Archiv für den Monat: Februar 2017

Wagners „Tannhäuser“ en francais

Allgemeine Aufregung bei Wagnerianern und Freunden der französischen Oper: die Opéra de Monte-Carlo gab im Februar 2017 Wagners Pariser Tannhäuser (eigentlich, wie auf dem Poster der Pariser Aufführung 1861 zu lesen: Tannhauser)! Szenisch in der Inszenierung von Jean-Louis Grinda und unter der musikalischen Leitung von Nathalie Stutzmann!!! Dazu sangen José Cura die Titelpartie (Foto oben/ Teaser von der Ankündigung der Oper auf der website des Opernhauses) und der wunderbare Barition Jean-Francois Lapointe den Wolfram …. (dazu die Aufführungskritik nachstehend).

Dies ist der erste tout-francais Tannhäuser zumindest der Nachkriegszeit sein (wenngleich bis dahin es gelegentliche Aufführungen in Französisch im Nachbarland gab, sicher nicht in der originalen Pariser Version, aber das ist eine andere Geschichte, Monte-Carlo hatte ihn zuletzt 1931), sind doch die beiden „Pariser Fassungen“ (eigentlich die Wiener Fassungen) auf CD (Solti/ Decca und Sinopoli/ DG) wie auch die maßstäblichen „Pariser“ Auszüge von 1930 aus Bayreuth bei Naxos vor allem in rückübersetzter deutscher Sprache.

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Aus diesem Anlass baten wir den Wagner-Fachmann par excellence, Peter P. Pachl, uns einen Beitrag zum Tannhäuser in Paris zu schreiben: Was ist dran an der französischen Fassung? Eine Kritik der Aufführung am 22. Februar 2017 – sehr poetisch vom Hausherrn Grinda umgesetzt – findet sich nachstehend. Dank an Madame Manglou vom Opernhaus! Die Aufführung findet sich in exzellentem Sound bei youtube.G. H.

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"Tannhauser" 1861: Plakat zur zweiten Aufführung in der Salle Pelletier Paris/ Foto in "Wagner et la France", Paris 1984

„Tannhauser“ 1861: Plakat zur zweiten Aufführung in der Salle Pelletier Paris/ Foto in „Wagner et la France“, Paris 1984/Wiki

Zur Fassung von 1861 nun Peter P. Pachl: Bei seinem Wagner-Festival im Sommer 2011 in Erl hatte Gustav Kuhn Wagners „Tannhäuser“ in der Fassung letzter Hand gewählt, wie sie in Bayreuth seit der Inszenierung durch Siegfried Wagner (im Jahr 1930, wiederaufgenommen 1931) nicht mehr gespielt worden ist. Die im Volksmund „Pariser Fassung“ genannte Version basiert auf Wagners französischer Umarbeitung des Jahres 1861, weist aber – außer Wagners Rückübersetzung in die deutsche Sprache – noch zahlreiche weitere Veränderungen gegenüber Paris auf, insbesondere den nahtlosen Übergang der Ouvertüre in das Bacchanal. Korrekt ist es die Wiener Fassung (1875) von Wagners „Tannhäuser“ WWV 70.

Den Antagonismus der Welten von Venusberg und Wartburg, Sinnlichkeit und Konvention, hat Wagner hier noch weiter zugespitzt, indem er in allen drei Akten nur die Passagen rund um Venus, inklusive Tannhäusers Gedanken, musikalisch neu gefasst hat. Venus ist nun eine leidende Göttin, mit deutlichen, auch musikalischen Parallelen zu Kundry. Und die Musik der in ihrem Umfang mehr als verdoppelten Venusberg-Szene gehört zum Raffiniertesten, was Wagner je komponiert hat. Gerade ohne diese neuen Teile der Partitur des „Tannhauser“ sind „Samson et Dalila“ und „Pelléas et Mélisande“ nicht denkbar.

"Tannnhauser" 1861: "Tannhäuser im venusberg", Paris 1861/ kbenderblogspot.de

„Tannnhauser“ 1861: Delacroix „Tannhäuser im Venusberg“, Skjzze/ kbenderblogspot.de

Für das umfangreiche Bacchanal hat der Komponist diverse pantomimische, mythologische Realisierungen entworfen. Am 10. April 1860 erläuterte er gegenüber Mathilde Wesendonck: „Venus und Tannhäuser verweilen so, wie es ursprünglich angegeben ist: nur sind zu ihren Füßen die drei Grazien gelagert, anmutig verschlungen. Ein ganzer, engverwachsener Knäuel kindischer Glieder umgibt das Lager: das sind schlafende Amoretten, die, wie im kindischen Spiel, balgend übereinander gestürzt und eingeschlummert sind. Ringsum auf den Vorsprüngen der Grotte sind liebende Paare ruhig gelagert. Nur in der Mitte tanzen Nymphen, von Faunen geneckt, denen sie sich zu entziehen suchen. Diese Gruppe steigert ihre Bewegung: die Faunen werden ungestümer, die neckende Flucht der Nymphen fordert die Männer der gelagerten Paare zur Verteidigung auf. Eifersucht der verlassenen Frauen: wachsende Frechheit der Faunen. Tumult. Die Grazien erheben sich und schreiten ein, zur Anmut und Gemessenheit auffordernd: auch sie werden geneckt, aber die Faunen werden von den Jünglingen verjagt: die Grazien versöhnen die Paare. – Sirenen lassen sich hören. – Da hört man aus der Ferne Tumult. Die Faunen, auf Rache bedacht, haben die Bacchantinnen herbei gerufen. Brausend kommt die wilde Jagd daher, nachdem die Grazien sich wieder vor Venus gelagert. Der jauchzende Zug bringt allerhand tierische Ungetüme mit sich: unter andern suchen sie einen schwarzen Widder aus, der sorgfältig untersucht wird, ob er keinen weißen Fleck habe: unter Jubel wird er nach einem Wasserfall geschleppt; ein Priester stößt ihn nieder und opfert ihn unter grauenvollen Gebärden.

Der junge Wagner hier auf dem Gemaelde von Willich c 1862 Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Foto: Jean Christen/ mit sehr freundlicher Genehmigung!

Der junge Wagner hier auf dem Gemälde von Willich ca. 1862/ Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Foto: Jean Christen/ mit sehr freundlicher Genehmigung!

Plötzlich entsteigt, unter wildem Jauchzen der Menge, der (Ihnen bekannte) nordische Strömkarl dem Wasserstrudel mit seiner wunderbaren großen Geige. Der spielt nun zum Tanze auf; immer mehr mythologisches Gesindel wird herbeigezogen. Alle den Göttern heilige Tiere. Endlich Centauren, die sich unter den Wütenden herumtummeln. Die Grazien sind verzagt, dem Taumel wehren zu sollen. Sie werfen sich voll Verzweiflung unter die Wütenden; vergebens! Sie blicken sich, auf Venus gerichtet, nach Hülfe um: mit einem Wink erweckt die da die Amoretten, welche nun einen ganzen Hagel von Pfeilen auf die Wütenden abschießen, mehr und immer mehr; die Köcher füllen sich immer wieder. Nun paart sich Alles deutlicher; die Verwundeten taumeln sich in die Arme: eine wütende Sehnsucht ergreift Alles. Die wild herumschwirrenden Pfeile haben selbst die Grazien getroffen. Sie bleiben ihrer nicht mehr mächtig. Faunen und Bacchantinnen gepaart stürmen fort: die Grazien werden von den Centauren auf ihren Rücken entführt; Alles taumelt nach dem Hintergrunde zu fort: die Paare lagern sich: die Amoretten sind, immer schießend, den Wilden nachgejagt. Eintretende Ermattung. Die Nebel senken sich. In immer weiterer Ferne hört man die Sirenen. Alles wird geborgen. Ruhe. – Endlich – – fährt Tannhäuser aus dem Träume auf. – So ungefähr. – – – – Mir macht’s Spaß, dass ich meinen Strömkarl mit der elften Variation verwendet habe. Das erklärt auch, warum sich Venus mit ihrem Hof nach Norden gewendet hat: nur da konnte man den Geiger finden, der den alten Göttern aufspielen sollte. Der schwarze Widder gefällt mir auch. Doch könnte ich ihn auch anders ersetzen. Die Mänaden müssten den gemordeten Orpheus jauchzend getragen bringen: sein Haupt würfen sie in den Wasserfall, – und darauf tauchte der Strömkarl auf. Nur ist dies weniger verständlich ohne Worte.“[i]

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"Tannhauser" 1861: Wagner Wohnungen in Paris - v. l. n. r. 31 rue de Pont-Neuf, 3 avenue de Meudon, 14 rue jacob, 3 rue d´Aumale, 19 quai Voltaire/ Fotos "Wagner et la France", Paris 1984

„Tannhauser“ 1861: Wagners Wohnungen in Paris – v. l. n. r. 31 rue de Pont-Neuf, 3 avenue de Meudon, 14 rue jacob, 3 rue d´Aumale, 19 quai Voltaire/ Fotos „Wagner et la France“, Paris 1984

Cosima Wagner vertraute am 22. November 1875 ihrem Tagebuch an: „Er [Richard] kehrt nachmittags sehr verstimmt heim, der Kostümier hatte ihm gesagt: Fürstin Hohenlohe habe geschickt, um zu fragen, ob das Kostüm der Venus nicht à la Offenbach sein würde; er bittet mich, der Fürstin darüber zu schreiben, was ich auch tue. Um halb sieben Aufführung des Tannhäuser, über alle Erwartung gut; nichts ist, wie R. es wirklich gedacht, doch herrscht in allem sehr viel Leben. R. muss sich des öfteren von der Loge aus bedanken, am Schluss erscheint [er] auf der Bühne mit den Sängern, eine für mich peinlichste Empfindung.“[vi]

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In „Carneval des revues“[vii] hatte Jacques Offenbach Wagner als Zukunftsmusiker lächerlich gemacht. Aber Wagner wurde in seiner Revanche sehr viel persönlicher: er persiflierte Offenbach in „Eine Kapitulation“, seinem „Lustspiel in antiker Manier“, als Jack Offenback, vom Chor als „herrlicher Jack von Offenback“[viii] akklamiert. In Gesprächen seiner Frau Cosima gegenüber ließ Wagner – darf man deren Tagebuch-Aufzeichnungen Glauben schenken – kein gutes Haar an Offenbach.

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"Tannhauser" 1861: Entwurf für A2 1861 von Philippe Chaperon/ BN Opéra

„Tannhauser“ 1861: Entwurf für A2 1861 von Philippe Chaperon/ BN Opéra/ Wiki

Anderen gegenüber zollte Wagner der kompositorischen Qualität Jacques Offenbachs aber durchaus Anerkennung, etwa in einem – allerdings bislang nicht im Original, sondern nur auf Französisch veröffentlichten – Brief an Felix Mottl in Karlsruhe. Wagner schreibt am 1. Mai 1882: „Betrachten Sie Offenbach. Er versteht es ebensogut wie der göttliche Mozart. Mein Freund, das ist eben das Geheimnis der Franzosen. Ich bin ihnen in vielen Dingen nicht wohlgesonnen. Aber dennoch muss man diese in die Augen springende Wahrheit zugeben: Offenbach hätte ein zweiter Mozart werden können. Ich glaube, Auber wäre dazu weniger in der Lage gewesen.“[ix]

Zwar hat auch Cosima Wagner im Jahre 1904 für die Erstaufführung des Tannhäuser bei den Bayreuther Festspielen die Fassung letzter Hand ihres verstorbenen Gatten gewählt, aber ihr (Selbst-)Hass gegen alles Welsche richtete sich selbstredend gegen die in französischer Sprache komponierte originale Pariser Fassung.

"Tannhauser": Bühne Schlußszene Bayreuth 1930 in Siegfried Wagners Fassung letzter Hand/ Bundesarchiv Bild 183-2004-9512-501

„Tannhäuser“: „Bühne Schlußszene Bayreuth 1930 in Siegfried Wagners Fassung letzter Hand“ / Bundesarchiv Bild 183-2004-9512-501

Siegfried Wagners Inszenierung im Sommer 1930: Siegfried Wagner engagierte für seine lange geplante, aus Kostengründen jedoch mehrfach verschobene Inszenierung im Jahre 1930 den ungarischen Tänzer und Choreographen Rudolf von Laban, zu dieser Zeit der progressivste Vertreter eines neuen Ausdruckstanzes, mit seiner Truppe für die Choreographie des, „Tannhäuser“-Bacchanals. Laban hatte bereits im Jahre 1921 in Mannheim ein „Tannhäuser“-Bacchanal choreographiert, dem aber »eine pantomimische Deutung der Musik, über die Richard Wagner an Mathilde Wesendonck geschrieben hat, zugrunde gelegt« war. Siegfried Wagner überzeugte Laban davon, dass auch die Vorschriften Richard Wagners für die Pariser Fassung in moderner Weise umzusetzen seien. Laban bestätigte dann: „Diese Aufzeichnungen können in ihrer zeitlosen Art mit der Technik des neuen Bühnentanzes wahrscheinlich besser realisiert werden als mit den Mitteln des alten Balletts. Auch darin war Richard Wagner seiner Zeit voraus, dass er einen neuen Bewegungsstil der Bühne erahnte.“

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Zwei Wochen seiner Probenzeit brachte Siegfried Wagner allein mit der Einstudierung von Labans Tanzensemble zu. Manche Zuschauer befremdete es, dass nach Tannhäusers Wiederkehr nicht nur Nymphen, sondern auch „Jünglinge (…) in rotem, gespenstischem Lichte die Arme verlangend nach dem Tannhäuser streckten, wie Siegfried Wagners Freund, der Franz Stassen, überliefert. Offenbar sah sich Siegfried Wagner auch selbst in der Gestalt des „Tannhäuser“, dem von der Gesellschaft ausgestoßenen Künstler, „dessen Schatten wie der eines Gekreuzigten auf die Felsenwand“[x] fiel, als er im dritten Akt unter der Brücke wieder auftauchte.

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"Tannhauser" 1861: Die Sänger der Uraufführung/ BN Opéra

„Tannhauser“ 1861: Die Sänger der Uraufführung/ BN Opéra

Innovativ war aber nicht nur das Bacchanal in der Mischung der von Richard Wagner vorgeschriebenen Antike – mit Leda und dem Schwan, Europa auf dem Stier und dem Strömkarl – und modernem Ausdruckstanz für die Mänaden, sondern insbesondere ein Effekt durch das für Siegfried Wagners Inszenierungsstil so charakteristische Licht. Aus einer Mischung von Rosa, Rot, Blau und Violett erarbeitete er ein spezielles „Venuslicht“, das „etwas schillernd Faszinierendes“ besaß – und das er auch im zweiten Akt einsetzte, wie sein Bühnenbildner Kurt Söhnlein berichtet. „Schon in den Arbeitswochen 1929 hatte er mit neckenden Worten paarmal unsere Neugierde gereizt: ‚Na, Ihr werdet‘s Augen machen, was ich im 2. Akt anstelle!’ – Nun sahen wir es: Als im Sängerkrieg nach den Beifallsworten des Chores zu Wolframs erstem Preisgesang im Orchester die Venusbergklänge und -themen aufzüngelten (die Stelle ist in der Pariser Fassung gegenüber der Dresdener Fassung ums Dreifache verlängert!), versanken Saal und Gäste wie wesenlos in ziemliches Dunkel, nur auf Tannhäuser sammelte sich das sogenannte ›Venuslicht‹ (aus dem 1. Akt) in starkem, irisierendem Farbenspiel!“[xi]

Das bedeutete nicht nur eine sinnfällige Verdeutlichung von Tannhäusers Reizzustand, sondern evozierte auch eine Gleichsetzung von Wartburg- und Venusberg-Gesellschaft. Lange vor Götz Friedrichs epochaler Inszenierung dieser Oper im selben Theater, 1972 in Bayreuth, interpretierte bereits Siegfried Wagner den Tannhäuser als Künstler und Außenseiter gegenüber einer Gesellschaft, die „mit gezücktem Schwert auf den Verfemten eindrang“[xii]. Siegfrieds Einfall, das Venuslicht in die Wartburg strahlen zu lassen, wurde so heftig kritisiert, so dass seine Witwe Winifred im Wiederholungsjahr den Weg des geringsten Widerstandes beschritt und trotz ihrer Ankündigung, es werde „Alles genau in der Inszenierung Siegfried Wagners und in seinem Geist aufgeführt“[xiii], diese für die Konzeption so wichtige Lichtstimmung eliminierte.

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"Tannhauser" 1861: Wagners Librettist Charles Nuitter/ Wiki

„Tannhauser“ 1861: Wagners Librettist Charles Nuitter (eigentlichTruinet), Librettist, Schriftsteller und Archivar an der Pariser Oper/ Wiki

Die „Tannhäuser“-Fassungen – zahlreiche Unterschiede: Richard Wagner begründete seine Änderungen während der Entstehung. Am 10. April 1860 bekannte er Mathilde Wesendonck gegenüber:Jetzt, wo ich Isoldes letzte Verklärung geschrieben, konnte ich erst das Grauen dieses Venusberges finden“[xiv]. Am 30. September 1860 teilt er Mathilde Wesendonck seine neu gedichteten Verse im Dialog zwischen Venus und Tannhäuser mit und interpretierte selbst: „Etwas habe ich auch schon an der Musik meiner neuen Szene gearbeitet. Sonderbar: alles Innerliche, Leidenschaftliche, fast möchte ich’s: Weiblich-Ekstatisches nennen, habe ich damals, als ich den ‚Tannhäuser’ machte, noch gar nicht zustande bringen können: da habe ich alles umwerfen und neu entwerfen müssen: wahrlich ich erschrecke über meine damalige Kulissen-Venus! Nun, das wird diesmal wohl besser werden.“[xv]

Am 20. Januar 1861 heißt es in Wagners Brief an Otto Wesendonck: „Gestern – nach durchwachter Nacht – früh 2 ½ Uhr beendigte ich erst den Rest meiner neuen Kompositionen zu Tannhäuser; und am selben Tage gewann ich die Nötigung zu dem Entschlusse, noch eine Änderung im Sängerkrieg vorzunehmen, zu der ich freien Kopf bedarf“[xvi].

