Seine „Keckste“ nannte Anton Bruckner die Sinfonie Nr. 6 in A-Dur, welche er in für ihn erstaunlich kurzer Zeit, zwischen 24. September 1879 und 3. September 1881, komponierte. Tatsächlich sticht dieses Werk unter seinen späteren Sinfonien heraus. Wer die Monumentalität der fünften, achten und neunten Sinfonie sucht, wird hier enttäuscht werden. Am ehesten kommt ihr noch die Siebente nahe, doch deren Popularität erreichte die Sechste nicht einmal ansatzweise. Es handelt sich nachgerade um die am meisten vernachlässigte seiner Sinfonien, sieht man einmal von den Frühwerken bis einschließlich der Zweiten ab. Große Bruckner-Dirigenten wie Hans Knappertsbusch (der ansonsten alle zwischen der Dritten und Neunten in seinem Repertoire hatte) machten einen Bogen um dieses „unbrucknerische“ Opus, das in seiner ganzen Art nicht ins Klischeebild dieses Komponisten passen will. Vergeistigt, geradezu theologisch überhöht ist hier wenig. Nächst der „Kathedral-Sinfonie“ Nr. 5, die mit einer Apotheose auf die Dreifaltigkeit beschlossen wird, wirkt die Sechste wie ein Zwerg. Und doch: Sie als Rückschritt abzutun wäre ungerecht.
Christian Thielemann, der nicht wenigen als der führende lebende Bruckner-Exeget gilt, widmet sich dieser sechsten Sinfonie nun im Zuge seiner schon zu einem Großteil fertiggestellten Gesamtaufnahme, die auf DVD bzw. Blu-ray herauskommt (Unitel C Major 738208 / DVD, 738304 / Blu-ray). Bestritten wird dieses ambitionierte Unterfangen mit der Staatskapelle Dresden, der Thielemann seit 2012 als Chefdirigent vorsteht. In gewisser Weise ist es bezeichnend, dass auch er sich erst jetzt, nachdem er die vierte, fünfte, siebte, achte und neunte Sinfonie bereits vorgelegt hat, mit der sechsten beschäftigt. Es handelt sich hierbei um einen Live-Mitschnitt aus der Semperoper Dresden vom 13. und 14. September 2015. Den mit Majestoso umschriebenen Kopfsatz, welchen man bereits als einen Höhepunkt des Werkes ansehen könnte, eröffnet Thielemann eher breit, dabei besonders den in Bruckners Klangmassen zuweilen etwas untergehenden Holzbläsern Gehör verschaffend. Der markante und das Werk prägende Hauptrhythmus zu Beginn wird von den Violinen formvollendet dargeboten. Besonders die ausgefallene Coda – einer der gelungensten Abschlüsse eines Bruckner’schen Kopfsatzes – vermögen die Dresdner beispielhaft wiederzugeben (man achte hier gerade auf das Zusammenspiel von Horn und Oboe). Mit sechzehn Minuten Spielzeit liegt Thielemann hier im Rahmen und hat praktisch dieselbe Spielzeit wie Bernard Haitink mit dem selben Orchester (Profil/Hänssler, 2003).
Das Adagio ist, wie so häufig bei Bruckner, ein besonderer Ohrenschmaus. Thielemann scheint die Satzbezeichnung Sehr feierlich ernst zu nehmen. Beinahe achtzehn Minuten, über drei Minuten mehr als weiland Otto Klemperer (EMI, 1964), lässt er sich hier Zeit und kann mit seinem überlegenen Orchester einen betörenden Klangteppich der Streicher entfalten. Der Charakter eines Trauermarsches, den der Satz stellenweise aufweist, ist spürbar. Den idealen Kontrast dazu bietet das belebte Scherzo, in welchem es dem Dirigenten gelingt, den markanten Rhythmus, der ein wenig an den Anfang des Werkes erinnert, herauszuarbeiten. Im mit Langsam bezeichneten Trio wechseln sich Pizzicato-Stellen der Streicher mit Hornsignalen ab. Die Unterscheidbarkeit dieses langsamen Trios mit der dem sonstigen Satz zugeordneten Anweisung Bruckners Nicht schnell ist problemlos erkennbar. Die Satzzeit ist mit 8:27 wieder verblüffend nahe an jener Haitinks (Klemperer etwa eine Minute gemächlicher).
Bewegt, doch nicht zu schnell soll das Finale angegangen werden. Der Wechsel von anfänglichem Moll zu feierlichem Dur wird von der Staatskapelle beispielhaft umgesetzt. Eine positive Aura macht sich im weiteren Verlauf des Satzes breit. Mit vierzehneinhab Minuten liegt Thielemann genau zwischen Haitink und Klemperer. Mit einer Reminiszenz an den Kopfsatz klingt das Werk glanzvoll aus. Diese Einspielung liefert ein überzeugendes Plädoyer für die wenig beachtete Sechste und darf zumindest unter den Aufnahmen des einundzwanzigsten Jahrhunderts einen Spitzenrang für sich verbuchen. Unterstützt wird der positive Eindruck durch die plastische Tontechnik und die angenehme Bildregie. Daniel Hauser
Christian Thielmann tastet sich also langsam an eine Gesamtaufnahme heran. Man darf gespannt sein, ob er sich auch dem Frühwerk wird widmen, das bei diesem Komponisten ja schon aus der Mitte des Lebens kommt. Einige seiner berühmte Kollegen hatten in der Vergangenheit einen Bogen darum geschlagen, was aus heutiger Sicht nicht mehr nachzuvollziehen ist. Neben der Sechsten sind inzwischen die Sinfonien 4, 5, 8 und 9 auf dem Markt. Cmajor / Unitel Classica veröffentlichte sie unter einem gemeinsamen Dach: Anton Bruckner The Symphonies.
