Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Die Sängerin begleitet sich selbst

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Die Sängerin Rachel Fenlon begleitet sich bei ihren Auftritten selbst. Das ist noch kein Alleinstellungsmerkmal. Wenn aber Schubert auf dem Programm steht, dazu noch dessen Winterreise – der Liederzyklus schlechthin, Gipfelpunkt kompositorischen Schaffens und mancher Sängerkarriere, dann stellt sich die Frage ein, ob es das je gegen hat. Bei Hauskonzerten gewiss, doch auf CD? Ich habe kein zweites Beispiel gefunden. Kaum ein Werk ist so häufig eingespielt worden wie die Winterreise. Immer und immer wieder haben sich Interpreten den vierundzwanzig Liedern nach Texten von Wilhelm Müller auf Podien und in Studios hingegeben, um letzte Geheimnisse zu entschlüsseln, neue Ansätze zu finden, die Geschichte in das jeweils aktuelle gesellschaftliche Umfeld zu stellen. Komponisten haben sich mit unterschiedlichem Erfolg an Bearbeitungen versucht. Statt eines Flügels mussten alternative Instrumente zur Begleitung herhalten. Selbst Akkordeons wurden bemühet. Die Winterreise blieb keine Domäne der Männer. Sängerinnen aller Lagen haben sie nach mutigen Anfängen der Altistin Therese Behr-Schnabel 1910 in Berlin ganz selbstverständlich im Repertoire. Sogar Chöre sind zum Einsatz gelangt. Ist die eigene Begleitung lediglich der neueste Schrei?

Mit dieser Vermutung täte man der in Großbritannien geborenen, an der Westküste Kanadas aufgewachsenen und jetzt in Berlin lebenden Sopranistin unrecht. Rachel Fenlon erklärt sich ihrem Publikum mit einen eigenen Text im Booklet der Neuerscheinung bei Orchid Classics (ORC 100343). Im vierten Lebensjahr begann der Klavierunterreicht. Mit Beginn der Gesangsausbildung habe sie sich schon als Siebzehnjährige gefragt, warum sie sich nicht selbst begleiten sollte, zumal in ihrer musikalischen Identität Stimme und Instrument gleichwertig ausgeprägt seien. Dieser Gedanke hat sie ihren eigenen Schilderungen zufolge nicht wieder losgelassen. Schließlich habe sie den Mut gefasst, bei ihrem ersten öffentlichen Konzert in Toronto, das ausschließlich aus Schubert-Liedern bestand, ihre eigene Begleiterin zu sein. Damit habe sie ihren eigenen Weg gefunden – ungeachtet warnender Stimmen, die diese Kombination nicht für machbar hielten. Als sie anfing, über den Inhalt ihre erste Platte nachzudenken, „war es keine Frage, dass es Schubert sein würde“. Während der isolierten Jahre der Pandemie, vertiefte sie sich in die Winterreise. Sie sei in Schubert auf jemanden getroffen, den tiefe Einsamkeit, leidenschaftliche Liebe und Trauer erfüllten. „Ich fand viel von mir selbst in dem Werk wieder“, das sie sich in zwei Jahren langsam und systematisch aneignete – auch während stundenlanger Spaziergänge im Wald, „um mir die Musik vorzustellen und sie in meiner Seele zu finden“. Im Sommer 2022 gab es dann die allererste Aufführung in Berlin, der eine Tournee folgte.

Auf mich wirkt die Vortragsweise von Rachel Fenlon zu unentschieden. Als ob sie sich stilistisch nicht zwischen Lied und Oper entscheiden kann. Sie verliert sich in Details, die ausgeschmückt werden wie kleine musikdramatische Szenen. Registerwechsel in die Tiefe klingen unerwartet derb und sind nicht als bewusst eingesetztes Ausdrucksmittel erkennbar. Meist ist sie gut zu verstehen, was für sie als Liedsängerin spricht. Spannungsreiches Widerspiel zwischen Stimme und Instrument, das die meisten guten Aufnahmen der Winterreise auszeichnet, kann sich nicht aufbauen, da Sängerin und Begleiterin Ein und Dieselbe sind. Rüdiger Winter