Die kontinuierliche Entwicklung der gegensätzlichen Hemisphären Venusberg und Wartburgsaal ließen den Dramatiker Wagner stringent auf jegliche konservative Redundanz verzichten. Das beginnt schon mit dem Bacchanal: Die Bühne stellt das Innere des ‚Venusberges’ (Hörselberges bei Eisenach) dar. Weite Grotte, welche sich im Hintergründe durch eine Biegung nach rechts wie unabsehbar dahinzieht. Aus einer zerklüfteten Öffnung, durch welche von oben mattes Tageslicht hereinscheint, stürzt sich, die ganze Höhe der Grotte entlang, ein grünlicher Wasserfall herab, wild über Gestein schäumend. Aus dem Becken, welches das Wasser auffängt, fließt nach dem ferneren Hintergründe der Bach ab, welcher sich dort zu einem See sammelt, darin man die Gestalten badender Najaden, und an dessen Ufern gelagerte Sirenen gewahrt. Zu beiden Seiten der Grotte Felsenvorsprünge von unregelmäßiger Form, mit wunderbaren tropischen Pflanzen korallenartig bewachsen. – Vor einer, nach links aufwärts sich dehnenden, kleineren Grottenöffnung, aus welcher ein zarter rosiger Dämmer herausscheint, liegt Venus im Vordergründe, auf einem reichen Lager; vor ihr, das Haupt in ihrem Schoße, die Harfe zur Seite, Tannhäuser. halb kniend. Das Lager umgeben, in reizender Verschlingung gelagert, die drei Grazien: zur Seite, und hinter dem Lager, zahlreiche schlafende Amoretten, wild über und nebeneinander gelagert, einen verworrenen Knäuel bildend, wie Kinder, die von einer Balgerei ermattet, eingeschlafen sind. ___

"Tannhauser" 1861: Albert Niemann sang die Titelpartie/ Foto Wiki

„Tannhauser“ 1861: Albert Niemann sang die Titelpartie/ Foto Wiki

Der ganze Vordergrund ist von einem zauberhaften, von unten herdringenden, röthlichen Lichte beleuchtet, durch welches das Smaragdgrün des Wasserfalles, mit dem Weiß seiner schäumenden Wellen, stark durchbricht. Der ferne Hintergrund mit den Seeufem ist von einem verklärt blauen Dufte mondscheinartig erhellt.___ Beim Aufzuge des Vorhanges sind auf den erhöhten Vorsprüngen, bei Bechern, noch die Jünglinge gelagert, welche jetzt sofort, den verlockenden Winken der Nymphen folgend, zu diesen hinabeilen. Die Nymphen hatten um das schäumende Becken des Wasserfalles den auffordenden Reigen begonnen, welcher die Jünglinge zu ihnen führen sollte; die Paare finden und mischen sich: Suchen, Fliehen und reizendes Necken beleben den Tanz. – Aus dem ferneren Hintergründe naht ein Zug von Bacchantinnen. welcher durch die Reihen der liebenden Paare, zu wilder Lust auffordend, daherbraust. Durch Gebärden begeisterter Trunkenheit reißen die Bacchantinnen die Liebenden zu wachsender Ausgelassenheit hin. ___ Die Berauschten stürzen sich in brünstige Umarmungen. – Satyre und Faunen sind aus den Klüften heraufgeschlüpft und drängen sich jetzt mit ihrem Tanze zwischen die Bacchantinnen und liebenden Paare; sie vermehren durch ihre Jagd auf die Nymphen die Verwirrung. Der allgemeine Taumel steigert sich zur höchsten Wut. Hier, beim Ausbruch der stärksten Raserei, erheben sich entsetzt die drei Grazien: sie suchen den Wütenden Einhalt zu tun und sie zu entfernen. Machtlos fürchten sie selbst mit fortgerissen zu werden; sie wenden sich zu den schlafenden Amoretten, rütteln sie auf, und jagen sie in die Höhe. Diese flattern wie eine Schar Vögel aufwärts auseinander, nehmen in der Höhe, wie in Schlachtordnung, die ganze Breite der Höhe ein, und schießen von da herab einen unaufhörlichen Hagel von Pfeilen auf das Getümmel in der Tiefe. Die Verwundeten lassen, von heftigem Liebessehnen ergriffen, vom rasenden Tanze ab, und sinken in Ermattung. Die Grazien bemächtigen sich der Verwundeten, und suchen, indem sie die Trunkenen zu Paaren fügen, sie mit sanfter Gewalt nach dem Hintergründe zu zerstreuen. Dort, nach den verschiedensten Richtungen hin, entfernen sie sich, teils auch von der Höhe herab durch die Amoretten verfolgt, die Bachanten. Faunen und Satyre. Nymphen und Jünglinge. Ein immer dichterer rosiger Duft senkt sich herab; in ihm verschwinden zunächst die Amoretten: dann bedeckt er den ganzen Hintergrund, so dass endlich, außer Venus und Tannhäuser, nur noch die drei Grazien sichtbar Zurückbleiben. Diese wenden sich jetzt nach dem Vordergründe zurück; in anmutigen Verschlingungen nahen sie sich Venus, ihr gleichsam von dem Siege berichtend, den sie über die wilden Leidenschaften der Untertanen ihres Reiches gewonnen. Venus blickt dankend zu ihnen. –

"Tannhauser" 1861: Marie Sass/Sax sang die Elisabeth/ Foto Marou/ Gallica

„Tannhauser“ 1861: Marie Sass (Sax) sang die Elisabeth/ Foto Marou/ Gallica

Der dichte Duft im Hintergründe zerteilt sich in der Mitte: ein Nebelbild zeigt die ‚Entführung der Europa’, welche auf dem Rücken des mit Blumen geschmückten weißen Stieres, von Tritonen und Nereiden geleitet, durch das blaue Meer dahinfährt. – Der rosige Duft schließt sich wieder; das Bild verschwindet, und die Grazien deuten nun durch einen anmutigen Tanz den geheimnisvollen Inhalt des Bildes, als ein Werk der Liebe, an. ___ Von Neuem teilt sich der Duft: man erblickt in sanfter Mondesdämmerung ‚Leda’ am Waldteiche ausgestreckt; der Schwan schwimmt auf sie zu, und birgt schmeichelnd seinen Hals an ihrem Busen. – Allmählich verbleicht auch dieses Bild; der Duft verzieht sich endlich ganz, und zeigt die weite Grotte einsam und still.“[xvii]

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Das französische Libretto: Vénus aber ist zur leidenden Göttin geworden, die den Geliebten nicht verlieren will, was zu mehr als einer Verdoppelung des Umfanges dieser Szene führt. Während der Venusberg enorm erweitert ist, verkürzte der Komponist den Mittelakt seiner Spätfassung. Im Sängerkrieg bringt Walther von der Vogelweise keinen eigenen Beitrag, sondern Tannhäuser reagiert mit den in der Dresdner Fassung an Walther gerichteten Worten sogleich auf Wolframs Ansprache.

"Tannhauser" 1861: Figurine für Elisabeth von Albert Alfred/ BN Opéra

„Tannhauser“ 1861: Figurine für Elisabeth von Albert Alfred/ BN Opéra

Wagner dichtete seine neue Szene zwischen Venus und Tannhauser in deutscher Sprache, Charles Nuitter verwandelte sie in sangbare französische Verse und besorgte auch die Übersetzung der gesamten Oper. Zunächst hatte Wagner die Prosafassung der Dichtung seiner letzten Dresdner Fassung (1845) von Robert Lindau und Edmond Roche ins Französische transkribieren lassen. Der Übersetzungsvorgang war dornenreich, und der Versuch Lindaus und Roches, französische Verse zu bilden, hatte sich als aussichtslos erwiesen. Obendrein zog der Einsatz des Mitarbeiters, der dem Komponisten seine Dienste selbst angeboten hatte, einen Rechtsstreit zwischen Lindau und Wagner nach sich (den Lindau verlor, woraufhin sich dessen Bruder Paul Lindau 1876 mit der sarkastischen Publikation „Nüchterne Briefe aus Bayreuth“[xviii] revanchierte). Aufgrund des Prozesses von Lindau gegen Wagner verzichtete Nuitter, der zu einem echten Freund Richard Wagners wurde, aber auf seine eigene Namensnennung in den Druckausgaben der Pariser Fassung.

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"Tannhauser" 1861: Figurine für Tannhäuser von Albert Alfred/ BN Opéra

„Tannhauser“ 1861: Figurine für Tannhäuser von Albert Alfred/ BN Opéra

Die Edition der Richard Wagner-Gesamtausgabe bei Schott macht die enormen Unterschiede zwischen Pariser und Wiener Fassung durch Synopse beider Versionen auf gegenüberliegenden Seiten sehr gut ersichtlich. Die Wiener Fassung enthält gegenüber der Pariser Version 35 blanke Blätter. Mannigfach sind die orchestralen sowie die der französischen Diktion verpflichteten vokalen Unterschiede. Das Orchester der Pariser Fassung verlangt zusätzlich Ophikleide, drei Harfen (statt nur einer Harfe), Tamtam und als Bühnenmusik zusätzlich zwei Bassons. Manche Gesangsphrasen sind umfänglicher ausgestaltet als in der deutschsprachigen Fassung, so entwickelt sich etwa Tannhausers Antwort im Sängerkrieg, „O Wolfram [in der Urfassung: Walther]! Quel pouvoir t’inspere!“ im Abgesang anders als in der späteren Wiener Fassung. Die Partie der Vénus mit ihren Nonen-, Dezimen- und Duodezimen-Sprüngen ist das Kühnste, was Wagner bis dahin jemals für eine Gesangsstimme komponiert hat. Vénus antizipiert Passagen der Kundry in „Parsifal“ WWV 111, klingt aber in ihrer französischen Originalversion weitaus raffinierter und verführerischer als in der von Wagner selbst in deutsche Verse übersetzten und dann in den Vokallinien entsprechend veränderten, deutschsprachigen Version.

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Dazu auf Nachfrage an P. P. Pachl noch einmal eine Präzisierung zu Paris/ Wien: Die Probleme ergeben sich eben dadurch, dass die „Pariser Fassung“ im Volksmund die Fassung letzter Hand, also die Wiener Fassung meint. Es gibt in der Tat nochmals gravierende Unterschiede – in musikdramatischer Struktur, Gesangslinien und Orchestrierung – zwischen der Pariser und der Wiener Fassung (= letzter Hand). Denn für Wien hat Wagner seine in französischer Sprache komponierten neuen Szenen ins Deutsche übersetzt und dabei die Gesangslinien entsprechend (quasi zurück) verändert, aber auch weitere Änderungen, insbesondere instrumentaler Art vorgenommen. Und hat erstmals in Wien (was er in Paris schon beabsichtigt hatte, was aber dort nicht möglich war) die Ouvertüre nahtlos ins Bacchanal übergehen lassen. Insbesondere klingt die Szene Vénus-Tannhauser, weil auf Französisch komponiert, besser/sinnlicher als die von Venus-Tannhäuser in der Rückübertragung.

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"Tannhauser" 1861: Bühnenentwurf in der Bibliotheque National de l´Opéra Paris/ Foto "Wagner et la France", Katalog zur Ausstellung Paris 1984/ Herscher

„Tannhauser“ 1861: Bühnenentwurf in der Bibliotheque National de l´Opéra Paris/ Foto „Wagner et la France“, Katalog zur Ausstellung Paris 1984/ Herscher

(Und zu Veränderungen/ Kürzungen in Paris während der Aufführungsserie:) Aus Wagners Briefen vor und aus Paris werden die Probleme mit der Aufführung in der französischen Metropole deutlich, insbesondere aber mit Niemann in der Titelpartie. Von Kürzungen der Pariser Fassung in deren Uraufführung geht daraus nichts hervor (vielleicht in einer Wiederholungsaufführung wegen des schwächelnden Tenors). Die Kürzungen während der Pariser Aufführungsserie, die gelegentlich erwähnt werden, beziehen sich wohl auch den Wegfall der Strophe Walthers – das war aber von Wagner dramaturgisch intendiert).

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"Tannhauser" 1861: Marius Petipa schuf die Choreographie für das Bacchanal/ Foto Wiki

„Tannhauser“ 1861: Marius Petipa schuf die Choreographie für das Bacchanal/ Foto Wiki

Diskographisches: Lange gab es keinerlei Schallplatten-Einspielung der Pariser/Wiener Fassung. Dabei erfolgte die Ersteinspielung der Fassung letzter Hand bereits im Juli 1930, noch vor Beginn der von Siegfried Wagner geleiteten Festspiele. Die Veröffentlichung der Bayreuther „Tannhäuser“-Produktion auf Columbia Records durfte jedoch, aufgrund eines Exklusiv-Vertrages des „Tannhäuser“-Dirigenten Arturo Toscanini mit RCA, offiziell nur unter dem „Ring“-Dirigenten Karl Elmendorff erfolgen. Diese Bayreuther Produktion war komplett, die 18 Schellackplatten sollten ein klingendes Plädoyer für Wagners Fassung letzter Hand darstellen und konzentrierten sich daher auf die für Paris (und auch auf die für Wien) neu komponierten Szenen und Passagen, welche gravierende Unterschiede gegenüber der damals bereits an den Theatern üblichen Dresdner Erstfassung aufweisen. (Die Aufführungen, in späteren Publikationen zumeist auf August 1930 datiert, fanden tatsächlich bereits im Juli 1930 statt, zu lesen auf einer der handschriftlichen Probentafeln von Siegfried Wagner, der am 4. August 1930 im Bayreuther Stadtkrankenhaus verstarb.) Im Jahre 1969 hat Walter Keller bei der Gesellschaft Richard Wagner Museum Tribschen/Luzern einen Umschnitt dieser 78er-Schallplatten auf LP herausgegeben, welche die Szene Venus-Tannhäuser und den in der Pariser und Wiener Fassung tonartlich veränderten und mit neuem, Vor- und Zwischenspiel versehenen Gesang Tannhäusers beim Sängerkrieg – durch Wegfall des retardierenden Vortrags von Walther von der Vogelweide – enthält. Später erfolgte ein kompletter Umschnitt der Schellackplatten aus dem Festspielsommer 1930 – mit Maria Müller, Sigismund Pilinszky, Ruth Jost-Arden, Herbert Janssen, Ivar Andresen und Erna Berger – auf 3 LPs bei EMI (1C 137-03 130/32) und 2001 auf CD bei Naxos (8.11094-95).

"Tannhauser" 1861: Louis Dietsch dirigierte und hatte bereits Wagners Entwurf für dessen "Fliegenden Holländer" als sein "Vaisseau phantôme" vertont/ OBA

„Tannhauser“ 1861: Louis Dietsch dirigierte und hatte bereits Wagners Entwurf für dessen „Fliegenden Holländer“ als sein „Vaisseau phantôme“ vertont/ OBA

Die erste Gesamtaufnahme der Wiener Fassung erschien im Jahre 1971 bei Teldec unter Georg Solti auf LPs (Decca SET 506/09), die CD-Ersteinspielung 1989 unter Giuseppe Sinopoli (Deutsche Grammophon 427625-2). Da die zahlreichen separaten Einspielungen des Pariser Bacchanals den Einsatz des Fernchores der Grazien „während der Erscheinungen“[1] von Europa und Leda in deutscher Sprache integrieren, gibt es bis heute genau genommen nicht einmal eine partielle Einspielung des „Tannhauser“ auf Tonträgern. Dies mag wohl auch daran liegen, dass selbst an Theatern in Frankreich Wagners französische Originalfassung überaus lange nicht mehr erklungen ist.

Die einzige partielle Einspielung aus dem französischen „Tannhauser“: Zu Richard Wagners 200. Geburtstag im Jahre 2013 hatte das Label Americus Records eine Gesamteinspielung aller bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf Tonträgern verfügbaren Werke Richard Wagners angekündigt, insgesamt 4 Volumina, prall gefüllt mit CD-Premieren und veritablen Uraufführungen. Initiator dieses Unternehmens war Mark Ward, ein britischer Wagnerianer. Ward war an mich herangetreten, da er wusste, dass ich neben Wagners Spätwerken auch Frühwerke, sogar „Die Hochzeit“, inszeniert habe und als Regisseur für die Uraufführung von Wagners zweiter komischer Oper „Männerlist größer als Frauenlist oder Die glückliche Bärenfamilie“ verantwortlich zeichnete. Weiter war ihm bekannt, dass das von mir gegründete und geleitete pianopianissimo-musiktheater eine Reihe entlegener Werke Wagners szenisch zur Uraufführung gebracht hat, vom „Canto anticcho (!)“ über die „Tribschener Kinderhymne“ und den „Antiken Chorgesang“ bis hin zu „Eine Kapitulation“. Mark Wards Idee, alle nicht auf Tonträgern erhältlichen Kompositionen Richard Wagners erstmals auf CD herauszubringen, fiel beim Label Americus Records und dessen Präsidenten John DesMarteau auf fruchtbaren Boden.

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"Tannhauser" 1861: Die Salle Pelletier der Pariser Oper/ Wiki

„Tannhauser“ 1861: Die Salle Pelletier der Pariser Oper während der Aufführung von Meyerbeeers „Robert le Diable“/ Wiki

Aber das auf Basis von Crowd Funding geplante Projekt scheiterte daran, dass in Europa kaum ein Wagner-Freund dazu bereit war, „Pledges“ einzuzahlen, obendrein nicht bei der damals gerade in die Diskussion geratenen Organisation Amazon – obgleich die Rückzahlung der Subskription im Falle des Nichtzustandekommens zugesagt war (und tatsächlich erfolgt ist). Glücklicherweise hatte das pianopianissimo-musiktheater, auf dessen Schultern der Löwenanteil der Richard Wagner-Einspielungen lag, bereits Einiges produziert, was teilweise inzwischen auch über youtube öffentlich zu hören ist. Dazu gehören zwei Gesänge der Pariser Vénus aus „Tannhauser“ in einer Aufnahme mit der Sopranistin Rebecca Broberg unter der musikalischen Leitung von Günter Lang (+), die als Appetithappen auf die 2013 geplanten Einspielung sämtlicher von Wagner in französischer Sprache neu komponierten Teile zu dieser Oper vorgezogen worden war. Peter P. Pachl

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"Tannhauser" 1861: Entwurf für den 1. Akt von Marcel Jambon/ Gallica

„Tannhauser“ 1861: Entwurf für den 1. Akt von Marcel Jambon/ Gallica

Die Premiere: Die Oper wurde am 13. März 1861 in der Salle Pelletier der Pariser Oper in der französischen Text-Fassung von Charles-Louis-Etienne Nuitier aufgeführt. Albert Nieman sang die Titelpartie, die Damen Marie Sax und Fortunata Tedesco waren Èlisabeth und Vénus, der Bariton Morelli gab den Wolfram, Cazaux war Landgraf Hermann. Louis Dietsch (der zuvor Wagners Entwurf für den Fliegenden Holländer als seine Komposition Le Vaisseau phantome vertont hatte) dirigierte. Die Ausstattung stammte von Charles Antoine Cambon, Joseph Thierry, Edouard Desplechin, Joseph Nolau und Auguste-Alfred Rube. Nach der stürmischen Aufnahme während der Premiere zog Wagner die Oper nach der dritten Auffürhung zurück. G. H.

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"Tannhauser" 1861: Karikatur auf "Tannhäuser", als dessen teutonische Verkörperung der deutsche Kronprinz 1917 von leo d´Angel abgebildet wird/ Musée des deux Guerres/ Foto in "Wagner et la France", Paris 1984 Herscher

„Tannhauser“ 1861: Karikatur auf „Tannhäuser“, als dessen teutonische Verkörperung der deutsche Kronprinz 1917 von Leo d´Angel abgebildet wird/ Musée des deux Guerres/ Foto in „Wagner et la France“, Paris 1984 Herscher

Interessant ist der Augenzeugenbericht von Edward Howe, der der Premiere 1861 beiwohnte und kopfschüttelnd 1891 darüber schreibt (in: New England Magazin, vol 4, 1891): Ich saß an dem verhängnisvollen Abend früh auf meinem Platz und beobachtete aufmerksam, wie sich das Publikum versammelte. Es schien sich in seinem Charakter nicht von denen zu unterscheiden, die ich bei den Proben gesehen hatte, obwohl es langsamer eintraf, und als die ersten Takte der Ouvertüre erklangen, war das Haus nur zu zwei Dritteln gefüllt. Aber das ungünstige Element war zweifellos von Anfang an in Kraft. Die Loge, in der sich die jungen Wilden des Jockey Clubs gewöhnlich aufhielten, befand sich in der Nähe der Bühne, links von den Zuschauern, und war überfüllt. In früheren Jahren war sie als „la loge infernale“ bekannt gewesen, und an diesem Abend behielt sie diesen alten Namen mit Stolz bei. Die Ouvertüre wurde schweigend oder zumindest mit so wenigen Missfallensbekundungen überstanden, dass es zu keiner Unterbrechung kam. Noch bevor sie zu Ende war, waren alle freien Plätze besetzt, und die Versammlung war bereit für ihre Arbeit. Der Vorhang hob sich, und fast gleichzeitig mit den ersten Tönen, die folgten, begann der Ansturm. Noch vor der Hälfte der einleitenden Szene war der Lärm so groß, dass sowohl die Schauspieler auf der Bühne als auch das Orchester vor der Bühne nicht mehr zu hören waren, außer für diejenigen, die am nächsten am Proszenium saßen. Es wurde nicht einmal so getan, als ob man abwarten wollte, um sich eine Meinung zu bilden. Die Schlachtordnung war in einem zerstörerischen Maßstab angelegt. Der „Tannhäuser“ sollte nicht absichtlich verurteilt werden; er war einfach nicht zu ertragen. Welche Qualitäten es besaß, erhaben oder erniedrigt, edel [426] oder lasterhaft, sollten die Pariser nicht erfahren. Wenn jemand zufällig den Wunsch hatte, sich dieses Wissen anzueignen, so war es der Wille der Mehrheit, dass er dies nicht tun sollte. Und so verlief die Aufführung, oder man nahm an, dass sie verlief, und zeigte nichts anderes als eine Abfolge von schönen Kulissen und eine Masse von malerischen Kostümen. Während sich diese in unverständlicher Weise vor dem Auge des Publikums abspielten, empfing das Ohr des Publikums nur eine ununterbrochene Kakophonie von Schreien, Heulen, Rufen und Stöhnen, variiert durch Nachahmungen wilder Tiere, die bei der Brutalität derjenigen, die ihre Schreie nachahmten, errötet wären, und unaufhörlich angeregt durch aristokratische Rüpel in den auffälligen Logen, deren bevorzugte Instrumente der Beleidigung riesige Schlüssel waren, mit denen sie die Luft mit zischendem Geschrei erfüllten, wie so viele pfeifende Teufel. Es war eine bedauernswerte Angelegenheit, die für diejenigen, die aktiv daran teilnahmen, weitaus schändlicher war als für diejenigen, die darunter litten. Weitere Einzelheiten würden keinen guten Zweck erfüllen. Die wichtigsten Vorkommnisse sind in den französischen lyrischen Annalen festgehalten, aber ich kann mir vorstellen, dass diejenigen, die sich einst damit brüsteten, heute sehr bereit wären, sie in Vergessenheit geraten zu lassen…. Übersetzt mit www.DeepL.com/

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Der Autor, der verstorbene Peter P. Pachl/PPP

Der Autor, der 2023  verstorbene, Peter P. Pachl war Musikwissenschaftler, Theaterregisseur und Intendant, Publizist und Verfasser vieler Schriften und Bücher zu Siegfried Wagner und anderen musikalischen Themen dieses zeitlichen Umfeldes. Er schrieb diesen Artikel für uns. Die Opéra de Monte-Carlo gab Tannhauser) im Februar 2017 mit folgender Besetzung: José Cura, Jean-Francois Lapointe, Chul-Jun Kim, Meagan Miller sowie Stephen Humes; die Inszenierung stammt von Jean-Louis Grinda; die musikalische Leitung hatte Nathalie Stutzmann, s. nachstehenden Bericht.