Die optimale Wiedergabe dürfte manchen Käufer dieser Produkte vor ein Problem stellen. Wie hören, wie sehen? Herkömmliche Fernsehlautsprecher genügen nicht, um das einzufangen, was geboten wird für das Geld. Eine mit dem Bildschirm verbundene Anlage muss es schon sein. Für die Blu-ray-Versionen kommt noch ein spezieller Player hinzu. So zieht das eine das andere nach sich. Nicht zuletzt auch zur Freude der Industrie, die die technischen Voraussetzungen mit immer neuen Raffinessen versieht. Einmal mehr stellt sich die Frage, ob Sinfonien in bewegten Bildern überhaupt Sinn machen, den Hörgenuss verstärken und die inhaltliche Wirkung, die von Musik ausgeht, zu steigern vermögen. Diese kolossalen Werke Bruckners sind keine TV-Events wie das Wiener Neujahrskonzert. Die der alten Pracht nachempfundene Semperoper hat auch dem Auge etwas zu bieten. Die Kameras wandern schon mal zu diesem oder jenem Detail. Jeweils zu Beginn kommt der große Kronleuchter auf die Zuschauer zu. Erkennt man jemanden im Publikum? Bekannte Gesichter sind in der Mittelloge auszumachen. Dort sitzt nämlich bei der 8. Sinfonie der deutsche Bundespräsident mit seiner Lebensgefährtin.
In Baden-Baden, wo die 4. und die 9. Sinfonie aufgenommen wurden, läuft optisch alles auf die Musiker zu. Der Raum ist nicht im Bild. Dabei ist der trotz seiner gigantischen Ausmaße sehr eindrucksvoll. Hinter dem Dirigenten erhebt sich eine dunkle Wand. Erst als sich der Schluss der 9. Sinfonie wie im Nichts verliert – einer der ganz großen Momente bei Thielemann – rücken heftig klatschende Menschen ins Bild. Und man wundert sich, wo die so plötzlich herkommen. Nach so viel Bruckner am Stück reicht es erst einmal. Selbst der hartgesottene Enthusiast braucht danach eine ganz große Pause. Schließlich sind die Sinfonien nicht komponiert worden, damit sie dereinst als Mitschnitte auf einem Bildschirm ablaufen wie eine Fernsehserie. Am Ende weiß man, welcher Musiker auf welcher Seite einen Ohrring trägt, wer besonders schöne Manschettenknöpfe sein Eigen nennt. Aber es geht einem auch auf, wer den letzten Frisörtermin verpasst hat. Es entsteht eine bizarre Nähe zu Menschen, die man gar nicht kennt. Der Maestro jedenfalls fällt stets durch seinen perfekt sitzenden Frack auf. Damit wirkt er inzwischen wie ein Exot. Ich finde gut, dass Thielemann an der traditionellen Kleiderordnung festhält. Sie drückt nach meiner Auffassung auch Respekt vor dem Werk aus.
Die Musik klingt klar, nicht vergrübelt. Gar nicht mal so ausladend. Über weite Strecken diskret und zurückgenommen. Gelegentliche Undeutlichkeiten im sich aufbäumenden Blech dürften den Umständen der Aufnahme in Dresden geschuldet sein, fallen also nicht auf das Orchester zurück. Es klingt wie aus dem Studio, in Baden-Baden noch mehr als in der Semperoper. Hustet denn gar niemand mehr? Die endlos wirkenden Generalpausen, zu denen sich Thielmann immer wieder bekennt, die er auskostet und bis auf die Spitze treibt, können sich in absoluter Stille erst richtig aufbauen. Sie sind eine seiner Stärken. Es wird deutlich, wie anstrengend es ist und wie viel Kraft es kostet, diese Pausen zu halten. Für den Mann am Pult wie für die Musiker. Die 8. Sinfonie spielt Thielemann in der Fassung von Robert Haas aus dem Jahr 1939. Haas hatte als erster eine Bruckner-Gesamtaufgabe herausgegeben. Diese Fassung hatten – wie im Booklet ausdrücklich erwähnt – vor Thielemann „schon andere bedeutende Bruckner-Interpreten wie Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Günter Wand und Bernard Haitink den Vorzug“ gegeben. Sie sei – auch für Thielmann – „schlüssiger und formal stringenter“.
Thielemann arbeitet Strukturen deutlich heraus. Er deckt sie nicht zu, er musiziert mehr, als dass er interpretiert. Details treten mitunter sehr deutlich hervor. Besonders dann, wenn die Sinfonien wie Kammermusik klingen. Das sind für mich die schönsten und ergreifendsten Momente. Unter seinen Händen ist Bruckner weniger der gigantische und einsame Monolith, sondern wird Teil seiner Zeit, der historisch ereignisreichen und musikalisch üppigen zweiten Hälfe des neunzehnten Jahrhunderts. Die Aufnahmen klingen erstaunlich uneitel. Damit beschwört Thielemann das Bild des traditionellen deutschen Kapellmeisters, als der er sich wohl auch in erster Linie versteht. Den Stardirigenten haben offenkundig die Medien aus ihm gemacht. Ich bin fest davon überzeugt, dass er der nicht sein will. Rüdiger Winter