Sigrid Kehl

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Welches Weihnachtsoratorium für die Feier in den eigenen vier Wänden? Es soll schon etwas Besonderes sein. In meinen Beständen findet sich der Videomitschnitt aus der Leipziger Universitätskirche vom 15. Dezember 1963. Der dürfte besonders genug sein. Die Kirche im Zentrum der Stadt gibt es nicht mehr. Obwohl sie die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstanden hatte, wurde sie 1968 abgerissen. Proteste hatten nichts genützt. Das Gotteshaus war den hochfliegenden Neubauplänen der sozialistischen Machthaber im Wege. Leipziger Bürger haben das bis heute nie verwunden. Die Formen sind im 2017 fertiggestellten Neubau der Paulinerkirche an alter Stelle bewahrt – der Klang des Raumes in eben dieser seltenen Aufnahme. Sie kann getrost als musikalisches Denkmal gelten. Die Kameras fingen nicht nur das musikalische Geschehen ein, sie dokumentierten auch das Kirchenschiff fünf Jahre vor seiner Zerstörung. Entdeckt hatte die Fernsehaufzeichnung, die auch im Folgejahr nochmals gesendet wurde, der Leipziger Paulinerverein im Deutschen Rundfunkarchiv.

„Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn!“ Die Altpartie sang damals Sigrid Kehl. Mit einer gewissen Kühle und Distanz gelang ihr eine Wirkung der besonderen Art. Ein inniges Gefühl des Moments stellte sich nicht bei der Künstlerin, sondern beim Publikum. Nicht sie waren ergriffen, ihre Zuhörer waren es. Als mir der bewegende Mitschnitt wieder in die Hände fiel, erreichte mich die Nachricht von ihrem Tod. Neben der Kehl sind Elisabeth Breuel (Sopran), Peter Schreier (Tenor) und Günther Leib (Bariton) zu hören. Als Verkündigungsengel hat der spätere Schlagersänger und Entertainer Hans-Jürgen Beyer, einen seiner ersten öffentlichen Auftritte. Thomaskantor Erhard Mauersberger leitet den Thomanerchor, dem Bayer angehörte, und das Gewandhausorchester Leipzig.

Die Sängerin wurde am 23. November 1929 in Berlin geboren. Nach dem Studium an der Berliner Musikhochschule wurde sie in das Nachwuchsensemble der Lindenoper aufgenommen, wo besondere Begabungen zusätzliche Förderung erfuhren. Zuerst ist sie 1957 an diesem Haus als eines der Polowetzer Mädchen im zweiten Akt von Borodins Fürst Igor aufgetreten. Noch im selben Jahr wurde sie ans Opernhaus Leipzig verpflichtet, dem sie bis zum Bühnenabschied verbunden blieb. Keine Rolle ihres Fachs, die sie nicht gesungen hätte. Höhepunkt der Leipziger Karriere war die Brünnhilde in Wagners Ring in der Inszenierung von Joachim Herz, die in vielen Punkten die spektakuläre Deutung von Patrice Chéreau 1976 in Bayreuth vorwegnahm. Die Tetralogie wurde szenisch in der Entstehungszeit angesiedelt. Damit hatte sich die Sängerin nach einem allmählichen Übergang als Hochdramatische etabliert. Ihre Wirkung auf der Bühne war enorm und konnte durch Mikrophone nur bedingt eingefangen werden. Man musste die Kehl auch sehen. Sie war eine hoheitsvolle Erscheinung. Ihre Brünnhilde ist mir als kontrolliert und kühl in Erinnerung geblieben. Sie war eine stolze Wotans-Tochter, ließ sich niemals gehen – auch stimmlich nicht. Bleibenden Eindruck hinterließ sie als Amme in der damals noch selten gespielten Frau ohne Schatten von Strauss, mit der sie auch an die Berliner Staatsoper zurückkehrte. Die jeweiligen Aufführungen hatten umjubeltes Festspielniveau. Eng mit ihrer Karriere ist die Ortrud in Lohengrin verbunden gewesen, die sie auch an die Wiener Staatsoper führte.

Sigrid Kehl hat in ihrer langen und überaus erfolgreichen Karriere relativ wenige Tondokumente hinterlassen, die nicht einmal alle auf CD gelangt sind. Ihre herbe, schnörkellose Stimme mit fabelhaftem Sitz und hohem Wiedererkennungwert ist um 1970 auf einer LP aus der Reihe „Opernabend mit …“ des DDR-Labels Eterna umfassend eingefangen. Paul Schmitz, der Dirigent, wirkte damals als Generalmusikdirektor am Opernhaus Leipzig. Höhepunkt des Programms ist der Schlussgesang der Brünnhilde als Vorgriff auf die szenische Gestaltung der kompletten Partie. In einer deutsch gesungenen Gesamtaufnahme von Händels Radamisto ist sie die Zenobia. Als Mercedes wirkt die in der Leipziger Carmen-Plattenproduktion mit. In einer Szenen-Folge aus Don Carlos steuert sie die Eboli bei. Völlig in der Versenkung verschwunden ist ein Querschnitt durch Die Macht des Schicksals von Verdi mit ihrer Preziosilla, der auch bei Philips erschien.