Aus platztechnischen Gründen haben wir die zahlreichen und natürlich eminent wichtigen, weiterführenden Fußnotenhier fortgelassen. Aber wir haben seine Numerierung durchlaufen lassen. Abbildung oben: „Tannhäuser und Venus“, 1873 von Otto Knille (1832-1898)/ Ausschnitt/ Wiki; einige der Fotos entstammen dem wunderbaren, informativen Katalog bei Herscher zur Ausstellung „Wagner et la France“ in Besorgung durch Martine Kahane (charmante Direktorin der Opernbibliothek der Pariser Oper) und Nicole Wild, die 1984 in Paris stattfand; ISBN 2 7335 0059-7.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

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Und nun die Aufführung in Monte-Carlo: Erstmals in moderner Zeit: Tannhäuser in der originalen französischen Fassung von 1861 nun an der Oper von Monte-Carlo! Aus meiner Studentenzeit wurde ein Traum wahr, den ich seit so vielen Jahren mit mir herumgetragen habe – einmal Wagners Oper in eben dieser Version zu hören, von der nur geraunt wurde, die selbst zu den diversen Wagner-Jubiläen nicht aufgeführt wurde und die auch Soltis Decca-Aufnahme nicht wiedergibt.  Jean-Louis Grinda, nun Intendant in Monte-Carlo (und bald Chef der Choregie d´Orange), landete einen absoluten splash mit dieser ersten Inszenierung seit dem Krieg, die ebenso überzeugend wie poetisch ausfiel. Das kleine Haus, eingebettet in das bezaubernde Garnier-Casino, hat seit Raoul Ginsbergs Zeiten immer wieder für Ur- und Erstaufführungen und damit für Sensationen gesorgt (und zuletzt 1931 diese Fassung gespielt). Der neue Tannhäuser (nun dort mit – ä – geschrieben) stand da nicht zurück. In der Gesamtbeurteilung überwältigend und im Einzelnen herausragend hinterließ Grindas Inszenierung bis auf wenige Momente im ersten Akt (der ist immer sperrig) einen beglückenden, poetischen Eindruck. Wie schon zuvor als Intendant in Liège sorgte Grinda mit seiner Vision für einen erfüllten Opernabend und eine überraschende Entdeckung.

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„Tannhäuser“ 1861 an der Opéra de Monte-Carlo/ Szene/ Foto Alain Hanel

Wir hatten in operalounge.de im Vorfeld bereits viel über die Pariser Fassung von 1861 berichtet, und so wähnte ich mich gut vorbereitet. Aber der Eindruck selbst nun war viel komplexer, vielfältiger, überwältigender, als ich in dem luxuriösen kleinen Saal der vergangenen Eleganz unter gold-braunem Stuck und palmenwedelnden Kariathiden eine Musik hörte, die in moderner Zeit niemand so erlebt hatte. In der französischen Übersetzung von  Charles Nuitter reimt sich nun alles, mehr als im originalen Text, ist das Libretto allgemeiner, konventioneller, opernmäßiger. Dadurch und durch die sehr menschlich gehaltene Personen-Regie erschien die Oper Tannhäuser weniger hehr, weniger monumental und weniger deutsch, sondern wurde zu einer fast „normalen“ französischen Repertoire-Oper mit deutschem Einschlag.

Plötzlich hörte ich das Pariser Umfeld der Zeit: Saint-Saens, Gounod, auch Auber und Reichliches an Meyerbeer. Das für uns typisch deutsche trat hinter einem anderen, romantischen und defintiv französischen Idiom zurück. Namentlich im ersten Akt, dem erweiterten Hörselberg mit Zusatzarie für Madame Vénus, entdeckt ich zudem einiges mehr an Rhetorik, an wiederholten Phrasen, an Bühnenmusik, die den Mechanismen der Pariser Aufführung von 1861 geschuldet sind – immerhin hatte Petipa choreographiert und brauchte Zeit, so wie sich aus der erweiterten, abgeschlossenen (!) Ouvertüre Wiederaufnahmen mancher Motive im folgenden Ballett finden. Ein bemerkenswerter Eindruck. Der zweite Akt kommt schnell auf den Punkt dank der gegenüber Dresden gekürzten Konzentration auf Wolfram und Tannhäuser, mit einer rasanten Lösung für ein flottes Finale („A Rome!“, was natürlich Berlioz evoziert). Es liegt  eben auch am Libretto Nuitters, dass die Oper so „normal“ wirkt, so in einer Reihe mit anderen romantischen Werken der Zeit. Und Wagner hatte unüberhörbar die Musik dem neuen Text angepasst, wie man immer wieder feststellen konnte. Das war ein ganz eigenartiges Hör-Gefühl. Das Allzubekannte im neuen, eleganteren  Gewand. Ich stehe nicht an zu behaupten, dass diese Fassung sinnlicher, rasanter, hörbarer, weniger bodenlastig ist als das bekannte Original – auch wenn ich jetzt von Wagnerianern gesteinigt werde.

„Tannhäuser“ 1861 an der Opéra de Monte-Carlo/ Szene/ Foto Alain Hanel

Einem Dom gleich erwies sich der Rundhorizont nicht nur während der Ouvertüre und des Ballettes im 1. Akt als ideale Projektionsfläche für wunderbare Gebilde aus Licht, sich umschlingenden Linien und Farborgien, dann wieder konkrete Spielstätte von Kapellen und Hallen, schließlich – für den letzten Akt – eine fast Eugen Onegin-nahe Winterlandschaft mit kahlem Gestrüpp und rieselndem Schnee, der zu Wolframs Szene auch als Sterne herabfiel (Montage Jerôme Nuguera). Die weitgehend leere, halbrunde Bühne verstärkte diesen überwältigenden Eindruck (Décors, Lumières & Images Laurent Castaingt). Zudem verstand es Grinda exzellent, die Chorführung diskret der kleinen Spielfläche anzupassen. Die Optik blieb angenehm konservativ – in den Kostümen (mehr oder weniger) der Entstehungszeit (Jorge Jara) fand das Auge Sinn und Inhalt, und das Publikum honorierte dies mit herzlichem Applaus. Wir sahen eine elegante Bühnenwelt zu einer eleganten Musik.

Ich hätte im 1. Akt auf die Kostümierung von Vénus und ihrer Milva-gleichen Liebes-Damen gerne verzichtet – das schien zu sehr die altbackene bürgerliche  Vorstellung von Sünde in Form von Strapsen und diaphanen Toilettemänteln. Aber Tannhäuser mit seiner Opiumpfeife delirierend im Rausch zu zeigen war eine plausible Lösung – zumal auch hier die Lichterorgien das Ihre taten. Später wurde es gegenständlicher: ein schönes Kirchengewölbe für den zweiten Akt (wo sich die Heiligen in Madame Vénus und ihre Truppe verwandelten) und der bereits erwähnte wirklich überwältigende Schluss der Winterlandschaft auf kahler Bühne. Das Finale bot zudem die Überraschung, dass sich (die zur Jungfrau betende, katholische) Elisabeth die Pulsadern aufschneidet und abwankt, Wolfram sich für Tannhäuser opfert und statt seiner in der Venusberg einzieht und dass Tannhäuser selbst offenbar von seinen Sängerkollegen erschossen wird. Etwas verwirrend, aber warum nicht. Nicht alle Besucher erlebten diesen Schluss, denn um Mitternacht hatten sich die Reihen gelichtet…

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„Tannhäuser“ 1861 an der Opéra de Monte-Carlo/ Szene/ Foto Alain Hanel

Musikalisch war´s ein Fest. Frankreichs berühmte Altistin Nathalie Stutzmann dirigierte diese, ihre erste große, Oper mit sicherer Hand, schaffte Sinnlichkeit und Rausch im Klang des gut präparierten Orchesters (wegen des kleineren Grabens eben auch schmaler besetzt, was dem Ganzen gut tat), betonte vor allem eine stärkere Rhythmisierung des gesungenen Textes als bei uns gewohnt und hielt den Abend absolut überzeugend zusammen – eine wirklich gute Leistung, zumal auch der zupackende Chor zu diesem Eindruck beitrug (Stefano Visconti).

Der Star des Abends war für mich Jean-Francois Lapointe als beseelter Wolfram. Mit edler, lyrischer Baritonstimme sang er nicht nur die Set-pieces wie den Abendstern oder „Blick ich umher…“, sondern vermittelte auch im Ganzen einen wirklich glaubhaften Charakter – durchaus Fischer-Dieskau-nah, aber absolut eigenständig. Eine große Leistung! Landgraf Hermann wurde – ebenfalls nachdrücklich – von Steven Humes mit bester Diktion und sehr schönem Bass-Material gesungen, kein Orgeler im Frick-Fahrwasser, sondern ein lyrischer Sänger mit schönstem Material und angenehmer, inhaltlich gestützter Präsentation. Dazu kamen die blendend besetzten Sänger der kleineren Solopartien (William Joyner/ Walther, Roger Joakim/ Biterolf, Gilles Van der Linden/ Henry sowie  Chul Jun Kim/ Reinmar mit Brille).

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„Tannhäuser“ 1861 an der Opéra de Monte-Carlo/ Szene/ Foto Alain Hanel

Diktion ist bei der französischen Oper wirklich das Primat und deshalb für Nicht-Franzosen so schwierig zu bewältigen. Die Sprache sitzt weiter vorne als im Deutschen, hinter den Zähnen, und nicht alles singt sich problemlos (Nasale zum Beispiel). Annemarie Kremer war als Elisabeth nicht unrecht, und bei all meinem Respekt vor der kompetenten Leistung muss ich doch sagen, dass ihre Stimme für´s Französische zu international, zu gaumig und zu weit im Hals angesiedelt ist. Sie hat leuchtende und auch sehr kraftvolle Töne in der Höhe und ist zudem eine attraktive Schauspielerin, aber verstehen tat ich zu wenig vom Text. Dass Aude Extrémo als Vénus Französin ist glaubte ich erst, als ich ihre  Biographie nachlas. Mit ihr stand keine Verführerin auf der Bühne, sondern eine Azucena im albernen Morgenmantel, dazu mit gestemmter Höhe und zu vielen Brusteinsätzen. Und ich verstand von ihrem Part ebenfalls so gut wie nichts, was ja bei dieser hier erweiterten Rolle  keinen Sinn macht. Keine Dalila, keine Léonor, keine sinnliche Verführerin – eher eine Sportlerin mit stentoralem Material, die zudem mit den Noten sehr frei umging. Aber die Venus ist ja auch eine wirklich schwierige Partie, in dieser Version besonders. Dagegen hinterließ Anais Constans als weiblicher Hirt einen bezaubernden Eindruck.

„Tannhäuser“ 1861 an der Opéra de Monte-Carlo/ Szene/ Foto Alain Hanel

Und lui même? Tannhäuser – hier Henri (!!!) genannt? José Cura war stark erkältet, und während des Ballettes hustete er mehrfach: Man befürchtete Schlimmstes. Nichts da – mit dem Tannhäuser hat sich Cura eine weitere Partie glanzvoll erobert. Vielleicht erkältungsbedingt blieb er bis auf die Kernszenen gedämpfter, sang Harfenarie und Hallenauftritt kraftvoll, aber nicht gestemmt, kam gut nach Rom über das Ensemble und legte eine Rom-Erzählung mit so vielen Nuancen hin, dass ich mit den Tränen kämpfte. Differenziert, mit vielen leisen Tönen und auch optisch ein anrührender Darsteller war er der romantische Held par excellence, immer noch ein schöner Mann und ein absoluter Profi, zudem mit seriösem Französisch. Chapeau!

Im Ganzen und im Detail also war dies (am 22. Februar 2017) ein memorabler Abend, ein Erlebnis der Sonderklasse. Das herrliche, ehrwürdige Haus fügte sich zum Entdeckergeist der Intendanz und zu den herausragenden Leistungen der Interpreten. Nach einer Pause von mehr als 15 Jahren zeigte sich mir Monte-Carlos Oper wieder von ihrer besten Seite, nicht das letzte Mal – da bin ich mir sicher (Foto oben:“Tannhäuser“ 1861 an der Opéra de Monte-Carlo/ José Cura/ Foto Alain Hanel). Geerd Heinsen

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Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier.

Die „kecke“ Sechste

 

Seine „Keckste“ nannte Anton Bruckner die Sinfonie Nr. 6 in A-Dur, welche er in für ihn erstaunlich kurzer Zeit, zwischen 24. September 1879 und 3. September 1881, komponierte. Tatsächlich sticht dieses Werk unter seinen späteren Sinfonien heraus. Wer die Monumentalität der fünften, achten und neunten Sinfonie sucht, wird hier enttäuscht werden. Am ehesten kommt ihr noch die Siebente nahe, doch deren Popularität erreichte die Sechste nicht einmal ansatzweise. Es handelt sich nachgerade um die am meisten vernachlässigte seiner Sinfonien, sieht man einmal von den Frühwerken bis einschließlich der Zweiten ab. Große Bruckner-Dirigenten wie Hans Knappertsbusch (der ansonsten alle zwischen der Dritten und Neunten in seinem Repertoire hatte) machten einen Bogen um dieses „unbrucknerische“ Opus, das in seiner ganzen Art nicht ins Klischeebild dieses Komponisten passen will. Vergeistigt, geradezu theologisch überhöht ist hier wenig. Nächst der „Kathedral-Sinfonie“ Nr. 5, die mit einer Apotheose auf die Dreifaltigkeit beschlossen wird, wirkt die Sechste wie ein Zwerg. Und doch: Sie als Rückschritt abzutun wäre ungerecht.

Christian Thielemann, der nicht wenigen als der führende lebende Bruckner-Exeget gilt, widmet sich dieser sechsten Sinfonie nun im Zuge seiner schon zu einem Großteil fertiggestellten Gesamtaufnahme, die auf DVD bzw. Blu-ray herauskommt  (Unitel C Major 738208 / DVD, 738304 / Blu-ray). Bestritten wird dieses ambitionierte Unterfangen mit der Staatskapelle Dresden, der Thielemann seit 2012 als Chefdirigent vorsteht. In gewisser Weise ist es bezeichnend, dass auch er sich erst jetzt, nachdem er die vierte, fünfte, siebte, achte und neunte Sinfonie bereits vorgelegt hat, mit der sechsten beschäftigt. Es handelt sich hierbei um einen Live-Mitschnitt aus der Semperoper Dresden vom 13. und 14. September 2015. Den mit Majestoso umschriebenen Kopfsatz, welchen man bereits als einen Höhepunkt des Werkes ansehen könnte, eröffnet Thielemann eher breit, dabei besonders den in Bruckners Klangmassen zuweilen etwas untergehenden Holzbläsern Gehör verschaffend. Der markante und das Werk prägende Hauptrhythmus zu Beginn wird von den Violinen formvollendet dargeboten. Besonders die ausgefallene Coda – einer der gelungensten Abschlüsse eines Bruckner’schen Kopfsatzes – vermögen die Dresdner beispielhaft wiederzugeben (man achte hier gerade auf das Zusammenspiel von Horn und Oboe). Mit sechzehn Minuten Spielzeit liegt Thielemann hier im Rahmen und hat praktisch dieselbe Spielzeit wie Bernard Haitink mit dem selben Orchester (Profil/Hänssler, 2003).

Das Adagio ist, wie so häufig bei Bruckner, ein besonderer Ohrenschmaus. Thielemann scheint die Satzbezeichnung Sehr feierlich ernst zu nehmen. Beinahe achtzehn Minuten, über drei Minuten mehr als weiland Otto Klemperer (EMI, 1964), lässt er sich hier Zeit und kann mit seinem überlegenen Orchester einen betörenden Klangteppich der Streicher entfalten. Der Charakter eines Trauermarsches, den der Satz stellenweise aufweist, ist spürbar. Den idealen Kontrast dazu bietet das belebte Scherzo, in welchem es dem Dirigenten gelingt, den markanten Rhythmus, der ein wenig an den Anfang des Werkes erinnert, herauszuarbeiten. Im mit Langsam bezeichneten Trio wechseln sich Pizzicato-Stellen der Streicher mit Hornsignalen ab. Die Unterscheidbarkeit dieses langsamen Trios mit der dem sonstigen Satz zugeordneten Anweisung Bruckners Nicht schnell ist problemlos erkennbar. Die Satzzeit ist mit 8:27 wieder verblüffend nahe an jener Haitinks (Klemperer etwa eine Minute gemächlicher).

Bewegt, doch nicht zu schnell soll das Finale angegangen werden. Der Wechsel von anfänglichem Moll zu feierlichem Dur wird von der Staatskapelle beispielhaft umgesetzt. Eine positive Aura macht sich im weiteren Verlauf des Satzes breit. Mit vierzehneinhab Minuten liegt Thielemann genau zwischen Haitink und Klemperer. Mit einer Reminiszenz an den Kopfsatz klingt das Werk glanzvoll aus. Diese Einspielung liefert ein überzeugendes Plädoyer für die wenig beachtete Sechste und darf zumindest unter den Aufnahmen des einundzwanzigsten Jahrhunderts einen Spitzenrang für sich verbuchen. Unterstützt wird der positive Eindruck durch die plastische Tontechnik und die angenehme Bildregie. Daniel Hauser

 

 

Christian Thielmann tastet sich also langsam an eine Gesamtaufnahme heran. Man darf gespannt sein, ob er sich auch dem Frühwerk wird widmen, das bei diesem Komponisten ja schon aus der Mitte des Lebens kommt. Einige seiner berühmte Kollegen hatten in der Vergangenheit einen Bogen darum geschlagen, was aus heutiger Sicht nicht mehr nachzuvollziehen ist. Neben der Sechsten sind inzwischen die Sinfonien 4, 5, 8 und 9 auf dem Markt. Cmajor / Unitel Classica veröffentlichte sie unter einem gemeinsamen Dach: Anton Bruckner The Symphonies.

Die optimale Wiedergabe dürfte manchen Käufer dieser Produkte vor ein Problem stellen. Wie hören, wie sehen? Herkömmliche Fernsehlautsprecher genügen nicht, um das einzufangen, was geboten wird für das Geld. Eine mit dem Bildschirm verbundene Anlage muss es schon sein. Für die Blu-ray-Versionen kommt noch ein spezieller Player hinzu. So zieht das eine das andere nach sich. Nicht zuletzt auch zur Freude der Industrie, die die technischen Voraussetzungen mit immer neuen Raffinessen versieht. Einmal mehr stellt sich die Frage, ob Sinfonien in bewegten Bildern überhaupt Sinn machen, den Hörgenuss verstärken und die inhaltliche Wirkung, die von Musik ausgeht, zu steigern vermögen. Diese kolossalen Werke Bruckners sind keine TV-Events wie das Wiener Neujahrskonzert. Die der alten Pracht nachempfundene Semperoper hat auch dem Auge etwas zu bieten. Die Kameras wandern schon mal zu diesem oder jenem Detail. Jeweils zu Beginn kommt der große Kronleuchter auf die Zuschauer zu. Erkennt man jemanden im Publikum? Bekannte Gesichter sind in der Mittelloge auszumachen. Dort sitzt nämlich bei der 8. Sinfonie der deutsche Bundespräsident mit seiner Lebensgefährtin.

