen würde (und dessen Ring-Einspielung nach und nach gerade wieder in absolut exzellenter Qualität neu herausgegeben wird – ein Meilenstein in jeder Hinsicht!). Siegfried erschaut sein Antlitz im Wasser auf einer Illustration des Engländers Arthur Rackham von 1911. Für den Götterdämmerung-Band wurde mit dem brennenden Walhall wieder ein Bühnenbild gewählt. Der Entwurf dazu stammt von Max Brückner, den schon an der Ausstattung der ersten geschlossenen Ring-Aufführung zur Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses 1876 beteiligt gewesen ist. In allen vier Fällen dürfe es dem eingeweihten Betrachter nicht schwer fallen, den Darstellungen das richtige Werk zuzuordnen. Heute wäre das weniger einfach – bis unmöglich. Die Götterburg Walhall kommt auch stilistisch angedeutet kaum mehr vor. Siegfried trug – wie zuletzt an der Berliner Staatsoper – Jogginghose und Brünnhilde lag zuletzt in Bayreuth am Ende im Abendkleid mit dem toten Siegfried in einem leeren Wasserbecken aus Beton.
Kau will offenkundig zurück zu den Quellen: „Der Ring fasziniert. Doch was passiert an den vier Abenden auf der Bühne? Und warum? Dieser Leitfaden führt Zeile für Zeile durch den Originaltext der Orchesterpartitur und erläutert auf unterhaltsame Weise das Bühnengeschehen.“ Leser bekommen dieses gleichlautende Versprechen schriftlich zu den Grafiken auf den hinteren Umschlagseiten. Auch das Vorwort wiederholt sich, weil die Teile mit ihren eigenen ISBN-Nummern auch einzeln erworben werden können. Der Autor weiß um das weitverbreitete Unverständnis für den Text, während die Musik „enthusiastisch verehrt“ werde. Die „Unlust am Text“ habe Gründe. „Der gewundene Satzbau, der artifizielle Zeilenumbruch und eigenwillige Wortschöpfungen stören den Lesefluss und schrecken ab“, so der Autor. Was den Umbruch anbelangt, wird bei Kau meist aus zwei Zeilen eine. Das liest sich in der Tat besser und spart zudem Papier.
Die einzelnen Bände wären ohne diesen Eingriff in die Textstruktur fast doppelt so dick. Und Stabreime – Alliterationen – die auf das germanische Versmaß zurückgehen, sind dadurch zumindest optisch weniger auffällig. Gleiche Anfangslaute sollen die am stärksten betonten Wörter eines Verses herausheben. Dieses Verfahren betrifft aber nicht den gesamten Textbestand. Nur gelesen, dazu noch laut, ist diese Dichtung auch bei nun verändertem Zeilenumbruch für heutige Ohren nur schwer erträglich. Kein Wunder, dass Kritiker damit den Dichter Wagner gern vorführen. Eines der grellsten Beispiele liefert Alberich, wenn er im Wasser erfolglos den Rheintöchtern nachstellt: „Garstig glatter glitschiger Glimmer! Wie gleit‘ ich aus! Mit Händen und Füßen nicht fasse noch halt‘ ich das schlecke Geschlüpfer! Feuchtes Nass füllt mir die Nase: verfluchtes Niesen!“ Wer Wagners Verse verteidigt, bekommt zuerst dieses Zitat um die Ohren gehauen. Welche Wirkung Wagner damit vorgeschwebt haben dürfte, lässt sich auf meiner alten Schallplatte erkunden. Dort singt Benno Kusche den Alberich. Singt ihn so, dass sich an der bewussten Stelle durch Worte und Noten genau das dargestellt findet, was Menschen, die tauchen können oder in trüben Flüssen erste Schwimmversuche unternommen haben, erlebten. Dieses unsichere Tasten an moosbewachsenen Steinen. Nirgends gibt es einen festen Halt. Mit Händen nicht und nicht mit Füßen. Man ist wie in einem Schwebezustand.
Nicht vorher und nicht nachher wurde Musik auf solche Verse komponiert. Diese Plastizität ist einzigartig, wenn sie denn durch Sänger dargestellt werden kann. Als Kronzeugen für den Dichter Wagner ruft Kau den Musik- und Literaturkritiker Joachim Kaiser auf. Der spricht von einem „klugen, tiefsinnigen, bewusst das Strabreim-Schema einsetzenden Text, der höchsten Respekt verdient und nicht den Spott derjenigen, die in Opern keineswegs nachdenken wollen“. Wer ihn nicht genau gelesen und sozusagen Wort für Wort begriffen habe, der werde in den Aufführungen das tun, was nur die Rheintöchter dürften – schwimmen. Bleibend belohnt werde, wer sich dem Text vorurteilsfrei nähere, findet Wolfgang Kau. Denn das Textdrama sei so vielsichtig wie die Musik. „Und die Musik hört mit anderen Ohren, wer den Text kennt und versteht.“ Damit kommt er auf den Punkt – auf seinen Punkt. In Debatten um aktuelle Inszenierungen lässt er sich nicht ein. Opernbesucher von heute dürfte aber die Erfahrung gemacht haben, dass auch neue Deutungen – und seien sie noch so ungewöhnlich – umso genauer zu erleben sind, wenn man weiß, was im Libretto steht. Insofern kann dieser Leitfaden auch eine aktuelle Bedeutung für sich beanspruchen.