Zwei Aufnahmen in der Diskographie verdienen besondere Erwähnung: Mitschnitte von Salome und Tannhäuser aus dem La Fenice. Sie sind in der CD-Reihe von Mondo Musica herausgekommen, deren Erlös in den Wiederaufbau des abgebrannten Opernhauses der Lagunenstadt geflossen ist. Der Klang ist nicht berauschend. Die Kehl ist als Herodias und als Venus zu hören, Rollen, die sie auch an ihrem Stammhaus in Leipzig gesungen hat. Beide Dokumente sind aber auch aus anderen Gründen interessant. Ernst Kozub gibt den Tannhäuser, während René Kollo, der sich die Partie ebenfalls erarbeiten sollte, den Walther singt. Da die so genannte Dresdener Fassung gespielt wird, bleibt Walthers schönes Solo im Sängerkrieg erhalten. Am 17. Dezember 2024 ist Sigrid Kehl gestorben. (Foto Wikipedia) Rüdiger Winter

Anspruchsvolles CD-Debut

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Contemplation! Der Titel gibt sich grüblerisch. Gemeint ist die erste CD, die ausschließlich dem Bariton Huw Montague Rendall gewidmet ist – erschienen bei Erato, wo er neuerdings unter Vertrag steht (2173236378). Diesen Namen muss man sich nicht erst merken, Freundinnen und Freunde der Oper kennen ihn. Auch wenn mancher noch rätseln mag, wie man den Vornamen richtig ausspricht. Er ist walischer Herkunft. Seine englische Form lautet Hugh, die deutsche schlicht Hugo. Onomatologisch gesehen bedeutet Huw „der Geistvolle“, der „mit großem Verstand Ausgestattete“. Seine Eltern sind die Mezzosopranistin Diana Montague und der Tenor David Rendall. Sie singt u. a. die Tauridische Iphigénie in Gardiners Aufnahme der Gluck-Oper bei Philips, er den Ferrando in Cosi fan tutte unter Alain Lombard bei Erato. Damit wäre auch die Zusammensetzung des Sohnes Nachname geklärt. Neigung und Talent zur Oper scheinen also vererbt.

Verschiedenen Biographien im Netz zufolge studierte Montague Rendall am Royal College of Music London und absolvierte das Internationale Opernstudio Zürich. Auftritte gab es in Covent Garden London, an der Lyric Opera von Chicago, am Théâtre des Champs-Élysées in Paris und bei den Festspielen in Glyndebourne, Salzburg und Aix-en-Provence. Im Repertoire hat er Almaviva und Figaro, Papageno, Pelléas, Aeneas von Purcell. Als Konzertsänger tritt er mit Liedern und Sakralwerken von Brahms, Händel, Fauré und Vaughan Williams auf. In jüngster Zeit hatte er eine Reihe bemerkenswerter Debüts, so in Ambroise Thomas’ Hamlet in einer Neuinszenierung an der Komischen Oper Berlin, seinen Einstand an der Opéra National de Paris in den Partien des Papageno und des Mercutio (Roméo et Juliette), an der Opéra National du Rhin, an der Staatsoper Hamburg sowie an der Santa Fe Opera. Geboren wurde er 1993. Wer ihn auf Bühnen oder in Filmclips gesehen hat, wird kaum nach seinem Alter fragen. Der Sänger verströmt Jugend, Charme, Weltläufigkeit und gute Manieren. Ein Sympathieträger durch und durch. Er weiß sich zu bewegen und kann – wenn es denn sein muss – auch still stehen.