In Baden-Baden, wo die 4. und die 9. Sinfonie aufgenommen wurden, läuft optisch alles auf die Musiker zu. Der Raum ist nicht im Bild. Dabei ist der trotz seiner gigantischen Ausmaße sehr eindrucksvoll. Hinter dem Dirigenten erhebt sich eine dunkle Wand. Erst als sich der Schluss der 9. Sinfonie wie im Nichts verliert – einer der ganz großen Momente bei Thielemann – rücken heftig klatschende Menschen ins Bild. Und man wundert sich, wo die so plötzlich herkommen. Nach so viel Bruckner am Stück reicht es erst einmal. Selbst der hartgesottene Enthusiast braucht danach eine ganz große Pause. Schließlich sind die Sinfonien nicht komponiert worden, damit sie dereinst als Mitschnitte auf einem Bildschirm ablaufen wie eine Fernsehserie. Am Ende weiß man, welcher Musiker auf welcher Seite einen Ohrring trägt, wer besonders schöne Manschettenknöpfe sein Eigen nennt. Aber es geht einem auch auf, wer den letzten Frisörtermin verpasst hat. Es entsteht eine bizarre Nähe zu Menschen, die man gar nicht kennt. Der Maestro jedenfalls fällt stets durch seinen perfekt sitzenden Frack auf. Damit wirkt er inzwischen wie ein Exot. Ich finde gut, dass Thielemann an der traditionellen Kleiderordnung festhält. Sie drückt nach meiner Auffassung auch Respekt vor dem Werk aus.

Die Musik klingt klar, nicht vergrübelt. Gar nicht mal so ausladend. Über weite Strecken diskret und zurückgenommen. Gelegentliche Undeutlichkeiten im sich aufbäumenden Blech dürften den Umständen der Aufnahme in Dresden geschuldet sein, fallen also nicht auf das Orchester zurück. Es klingt wie aus dem Studio, in Baden-Baden noch mehr als in der Semperoper. Hustet denn gar niemand mehr? Die endlos wirkenden Generalpausen, zu denen sich Thielmann immer wieder bekennt, die er auskostet und bis auf die Spitze treibt, können sich in absoluter Stille erst richtig aufbauen. Sie sind eine seiner Stärken. Es wird deutlich, wie anstrengend es ist und wie viel Kraft es kostet, diese Pausen zu halten. Für den Mann am Pult wie für die Musiker. Die 8. Sinfonie spielt Thielemann in der Fassung von Robert Haas aus dem Jahr 1939. Haas hatte als erster eine Bruckner-Gesamtaufgabe herausgegeben. Diese Fassung hatten – wie im Booklet ausdrücklich erwähnt – vor Thielemann „schon andere bedeutende Bruckner-Interpreten wie Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Günter Wand und Bernard Haitink den Vorzug“ gegeben. Sie sei – auch für Thielmann – „schlüssiger und formal stringenter“.

Thielemann arbeitet Strukturen deutlich heraus. Er deckt sie nicht zu, er musiziert mehr, als dass er interpretiert. Details treten mitunter sehr deutlich hervor. Besonders dann, wenn die Sinfonien wie Kammermusik klingen. Das sind für mich die schönsten und ergreifendsten Momente. Unter seinen Händen ist Bruckner weniger der gigantische und einsame Monolith, sondern wird Teil seiner Zeit, der historisch ereignisreichen und musikalisch üppigen zweiten Hälfe des neunzehnten Jahrhunderts. Die Aufnahmen klingen erstaunlich uneitel. Damit beschwört Thielemann das Bild des traditionellen deutschen Kapellmeisters, als der er sich wohl auch in erster Linie versteht. Den Stardirigenten haben offenkundig die Medien aus ihm gemacht. Ich bin fest davon überzeugt, dass er der nicht sein will. Rüdiger Winter

Stumm, stumm, stumm …

 

Was das Opernschaffen an musikalischer Zündkraft Anfang des 20. Jahrhunderts aufzubieten hatte, reizten wenige in der Bandbreite so dezidiert aus wie Richard Strauss und der als Gegenpol gefeierte Franz Schreker. Wie Strauss galt Schreker als einer der führenden deutschen Opernkomponisten. Mit dem Fernen Klang erzielte er 1912 einen Sensationserfolg, der ihm auch bei anderen Opern weitgehend treu blieb. So 1918 bei den Gezeichneten. Das irisierende Vorspiel lässt das Genua des 16. Jahrhunderts farbige Gestalt annehmen. Es gehört zu den Beispielen eines sinnlich glühenden, schwelgerischen Stimmungszaubers, wie wir ihn auf der Aufnahme des Royal Swedish Orchestra unter seinem niederländischen Chef Lawrence Renes erleben können (BIS 2212). Auch wenn man heute den Opern des ebenfalls mit dem Bann der „Entarteten Musik“ belegten Alexander von  Zemlinsky den Vorzug geben wird, kann man sich Schrekers Orchesterpracht schwer entziehen: ausladend, mächtig, geheimnisvoll in ihrer instrumentalen Bravour, immer auf der Suche nach magischen Klangchiffren. Zu den weiteren Beispielen von Schrekers „Orchestral Music from the Operas“ auf dieser CD gehören das Vorspiel zu Das Spielwerk, der Überarbeitung von Das Spielwerk und die Prinzessin, das Symphonische Zwischenspiel aus Der Schatzgräber, Schrekers erfolgreichster Oper, das erst posthum uraufgeführte Vorspiel zu einer Großen Oper (nach seiner Selbsteinschätzung „ein großes, rauschendes Stück, in dem alle Register des Orchesters gezogen werden“) und das Nachtstück aus Der ferne Klang.

Eine perfekte Ergänzung bietet  eine Naxos-Aufnahme aus der Kleinhaus Music Hall in Buffalo, wo das dort beheimatete Philharmonic Orchestra Strauss nicht als den exzessiv und gewaltig tönenden Salome und Elektra -Komponisten zeigte, sondern als den raffinierten Orchesterverführer und gekonnten Anverwandler, der sich virtuos in die Klangwelt Lullys einfühlt und sie geistreich schattiert (Naxos 8.573460): Die Musik zu Le Bourgeois Gentilhomme zog er, nachdem sich Aufführungen mit Molières Stück nicht durchzusetzen vermochten, zu einer 1920 mit den Wiener Philharmonikern erstmals aufgeführten neunteiligen Suite aus Vorspiel, Tanznummern und Tafelmusik zusammen. Ein graziles, klangsinnliches Stück mit parodistischen Anmerkungen und feinsinnigen Illustrationen. Interessant aber vor allem die World Première Recording in Form der in gleicher Manier entworfenen Orchesterfassung der Ariadne auf Naxos, aus der D. Wilson Ochoa unter Beibehaltung der originalen Instrumentation – mit Ausnahme eines Englischhorns anstelle des zweiten Oboe – eine siebenteilige Symphony-Suite destillierte, die zentrale Momente der Oper so gekonnt einfängt, dass Kenner entzückt sein dürften: Prolog, das Duett Zerbinetta/ Komponist „Ein Augenblick ist wenig“, Der Walzer „Eine Störrische zu trösten“, „Ein Schönes war“, „Es gibt ein Reich“, das Zwischenspiel und „Gibt es kein Hinüber“.  Das sollte doch auch etwas für andere Orchester sein, die sicherlich noch geschmeidiger als das Buffalo Philharmonic Orchestra unter der vielseitigen JoAnn Falletta diese Musik zum Funkeln bringen.   Rolf Fath

Zwischen Dramatik und Erbaulichkeit

 

L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato ist als Live-Aufnahme der J.S. Bach-Stiftung St Gallen neu erschienen. Die Stiftung aus privaten Mitteln hat sich Großes vorgenommen: Chor und Orchester der J.S. Bach-Stiftung St. Gallen unter der Leitung von Rudolf Lutz wollen bis ca. 2030 über einen Zeitraum von 25 Jahren das gesamte Vokalwerk von Bach aufgeführt und live aufgenommen haben, die Gesamtaufnahme der Bach-Kantaten ist bereits fortgeschritten: 18 CDs sind bisher erhältlich. Bei einem solchen Mammutprojekt überrascht, dass man nun Zeit für Händel gefunden hat. L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato wurde 1740 uraufgeführt, trotz des italienischen Titels handelt es sich um ein englisches Oratorium, eine Allegorie ohne Handlung, ein Disput zweier Charaktere über sanguinische Heiterkeit und Melancholie, die „Il Moderato“ durch Vernunft versöhnen und zum Ausgleich bringen will. Die Musik ist voller wunderbarer Melodien. Das Klangbild ist farbig, Händel bietet viel auf: Holz- und Blechbläser, Pauken und Glockenspiel. Wie so viele Werke Händels besitzt auch dieses Werk den Status eines „Geheimtipps“, den Händel-Fans mit Genuss hören werden. Es gibt wenige Dacapo-Arien, der Chor hat in diesem Oratorium relativ wenig zu tun, sein Einsatz erfolgt nicht in abgesonderten Blöcken, sondern verschränkt sich mit den Solosängern. Die Sänger lassen keine Wünsche offen: Die Sopranistin Joanne Lunn, Tenor Charles Daniels und Bass Peter Harvey sowie der Chor überzeugen bei diesem farbigen Live-Vortrag mit differenzierter Darstellung und schönen Nuancen. Rudolf Lutz und sein Orchester musizieren mit viel Elan und eloquenten, flüssigen Tempi, das historische Klangbild ist plastisch. Eingeleitet wird das Oratorium hier durch die Ouvertüre von Händels Oper Radamisto, was dann folgt ist  im Rahmen des Live-Konzerts allerdings gekürzt – im ersten Teil sind das ein Accompagnato mit Arie „Come but keep the wonted state“ (Nr.9 und 10) sowie „Far from all resort“ (Nr.21) und „Straight mine eye hath caught“ (Nr. 24), im zweiten Teil fehlen „Sometimes let gorgeous Tragedy“ (Nr. 29), „There let Hymen“ (Nr. 33), „Orpheus‘ self“ (Nr. 38) und „Come, with gentle hand restrain“ (Nr. 43). Wer sich daran nicht stört, hört eine lebendige und schöne Interpretation, die man als Konzert gerne erlebt hätte.  (2 CDs, LC27081)

Das Label Carus hat in einer Box mit 13 CDs verschiedene, in den letzten Jahren erschienene Aufnahmen in überwiegend sehr guter Qualität zusammengefasst: Messiah, Alexander’s Feast sowie die Ode for St. Cecilia’s Day, Israel in Egypt, Brockes Passion, Solomon und L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato. Es handelt sich dabei Aufnahmen, die zwischen 2007 und 2012 entstanden und von vier unterschiedlichen Klangkörpern und Chören präsentiert werden, vor allem die Dirigenten Peter Neumann und Frieder Bernius sind hier stilbildend. Zwei Beihefte sind enthalten mit allen Libretti, Künstlerporträts sowie kurzen, allgemein gehaltenen Einleitungen. Der Vergleich von L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato mit obiger Neuaufnahme bietet sich an und zeigt, daß die Produktion des WDR aus dem Jahr 2012 als Referenz gelten kann. Peter Neumann und das Collegium Cartusianum sowie der stets bemerkenswerte Kölner Kammerchor sind vorbildlich in der Gestaltung, die Spannung zwischen Intro- und Extrovertiertheit erklingt in bunter Folge. Die Sopranarien sind mit zwei Sängerinnen besetzt, ob Maria Keohane oder Julia Doyle gerade singt, ist nicht ersichtlich, die CD weist es nicht aus, beide singen mit ähnlicher Klasse und vergleichbarem Timbre. Ideal ergänzt werden sie von Tenor Benjamin Hulett und Bassist Andreas Wolf. Die Einspielung ist kaum gekürzt (es fehlt nur Nr. 43), als Ouvertüre dient das Concerto grosso op.6, 1. Im Vergleich zu obiger Aufnahme der Bach-Stiftung St Gallen spricht für diese Einspielung, daß sie 25 Minuten mehr Musik enthält und sängerisch noch ausgefeilter wirkt.
Alexander’s Feast und Ode for St. Cecilia’s Day wurde bereits von Händel im Konzert kombiniert, die Ode bildet dabei den dritten Teil des Oratoriums, das zu Händels Zeiten zu seinen beliebtesten Werken gehörte. Die Produktion des WDR entstand 2006, erneut hört man Peter Neumann, das Collegium Cartusianum sowie den Kölner Kammerchor. Die Aufnahme klingt präzise, schlank und flüssig, was ihr ein wenig fehlt, ist der kaleidoskopische Farbenreichtum, Affekte und Klangmalerei sind mit noch mehr Überschwang vorstellbar. Der Sopran von Simone Kermes, Tenor Virgil Hartinger und der Bassist Konstantin Wolf setzen hingegen starke Akzente in dieser guten Aufnahme.
Die Brockes Passion ist als Live-Aufnahme des Schweizer Rundfunks aus dem Jahr 2009 enthalten und wird nach einer Abschrift von Johann Sebastian Bach musiziert. Händels Oratorium in deutscher Sprache erzählt die Passionsgeschichte vom letzten Abendmahl bis zum Tod Jesu am Kreuz Auch hier sind die bewährten Kräfte am Walten: Peter Neumann dirigiert das Collegium Cartusianum sowie den Kölner Kammerchor. Eine ganze Reihe von Sängern ist aufgeboten: insbesondere Markus Brutscher als ausdrucksvoller Evangelist sowie Nele Gramß, Johanna Winkel, Elvira Bill, James Oxley, Jan Thomer, Michael Dahmen und Markus Flaig stehen für eine empfehlenswerte Aufnahme, die Händels phantasievolle Beschreibung zwischen Zerknirschung und Drastik plastisch umsetzt und vom hohen Engagement aller Beteiligten profitiert.
Israel in Egypt wurde 2008 vom SWR aufgenommen. Das Oratorium, dessen Text nur aus Bibelzitaten besteht, erfordert für das Volk Israels als Haupt- und Titelfigur einen leistungsfähigen Chor, dessen Part das Vocalensemble Rastatt in vorbildlicher Artikulation übernimmt, Holger Speck dirigiert Les Favorites und als Sänger hört man Antonia Bourvé, Cornelia Winter, Terry Wey, Jan Kobow, Konstantin Wolff und Markus Flaig. Hier gelingt ebenfalls eine sehr gute und spannende Interpretation, bei dem in zweiten Teil mit der Beschreibung der Plagen unter Einsatz u.a. von Posaunen und doppelchörigen Sätzen eine spannende Dichte gewinnt.
Auch die Einspielung des Messiah stammt aus dem Jahr 2008 – eine Aufnahme, die den erbaulichen Stoff auf erfreuliche Weise dynamisch abwechslungsvoll und doch harmonisch und ausgeglichen präsentiert, orchestral wird hier dem Werk angemessen also nichts auf die Spitze getrieben, der Dirigent wählt moderate Tempi- ein Messiah, der auf beste Weise geschmackvoll interpretiert wird. Frieder Bernius dirigiert das Barockorchester Stuttgart und den Kammerchor Stuttgart. Hier lohnt ein Blick auf die Sänger, die dem Oratorium auf bemerkenswerte Weise Intimität und Ausdruck verleihen: Sopranistin Carolyn Sampson  mit sehr schöner Stimme, genußvollen Koloraturen und Ausschmückungen, Countertenor Daniel Taylor kann lyrisch und bestimmt klingen, Benjamin Hulett singt mit schlankem Tenor und Bass Peter Harvey mit nobler Stimme.
Solomon ist eine Produktion der Händel Festspiele Göttingen, die 2007 live bei einem Konzert in der Dresdner Frauenkirche aufgenommen wurde und aufgrund der unzufrieden stellenden Aufnahmetechnik und wenig transparentem Klang der einzige Schwachpunkt der Box. Auch sängerisch passt nicht alles zusammen: Tim Mead als Salomon kann die von Händel ursprünglich mit einer Mezzosopranistin besetzte Titelrolle nicht umfänglich an sich heranziehen. Weiterhin hört man Dominique Labelle und Claron McFadden in den Sopranrollen, Tenor Michael Slattery als Zadock, Bariton Roderick Williams als Levit, das Göttinger Festspiel Orchester unter der Leitung von Nicolas McGegan sowie den Winchester Cathedral Chor. (13 CDs, Carus 83.040)

Auch bei Harmonia Mundi wurde Solomon neu aufgelegt. Und auch die gekürzte und umgestellte Aufnahme mit der Akademie für alte Musik Berlin unter Daniel Reuss sowie dem RIAS Kammerchor aus dem Jahr 2006 ist nicht rundum empfehlenswert, denn es gibt die vollständige Aufnahme von Paul McCreesh (mit Andreas Scholl als Solomon) als Referenz, die Reuss mit seiner etwas weniger prägnant und zurückhaltender wirkenden Lesart nicht übertrifft. Dennoch lohnt das Zuhören – Sarah Connolly als Salomon, Susan Gritton als seine Königin, Carolyn Sampson als die Queen of Sheba, Mark Padmore als forscher Zadok und David Wilson-Johnson als sonorer Levit sowie der Chor singen inspiriert auf hohem Niveau und es ist eine Freude, der Akademie für alte Musik Berlin zuzuhören, die mit ihrem Klang Solomon eine melodiöse und konzentrierte Note verleiht. (2 CDS, Harmonia Mundi HMY 2921949.50Marcus Budwitius

 

Terry Wey & Friends

 

„In War & Peace“ nannte Joyce DiDonato ihre jüngste Platte – dieser Idee der Mezzosopranistin folgt nun der Countertenor Terry Wey mit seiner neuen CD „ Pace e Guerra“ bei der deutschen harmonia mundi (88985410502). Auch er wählte für dieses Programm Barockarien aus. Sie alle wurden für den 1685 in Bologna geborenen Kastratenstar Antonio Maria Bernacchi komponiert, der wegen seiner Leibesfülle vielfach karikiert, wegen seiner stimmlichen Virtuosität aber überaus geschätzt wurde. In London galt Bernacchi eine Zeitlang als Nachfolger Senesinos, in Bologna freundete er sich mit Farinelli an und gab dem großen Kontrahenten sogar Unterricht.

Auf der Trackliste finden sich sieben Weltersteinspielungen, welche für die Sammler stets von besonderem Interesse sind. Dazu zählt sogleich der erste Beitrag, die Arie des Lucio Vero aus der gleichnamigen Oper des Münchner Hofkomponisten Pietro Torri. Ihr Titel „Pace e guerra“ gab der CD ihr Motto. Es ist ein Koloratur gespicktes Stück, in welchem der Interpret stimmliche Flexibilität demonstrieren kann. Sein Countertenor ist von weicher Textur, jugendlich im Klang, gelegentlich von larmoyantem Tonfall. Ebenfalls eine Premiere ist die Arie des Mitrane, „Quell’ usignolo“, aus Domenico Natale Sarros L’Arsace. Mit dieser lieblich wiegenden Nummer ergibt sich ein schöner Kontrast, zumal Wey hier mit zärtlichen Nuancen und feinen Trillern aufwartet. Aus Händels Partenope folgen zwei Arien des Arsace – auch diese kontrastreich mit „Ch’io parta“ als schmerzlich-entsagungsvolle Äußerung in getragenem Duktus und „Furibondo spira il vento“ als furiose Sturmarie, bei der Wey mit expressiver Attacke und bravourösen Koloraturrouladen zu hören ist.

