Zwischen Dramatik und Erbaulichkeit

 

L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato ist als Live-Aufnahme der J.S. Bach-Stiftung St Gallen neu erschienen. Die Stiftung aus privaten Mitteln hat sich Großes vorgenommen: Chor und Orchester der J.S. Bach-Stiftung St. Gallen unter der Leitung von Rudolf Lutz wollen bis ca. 2030 über einen Zeitraum von 25 Jahren das gesamte Vokalwerk von Bach aufgeführt und live aufgenommen haben, die Gesamtaufnahme der Bach-Kantaten ist bereits fortgeschritten: 18 CDs sind bisher erhältlich. Bei einem solchen Mammutprojekt überrascht, dass man nun Zeit für Händel gefunden hat. L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato wurde 1740 uraufgeführt, trotz des italienischen Titels handelt es sich um ein englisches Oratorium, eine Allegorie ohne Handlung, ein Disput zweier Charaktere über sanguinische Heiterkeit und Melancholie, die „Il Moderato“ durch Vernunft versöhnen und zum Ausgleich bringen will. Die Musik ist voller wunderbarer Melodien. Das Klangbild ist farbig, Händel bietet viel auf: Holz- und Blechbläser, Pauken und Glockenspiel. Wie so viele Werke Händels besitzt auch dieses Werk den Status eines „Geheimtipps“, den Händel-Fans mit Genuss hören werden. Es gibt wenige Dacapo-Arien, der Chor hat in diesem Oratorium relativ wenig zu tun, sein Einsatz erfolgt nicht in abgesonderten Blöcken, sondern verschränkt sich mit den Solosängern. Die Sänger lassen keine Wünsche offen: Die Sopranistin Joanne Lunn, Tenor Charles Daniels und Bass Peter Harvey sowie der Chor überzeugen bei diesem farbigen Live-Vortrag mit differenzierter Darstellung und schönen Nuancen. Rudolf Lutz und sein Orchester musizieren mit viel Elan und eloquenten, flüssigen Tempi, das historische Klangbild ist plastisch. Eingeleitet wird das Oratorium hier durch die Ouvertüre von Händels Oper Radamisto, was dann folgt ist  im Rahmen des Live-Konzerts allerdings gekürzt – im ersten Teil sind das ein Accompagnato mit Arie „Come but keep the wonted state“ (Nr.9 und 10) sowie „Far from all resort“ (Nr.21) und „Straight mine eye hath caught“ (Nr. 24), im zweiten Teil fehlen „Sometimes let gorgeous Tragedy“ (Nr. 29), „There let Hymen“ (Nr. 33), „Orpheus‘ self“ (Nr. 38) und „Come, with gentle hand restrain“ (Nr. 43). Wer sich daran nicht stört, hört eine lebendige und schöne Interpretation, die man als Konzert gerne erlebt hätte.  (2 CDs, LC27081)