Für das mehrsprachige Booklet hat er einen eigenen Text beigesteuert. Bei vielen Firmen hat sich das so eingebürgert, wenngleich es nicht immer nötig ist. Sein Text nun – kontemplativ wie es der Titel der Neuerscheinung selbst verlangt – hat es in sich. Ein junger Sänger will es nicht beim möglichst perfekten Gebrauch der menschlichen Stimme belassen. Und sich auf keinen Fall Szenen, Arien oder Lieder in einer x-beliebigen Sprache phonetisch einpauken. Er will verstehen, was er singt, ist durch vertiefte Betrachtung auf eigenen Erkenntnisgewinn aus, den er auch noch weitergeben möchte an sein Publikum. Ein Sänger mit philosophischen Ambitionen also, was mich an Fischer-Dieskau erinnert. Hört man es auch? Auf jeden Fall gefällt es. Und vielleicht gerade deshalb, weil sich Montague Rendall Gedanken macht. Der Text beginnt so: „Wer sind wir, was ist unser Zweck und was bleibt von uns nach unserem Tod? Wir sind nichts als Sternenstaub, Wesen kosmischen Ursprungs, schwebend in der Weite des Universums. Unsere flüchtige, vergängliche Existenz ist ein Rätsel, welches das kollektive menschliche Bewusstsein fesselt und unsere Geschichte formt wie die unablässigen Gezeiten die Küste formen.“ Künstler, die Visionäre unserer Welt, würden diesen existentiellen Konflikten auf den Grund gehen wollen, wobei sie ihre Kunst als Leuchtfeuer einsetzten, um diese Mysterien zu durchmessen und ständig zu erforschen, gibt sich Huw Montague Rendall, der allerdings nur für sich sprechen kann, überzeugt. Kontemplation habe ihm wie ein Spiegel Einblick in die vielfältige Art dieser Rätsel ermöglicht. Genau dieses Konzept sei der Kompass bei der Musikauswahl für dieses Programm gewesen. „Musik hat sich in meinem Leben immer wieder als beherrschende Kraft erwiesen, die mir in den heftigen Lebensstürmen Orientierung gibt.“ Sie sei eine unschätzbare Gefährtin und biete tiefe Einsichten in die labyrinthische Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche. Die „sorgfältig ausgewählten Kompositionen wirken wie ein Spiegel, indem sie die Vielfalt der Lebenswirklichkeit wiedergeben und zu besinnlichen Reisen in mein Unterbewusstsein anregen. Ohne diesen harmonischen Leitfaden und die dadurch gebotenen nachdenklichen Offenbarungen wäre mein Leben völlig anders verlaufen“. Diese Offenheit dürfte sein Publikum für ihn einnehmen.

Huw Montague Rendall (Papageno) und Elisabeth Boudreault (Papagena) bei der CD-Aufnahme im Studio / Warner Classics (YouTube Screenshot)

Die Auswahl will also mehr sein eine Auswahl an Vielseitigkeit und Können, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Sie folgt einem intellektuell ausgeklügelten Konzept. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Auch die Abfolge der Nummern nicht. Wenn beispielsweise auf die Szene des Fritz „Mein Sehnen, mein Wähnen“ aus Korngolds Die Tote Stadt Mahlers Lieder eines Jahrenden Gesellen folgen, geschieht dies mit hintersinnigem Bedacht, der – wenn alles gut geht – auch dem Publikum an den Lausprechern oder unter Kopfhörern aufgehen soll. Ein prüfender Blick in die im Booklet abgedruckten Texte erübrigt sich, weil jedes Wort zu verstehen ist, womit eine der Stärken des Interpreten herausgestellt sei. Noch mehr gewinnen die Stücke, wenn sie aus dem schwerfälligen konzeptionellen Überbau gelöst werden. So jedenfalls meine eigene Hörerfahrung mit dieser CD. In Anbetracht ihres träumerischen Ansatzes, eingebettet in raffinierte Tempi, könnte man schwören, die Gesellen-Lieder selten melancholischer vernommen zu haben. Damit dieser Eindruck nicht zu rasch wieder verfliegt, hilft nur der entschlossene Gebrauch der Pausentaste. Denn die sich unmittelbar anschließende Szene des Billy Budd „Look Through the Port“ aus der Britten-Oper wäre nach Mahler wohl des Guten zu viel. Bis auf den Liederzyklus nehmen die Nummern keinen Schaden, wenn sie in loser Abfolge und auch einzeln konsumiert werden. So ein Fall ist der herzzerreißend vorgetragene Monolog des arbeitslosten leichtfüßigen Billy Bigelow aus Carousel von Richard Rodgers, dem Broadway-Musical vom Feinsten. Eine dramatische Story teilt sich in einer eingängigen musikalischen Form mit, wie sie nur amerikanische Komponisten zuwege bringen. Bigelow sinnt über seine prekäre Lebenslage und das ungeborene Kind, dessen Vater er ist, nach. Er wird ein schlimmes Ende mit ihm nehmen. Wer am Vortrag von Montague Rendall Gefallen findet, wird zuletzt danach fragen, warum dieser Monolog eine kontemplative Reaktion in Gang setzen soll. Und selbst die Szene Papagenos mit Papagena (Elisabeth Boudreault) und den drei Knaben (Oliver Barlow, Sam Jackman und Benjamin Gilbert) aus dem zweiten Akt der Zauberflöte – genügt sie sich nicht in ihrer singspielartigen Klarheit und betörenden musikalischen Eingebung? Der Interpret sieht es etwas anders, wenn er schreibt: „Diese musikalischen Meisterwerke führen gelegentlich zu Betrachtungen über so vielseitige Themen wie Sterblichkeit, einen berauschenden Liebestrank und die ungeheure Kraft einer persönlichen Entscheidung. Sie dienen als zeitlose Anleitung für das Überwinden von Zeiten aufgewühlten Leids und sich auftürmenden, bedrängenden Unglücks. Die Macht der Musik lässt sich mit den unvorhersehbaren Strömungen eines mächtigen Flusses vergleichen: manchmal muss man die Stärke aufbringen, um gegen den reißenden Strom anzuschwimmen, während man sich andererseits der Strömung überlässt und sich von ihr stromabwärts treiben lässt. Musik zeugt, wie dieser Fluss, von der ehrwürdigen Schönheit der Natur und der Widerstandskraft des menschlichen Geistes.“