Mit Hasses Demetrio folgt wieder eine Ersteinspielung – hier das Duett des Titelhelden mit Alceste, „Dal mio ben“, bei dem die Mezzosopranistin Vivica Genaux dem Counter mit ihrem bekannt gutturalen Timbre assistiert. Es ist die Komposition eines Abschieds von sanftem Charakter, in der sich die Stimmen kosend umschmeicheln, im bewegten Mittelteil aber auch im Koloraturfeuer wetteifern. Wiederum eine CD-Premiere ist die Arie des Polinesso, „Già mi par“,  aus Carlo Francesco Pollarolos Ariodante, die dem Interpreten gleichfalls höchste virtuose Fähigkeiten abverlangt, welche der Sänger souverän erfüllt. Des Titelhelden Arie „Non disperi peregrino“ aus Händels Lotario ist ein von den Streichern zart umspieltes Stück, das dem stimmlichen Charakter Weys sehr entspricht. In der Arie des Medo aus Leonardo Vincis gleichnamiger Oper klingt die Stimme des Counters besonders resonant und reizvoll. Im nachfolgenden Terzett daraus gesellt sich zu ihm und der Genaux mit Valer Sabadus noch ein weiterer Vertreter dieser Stimmgattung. Und er setzt in diesem jubilierenden Gesang besondere Glanzpunkte. Bernacchi hatte es 1728 in Parma gemeinsam mit der Altistin Vittoria Tesi und Farinelli gesungen. Wie dieses Terzett ist auch die folgende Arie des Amadis aus Pietro Torris Amadis di Grecia eine Novität – in ihrem schmeichelnden siciliano-Rhythmus für Weys lyrisch-sensible Stimme wie maßgeschneidert. Aus Francesco Gasparinis Il Bajazet erklingt Tamerlanos „A dispetto“, was einen interessanten Vergleich zu Händels Vertonung des Stoffes ergibt, in welcher dieser die Titelrolle innehat. Von einem caccia-Hörnerklang begleitet, ist die Arie eine stürmische Ansage mit wütendem Koloraturfuror.

Mit einer letzten Weltpremiere, Casimiros Arie „Parto“ aus Torris Venceslao, endet das Programm und gibt dem Interpreten noch einmal Gelegenheit, seine Stimme mit sanft gefluteten Tönen schweben zu lassen. Das Bach Consort Wien unter Rubén Dubrovsky begleitet ihn sehr einfühlsam, setzt aber in den dramatischen Passagen der Arien auch eigene Akzente. Bernd Hoppe

Geheimnisvolle Klapphüllen

 

Höchst geheimnisvoll wirken die drei weißen Klapphüllen aus Pappe. Nur etwas für Eingeweihte. Ein grün und grau verschlungenes Ornament in einem Viereck. Darunter „P. Rhéi“. Ein paar grün hervorgehobene Begriffe, „Inspiration“, „Interpretation“ und „Imagination“. Ein Rätsel. Ach so, „panta rhei“, „alles fließt“, doch weshalb der spielerische Akzent auf „é“? Der wiederum führt vom Altgriechischen zum „é“ in „Prégardien“, genauer zu Julian Prégardien, ein offenbar ebenso ausgezeichneter Tenor wie sein Vater Christoph Prégardien. Das Ganze, ein musikalisches Forschungsprojekt, an dem der Sänger das Publikum auf der Internetplattform (www.prehi.com) teilhaben lässt, ein höchst exquisites zudem, da die dreiteilige Edition offenbar nur auf diesem Weg zu beziehen ist. Die drei Ausgaben, die sich Schuberts Winterreise widmen, gehören zusammen, sind quasi der Auftakt zu einer Sichtung von Werken und ihren Veränderungen im Laufe ihrer Aufführungsgeschichte. Nähern wir uns dem Geheimnis. Zuerst „Inspiration“. „Wir erleben die große Künstlerin Lotte Lehmann (188-1976) – sie war die womöglich die erste Frau, die den Liedzyklus Winterreise zur Gänze aufführte und auf Platte aufnahm – in zwei weniger bekannten Facetten ihrer Begeisterung für Wilhelm Müllers Gedichte und Franz Schuberts Musik“. So steht es auf der Rückseite.“ Es bleibt weiterhin geheimnisvoll. Denn in der Innenseite heißt es zu der im Januar 2016 von Julian Prégardien im „Verbund mit künstlerischen und wissenschaftlichen Paten“ gegründeten „Medienplattform für Aufführungsgeschichte, „Das erste Editionsprojekt befasst sich mit Franz Schuberts Winterreise nach Gedichten von Wilhelm Müller. Das Musikwerk Winterreise – eine kompositorische Interpretation für Kammerorchester und Tenor von Hans Zender (1936) wird als nächste CD-Auskopplung des Projekts anlässlich des 80. Geburtstages des Komponisten am 22. November 2016 veröffentlicht“. Doch was hat es mit Lotte Lehmann auf sich? Da hilft das schmale Beiheft weiter. „Ich darf Ihnen“, so der liebeswürdige Julian Prégardien, „mit freundlicher Genehmigung der University of California in Santa Barbara ein Geschenk überreichen: Lotte Lehmann nahm 1956 Rezitationen der Winterreise-Gedichte von Wilhelm Müller auf. Ebenso fertigte sie Aquarell-Zeichnungen zu den 24 Liedern an“. Es folgen die angekündigten Aquarelle.

Doch mehr interessiert Lehmanns Rezitation, die ich nicht kannte. Es ist schön, Lotte Lehmann so klar und deutlich zu hören, wie sie möglicherweise bei ihren Gesangsstunden sprach, als Generationen von angehenden und schon arrivierten Sängern nach Santa Barbara pilgerten, und wie man sie auch von ihrem „Radio Recital Cycle“ von 1941 kennt. Der Vortrag (23:33) freilich wirkt, nun ja, ein wenig antiquiert, wort- und akzentdeutlich, mit überstarken Betonungen („fall ich selber mit zu Boden“, ), leidenschaftlich bebend, stark empfunden, flüsternd, raunend, mit intensivem „r“, federndem „l“ („sind wir selber Götter!“), gemahnend, ein bisschen Maria Becker, aber eben doch beispielhaft in der starken und sinnhaften Wortbehandlung. Sie wusste, was sie sang. Schön wäre es gewesen, den Gesangs-Zyklus, den sie 1940/41 mit Paul Ulanowsky aufgenommen hatte, anschließend ebenfalls zu hören.

P.Rhei-Projekt „Winterreise“: Michael Glees und Julian Prégardien/ Foto Kloster Muri Kultur

Sodann „Inspiration“, d.h. Zenders „komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester“, die am 22. Januar 2016 als Koproduktion des Saarländischen Rundfunks, Südwestrundfunks und P.Rhéi mit der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Robert Reimer entstand (2 CDs) und zu der Julian Prégardien einen schöne Einführung verfasste, die auf die zahlreichen persönlichen Bezüge und Konstellationen verweist, so war Zender in den 1970er Jahren Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Saarbrücken, aus dem ebenjene Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern hervorging, Hans Zender wiederum hatte 1993 die Uraufführung seiner Version der Winterreise dirigiert, war 1999 an der Aufnahme mit Julians Vater Christoph Prégardien beteiligt und hatte eine szenische Produktion am Grand Théatre de Luxenbourg betrieben, die dieser Studioaufnahme direkt vorausgegangen war. Starke szenische Impulse gehen somit auch von Julian Prégardiens meisterlicher und packender Interpretation aus, die in Zenders suggestiv farbiger Klangsprache von einer elementaren theatralischen Kraft und großen darstellerischen Intensität zeugt, stimmlich manchmal ätherisch zart und verhauchend, dann wieder wütend und grell auftrumpfend, fast knarzend, sprechsingend, doch immer mit einem keuschen Schmelz und leuchtendem Klang. Das ebenfalls im Beiheft abgedruckte sehr informative Podiumsgespräch vom Tag der Aufführung mit Hans Zender, Thomas Seedorf und Prégardien unterstreicht den hohen Anspruch der Edition.

Und noch eine Überraschung. „Imagination“. „Wir stellen uns vor“, ist zu lesen, „wie die Pianistin Clara Schumann und der Sänger Julius Stockhausen die Winterreise vom Salon auf das Podium des Konzertsaals tragen. Eine Zeitreise in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Julian Prégardien und Michael Gees orientieren sich an historischen Konzertprogrammen und stellen Franz Schuberts Liedzyklus Klavierwerke von Johann Sebastian Bach, Domenico Scarlatti und Felix-Mendelssohn zur Seite“. Das Konzert nach dem Vorbild eines historischen Programms – abgedruckt ist im Beiheft ein Programmzettel vom 27. November 1862 – fand am 28. November 2015 statt, also fast genau 150 Jahre später, wobei Michael Gees den Lied-Zyklus durch kraftvoll kurze Improvisationen sowie die ebenfalls recht kurzen Stücke der erwähnten Komponisten – eine kleine Sonate, eine Gavotte, ein paar Lied ohne Worte – ergänzte, worauf der Abend im Kloster Muri auch nur gut 90 Minuten dauerte (2 CD). Und wieder liest man sich auch in den guten Texten im Beiheft fest. Packend in ihrem wahrhaftigen Ausdruck auch hier wieder die Leistung Prégardiens, dem für diesen knapp 3 ½ stündigen Auftakt seines „P.Rhéi“-Projekts mehr als nur Anerkennung gebührt. Rolf Fath

Viel Info auf kleinem Raum

 

Vor allem der Opernneulinge hat sich das Ehepaar Sabine Henze-Döhring und Sieghart Döhring, Fachleute par excellence,  mit seinem Buch Oper – Die 101 wichtigsten Fragen angenommen, aber auch dem „Kenner“ wird allerlei Interessantes, was er noch nicht wusste, angeboten. Ca. 140 Seiten nehmen die Antworten auf die 101 Fragen ein, und das bedeutet Artikel von durchschnittlich jeweils eineinhalb Seiten, was erfreulich knapp ist und zugleich erstaunlich viel bietet, da Ausschweifendes vermieden und damit kein Opernanfänger verschreckt wird. Allerdings heißt Oper nun einmal auch Sehen und vor allem Hören, und deshalb wäre eine CD mit Tonbeispielen sehr hilfreich gewesen, und die wenigen kleinen Fotos, oft nur vom Format einer Briefmarke, sind nicht sehr anregend.

Ansonsten aber ist an dem Buch nichts auszusetzen, im Gegenteil, selten findet man auf so geringem Raum so viele Informationen, die zudem noch so gut verständlich dargeboten werden. Das Buch gliedert sich in neun Kapitel, wobei sich das erste  „Basisfragen“ nennt und sich mit Fragen wie „Wann, wo und wie wurde die Oper erfunden?“  bis hin zu „Sind Opern elitär“ befasst. Es geht danach um „Erscheinungsbild-Erscheinungsform“ mit Fragen zum Beispiel „Was ist ein Libretto“ oder „Was ist ein Musikdrama“, um Stoffe und Handlungen, Meisterwerke und Opernmeister, Sänger, Bühne, Medien Organisation und Finanzen und schließlich um das Publikum.

Besonders angenehm fallen die vom Autorenpaar gewählten Zitate auf, werden die Verdienste Wagners knapp, aber einleuchtend herausgestellt, das ewige Thema prima la musica, poi le parole in seinen Grundzügen behandelt, und natürlich werden dabei weder Salieri noch Richard Strauss vergessen. Das Verhältnis von Rezitativ und Arie, von Librettist und Komponist, von Hofoper und Bürgeroper werden nicht vergessen, auch die jeweilige Finanzierung findet den ihr gebührenden Platz. Die Oper als Prestigeobjekt, die  Architektur der Opernhäuser, der Wandel von Sitz- und Kleiderordnung fehlen nicht, und nur zweimal runzelt man die Stirn, so beim Lesen von „Unterhaltsam erscheint die Oper auch durch die Musik“ und bei der Zuweisung von Mozarts Cherubino zu den Sopranen.

Die Operngattungen und deren Entstehung wie die Auflösung der Gattungen, die Entwicklung des Opernorchesters, der Begriff Partitur finden Beachtung, und vieles wird auch demjenigen neu sein, der sich bereits mit Oper beschäftigt hat, so der Unterschied zwischen Ouvertüre und Sinfonia, die Regelung des Opernwesens durch Napoleon im Jahre 1807.

Die beiden Verfasser stellen fest, dass Verdi und Wagner keine Antipoden sind, dass an der politischen Wirkung der Oper eher Zweifel anzumelden sind als an der auf das Gefühl des Zuhörers. Die Bedeutung von Kurt Weill für die Entwicklung der Gattung wird hervorgehoben, den Gründen für die Wirkung von Caruso und Callas nachgegangen und die einzelnen Stimmfächer dem Leser vorgestellt. Dass der Begriff „Regietheater“ heute „obsolet“ ist, mag man bezweifeln, weisen doch die Verfasser selbst auf die unrühmliche „Entführung aus dem Serail“ der Deutschen Oper Berlin in der vergangenen Spielzeit hin. Impresario und Agent, Claque und Buhrufer, selbst Tiere auf der Opernbühne finden Beachtung durch das Autorenpaar, und nach dem Lesen des Buches meint man nun wirklich fast alles über Oper zu wissen und nicht nur über die 101 wichtigsten Fragen unterrichtet worden zu sein. Wer nicht der Meinung ist, findet im Anhang weiterführende Literatur verzeichnet (H. Beck Verlag, 2017, ISBN 978 3 406 70667 7). Ingrid Wanja

Englische Opern aus Polen

 

Weder Gustav Holst (1874 – 1934) noch Ralph Vaughan Williams (1872 – 1958) gingen als Opernkomponisten in die Geschichte ein. Nichtsdestoweniger legte ersterer vier, letzterer sogar fünf Opern vor.  Allenfalls Sir John in Love von Vaughan Williams, welches Shakespeares Vorlage um den legendären trinkfesten Sir John Falstaff aufgreift und insofern in einer Reihe mit Nicolais Vertonung der Lustigen Weibern von Windsor und Verdis letzter Oper steht, erreichte eine größere Bekanntheit. Dieser Figur, wenn auch nicht auf die Lustigen Weiber Bezug nehmend, widmet sich auch Holst. At the Boar’s Head, betitelt als „A Musical Interlude in One Act“, aus dem Jahre 1924 basiert auf den Shakespeare’schen Historiendramen „Henry IV“, Part 1 und „Henry IV“, Part 2. Ebenfalls auf einem Theaterstück, wenngleich völlig anderen, ungleich dramatischeren Inhalts, beruht Vaughan Williams‘ Riders to the Sea (1925 – 1932), nämlich dem gleichnamigen, 1904 uraufgeführten Stück des irischen Dramatikers John Millington Synge. Das polnische Label Dux legt nun verdienstvollerweise diese beiden fast vergessenen Kurzopern in einer aktuellen Einspielung vom Beethoven Festival Warschau vor (Aufnahme: März 2016). Die musikalische Leitung hat der polnische Dirigent Lukasz Borowicz inne. Als Klangkörper fungiert die Warsaw Chamber Opera Sinfonietta, die im Falle des Vaughan Williams noch durch den Warsaw Philharmonic Women’s Chamber Choir ergänzt wird. Die Klangqualität ist vorzüglich, und obwohl es sich um Live-Mitschnitte handelt, sind Publikumsgeräusche praktisch nicht vorhanden (Dux 1307-8).

Im 55-minütigen Werk At the Boar’s Head, dessen Titel sich auf die legendäre Taverne in London Eastcheap bezieht, stehen Prince Hal, der spätere Heinrich V., und Falstaff im Mittelpunkt. Daneben verarbeitet Holst hier zwei Sonette Shakespeares und eine Handvoll traditioneller Lieder. Die Handlung ist sehr komprimiert, fast minimalistisch zu nennen; die Charakterisierung der beiden Hauptfiguren steht im Zentrum. Man startet gewissermaßen ohne Vorwarnung sofort, ohne orchestrale Eröffnung, mitten in der Szenerie. Der Bassbariton Jonathan Lemalus gibt einen noblen und altersweisen Falstaff, der Tenor Eric Barry mimt den Prinzen Hal als schmächtigen und etwas blassen Jüngling. Das Orchester beschränkt sich werkbedingt weitgehend aufs Begleiten. Allzu große Akzente kann Borowicz hier kaum setzen. Anders als in Sir John in Love handelt es sich nur bedingt um eine komische Oper (der Begleittext bescheinigt ihr gleichwohl einen typisch britischen Humor). Vielmehr spielen die bürgerkriegsähnlichen Zustände zur Regierungszeit des durch Usurpation auf den Thron gekommenen Heinrich IV. (reg. 1399 – 1413) eine wesentliche Rolle. Gegen Ende des Einakters zieht der Spannungsbogen dann doch deutlich an. Holsts Oper bleibt stets der Tonalität verhaftet; es handelt sich gleichsam um einen Nachzügler der Spätromantik. Die ersten Aufführungen am 3. April 1925 in Manchester und am 20. April 1925 in London ernteten nur lauwarmen Zuspruch. Man sprach von einem „brillanten Flop“, was nur sinnbildlich war für die lebenslange Geringschätzung Holsts als Opernkomponisten.

Der polnische Dirigent Lukasz Borowicz hat die zwei britischen Kurzopern ausgegraben / Koncert Polskiej Orkiestry Radiowej (próba) lutoslawski.org.pl

Das Meer übte seit Menschengedenken eine Faszination auf die irischen, englischen und schottischen Inselbewohner aus. Nicht zufällig entstanden gerade im späten 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert zahlreiche britische Kompositionen, die sich des Meeres annahmen, darunter Elgars „Sea Pictures“ (1899), Delius‘ „Sea Drift“ (1904), Stanfords „Songs of the Sea“ (1904) und Bridges „The Sea“ (1911). Gerade 38 Minuten lang ist Vaughan Williams‘ Riders to the Sea, zwischen 1925 und 1932 komponiert, aber erst 1937 uraufgeführt. Bereits in „A Sea Symphony“ (1909) hatte auch er sich mit dieser Thematik beschäftigt. Schon die kurze instrumentale Einleitung ist durch eine deutlich prominentere Rolle des Orchesters gekennzeichnet, als es in der Oper von Holst der Fall ist. Vaughan Williams gelingt eine bedrohliche Darstellung der Urgewalten des Meeres, die durch Geräusche der Wellen noch theatralisch ergänzt wird. Anders als bei Holst stehen hier Frauen im Fokus. Die Hauptfigur Maurya hat beinahe ihre gesamte Familie – Ehemann, Schwiegervater, fünf Söhne – an die unberechenbare See verloren, lediglich einer ihrer sechs Söhne blieb ihr. Böse Vorahnungen plagen die Mutter – wie sich im weiteren Verlauf herausstellen soll, zurecht. Auch Bartley, der letzte Sohn, kann seinem unerbittlichen Schicksal nicht entrinnen, stürzt am Strand unglücklich von seinem Pferd und ertrinkt. Resigniert stellt Maurya – vibratoreich gesungen von der vielleicht etwas jung klingenden Mezzosopranistin Kathleen Reveille – schließlich fest, dass ihr das Meer, nun da es ihr alle Söhne genommen hat, nichts mehr antun könne. Besonders der durch den walisischen Bariton Gary Griffiths verkörperte Bartley, der einen irischen Akzent zu imitieren scheint, weiß für sich einzunehmen.

Die Orchestrierung ist im direkten Vergleich mit Holsts At the Boar’s Head ungleich ausgefeilter und verweist, nicht nur aufgrund des offensichtlichen Bezuges zum Meer, in ihrer dissonanten Düsternis bereits auf Brittens Peter Grimes. Die gespenstischen Vokalisen des Chors erinnern kurioserweise wiederum an Holsts „Planets“. In Riders of the Sea kann Borowicz das volle Potential des Orchesters ausspielen. Seine impulsive Leitung, die interessante Details zutage fördert, kann sich nahtlos neben die beiden bisher erhältlichen Aufnahmen von Meredith Davies (EMI) und Richard Hickox (Chandos) einreihen und liegt tempomäßig genau dazwischen (Davies 36:23, Hickox 41:43). Trotz seiner Kürze ist dieses sicher das gewichtigere Werk des neuen 2-CD-Albums aus Polen.

Was verbindet nun die beiden Kurzopern? Zum einen die Entstehungszeit. Beide Werke wurden in den 1920er bzw. frühen 1930er Jahren komponiert, als das Britische Weltreich zumindest äußerlich auf seinem absoluten Zenit stand. Mit seiner Intonierung eines Shakespeare-Stoffes trug Holst, bewusst oder nicht, auch zur Apotheose des Empire bei. Vaughan Williams scheint zumindest hier einen deutlich pessimistischeren Blick auf die damalige Gegenwart zu haben (auch wenn er, wie erwähnt, mit Sir John in Love kurze Zeit später ebenfalls auf den englischen Nationaldichter Shakespeare zurückgreifen sollte). In Riders to the Sea – noch dazu nach der Vorlage eines Iren – kann keine Rede sein von „Britannia, rule the waves“. Die irische Frage, die einen blutigen Bürgerkrieg hervorgerufen hatte, war seinerzeit noch nicht abschließend geklärt. War es also gar dezente Kritik an der britischen Machtpolitik? Gesichert ist zumindest, dass Vaughan Williams den ihm angebotenen Ritterschlag ausdrücklich ablehnte.