Das Label Carus hat in einer Box mit 13 CDs verschiedene, in den letzten Jahren erschienene Aufnahmen in überwiegend sehr guter Qualität zusammengefasst: Messiah, Alexander’s Feast sowie die Ode for St. Cecilia’s Day, Israel in Egypt, Brockes Passion, Solomon und L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato. Es handelt sich dabei Aufnahmen, die zwischen 2007 und 2012 entstanden und von vier unterschiedlichen Klangkörpern und Chören präsentiert werden, vor allem die Dirigenten Peter Neumann und Frieder Bernius sind hier stilbildend. Zwei Beihefte sind enthalten mit allen Libretti, Künstlerporträts sowie kurzen, allgemein gehaltenen Einleitungen. Der Vergleich von L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato mit obiger Neuaufnahme bietet sich an und zeigt, daß die Produktion des WDR aus dem Jahr 2012 als Referenz gelten kann. Peter Neumann und das Collegium Cartusianum sowie der stets bemerkenswerte Kölner Kammerchor sind vorbildlich in der Gestaltung, die Spannung zwischen Intro- und Extrovertiertheit erklingt in bunter Folge. Die Sopranarien sind mit zwei Sängerinnen besetzt, ob Maria Keohane oder Julia Doyle gerade singt, ist nicht ersichtlich, die CD weist es nicht aus, beide singen mit ähnlicher Klasse und vergleichbarem Timbre. Ideal ergänzt werden sie von Tenor Benjamin Hulett und Bassist Andreas Wolf. Die Einspielung ist kaum gekürzt (es fehlt nur Nr. 43), als Ouvertüre dient das Concerto grosso op.6, 1. Im Vergleich zu obiger Aufnahme der Bach-Stiftung St Gallen spricht für diese Einspielung, daß sie 25 Minuten mehr Musik enthält und sängerisch noch ausgefeilter wirkt.
Alexander’s Feast und Ode for St. Cecilia’s Day wurde bereits von Händel im Konzert kombiniert, die Ode bildet dabei den dritten Teil des Oratoriums, das zu Händels Zeiten zu seinen beliebtesten Werken gehörte. Die Produktion des WDR entstand 2006, erneut hört man Peter Neumann, das Collegium Cartusianum sowie den Kölner Kammerchor. Die Aufnahme klingt präzise, schlank und flüssig, was ihr ein wenig fehlt, ist der kaleidoskopische Farbenreichtum, Affekte und Klangmalerei sind mit noch mehr Überschwang vorstellbar. Der Sopran von Simone Kermes, Tenor Virgil Hartinger und der Bassist Konstantin Wolf setzen hingegen starke Akzente in dieser guten Aufnahme.
Die Brockes Passion ist als Live-Aufnahme des Schweizer Rundfunks aus dem Jahr 2009 enthalten und wird nach einer Abschrift von Johann Sebastian Bach musiziert. Händels Oratorium in deutscher Sprache erzählt die Passionsgeschichte vom letzten Abendmahl bis zum Tod Jesu am Kreuz Auch hier sind die bewährten Kräfte am Walten: Peter Neumann dirigiert das Collegium Cartusianum sowie den Kölner Kammerchor. Eine ganze Reihe von Sängern ist aufgeboten: insbesondere Markus Brutscher als ausdrucksvoller Evangelist sowie Nele Gramß, Johanna Winkel, Elvira Bill, James Oxley, Jan Thomer, Michael Dahmen und Markus Flaig stehen für eine empfehlenswerte Aufnahme, die Händels phantasievolle Beschreibung zwischen Zerknirschung und Drastik plastisch umsetzt und vom hohen Engagement aller Beteiligten profitiert.
Israel in Egypt wurde 2008 vom SWR aufgenommen. Das Oratorium, dessen Text nur aus Bibelzitaten besteht, erfordert für das Volk Israels als Haupt- und Titelfigur einen leistungsfähigen Chor, dessen Part das Vocalensemble Rastatt in vorbildlicher Artikulation übernimmt, Holger Speck dirigiert Les Favorites und als Sänger hört man Antonia Bourvé, Cornelia Winter, Terry Wey, Jan Kobow, Konstantin Wolff und Markus Flaig. Hier gelingt ebenfalls eine sehr gute und spannende Interpretation, bei dem in zweiten Teil mit der Beschreibung der Plagen unter Einsatz u.a. von Posaunen und doppelchörigen Sätzen eine spannende Dichte gewinnt.
Auch die Einspielung des Messiah stammt aus dem Jahr 2008 – eine Aufnahme, die den erbaulichen Stoff auf erfreuliche Weise dynamisch abwechslungsvoll und doch harmonisch und ausgeglichen präsentiert, orchestral wird hier dem Werk angemessen also nichts auf die Spitze getrieben, der Dirigent wählt moderate Tempi- ein Messiah, der auf beste Weise geschmackvoll interpretiert wird. Frieder Bernius dirigiert das Barockorchester Stuttgart und den Kammerchor Stuttgart. Hier lohnt ein Blick auf die Sänger, die dem Oratorium auf bemerkenswerte Weise Intimität und Ausdruck verleihen: Sopranistin Carolyn Sampson  mit sehr schöner Stimme, genußvollen Koloraturen und Ausschmückungen, Countertenor Daniel Taylor kann lyrisch und bestimmt klingen, Benjamin Hulett singt mit schlankem Tenor und Bass Peter Harvey mit nobler Stimme.
Solomon ist eine Produktion der Händel Festspiele Göttingen, die 2007 live bei einem Konzert in der Dresdner Frauenkirche aufgenommen wurde und aufgrund der unzufrieden stellenden Aufnahmetechnik und wenig transparentem Klang der einzige Schwachpunkt der Box. Auch sängerisch passt nicht alles zusammen: Tim Mead als Salomon kann die von Händel ursprünglich mit einer Mezzosopranistin besetzte Titelrolle nicht umfänglich an sich heranziehen. Weiterhin hört man Dominique Labelle und Claron McFadden in den Sopranrollen, Tenor Michael Slattery als Zadock, Bariton Roderick Williams als Levit, das Göttinger Festspiel Orchester unter der Leitung von Nicolas McGegan sowie den Winchester Cathedral Chor. (13 CDs, Carus 83.040)

Auch bei Harmonia Mundi wurde Solomon neu aufgelegt. Und auch die gekürzte und umgestellte Aufnahme mit der Akademie für alte Musik Berlin unter Daniel Reuss sowie dem RIAS Kammerchor aus dem Jahr 2006 ist nicht rundum empfehlenswert, denn es gibt die vollständige Aufnahme von Paul McCreesh (mit Andreas Scholl als Solomon) als Referenz, die Reuss mit seiner etwas weniger prägnant und zurückhaltender wirkenden Lesart nicht übertrifft. Dennoch lohnt das Zuhören – Sarah Connolly als Salomon, Susan Gritton als seine Königin, Carolyn Sampson als die Queen of Sheba, Mark Padmore als forscher Zadok und David Wilson-Johnson als sonorer Levit sowie der Chor singen inspiriert auf hohem Niveau und es ist eine Freude, der Akademie für alte Musik Berlin zuzuhören, die mit ihrem Klang Solomon eine melodiöse und konzentrierte Note verleiht. (2 CDS, Harmonia Mundi HMY 2921949.50Marcus Budwitius