Mercutio (Huw Montague Rendall) kommt Roméo (Benjamin Bernheim) nahe. Eine Szene aus Gounods „Roméo et Juliette“ 2023 in der Pariser Oper / YouTube Screenshot

Noch mehr Mozart gibt es mit der großen Conte-Arie aus dem dritten Figaro-Akt „Hai già vinta la causa! … Vedrò, mentr’io sospiro“ und Don Giovannis Canzonetta „Deh, vieni alla finestra“ aus dem zweiten Akt. Szenen, die im Vergleich mit dem übrigen Angebot, etwas abfallen. Was noch? Mercutios Mab-Ballade aus Gounods Roméo et Juliette sowie Rezitativ und Arie des Valentin „O sainte médaille – Avant de quitter ces lieux“ aus Faust vom selben Komponisten – ein Fach, mit dem er seine eigentliche Domäne gefunden zu haben scheint. Montague Rendall passt die Stimmfarbe den Figuren an, haucht Töne aus und unterdrückt die Ängste nicht, mit denen der Bruder Marguerites in den Krieg zieht. Von der existentiellen Introspektion Hamlets, verewigt in Ambroise Thomas’ monumentaler Oper nach Shakespeares Meisterwerk, bis zu den skurrilen romantischen Eskapaden von Monsieur Beaucaire in der Sicht von André Messager (beide Werke werden vom Sänger als einzige direkt genannt) sei diese aufreizende Vorstellung von „vielleicht“ immer gegenwärtig. Dieser einzelne Begriff, gleichbedeutend mit möglich und ungewiss, beschäftige ihn ständig. „Kann sein“, „was wär wenn“. Derartige Betrachtungen führten zu einer geheimen Türschwelle; ein kurzer Blick durch das Schlüsselloch sei eine entmutigende Aussicht. „Wie steuert man durch das vertrackte Labyrinth grenzenloser Möglichkeiten?“ Diese Musikzusammenstellung zeuge von der unbeugsamen Natur der menschlichen Seele und ergründe „unsere angeborene Fähigkeit“ zu gesunden und durch Introspektion zu wachsen.

Montague Rendall, der vom Opéra Orchestre Rouen unter Ben Glassberg begleitet wird, lässt nicht locker: „Wir haben das außerordentliche Glück, in einer Zeit zu leben, in der der Diskurs über mentale Gesundheit stark zugenommen hat und die Hilfsmöglichkeiten sich vermehrt haben. Dieses günstige Umfeld hat zahllose Einzelpersonen dazu angeregt, mit ihren persönlichen Geschichten ins Rampenlicht zu treten, um Beziehungen zu Menschen mit gleicher Erfahrung aufzubauen. Dieses Album will Selbstbetrachtung fördern und bietet denjenigen Trost, die sich auf den Weg zur Selbstfindung machen.“ Und weiter: „Kontemplation hat mich zu einer beeindruckenden Introspektion befähigt, die mir den Weg zu meinem tiefsten Selbst bereitet hat. Voller Erwartung zeige ich nun diesen Weg auf und hoffe, mit Ihnen eine tiefempfundene Verbindung herzustellen. Voller aufrichtiger Gefühle biete ich Ihnen dieses Album an und lade Sie ein, mich auf diesem Weg zu begleiten.“ (Foto oben: Huw Montague Rendall in einem Ausschnitt aus dem Booklet seiner neuen CD / © Simon Fowler). Rüdiger Winter