Warum widmet man sich aber gerade in Polen zwei kaum bekannten Werken großer britischer Komponisten des 20. Jahrhunderts? Möglich wären die gerade in jüngster Zeit engen Verbindungen beider Länder. Nach dem EU-Beitritt der ostmitteleuropäischen Länder waren es vor allem Polen, die nach Großbritannien strömten – eine Öffnungspolitik, die gerade in diesen Tagen massiv in Frage gestellt wird. Vielleicht können Lukasz Borowicz und die Seinen anhand dieser polnisch-britischen Produktion ihren bescheidenen Teil dazu beitragen, die Wogen wieder etwas zu glätten. Die Doppel-CD wird ergänzt durch ein umfangreiches Booklet, das die kompletten Libretti zweisprachig, in Polnisch und Englisch, enthält. Der Text in deutscher Sprache wäre zwar wünschenswert gewesen, allerdings ist es bei einer polnischen Produktion englischer Opern verständlich, dass darauf verzichtet wurde. Abgerundet wird das Beiheft durch lesenswerte Einleitungen zu den Werken, die Hintergrundinformationen liefern.  Daniel Hauser

Stunden der Liebe

 

Junge Sänger sind bei Champs Hill Records gut aufgehoben. Dazu gehört auch der Bariton Benjamin Appl. Er stammt aus Regenburg, wo er 1982 geboren wurde und bei den Domspatzen erste musikalische Erfahrungen sammelte. Dem Vernehmen nach soll er der letzte Schüler von Dietrich Fischer-Dieskau gewesen sein. Zwischen 2010 bis 2013 studierte er an der Guildhall School of Music and Drama in London, wodurch sich auch der Kontakt zu dem englischen Label ergeben haben dürfte. Appl ist nicht festgelegt auf eine Richtung. Er singt sowohl Opern als auch Oratorien und Lieder. Damit liegt er ganz auf der Linie seines berühmten Lehrers. Dem Aussehen nach ist er eher der Popstar, dem die Fans zu Füßen liegen. Das muss im gediegenen Klassikgeschäft kein Nachteil sein. Stunden, Tage, Ewigkeiten ist die CD mit Liedern nach Heinrich Heine betitelt (CHRCD112). Heine, der als der letzte Dichter, der Schlusspunkt der Romantik gilt, hat Komponisten magisch angezogen. Franz Schubert sind einige seiner bedeutendsten Lieder auf seine Texte gelungen: Der Atlas, Ihr Bild, Die Stadt, Der Doppelgänger. Diese vier Titel aus dem Schwanengesang hat Appl aufgenommen. Sie gelingen ihm sehr gut. Appl lässt sich Zeit. Dadurch kann er alle textlichen und musikalischen Details ausbreiten.

Bei der Programmauswahl haben sich die Produzenten nicht nur auf Altbekanntes verlegt. Auftakt ist das Lied Gruß in der Vertonung von Edvard Grieg, gefolgt von den Sechs Liedern von Heine des russischen Komponisten und Pianisten Anton Rubinstein, der viele Lieder hinterlassen hat. Die erweisen sich als Entdeckung und mehren den Wert dieser Neuerscheinung. Seinem Höhepunkt strebt die Programmauswahl mit Roberts Schumanns Dichterliebe zu. Im hübsch aufgemachten Booklet kommt der von James Baillieu begleitete Sänger selbst zu Wort. Obwohl er ja durch seine Stimme und nicht durch das geschriebene Wort erklärend Eindruck machen soll, ist das für sich genommen eine gute Idee. Zumal Appl sehr persönlich wird. „Mit meinen Deutungen suche ich bewusst einen jungen, frischen Interpretationsansatz für die vorwiegend liebesbezogenen Textvertonungen“, so Appl. Und weiter: „Die Komponisten waren im vergleichbaren Alter, meistens jedoch noch jünger als ich jetzt. Ihre persönlichen Erlebnisse hatten sie sicher damals dazu bewegt, vorliegende Texte auszuwählen und in ihre musikalische Sprache einzukleiden. Durchlebt man doch in jungen Jahren erfüllte wie auch enttäuschende Stunden der Liebe besonders intensiv.“ Sein Vortragsstil wirkt selbstbewusst und frisch, nicht nassforsch. Er vergeht nicht vor Erfurcht vor diesen Meisterwerken, er nähert sich ihnen mit einer gewissen Lockerheit an. Das macht die Aufnahme zum Hörvergnügen. Nur hier und da hinterlässt er einen akademischen Eindruck. So, als würde er die Lieder in einem Seminar vortragen, in dem auch andere Studenten und Professoren sitzen, die genau aufpassen. Habe ich alles richtig gemacht? Er hat! Dieser Sänger ist auf einem sehr guten Weg. Es besteht nicht der geringste Zweifel für mich, dass noch viel von ihm zu hören sein wird. Rüdiger Winter

Arrangiert und pur

 

Angesichts der Fülle an Aufnahmen von Liedern Gustav Mahlers ist es eine gute Idee, wieder einmal auf Bearbeitungen zurückzugreifen. Nicht, dass der Komponist solche Arrangements nötig hätte. In der Regel sind sie nicht auf Verbesserung und Korrekturen aus, sondern zeugen von der intensiven Beschäftigung mit den Originalen. Und sind eine Verbeugung zugleich. So dürfte es auch für Arnold Schoenberg gelten, der Mahler hoch verehrte. Nach eigenem Bekunden bezog er aus dessen Werken wichtige Anregungen für das eigene Schaffen. Beide Komponisten sind sich auch persönlich begegnet. Schoenberg war nur vierzehn Jahre jünger als Mahler. Nach dessen Tod unterhielt seine Witwe Alma enge Kontakte zu Schoenberg und unterstützte ihn gelegentlich finanziell aus dem Erbe ihres Mannes. Naxos hat von Schoenberg arrangierte Lieder Gustav Mahlers vorgelegt – im Doppelpack die Lieder eines fahrenden Gesellen und das Lied von der Erde (8.573536). Es begleitet das Attacca Quartet, ein mehrfach preisgekröntes junges Ensemble aus den USA, und die Virginia Art Festival Chamber Players unter der Leitung der Dirigentin JoAnn Falletta, die sich vornehmlich eines Repertoires fern des Mainstreams annehmen. Der englische Bariton Roderick Williams, der auch als Komponist hervorgetreten ist, zelebriert die Gesellen-Lieder. Für eine sehr deutliche Artikulation gibt er einiges an Ursprünglichkeit und den volksliedhaften Ton. Erst zum Schluss hin wirkt sein Vortrag etwas gelöster. Dem Timbre nach passt er aber sehr gut.

Das Lied von der Erde will auch gesungen sein, zumal die Konkurrenz wie bei dem vorangegangenen Zyklus ebenfalls überwältigend ist. Stünde da nicht der Name Schoenbergs mit auf dem Programm, die Produktion hätte es nicht leicht. Sie bezieht ihre Wirkung aus dem Arrangement, wenngleich der Einsatz eines Flügels etwas verstörend wirkt. Ansonsten aber bekommt die kleine Besetzung dem schwermütigen Stück von Abschied und Vergänglichkeit sehr gut. Charles Reid, vor allem als Mozart-Sänger erfolgsverwöhnt, stemmt die hohe Lage und bleibt in der Ausdeutung der Texte zu flach und allgemein. Bei der britisch-kanadischen Mezzosopranistin Susan Platts mit dem schönen samtigen Ton fällt die Neigung zum Tremolieren auf. In ihren Liedern kann es aber durchaus als Ausdrucksmittel durchgehen.

In der originalen Fassung mit Klavierbegleitung durch Alfredo Perl hat Gerhild Romberg die Rückert-Lieder, die Lieder eines fahrenden Gesellen und die Kindertotenlieder eingespielt. Sie sind bei MDG erschienen (903 1972-6). Dieses Label wirbt damit, dass „alle Einspielungen … in der natürlichen Akustik speziell ausgesuchte Konzerträume aufgezeichnet“ werden. Verzichtet würde auf „jede klangverändernde Manipulation mit künstlichem Hall, Klangfiltern, Begrenzern“. Dies verstehe sich für ein audiophiles Label von selbst. „Das Ziel ist die unverfälschte Wiedergabe mit genauer Tiefenstaffelung, originaler Dynamik und natürlichen Klangfarben.“ Nachzulesen ist diese sympathische Selbstverpflichtung im Booklet, das auch alle Texte enthält. Man ist geneigt, vom Bio der Aufnahmetechnik zu sprechen. Der Klang wirkt zunächst etwas trocken. Mit der Zeit aber tut er dem Ohr gut, weil er so sanft ist. Mit ihrem ruhigen und in den Lagen ausgewogenen Mezzo bringt die Sängerin, die ausschließlich bei Konzerten in Erschienung tritt, die günstigsten Voraussetzungen für das Verfahren mit. Eine rundum geklungene Produktion. Barbara Ranke

Wiederhören mit alten Bekannten

 

Der Zeitpunkt für diese Box ist ungünstig gewählt. Nach der Übernahme der EMI hatte Warner zunächst sämtliche Studio-Recitals mit Elisabeth Schwarzkopf und inzwischen auch ihre Schelllack-Aufnahmen in sehr schönen Editionen neu auflgelegt. Der Bestand wurde in der ursprünglichen Folge seines Erscheinens und in den nachempfundenen Cover-Originalen wohl verpackt herausgebracht. So wie es dieser großen Frau entspricht, wie es ihr zur Ehre gereicht. An ihren zahlreichen Platten lässt sich die Karriere der Sängerin genau nachvollziehen. Sie gleichen einem musikalischen Lebenslauf. Daran knüpft auch das Label The Intense Media mit seiner Zusammenstellung unter dem Titel „Milestones of a Legend“ an (600338). Die zehn CDs enthalten weitestgehend dieselben Titel wie die Warner-Boxen. Aufgefüllt wurde vor allem mit Ausschnitten aus Gesamtaufnahmen, die jeder Sammler im Regal hat. Ausgesprochen schlicht gibt sich die äußere Erscheinung. Für den kleinen Geldbeutel kommt die Neuerscheinung richtig. Daran besteht aber auch ihr einziger Vorteil. Wenn es denn ein Vorteil ist, die Schwarzkopf in die preislichen Niederungen zu ziehen. Dabei hat das Label mit seinen beliebten Collectionen meistens einen guten Griff getan und Spürsinn bewiesen, weil sie auch Aufnahmen enthalten, die seit Jahren vom Markt verschwunden oder noch nie auf CD erschienen sind. Die Schwarzkopf aber ist gemäß ihrer musikhistorischen Bedeutung omnipräsent auf dem Markt. Wer mit ihr punkten will, muss schon mit Ausgrabungen aufwarten, die die Welt noch nicht gehört hat.

Hier nun sind die ganz alten Bekannten zusammen – das Capriccio-Finale und die erste Studio-Aufnahme der Vier letzten Lieder von Strauss unter Ackermann, der exklusive Querschnitt durch seine Oper Arabella, Arien und Lieder von Mozart, die süffige Operettenplatte, das Christmas-Album, Auszüge aus Wolfs Italienischem Liederbuch und weitere Lieder dieses Hauskomponisten der Sängerin sowie Lieder von Mozart und Schubert. Sogar die etwas trockenen Mährischen Duette von Antonin Dvorák mit Irmgard Seefried wurden nicht vergessen. Alles zum sehr kleinen Preis. Barbara Ranke

Siegfried Wagner und Bayreuth

 

„Der Sohn dieses Vaters, der übrigens als Künstler zweifellos das Opfer einer pedantischen Theorie ist, der nicht nach seinem Eigenwert geschätzt, sondern nach einem vermeintlichen Naturgesetzt, demzufolge kein bedeutender Mann keinen bedeutenden Sohn haben darf, obwohl Johann Sebastian Bach zwei sehr bedeutende Söhne hatte und obwohl Siegfried Wagner ein tieferer und originellerer  Künstler ist, als viele, die heute sehr berühmt sind.“ Heute – das war 1912. Das Zitat stammt von Arnold Schönberg, entnommen dem Aufsatz „Parsifal und Urheberrecht“, in „Neue Zeitschrift für Musik“, Stuttgart und Leipzig vom 2. Mai 1912. Die Erlöschung der Schutzfrist für Wagners letztes Werk, Parsifal, stand unmittelbar bevor. Bayreuth war in heller Aufregung. Es würde einen symbolischen Alleinvertretungsanspruch verlieren, gleichzeitig aber auch neue Chance gewinnen, dem Werk Wagners fortan ausschließlich durch mustergültige Aufführungen in Konkurrenz mit Häusern in aller Welt zu dienen. Diese Aufgabe war dem Sohn zugefallen, der bereits 1908 offiziell die Leitung der Festspiele von seiner Mutter Cosima übernommen hatte. Seine Rolle als Sohn und Erbe war festgelegt. Er spielte sie offenbar gut. Nur blieb ihm zu wenig Zeit. Was vom Theaterleiter Siegfried geblieben ist, lässt sich immer noch nachhören – fast neunzig Jahre nach seinem frühen Tod.

Schluss der Tannhäuser-Inszenierung der Bayreuther Festspiele 1930/Wiki

Wie das? Anhand eines zuletzt bei NAXOS erschienen Albums mit großen Ausschnitten aus Tannhäuser, verteilt auf zwei prall gefüllten CDs. Gut zwei Drittel des Werkes sind dokumentiert, der Rest ging verloren. Um ein Haar hätten wir also die erste komplette Oper Richard Wagners als Tonaufnahme unter Studiobedingungen aus Bayreuth in Händen halten können. Gewiss wäre diesem Produkt dann größere Aufmerksamkeit zuteil geworden. Seine Versehrtheit verbannt es in der Wahrnehmung zu unrecht auf hintere Plätze, macht es aber nicht minderwertig. So, wie die Venus von Milo keine Arme braucht, um als vollendet zu gelten, büßt auch diese Aufnahme fast nichts in ihrer Ausstrahlung ein, nur weil – um zwei Beispiele zu nennen – die Ansprache des Landgrafen oder der zweite Pilgerchor fehlen. Haben wir uns erst einmal hinziehen lassen, können wir uns den Rest im Kopf ersetzen. Oder aber es fällt selbst dem gut informierten Enthusiasten nicht auf Anhieb auf, dass es Lücken gibt. So rasant, so rauschhaft, ja betäubend klingt es aus den Lautsprechern. Siegfried Wagner hatte das Werk 1930 selbst in Szene gesetzt, im Gegensatz zu früher aber darauf verzichtet, auch am Pult zu walten. Tannhäuser war seit 1904 nicht mehr in Bayreuth gespielt worden. Als hätte er es geahnt, sollte diese Neuinszenierung sein Schwanengesang, sein Opus magnum als Regisseur werden. Er starb am 4. August 1930 mitten im Festspieltrubel den Herztod. Da war die Oper schon im Kasten. Anhand von Protokollen konnte der Musikwissenschaftler Peter P. Pachl inzwischen nachweisen, dass die Aufnahme bereits im Juli und nicht erst – wie bisher angenommen – im August entstand. Also ist fest davon auszugehen, dass Siegfried bei der Einspielung persönlich zugegen gewesen ist. Auf dem Cover der CD-Ausgabe wird sein Name nicht genannt. Dabei war er es, der Arturo Toscanini für die musikalische Leitung gewann. Ausgerechnet Toscanini, die Inkarnation des italienischen Maestro, der Puccinis Opern La Bohéme und Turandot aus der Taufe gehoben hatte. Mit ihm stand erstmals ein Ausländer vor dem Festspielorchester.

Toscanini tat Bayreuth gut, weil er internationales Flair und Glamour mitbrachte. Der schwere Gründerzeitmuff, den die Wagner-Witwe Cosima wie eine Schutzschicht gegen jedwede Veränderung über Bayreuth gebreitet hatte, verflog. Im Gefolge von Toscanini waren der sechsunddreißigjährige Ungar Sigismund Pilinszky als Tannhäuser, sein jüngerer Brüder Geza Belti-Pilinszky als Walther von der Vogelweide, der Norweger Ivar Andrésen als Landgraf, Ruth Jost-Arden, die einen Teil ihrer Ausbildung in New York absolviert hatte, als Venus und schließlich Maria Müller mit dem in Deutschland am häufigsten anzutreffenden Nachnamen als Elisabeth. Den Wolfram von Eschenbach gab Herbert Janssen – schwul wie sein Dienstherr Siegfried Wagner. Mit seinem sanften verinnerlichten Bariton wurde er zum Inbegriff dieser sympathischen Figur. Er exportierte das in Bayreuth erarbeitete Niveau bis an die Metropolitan Opera in New York, die bald zu seiner neuen künstlerischen Heimat wurde. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten fühlte er sich als Homosexueller in Deutschland nicht mehr sicher. Erst mit Dietrich Fischer-Dieskau erwuchs Janssen als Wolfram eine ebenbürtige Konkurrenz.

Es wird in der Literatur immer wieder beklagt, dass nicht Toscanini selbst die Platteneinspielung für Columbia leitete, sondern Karl Elmendorff. Toscanini war vertraglich an die RCA Victor gebunden. Er durfte also nicht fremdgehen. Genau hingehört, ist dennoch viel Toscanini herauszuhören. Elmendorff wäre es nach menschlichem Ermessen gar nicht möglich gewesen, für die Dauer der Aufnahme alles aus dem Orchester herauszuspülen, was jener den Musikern eingepflanzt hatte. Und wer weiß, vielleicht hat ja der berühmte und temperamentvolle Italiener dem deutschen Kollegen, der den Jahren nach sein Sohn hätte sein können, von hinten über die Schulter geschaut? Obwohl es dafür keine ernst zu nehmenden Belege gibt, lässt das Ergebnis auf die virtuelle oder gar direkte Anwesenheit von Toscanini schließen. Jedenfalls offenbart dieser Tannhäuser einen neuen, unerhörten Drive. Beruhte der Bayreuther Stil seit Cosimas Wagners Zeiten auf der Deklamation, die sich von der Bedeutung des Wortes herleitete und mit der Zeit zu verselbständigen drohte, flossen nun Worte und Musik zu einer völlig neuen Einheit zusammen. Pilinszky nimmt mit seinem gefühlsbetonten leidenschaftlichen Gesang vorweg, was später erst Max Lorenz oder Ludwig Suthaus würden leisten können. Gespielt wurde 1930 die Fassung, in der Wagner sein Werk 1861 an die Pariser Oper brachte, allerdings in Deutsch. Der entscheidende Unterschied zur ursprünglichen Gestalt besteht darin, dass die Szene im Venusberg drastisch erweitert wurde. Venus und Tannhäuser haben viel mehr zu singen. Vorangestellt ist ein ausladendes Bacchanal in peitschender Tristan-Manier, in das die Ouvertüre überleitet. Tristan und Isolde war nämlich bereits vollendet, als sich Wagner an die Umarbeitung des Tannhäuser machte.