Wagner greift im Ring auch tief in die Kiste des altdeutschen Wortschatzes. Es tauchen Begriffe auf, die nicht mehr gebräuchlich und deshalb oft nicht mehr allgemein verständlich sind. Ob „Friedel“ für Lebenspartner, „Neidinge“ für Menschen, die schimpfliche Handlungen begehen, „kiesen“ für erwählen, „Gauch“ für Narr, Tor und Dummkopf – die Liste ist lang. „Gegrüßt ihr Reisige“, rufen Helmwige, Ortlinde und Siegrune ihren auf dem Walküren-Felsen eintreffenden Schwestern zu, was so viel bedeutet wie berittene Kriegsknechte. Siegmunds „Harst“ erklärt Kau in einer Fußnote mit Streit bzw. Kampf, während etliche andere Ausdrücke nicht explizit in heutiges Verständnis übertragen werden. Lesern bleibt also genug Gelegenheit, eigene etymologische Studien zu betreiben. Szene für Szene arbeitet sich der Autor durch das gewaltige Werk. Auf einzelne Text-Passagen folgen umfassende Erläuterungen, in denen auch inhaltliche Widersprüche aufgedeckt werden. Immer wieder kommen Reaktionen von Handelnden auf den Prüfstand. Was bedeuten sie im Einzelnen? Was steckt hinter einer bestimmten Bemerkung? Wie ist eine ganz konkrete Geste zu verstehen? Mit „Selige Öde auf wonniger Höh‘!“ lässt sich Siegfried zu Beginn der dritten Szene in dem nach ihm benannten Werk vernehmen. Umgehend hat Kau den Hinweis auf den Roseg-Gletscher an der Nordseite der Bernina-Gruppe im Kanton Graubünden parat, der Wagner als landschaftliches Vorbild gedient haben soll. Fußnoten verfolgen nicht nur derlei erklärende Absichten. Sie lenken zudem auf Sekundärliteratur, die im Anhang kompakt aufgelistet wird und stellen durch konkrete Verweise Zusammenhänge innerhalb des Gesamtwerkes her, was sich als unabdingbar erweist. Kau versetzt sich auch gern in die Figuren hinein, um besser zu verstehen, was sie warum im jeweiligen Moment tun – oder unterlassen. Besonders spannend liest sich das tiefgründige Psychogramm von Hagen in der Götterdämmerung.
Rätselhaft bleibt der Verzicht auf die Personenverzeichnisse aus der originalen Partitur, auf die sich Kau ja bezieht. Im Text werden zwar alle Mitwirkenden genau beschrieben und charakterisiert, nicht aber zu Beginn des jeweiligen Teils einzeln in Rolle und Funktion vorgestellt. In dem 2009 bei Reclam erschienen Textbuch mit Varianten der Partitur hatte der Wagner-Forscher Egon Voss diese Listen um eben direkte Hinweise aus der Partitur ergänzt, die sich auf die Stimmlage beziehen. Auffällig dabei ist, dass beispielsweise im Rheingold Wotan, Donner, Alberich und Fasolt übereinstimmend als „hoher Bass“ geführt werden. Bariton als Stimmlage verwendete Wagner nicht. War das für Kau deshalb unwichtig, weil sein Leitfaden sängerische Belange außen vor lässt? Ungeklärt bleibt auch eine Textstelle, über die ich mir Aufschluss versprach. Kau lässt Brünnhilde in ihrem Schlussgesang „der Eide ewige Hüter“, womit die Götter gemeint sind, anrufen. „Heilige Hüter“ sind es bei Voss, während die im Leitfaden gewählte Form nur als Fußnote auftaucht. Wagner selbst soll nach der Komposition immer mal wieder in seine Textvorlagen eingegriffen haben. Offenbar ist auch besagte Stelle so ein Vorgang. In den Aufnahmen und Mitschnitten, die ich kenne, sind die Hüter ewig. Nur Berit Lindholm singt am 8. April 1969 in einem von Leopold Stokowski in der New Yorker Carnegie Hall geleiteten Konzert „heilige Hüter“ an. Rüdiger Winter
Foto oben: Ritt der Walküren auf einem Gemälde des italienischen Malers Cesare Viazzi (1857-1943). Foto/Wikipedia