Schubert „modern“

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Nicht Die sondern Eine schöne Müllerin verspricht der Titel der Neuerscheinung bei ET’CETERA (KTC 1827). Der Name Schuberts, der sich dem Betrachter des Covers zwangsläufig einstellt, findet keine Erwähnung. Es gibt auch keinen Hinweis drauf, ob jemand singt. In auffälligen Lettern treten das Ensemble Spectra hervor – und Daan Janssens, beim dem es sich um den 1983 in Brügge geborenen belgischen Komponisten handelt, der auch Opern schuf. Mehr nicht. Dabei hätte es der ebenfalls aus Belgien stammende Tenor Thomas Blondelle, dem auch in dieser Müllerin eine gewichtige Rolle zukommt, durchaus verdient gehabt, nicht erst auf der Rückseite genannt zu werden. Er ist auch in Deutschland sehr gut bekannt – und geschätzt. Mit Berlin fühlt er sich besonders verbunden. Dafür spricht, dass er bereits in mehr als zwanzig Produktionen an der Deutschen Oper mitwirkte. Seinen Einstand gab er 2009 mit dem Ersten Geharnischten in der Zauberflöte. Es folgten Loge, Tambourmajor, Erik, Eisenstein und etliches mehr. Und da er noch nicht sehr viele Einspielungen vorweisen kann, wäre sein Name für die neue CD gewiss verkaufsfördernd. Nach wie vor lassen sich Musikfreunde bei Neuerwerbungen oder beim Streamen auf diversen Plattformen im Netz von der Bekanntschaft mit Sängerinnen und Sängern auf Bühnen und Konzertpodien leiten. Sie sind und bleiben Zugpferde, schaffen Verbindungen zwischen gewohnten Werken und neuen Schöpfungen. Blondelle jedenfalls lässt sich unvoreingenommen und mit großem Enthusiasmus auf die Produktion ein und hinterlässt mit schönem, sensiblem und flexiblem Tenor sein individuelles Gütesigel. Gern würde man ihn auch mit dem Schubertschen Original hören. Er wäre – auch wegen seines perfekten Deutsch genau richtig. Nicht nur, dass er die Texte exakt vorträgt. Er findet den Sinn heraus, weiß also, worum es geht

Der Tenor Thomas Blondelle auf einem Foto im Booklet / © Simon Payly

Bei dieser Müllerin handelt es sich um ein Auftragswerk des Festivals 20/21 im belgischen Leuven, das – wie es der Name schon in seinem Bezug auf zwei Jahrhunderte sagt, eine Brücke zwischen morgen, heute und gestern schlagen, die unglaublich vielen Facetten der jüngeren Musikgeschichte hörbar machen und am Puls der Zeit bleiben will. Ein Festival, das das Repertoire der letzten 118 Jahre in Ehren hält und zugleich furchtlos nach vorne blickt, was die musikalische Zukunft bereithält, ist aus erster Hand auf der eignen Website zu erfahren. Die Müllerin-Adaption entstand 2018. Der Wunsch sei es gewesen, eine Neuinterpretation dieses Meisterwerks zu schaffen, bei der das Original erkennbar bleibe, kann im Booklet nachgelesen werden. Es gehe aber um mehr, als um einer bloße „moderne Instrumentierung“. Den Angaben zufolge entschied sich Janssens dafür, seinem Werk zusätzliche textliche und musikalische Elemente hinzuzufügen. So würden zwei klangvolle und zwei poetische Welten in unterschiedlichem Maße miteinander verwoben. Die Rede ist von einem „Doppelzyklus“. Obwohl die Grundstruktur erhalten bleibt, wurden einige Titel mit neuen Versen oder instrumentalen Zwischenspielen – wie es heißt „überschrieben“. Dabei verwendet Janssens Texte des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa (1888-1935), der in seiner Heimat hochverehrt wird. Sie stammen aus seinem Buch der Unruhe. „Wie ein böser Geist / hat mich mein Schicksal damit gequält, / nur haben zu wollen, / was ich wohlweislich nicht haben kann“, beginnt – um ein Beispiel anzuführen – der Vers, der auf das Lied Der Neugierige im Original folgt. Romantischer könne ein Gedanke nicht sein. Diese Eingriffe erzeugten eine ständige Konfrontation zwischen zwei literarischen Welten (Müller / Pessoa) und zwei Musikstilen (Schubert / Janssens), wird im Booklet weiter erklärt. Die Absicht bestehe aber nicht so sehr darin, Gegensätze zu erzeugen, sondern vielmehr die eigentliche zeitgenössische Bedeutung des Stücks noch stärker hervorzuheben. Der Sänger geht mit den teils schroffen Übergänge dergestalt um, als sei es schon immer so gewesen.