An der szenischen Ausgestaltung des Bacchanals sparte der Regisseur Siegfried Wagner nicht. Dem Vernehmen nach tobte er sich dabei regelrecht aus. Er wird den Brief seines Vaters an Mathilde Wesendonck vom 10. April 1860 aus dem Archiv hervorgeholt haben. Darin schilderte Wagner wortreich, wie er sich den Venusberg für Paris vorstellte. „Venus und Tannhäuser verweilen so, wie es ursprünglich angegeben ist: nur sind zu ihren Füßen die drei Grazien gelagert, anmutig verschlungen. Ein ganzer, engverwachsener Knäuel kindischer Glieder umgibt das Lager: das sind schlafende Amoretten, die, wie im kindischen Spiel, balgend übereinander gestürzt und eingeschlummert sind. Ringsum auf den Vorsprüngen der Grotte sind liebende Paare ruhig gelagert. Nur in der Mitte tanzen Nymphen, von Faunen geneckt, denen sie sich zu entziehen suchen. Diese Gruppe steigert ihre Bewegung: die Faunen werden ungestümer, die neckende Flucht der Nymphen fordert die Männer der gelagerten Paare zur Verteidigung auf. Eifersucht der verlassenen Frauen: wachsende Frechheit der Faunen. Tumult. Die Grazien erheben sich und schreiten ein, zur Anmut und Gemessenheit auffordernd: auch sie werden geneckt, aber die Faunen werden von den Jünglingen verjagt: die Grazien versöhnen die Paare. – Sirenen lassen sich hören. – Da hört man aus der Ferne Tumult. Die Faunen, auf Rache bedacht, haben die Bacchantinnen herbei gerufen. Brausend kommt die wilde Jagd daher, nachdem die Grazien sich wieder vor Venus gelagert. Der jauchzende Zug contact cialis bringt allerhand tierische Ungetüme mit sich: unter andern suchen sie einen schwarzen Widder aus, der sorgfältig untersucht wird, ob er keinen weißen Fleck habe: unter Jubel wird er nach einem Wasserfall geschleppt; ein Priester stößt ihn nieder und opfert ihn unter grauenvollen Gebärden. Plötzlich entsteigt, unter wildem Jauchzen der Menge, der … nordische Strömkarl dem Wasserstrudel mit seiner wunderbaren großen Geige. Der spielt nun zum Tanze auf; immer mehr mythologisches Gesindel wird herbeigezogen. Alle den Göttern heiligen Tiere. Endlich Centauren, die sich unter den Wütenden herumtummeln. Die Grazien sind verzagt, dem Taumel wehren zu sollen. Sie werfen sich voll Verzweiflung unter die Wütenden; vergebens! Sie blicken sich, auf Venus gerichtet, nach Hülfe um: mit einem Wink erweckt die da die Amoretten, welche nun einen ganzen Hagel von Pfeilen auf die Wütenden abschießen, mehr und immer mehr; die Köcher füllen sich immer wieder. Nun paart sich Alles deutlicher; die Verwundeten taumeln sich in die Arme: eine wütende Sehnsucht ergreift Alles. Die wild herumschwirrenden Pfeile haben selbst die Grazien getroffen. Sie bleiben ihrer nicht mehr mächtig. Faunen und Bacchantinnen gepaart stürmen fort: die Grazien werden von den Centauren auf ihren Rücken entführt; Alles taumelt nach dem Hintergrunde zu fort: die Paare lagern sich: die Amoretten sind, immer schießend, den Wilden nachgejagt. Eintretende Ermattung. Die Nebel senken sich. In immer weiterer Ferne hört man die Sirenen. Alles wird geborgen. Ruhe. – Endlich – – fährt Tannhäuser aus dem Träume auf. – So ungefähr.“

Arturo Toscanini und Siergfried Wagner/ dig-regensburg.de/ ISWG

Peter P. Pachl, der auch selbst als Regisseur wirkt, hat sich mit dem Bayreuther Tannhäuser von 1930 intensiv beschäftigt. Nicht nur das. Wir wüssten heute viel weniger über Siegfried Wagner, hätte es sich Pachl nicht zur Aufgabe gemacht, das vermeintliche Naturgesetzt, von dem Schönberg spricht, gegen viele Widerstände zu widerlegen und Siegfried postum in seine eigentlichen Rechte einzusetzen. Pachl schrieb die erste große Biographie mit dem Titel „Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, begründete die Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft, führte dessen Opern systematisch auf und ließ sie auf Tonträgern veröffentlichen. Eine geplante Aufnahme des Tannhäuser letzter Hand kam bisher leider nicht zustande. In einem Beitrag für das Onlinemagazin operalounge.de verweist Pachl darauf, dass Siegfried „für seine lange geplante, aus Kostengrünen jedoch mehrfach verschobene Inszenierung“ den ungarischen Tänzer und Choreographen Rudolf von Laban, „zu dieser Zeit der progressivste Vertreter eines neuen Ausdruckstanzes, mit seiner Truppe für die Choreographie“ des Bacchanals engagierte. „Siegfried Wagner überzeugte Laban davon, dass auch die Vorschriften Richard Wagners für die Pariser Fassung in moderner Weise umzusetzen seien.“ Zwei Wochen seiner Probenzeit habe Siegfried allein mit der Einstudierung von Labans Tanzensembles zugebracht. „Manche Zuschauer befremdete es, dass nach Tannhäusers Wiederkehr nicht nur Nymphen, sondern auch Jünglinge … in rotem, gespenstischem Lichte die Arme verlangend nach dem Tannhäuser streckten“, zitiert Pachl Siegfried Wagners Maler-Freund Franz Stassen. „Offenbar sah sich Siegfried Wagner auch selbst in der Gestalt des Tannhäuser, dem von der Gesellschaft ausgestoßenen Künstler, dessen Schatten wie der eines Gekreuzigten auf die Felsenwand fiel, als er im dritten Akt unter der Brücke wieder auftauchte.“ Fotos können die Stimmung der Szenerie nur bedingt wiedergeben. Die Musik, wie sie in der Plattenaufnahme erhalten ist, sagt alles. Deshalb ist dieser Tannhäuser eines der wichtigsten klingenden Dokumente aus Bayreuth. Bis heute.

Bereits 1928 gab es durch die Columbia einen sehr bemerkenswerten Versuch, mit Tristan und Isolde eine möglichst komplette Aufnahme anzustreben. Um das Werk auf zwanzig Platten unterzubringen, musste gestrichen werden. Diesen Eingriffen fielen vor allem die Soloszenen des Tristan im dritten Aufzug zum Opfer. Das ist im Nachhinein sehr schade, weil der Norweger Gunnar Graarud einen sehr guten Eindruck hinterließ. Am Pult wurde die Einspielung ebenfalls von Elmendorff betreut. Die Isolde sang Nanny Larsen-Todsen aus Schweden, die Brangäne Anny Helm, den Kurwenal Rudolf Bockelmann und den Marke Ivar Andrésen.

Set Svanholm als Siegfried in der gleichnamigen Oper an der Met/ archives.metoperafamily.org

Weitestgehend komplette sind noch zwei weitere Werke überliefert, bevor sich der Vorgang schloss, um erst 1951 wieder aufzugehen. Götterdämmerung von 1942 und Die Meistersinger von Nürnberg von 1943. Seit 1940 wurden so genannte Kriegsfestspiele veranstaltet. Den Kartenverkauf übernahm die NS-Organisation „Kraft durch Freude“. Im Publikum saßen Kriegsversehrte und treue Gefolgsleute des Naziregimes. Nicht wenige Soldaten dürften sich während des Heimaturlaubes von der Front bei freiem Eintritt im Festspielhaus zu Fransen gelangweilt haben. „Das auch noch“, soll ein Besucher gestöhnt haben, als er sich nach fünf Stunden „Meistersingern“ beim Verlassen des Festspielhauses in einem Platzregen wiederfand. Hitler selbst hatte die Festspiele, die unter seiner Schirmherrschaft standen, 1940 zum letzten Mal besucht. Zehn Jahre nach Siegfrieds Tod war der Tiefpunkt erreicht. Die Besetzungen blieben zwar prominent, reichten aber an das Niveau der dreißiger Jahre nicht mehr heran. Statt der ausgebooteten Frida Leider, sang nun Marta Fuchs die Brünnhilde, Set Svanholm alternierte mit Max Lorenz als Siegfried. Elmendorff stand am Pult, bei den Meistersingern nochmals Wilhelm Furtwängler. Sachs war diesmal Jaro Prohaska. Die Schlussansprache geriet in die Nähe einer Parteitagsrede, unangenehm in ihrer Robustheit und besserwisserischen Gnadenlosigkeit. Pogner wurde von Josef Greindl gesungen, der seine Kariere nach dem Krieg im Westen Berlins sehr erfolgreich fortsetzte, als Eva wirkte wieder die tüchtige Maria Müller mit. Max Lorenz gab den Walther von Solzing. Trotz seiner Homosexualität und seiner jüdischen Ehefrau überlebte er den Nationalsozialismus unbeschadet, weil er als Sängertyp nicht zu ersetzten war. Siegfried Wagners Witwe Winifred, seit dessen Tod die Festspielleiterin, hielt ihre schützende Hand über ihn. Die latente Bedrohung aber blieb. Lorenz war erpressbar. Jederzeit konnte die Falle zuschnappen. Im Meistersinger-Mitschnitt offenbaren sich Schwächen und Grenzen. Die Stimme ist brüchiger geworden und nervöser. Manche Töne konnte er nicht mehr halten, sie drohten ihm wegzurutschen. Er verließ sich zu sehr auf das gestalterische Werkzeug. Das unverkennbare metallische Timbre, das ihn in Eintracht mit dem Aussehen für die Helden Wagner prädestinierte, blieb. Seine besten Tage aber schienen unwiederbringlich dahin.

 

Lorenz (Foto oben/ aus Peter P. Pachls Buch „Siegfried Wagner“/ Nymphenburger Verlag 1988) war 1933 nach Bayreuth gekommen, als sich Hitler dort anschickte, sein „Hoftheater“ zu errichten, wie Thomas Mann lästerte. Eröffnet wurden die ersten Festspiele unter dem Hakenkreuz mit den Meistersingern, die elf Jahre später zum Kehraus wurden. Lorenz soll bei seinem Debüt als Stolzing geglänzt haben. Ausdrücklich hervorgehoben wurden in Zeitungsberichten „ritterliche Eigenschaften der Erscheinung und des Spiels“. Es sei ihm aber schwer gefallen, das Lyrische der Partie zu erfassen. Das ist gut erkannt. Stimmlich war Lorenz nie zart besaitet, obwohl er sich im Privatleben einer Art Fistelstimme bediente, die im schroffen Gegensatz zur raumgreifenden Statur stand. Gemeinsam mit der Leider feierte er im Ring des Nibelungen seine größten Erfolge. Zeitzeugen schwören darauf, Wagner nie besser gehört zu haben. Eine Ahnung davon vermittelt eine kurze Sequenz aus einem Bayreuth-Film von 1934. In den rasanten Kulissen von Emil Preetorius fliegt die Leider als Brünnhilde im Prolog der Götterdämmerung auf den etwas statisch hingewuchteten Siegfried von Lorenz zu. Sie reißt die Arme in die Höhe. Eine Geste, die niemandem zur Zierde gereicht. In ihrer ungelenken, nahezu hausbackenen Bewegung sind die Bilder für heutige Augen verstörend. Der Gesang aber triumphiert über die Szene. Ihren von Natur aus schlanken Sopran vermochte die Leider wie in einem Parabolspiegel zu fokussieren. Dabei entfaltete sich das stimmliche Volumen in glanzvoller Pracht mit etwas knapper Höhe. Ihre zahlreichen Studioaufnahmen von Szenen Wagners kommen in ihrer Wirkung an diesen wenigen Minuten nicht heran. Es gehört zu den großen Sünden der Musikindustrie, dass die Leider und Lorenz nicht gemeinsam in einer geschlossenen Szene überliefert sind. Dabei haben sie das Siegfried-Finale eingespielt. In den Annalen des Reichsrundfunks Berlin wird die Aufnahme geführt. Doch die originalen Platten sind spurlos verschwunden. Hartnäckig hält sich das Gerücht, sie seien Hitler zum Geschenk gemacht und bei der Zerstörung der Reichskanzlei vernichtet worden. Der dänische Heldentenor Lauritz Melchior, den der weitsichtige Manager Siegfried Wagner erstmals 1924 als Siegmund für Bayreuth gewann, dürfte rein stimmlich betrachtet, die elegantere Ergänzung zur Leider gewesen sein. Bei den Festspielen sind sie allerdings nicht gemeinsam aufgetreten. Als die Leider kam, hatte Melchior Bayreuth bereits den Rücken gekehrt. Während Lorenz seinen gewaltigen Tenor mitunter etwas hart und robust einsetzt, klingt Melchior weicher und lyrischer, um nicht zu sagen gefälliger. In seinem Standardwerk „Die großen Sänger“ spricht der renommierte Stimmenexperte Jürgen Kesting in Bezug auf Melchior von „exemplarischer Leichtigkeit“. Davon kann bei Lorenz keine Rede sein. Er konnte sich aber – anders als sein Kollege – in die Rollen regelrecht hineinbohren. Als wühlte er darin, um auch den letzten Rest an Wahrhaftigkeit heraufzubefördern.

 

Frida Leider als Brünnhilde und Max Lorenz als Siegfried in der Bayreuther „Götterdämmerung“ von 1934/ Screenshot/ youtube

Frida Leider und Max Lorenz verband eine Schicksalsgemeinschaft, die weit über ihre künstlerische Zusammenarbeit hinausging. Die Leider war mit einem Juden, dem namhaften Geiger Rudolf Deman, verheiratet, Lorenz mit einer Jüdin. Hartnäckig halten sich Vermutungen, dass auch die Leider dem eigenen Geschlecht zuneigte. In ihrem 2016 erschienen Buch „Frida Leider – Sängerin im Zwiespalt ihrer Zeit“ geht Eva Rieger darauf nicht ein. Die Beziehung zur engen Freundin Hilde Bahl, mit der die Sängerin nach Demans Tod 1960 viele Jahre in Berlin in einer Wohnung zusammenlebte, wird aus der Biographie herausgehalten. In bemerkenswerter Offenheit hingegen wird ein Detail aus Demans Lebenslauf ausgebreitet. Als er 29 Jahre alt war, „verliebte sich Prinz Max von Baden, der letzte Kanzler des Kaisers, in den gutaussehenden Geiger“. Es wird ein Brief des Prinzen an einen Freund zitiert: „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was ich empfunden habe in dieser Sache und noch empfinde. Ich wandelte fast wie berauscht umher, und lebe hochgestimmt.“ Seine Frau „verfolge diese Vorgänge mit rührendem Verständnis und Interesse“, schreibt der Prinz weiter. Sie habe „vermutlich aus Ahnungslosigkeit die Einladung Demans“ auf den adeligen Landsitz in Salem, wo dieser mehr als ein Vierteljahr verbracht haben muss, gebilligt, mutmaßt die Buchautorin Rieger. Kann und will sie sich nicht vorstellen, dass Frauen die Obsessionen und intimen Interessen ihrer Männer verständnisvoll begleiten können? Mit Siegfried und Winifred Wagner ist ein solches Paar auch in ihrem Buch sehr präsent, ohne dass auf diesen Aspekt eingegangen wird. Kurz und gut. Die Beziehung des jungen Deman zum Prinzen endete „nach vier Monaten etwas abrupt… Vermutlich benötigte er einige Zeit, um den homosexuellen Charakter der Zuneigung zu erkennen, und war dann abgereist“, heißt es bei Rieger. Es kann aber auch ganz anders gewesen sein.

 

Die Festivalgeschichte ist immer auch die Geschichte ihres klingenden Vermächtnisses. Seit es die technische Entwicklung hergibt, wurden Versuche unternommen, den Bayreuther Gesangsstil für die Ewigkeit zu konservieren. Sänger, die von Anfang an dabei waren, die also Wagner selbst noch gehört hat, sind auf Tonträgern präsent. Einen komplexen Zugang ermöglicht die Edition „The Cosima Era – The Early Bayreuth Festival Singers 1876-1906“ beim Label Panclassics. In akribischer Kleinarbeit haben der Wagnerspezialist Michael Seil aus Heilbronn und der Berliner Klangrestaurator Christian Zwarg den weltweit verfügbaren Bestand an Schelllackplatten zusammengetragen und auf zwölf CDs überspielt. So vollständig wie nur möglich wird die Besetzung der Werke Richard Wagners bis zum Ende des nachhaltigen Wirkens seiner Witwe Cosima rekonstruiert. Im Zentrum stehen die legendären Aufnahmen der Gramophone and Typewriter Company (G&T), die 1904 in einem Bayreuther Hotel mit dem Ziel entstanden sind, Festspielsänger möglichst authentisch zu vermarkten. Liegen von einem der Sänger oder einer der Sängerin keine Aufnahmen von in Bayreuth dargestellten Rollen im genannten Zeitraum vor, wird auf spätere Einspielungen beziehungsweise andere Titel, die nicht selten auch weit nach 1906 entstanden, zurückgegriffen. Im Idealfalle aber – und das ist zum Glück ziemlich häufig der Fall – hören wir in etwa das, was Bayreuth-Besucher schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vernommen haben – haben könnten. Was zu hören ist, kommt nicht von der Bühne. Es kommt aus dem Trichter. Statt der hundert Musiker im unsichtbaren mythischen Abgrund des Festspielhauses haben sich ein paar Geiger und allenfalls ein Trompeter begleitend in einen winzigen Verschlag gezwängt. Manchmal muss nur ein Klavier reichen. So klingt es auch. Es braucht gute Ohren, eine gehörige Portion Erfahrung im Umgang mit solchem Material und viel Phantasie, um die 93 Sänger und vier Dirigenten in mehr als 300 Szenen angemessen und gerecht auf sich wirken u lassen.

Cosima Wagner und Siegfried Wagner/ Foto aus Peter P. Pachls „Siegfried Wagner“/ Nymphenburger Verlag 1988

Eröffnet wird die fulminante Dokumentation – und damit zurück zu Siegfried Wagner – mit der von ihm dirigierten Ouvertüre zum Fliegenden Holländer aus dem Jahre 1927. Damit verstoßen die Herausgeber gegen ihr eigenes Editionsprinzip. Siegfried hatte diese Oper nämlich erstmal 1914 geleitet, also weit nach der Cosima-Ära. Ihn in der Sammlung dennoch zu berücksichtigen, darf als großzügige Geste und Reverenz gedeutet werden. Seine Qualitäten als Dirigent gelten als unstrittig. Weltweit feierte er Erfolge. Dabei umgab ihn die Aura, der einzige Sohn Richard Wagners zu sein. Wo er auch hinkam, wurde er zunächst als solcher wahrgenommen. Aus der Bewertung seiner Leistungen lässt sich diese Tatsache nicht heraushalten. In seiner Biographie zitiert Peter P. Pachl den Dirigenten Hans Richter, der die erste geschlossene Aufführung des Ring des Nibelungen 1876 in Bayreuth geleitet hatte. Er hörte Siegfried 1894 in London: „Wir sind allesamt alte Knasterbärte gegen diesen jungen Mann“, der „nicht nur vollkommenes Verständnis für das Poetische an der Musik seines Vaters“ besitze. Richter erkannte bei Siegfried eine „instinktive Zartheit und kraftvolle Geduld, männlich im besten Sinne des Wortes wozu noch eine im besten Sinne weibliche Empfindsamkeit des Gefühls kommt“. Daran sind keine Zweifel angebracht. Richter war ein lauterer Mann und als bedeutender Dirigent sicher in seinem Urteil. Er wusste, wovon er redet. In Bayreuth ist Siegfried erstmals 1896 als Dirigent in Erscheinung getreten, indem er sich in die musikalische Leitung des Ring mit Richter und Felix Mottl teilte. Damals erntete er sicher nicht nur Zustimmung. Gustav Mahler aber, der Siegfrieds Aufführung beiwohnte, erkannt das große Talent auf Anhieb. Pachl zitiert einen Brief des Komponisten und Dirigenten vom Ende Oktober an Mutter Cosima, in dem er sein „Erstaunen“ und seine „freudige Bewunderung“ ausdrückt, dass es dem Sohne möglich gewesen sei, ohne alle „Routine“ seine Aufgabe zu lösen. Dabei müsse wirklich eine Vereinigung von „Begabung“ und „Naturell“ zusammenwirken. Eigene Ansprüche an seine Dirigententätigkeit fasst Siegfried in einem Gespräch mit den neuen „Wiener Journal“ vom 20. Januar 1911 so zusammen: „Eine starke Persönlichkeit kann in der Kunst nur von Nutzen sein, aber stets muss es ihr bewusst bleiben, dass sie einem Ganzen zu dienen hat, dass sie des Werkes wegen da ist. Ein übertriebenes Hineingeheimnissen, Interpretieren ist im Interesse einer reinen unverfälschten Wirkung kaum wünschenswert.“ Genau so klingen seine Aufnahmen von Werken des Vaters, nämlich klar, präzise, ruhig und unaufgeregt. Er wählt ein Tempo, das es ihm erlaubt, Themen und Strukturen deutlich hervortreten zu lassen. Überliefert sind vierzehn einzelnen Titel, die zwischen 1924 und 1929 produziert wurden. Darunter sind orchestrale Potpourris aus den Musikdramen. Den technischen Möglichkeiten der Zeit entsprechend, sollten auf diese Weise zusammenhängende Eindrücke vermittelt werden. Als besonders aussagekräftig für Siegfried Dirigierstils erweist sich das Finale des Rheingold. Er verliert sich nicht in der musikalischen Pracht, die dieser Musik innewohnt, lässt sich nicht selbst hinreißen oder überwältigen. Vielmehr dürfte es ihm wichtig gewesen sein, alle Details deutlich und nahezu gleichberechtigt zu behandeln. Nichts soll verloren gehen. Die letzten Takte lässt er nicht im vorherrschenden Walhall-Blech untergehen. Er holt die melodiöse und weiche Regenbogenmusik mit sicherer Hand aus dem Hintergrund hervor und verbindet beide Motive geschickt zu etwas Drittem, nämlich diesem einzigartigen Schluss. Mit einem zeitlichen Abstand von mehr als neunzig Jahren offenbaren diese Aufnahmen eine erstaunliche, fast irritierende Hörerfahrung. Was Karajan, Böhm, Solti, Knappertsbusch, Furtwängler oder eben auch Toscanini im Laufe der Zeit Wagners Musik durch individuelle Deutung und Würze würden beigemischt haben, ist in dieser Interpretation noch gar nicht vorhanden. Es scheint, als setzte Siegfried die Musik des Vaters in den Originalzustand zurück. Insofern ist er weder konservativ noch fortschrittlich. Er ist Sohn und Erbe, und als der Sachwalter am Pult gewiss ein Unikat.