Janssens hat sich hier dafür entschieden, Pessoas Texte in deutscher Übersetzung zu verwenden, um die Einheit von Schuberts Werk nicht zu stören, erfahren die Leser des Booklets weiter. Der Gesangspart bleibe erhalten und Janssens respektiere auch die formalen Strukturen der Lieder. „Der Hauptunterschied liegt also in den Begleitstimmen: Der ursprüngliche Klavierpart wird zu einem Ensemble aus neun Musikern (Violine, Viola, Cello, Flöte/Altflöte/Bassflöte, Klarinette/Bassklarinette, Horn, Akkordeon, Klavier und Schlagzeug) erweitert.“ Oft – insbesondere zu Beginn des Zyklus – bleibe Janssens den Noten von Schuberts Begleitung treu, reichere sie jedoch mit moderneren Elementen wie Geräuschen, Perkussionseffekten und speziellen Streichertechniken an. Dem aufmerksamen Publikum entgeht nicht, dass die Bearbeitung auch Deutung sein will. Im instrumental gehaltenen Einstieg klingt schon das Ende an. Nicht versöhnlich wie im Original sondern alsbald hart und brutal. Janssens schenkt seinem Publikum nichts. R.W.

Ein Romantiker aus der Schweiz

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Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt. Das Lied von 1833 hat bis heute nichts von seiner Popularität eingebüßt. Und als sich Nena und Heino seiner annahmen, ist es sogar zum Schläger mutiert. Einst gehörte es zur Aussteuer singender Studenten und der Wandervogelbewegung. Kein Chor, der es nicht im Repertoire hat. Der Text stammt von Joseph von Eichendorff, die Musik von Friedrich Theodor Fröhlich. Er soll sich an einer viel älteren Vorlage unbestimmter Herkunft orientiert haben. Die Melodie ist eingängig. Einmal gehört, vergisst sie sich nicht wieder. Wer war dieser Fröhlich? Er wurde am 20. Februar 1803 im schweizerischen Brugg geboren und schied am 16. Oktober 1836 in Aarau freiwillig aus dem Leben. Lange verkannt, wird er heute „als der bedeutendste Schweizer Komponist der Frühromantik angesehen“, ist sich Johannes Vigfusson, Präsident der Internationalen Friedrich Theodor-Fröhlich-Gesellschaft sicher. Ein Beleg dafür ist auch die wachsende Zahl von Einspielungen. Eine Neuerscheinung als CD-Premiere ist bei Hänssler Classic herausgekommen. Es handelt sich um den Liederzyklus Johannes und Esther nach Versen von Wilhelm Müller, jenem Müller, der auch die Vorlagen zu Müllerin und Winterreise von Schubert dichtete. Ian Bostridge wird von Julius Drake begleitet (HC 23010).

Der schweizerische Komponist Friedrich Theodor Fröhlich (1803-1836) schied freiwillig aus dem Leben / Wikipedia

Vigfusson hat einen Text mit biographischen Angaben für das Booklet beigesteuert. Bereits im Kindesalter habe Fröhlich eine starke Begabung für Musik gezeigt, nach dem Besuch des Gymnasiums in Zürich 1822 in Basel und 1823 in Berlin ein Jurastudium begonnen, das ihn aber nicht zu fesseln vermochte. „In Berlin knüpfte er Kontakte zu den Musikpädagogen Carl Friedrich Zelter, Bernhard Klein und Ludwig Berger. Diese Begegnungen bestätigten ihn darin, sich ganz der Musik zu widmen.“ Nach einer durch Krankheit bedingten Rückkehr und zweijährigem Aufenthalt in Brugg sei der Dreiundzwanzigjährige 1826 wieder nach Berlin gegangen, diesmal mit einem Stipendium der Aargauer Kantonsregierung, um dort seine Studien der Komposition fortzusetzen. In Berlin folgte nach Angaben von Vigfusson eine reiche Schaffensperiode. Zahlreiche Lieder und Chöre, drei Streichquartette, unter anderem auch eine Ouvertüre und eine Sinfonie seien entstanden. Einige seiner Liedersammlungen wurden in deutschen Verlagen veröffentlicht. Dennoch habe es ihm nicht recht gelingen wollen, sich in Berlin eine unabhängige Existenz als Musiker aufzubauen. Vigfusson: „Voller Hoffnung auf einen fruchtbaren Boden für seine kompositorische und musikpädagogische Arbeit kehrte er 1830 in die Schweiz zurück. In Aarau erhielt er an der Kantonsschule eine Teilzeitstelle als Musiklehrer. Daneben leitete er Chöre und ein Liebhaberorchester und erteilte Privatunterricht. Neben dem ermüdenden Brotberuf widmete er die spärliche Freizeit dem Komponieren, und es entstanden hochbedeutende Werke, die bei Rezensenten begeisterten Anklang fanden. Künstlerische Vereinsamung und die mangelnde Beachtung durch Verleger und Publikum nährten aber in ihm eine zunehmende Mut- und Hoffnungslosigkeit.“ Zusätzliche finanzielle Sorgen und private Probleme hätten schließlich dazu geführt, dass er sich das Leben nahm. Die große Anzahl handschriftlicher Kompositionen seien in privater Verwahrung rasch in Vergessenheit geraten, doch mehrheitlich erhalten geblieben.