 

Mit Beginn der Nachkriegsfestspiele 1951 wurde in Bayreuth systemisch mitgeschnitten. Kein anderes Festival ist besser und umfangreicher dokumentiert. Aus London war der mächtige EMI-Produktionschef Walter Legge mit seinem Stab angereist, um die symbolträchtigen Meistersinger für die Platte aufzunehmen. Elisabeth Schwarzkopf, die er zwei Jahre später heiratete, sang die Eva. Aus mehreren Vorstellungen wurde die vollständige Oper zusammengefügt und entsprechend bearbeitet. Dabei ging viel Live-Atmosphäre verloren. Neben der EMI stiegen Teldec, Philips und Deutsche Grammophon sukzessive in dieses Geschäft ein. Bis heute sind diese Produkte zu haben. Decca schnitt bereits 1955 erstmal einen Ring in Stereo mit, versenkte die Bänder aber im Archiv, um der eigenen ersten Studioproduktion unter Georg Solti in London keine Konkurrenz zu machen. Erst als Testament 2006 damit auf den Mark kam, erwies sich dieses Unterfangen – ähnlich dem Tannhäuser von 1930 – als eines der spektakulärsten Ereignisse der Veröffentlichungsgeschichte.

Martha Mödl als Kundry in Köln 1949/ 6yes.net

Als der eigentliche Star dürfte sechs Jahre nach Kriegsende Martha Mödl als Kundry wahrgenommen worden sein. Mit ihr hielt ein völlig neuer Typ, der in kein Schema und traditionelles Stimmenfach zu passen schien, Einzug im Festspielhaus. Sie war wie ein Medium, erfasste intuitiv jede dramatische Situation, in die sie sich gestellt fand – und sang drauf los. Sie sang mit wenig Technik und ohne Berechnung, durch und durch Naturbegabung und Naturereignis. Ihre Ausbildung war kurz. Bedingt durch die Kriegswirren blieb gar keine Zeit der Reife unter der Aufsicht erfahrener Kollegen und Dirigenten in einem fest gefügten Ensemble. Sie wurde gebraucht und ergriff ihre Chance. Karrieren wie ihre spiegeln die Nachkriegszeit mit ihrem Aufbruchwillen deutlich wider. Sie sind heute nicht mehr denkbar. Die Mödl war unbelastet, nicht verstrickt. Deshalb kam sie gut an. Ihr wurden die Rollen abgenommen. Auch wenn Töne daneben gingen. Sie setzte alles auf eine Karte, sang wie um ihr Leben und bezahlte mit dem frühen Verlust ihres hochdramatischen Soprans. Darin durchaus Lorenz ähnlich, auf den sie 1952 und 1954 bei dessen Rückkehr nach Bayreuth traf. Als Zwillingspaar Sieglinde und Siegmund in der Walküre 1954 blieben sie sich total fremd. Ja, sie singen in dem überlieferten Mitschnitt aneinander vorbei. Für Lorenz, diesen legendären Siegmund, kam das Comeback hörbar zu spät, die Mödl blieb der Rolle, die sie viel zu eruptiv und mächtig angeht, die innige und mädchenhafte Seite schuldig. Vielleicht hätte ihr ein anderer Partner besser getan als der alternde Lorenz, der es einfach noch einmal wissen wollte – und praktisch scheiterte. Ein Schatten seiner selbst. Er hätte sich das nicht antun sollen. Fiel er seiner Eitelkeit zum Opfer? Die Aufnahme gleicht einem Museumsstück, das sich allenfalls hartgesottene Fans beider Sänger ins Regal stellen. Und warum kamen nun Lorenz und die Mödl nicht zusammen? Stimmliche Gründe allein dürften nicht den Ausschlag gegeben haben. Beide Ausnahmeerscheinungen waren nicht kompatibel, weil Lorenz mit seinem Stil in Bayreuth die Vergangenheit verkörperte, die Mödl aber die Zukunft.

 

Winifred und Siegfried Wagner/ Foto aus Peter P. Pachls Buch „Siegfried Wagner“/ Nymphenburger Verlag 1988

Als neues Leitungsteam wurden Wieland und Wolfgang Wagner fortan stets als Enkel Richard Wagners wahrgenommen – und nicht als Söhne von Siegfried und Winifred. Dieses genealogische Zerrbild klammerte mit den Eltern auch jene Zeit aus, in der sich Bayreuth den Nationalsozialisten auslieferte. Siegfried hatte deren Machergreifung nicht mehr erlebt. Sein Verhältnis zu Hitler, der bereits seit Mitte der zwanziger Jahre Gast in Wahnfried war, wird als distanziert beschrieben. Hitlers enger Vertrauter, der spätere Propagandaminister Joseph Goebbels, nannte Winifred in seinem Tagebuch am 8. Mai 1926 ein „rassiges Weib“ und vermerkt ausdrücklich, dass sie ihm ihr Leid geklagt habe. Siegfried sei so schlapp. Dazu Goebbels: „Pfui! Soll sich vor dem Meister schämen.“ Derlei Rückschau war 1951 in Bayreuth nicht gewollt. „Hier fragt sich’s nach der Kunst allein“, singt Hans Sachs in den Meistersingern von Nürnberg. Dabei sollte es für lange Zeit bleiben. Im Rückblick war das für die Herausbildung des musikalischen Niveaus von Neu-Bayreuth so schlecht nicht. Nie klang Wagner so spannend und unkonventionell wie damals. Mit dem Werkstattbegriff wurde ein alter Gedanke belebt, der schon auf Friedrich Nietzsche zurückgehen soll. Für eine freie Bühne, die „Luft haben“ müsse, hatte schon Emil Preetorius in den dreißiger Jahren Anstöße gegeben. Besetzungen wurden – auch das ein unausgesprochener Rückgriff auf Siegfried – wieder internationaler. Sänger und Dirigenten empfanden es als eine Ehre, in Bayreuth für vergleichweise geringe Gagen auftreten zu dürfen. Aus dem Vollen konnten die Festspielleiter schöpfen. Sie probierten und verwarfen. Dazu gehört, dass sich die Brünnhilde von heute morgen mit der undankbaren Gutrune abfinden musste. Es war die Zeit, in der jeder einzelnen Produktion bis hinein in die kleinsten Rollen ein unverwechselbarer Stempel aufgedrückt wurde. Dirigenten kamen stärker als bisher an die Macht und entlockten den Partituren Farben und Feinheiten, die bisher noch niemand vernommen hatte. Helden sangen kleiner und wurden dadurch menschlicher. Die Aufführung immer der gleichen zehn Werke erwies sich als Herausforderung. Neu war die Übertragung aller Premieren im Rundfunk. Das Publikum wuchs in die Millionen.

 

Echte Live-Atmosphäre hatten zunächst nur die Piraten-Labels verbreitet (vor allem als Pionierin die Melodram). Sie brachten die Mitschnitte vieler BR-Rundfunkübertragungen, die zum alljährlichen Ritual wurden, als Plattenboxen heraus und wurden dafür von Sammlern geliebt und von der Festspielleitung schief angesehen. Bis dem durch die Copyright-Anwendungen ein Riegel vorgeschoben wurde. Die Firma Orfeo – jetzt Sachwalter des Bayreuther Klangzaubers – ist ziemlich spät auf diesen Zug aufgesprungen. Mit dem Tristan von 1952, der vorher ebenfalls erstmals auf dem grauen Markt die Runde gemacht hatte, eröffneten sich 2003 völlig neue Möglichkeiten. Im Grußwort der Box deutet Wolfgang Wagner an, dass dazu manche Vorbehalte und „gewisse Zweifel“ zu überwinden waren. Angeblich soll sich der Bayerische Rundfunk geweigert haben, seine Bänder dafür zur Verfügung zu stellen. Wie dem auch sei. Das Ergebnis zählt. Plötzlich war zumindest klangtechnisch alles in den Schatten gestellt, was bis dahin als Mitschnitt kursierte. Nach mehr als fünfzig Jahren konnte das Bayreuth der Neuzeit endlich eins zu eins nachgehört werden – und nicht nur in frisierten Zusammenschnitten. Kein Buch, kein Zeitungskritik, kein Bild – nichts kann ersetzten, was da plötzlich aus den Lautsprechern kam. Endlich war begriffen worden, dass dieses Festival in seiner Bedeutung nur dann richtig erfasst werden kann, wenn es auch klingend bewahrt bleibt. Schlag auf Schlag folgten bei Orfeo die anderen Werke des so genannten Bayreuther Kanons, also jener Opern, die dort aufgeführt werden, einige bereits mehrfach aus unterschiedlichen Jahrgängen. Niemand wüsste mehr, was es mit dem Mythos Bayreuth denn nun eigentlich auf sich hat, würde er sich nicht in den Aufnahmen klingend offenbaren. Siegfried Wagners Tannhäuser-Produktion war die Initialzündung. Rüdiger Winter

 

Mostly modern

 

Samuel Barbers Knoxville: Summer of 1915 liegt in Aufnahmen mit prominenten amerikanischen Diven vor – so Elenor Steber, die die Komposition 1948 unter Serge Koussevitzky aus der Taufe hob, Eileen Farrell und Leontyne Price. Zu ihnen gesellt sich nun Renée Fleming, die sie an den Anfang ihrer neuen CD mit dem Titel „Distant Light“ stellt (Decca 4830415). Die Sopranistin hatte schon in der Frühzeit ihrer Karriere eine starke Affinität zu zeitgenössischer Musik, sang an der Met in Coriglianos  The Ghosts of Versailles, hob in San Francisco André Previns A Streetcar Named Desire aus der Taufe, spielte mehrere CDs mit Songs von Jake Heggie, Brad Mehldau, David Kahne u. a. ein. Barbers Komposition mit ihrer lyrischen Poesie auf einen Text von James Agee liegt ihr perfekt in der Stimme, die sich schwelgerisch und aufblühend erhebt, in der Höhe glänzt und in raffinierten Valeurs schimmert. Das Royal Stockholm Philharmonic Orchestra begleitet unter Sakaro Oramo sehr atmosphärisch.

Es folgt ein Werk des 1954 geborenen schwedischen Komponisten Anders Hillborg mit dem Titel The Strand Settings. Die Idee dafür geht zurück bis ins Jahr 2008, als die Sopranistin mit dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra konzertierte. In den Gedichten des Amerikaners Mark Strand fand man passende Vorlagen für diesen vierteiligen Zyklus, der 2014 in der New Yorker Carnegie Hall uraufgeführt wurde. Es sind Episoden, die emotionale Zustände beschreiben – Freude, Sehnsucht, Nostalgie… Das Orchester setzt das sphärische Flirren der Einleitung zum ersten Titel, „Black Sea“ malerisch um, danach setzt die Stimme der Solistin in stockendem Duktus, fast verhalten ängstlich ein, schwingt sich aber in den folgenden drei „Dark Harbour“-Szenen zu betörendem Höhenglanz auf, immer wieder unterbrochen von nervösen, eruptiven Einschüben, in denen der Sopranistin auch in der tiefen Lage starke Momente gelingen.

Sehr eigenwillig ist die Tonsprache der 1965 geborenen isländischen Sängerin und Komponistin Björk Gudmundsdóttir, deren drei Gesänge „Virus“,Jóga“ und „All Is Full of Love“ das Programm der CD beschließen. Fleming wählte sie aus einer Vielzahl von Songs der Komponistin aus und entschied sich für solche, welche sie thematisch und musikalisch am meisten ansprachen. Das Klangspektrum reicht von Pop- und Jazz-Einflüssen bis zum Film-Sound. Renée Fleming und das Royal Philharmonic Orchestra werden diesen höchst unterschiedlichen Vorgaben und Ansprüchen beeindruckend gerecht. Im vorletzten Stück findet sich der Begriff „Emotional Landscapes“, der die Musik dieser CD treffend umschreibt, und der Titel des letzten , „All Is Full of Love“, dürfte als Botschaft der Interpreten verstanden werden. Bernd Hoppe

Best of….

 

Bereits der erste Blick auf die Trackliste von Christiane Kargs neuer CD Portrait lässt stutzen: Amoretti und Heimliche Aufforderung, das hatte man doch in Zusammenhang mit ihr bereits einmal wahrgenommen. Und richtig, im Booklet klärt die Sängerin den Leser darüber auf, dass es sich um die Titel  von „the best of“ dreier bereits veröffentlichter CDs handelt, neben den beiden bereits genannten noch die mit dem Titel Verwandlung. Die nochmalige Veröffentlichung begründet sie damit, dass sie  die Hörer auf „kommende Vorhaben einstimmen“ wolle, zudem gibt sie sich rücksichtsvoll mit der Bemerkung, sie wolle „fordern ohne zu überfordern“ und meint mit den einzelnen Nummern  „Ergebnisse des Stöberns in Bibliotheken und Archiven“ vorzulegen, was man bei Titeln wie äußerst bekannten Liedern von Strauss, Schubert und Schumann bezweifeln mag, was auch bei Glucks Iphigenie kaum zutrifft, eher schon  den hier anzutreffenden Werken Grétrys und Schrekers gerecht wird.

Es beginnt mit Clara Schumanns Er ist gekommen, das eine helle Mädchenstimme hören lässt, die sehr expressiv, sehr kontrastreich eingesetzt wird. Für Richard Strauss‘ Heimliche Aufforderung hat der Sopran den angemessenen Silberglanz, setzt auch hier auf einen ausgeprägten Gegensatz zwischen „heimlich“ und „strahlend“, zwischen leise Verklingendem und Rauschhaftem. In des Komponisten Morgen setzt die Stimme wie aus dem Schlaf erwachend ein, mit zartestem Beginn, wenn auch leicht manieriert. Strauss gibt der Sängerin mit Befreit auch die Möglichkeit, ein sehr schönes Piano zu zelebrieren und einen ebensolchen Schwellton. Er ist noch einmal mit Allerseelen vertreten, in dem sich eine schön ausgekostete elegische Stimmung mit außergewöhnlicher Dramatik abwechselt. Die Lieder sind alle gut bekannt, doch die Texte hätte man, da die Diktion, bei Strauss nicht unbedingt den Sängern anzulasten, nicht durchweg die beste ist, gern im Booklet gehabt, mehr noch bei den fremdsprachigen und dazu noch tatsächlich unbekannten Stücken.

Gluck ist zweifach vertreten. Als Iphigenie in Aulis lässt Christiane Karg mit keuschem, anmutigem Klang die Stimme rein und ruhig fließen, in Sacre Piante wird sie angenehm instrumental geführt. Französisch wird es mit Grétrys Arie aus Silvain, in der der Sopran sicher Intervalle meistert, eine gute Mittellage und eine große Beweglichkeit hören lässt und ungemein deliziös klingt.

Jeweils einmal sind Schubert, Schumann, Wolf und Schreker mit Liedern vertreten, wobei Herbst agogikreich und damit sehr eindringlich interpretiert wird, Schumanns Frühligsnacht ausgesprochen emphatisch dargeboten und Wolfs Christblume mit zarter Empfindsamkeit bedacht wird.

Eine ideale Mozartstimme offenbart sich in Amoretti aus La finta semplice, zu der auch das aparte „Etwas“ des Timbres und der verspielt unangestrengte Ton sehr gut passen. Ein besonders reizvolles Stück ist Mendelssohns  Ah, ritorna età dell’oro, in dem  der Sopran und die Violine einander sehr schön ergänzen und das perfekte Legato besonders auffällt.

Die Begleiter sind Malcolm Martineau für Strauss, Burkhard Kehring für die romantischen Lieder und für die Arien das Ensemble Arcangelo unter Jonathan Cohen (Berlin Classics 0300788BC). Ingrid Wanja

Eine Legende

 

Leontyne Price ist am 10. Februar 90 geworden! Unglaublich, haben doch ihre viele Schallplatten-Aufnahmen bei RCA (nun bei SONY) mich und viele, viele andere Fans über mein ganzes Leben begleitet. Sie war die große, dunkle und leuchtende Stimme der Met in Verdi und Puccini, sie war die große Ikone der Schwarzen Amerikas, sie war jahrzehntelang der Inbegriff amerikanischen Operngesangs – nie gab es einen Skandal, keine Gerüchte, nie etwas Negatives. Sie wurde beispiellos von ihrem Publikum namentlich an der Met geliebt. Ihr Verdi-Requiem aus Salzburg ebenso wie ihr unglaublicher Trovatore unter Karajan wird in alle Ewigkeit zu den Kostbarkeiten der Musik-Dokumentationen zahlen. Auch späte Auftritte wie die mit Marilyn Horne erzielten ausverkaufte Säle. Dann wurde es ruhig um sie, nur zum Benefizkonzert für die Oper von 9/11 trat sie noch einmal auf. Nun ist sie Neunzig! Eine Legende, eine feste Größe in der Erinnerung. Wenn Oper einen Namen hat, dann sicher auch den von Leontyne Price. Happy Birthday!!!

 

Leontyne Price/ WNCA

Dazu zur Erinnerung noch einen Ausszug aus Wikipedia: Mary Violet Leontyne Price (* 10. Februar 1927 in Laurel, Mississippi) ist eine US-amerikanische Konzert- und Opernsängerin (Sopran). Sie war die erste „schwarze Diva“ im internationalen Konzert- und Opernbetrieb. Geboren als Tochter eines Zimmermanns und einer Hebamme in den Südstaaten der USA begann die musikalische Ausbildung von Leontyne Price sehr früh. Sie erhielt Klavierunterricht und sang in der St. Paul Methodist Church in Laurel. Später studierte sie Musikpädagogik am College of Educational and Industrial Arts in Wilberforce. Nach dem Abschluss ging sie nach New York und wurde an der berühmtem Juilliard School of Music in New York angenommen, wo sie bei Florence Ward Kimball Gesang studierte. Ihre erste Opernrolle war die Mistress Ford in Verdis Falstaff in einer Hochschulproduktion.

Später folgte ein Engagement in einer Broadway-Produktion von Porgy and Bess, mit der sie ab 1952 durch die ganze Welt tourte. Ihr Partner William Warfield († 26. August 2002), der den Porgy sang, wurde auch kurzzeitig ihr Ehemann. Sie trennten sich bereits 1967 wieder, die Ehe wurde aber erst 1973 geschieden.

In den 1950er Jahren hatte Leontyne Price eine Reihe von Auftritten auf Opern- und Konzertbühnen und im Fernsehen in den USA. Ihr internationaler Durchbruch gelang in Europa: 1958 debütierte sie als Aida an der Wiener Staatsoper,[1] ein Jahr später am Covent Garden London. Als erste Schwarze sang sie am 21. Mai 1960 an der Mailänder Scala eine Hauptrolle (Aida) und im selben Jahr auch bei den Salzburger Festspielen. Eine langjährige Zusammenarbeit mit Herbert von Karajan begann.

1961 feierte sie an der New Yorker Metropolitan Opera mit ihrem Debüt als Leonore in Verdis Il trovatore einen großen Erfolg und erhielt 42 Minuten Stehapplaus. Von da an zählte sie über 20 Jahre lang zu den wichtigsten Sängerinnen des Hauses. Am bekanntesten wurde ihre Interpretation der Aida, mit der sie 1985 auch ihren Abschied von der Bühne feierte.

Das Repertoire der Price umfasste außer den großen Mozart- und Verdi-Rollen auch zahlreiche Konzertpartien. Neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt sie 15 Grammy Awards für ihre Schallplatteneinspielungen.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 trat Leontyne Price in der Carnegie Hall ein letztes Mal in einem Benefizkonzert auf. Sie lebt im New Yorker Greenwich Village. 1962 wurde sie in die American Academy of Arts and Sciences gewählt.