Der Zyklus Johannes und Esther, der von Müller mit der Bemerkung „Im Frühling zu lesen“ versehen wurde, ist 1821 erstmals im Druck erschienen – und zwar in einem Sammelband gemeinsam mit Müllerin und Winterreise. Nicht vertont wurde das abschließende Gedicht An Johannes, weshalb es auch im Booklet weggelassen wurde. Gelesen hätte man es schon gern. „Die neun dazwischenstehenden Gedichte sind Johannes in den Mund gelegt. Sie handeln von den inneren Nöten, die eine (damals unerlaubte) interkonfessionelle Liebesbeziehung zwischen einem Christen und einer Jüdin verursachte“, so Vigfusson. Das angespannte Verhältnis der Religionen hätte Müller seit seiner Kindheit in Dessau beschäftigt, wo sein Elternhaus gegenüber einer Synagoge gestanden habe. Es sei aber nicht mit Sicherheit bekannt, ob er in Johannes und Esther auch eigene Erlebnisse oder die eines Jugendfreundes verarbeitet habe. Für beides gebe es Hinweise.

Leider lässt die Interpretation durch den englischen Tenor Ian Bostridge nicht erkennen, warum er sich ausgerechnet dieses Werkes angenommen hat. Es gibt auch im Booklet keinen Hinweis darauf. Er ist für seine enge künstlerische Bindung an deutschsprachiges Liedgut bekannt. Wilhelm Müller ist ihm in den Vertonungen durch Schubert bestens vertraut. Der Musikwissenschaftler in ihm befindet sich stets auf der Suche nach neuen Herausforderungen. So war der Weg in die Schweiz zu Fröhlich wohl nicht weit. Ich hätte mir eine schlichtere Darbietung gewünscht, die auch den Text und damit die spannende Geschichte deutlicher hervortreten lässt. Rüdiger Winter

Liebeserklärung

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„Ruhn in Frieden alle Seelen“: Die Litanei auf das Fest aller Seelen ist gut gewählt für den Einstieg in ein Programm mit Liedern von Franz Schubert. Ist der Titel der Dichtung von Johann Georg Jacobi (1740-1814) auch sperrig und sprachlich nur aus der Zeit zu verstehen, die tiefe musikalische Umsetzung ist es nicht. Im Gegenteil. Sie entfaltet Sogwirkung. Jacobi hatte als Schriftsteller einen schweren Stand bei Zeitgenossen. Goethe, Klopstock oder Lichtenberg lästerten scharfzüngig über ihn. Schubert aber muss sich zu ihm hingezogen gefühlt haben, er vertonte ihn mehrfach. Auch Mozart und Schumann bedienten sich bei ihm. Besagtes Lied bezieht sich auf das katholische Allerseelenfest, bei dem aller Verstorbenen gedacht wird, also auch jener armen Seelen, die im Fegefeuer ihre Sünden büßen. Schubert war Katholik. Mit fünfeinhalb Minuten ist das Lied vergleichsweise lang. Folglich muss es der Interpret beim Vortrag klug strukturieren, um die Spannung aufrechtzuhalten. Philippe Jaroussky gelingt das vorzüglich. Er singt es stromlinienförmig in einem leichten auf und ab. Bei ihm klingt es – und das macht den ganz besonderen Reiz aus – ein bisschen nach Arie. Der für lange Zeit mit Koloraturen gepflasterte Weg des Künstlers schimmert immer noch hindurch.

Seine neue CD ist bei Erato erschienen (01902967377688). Jérôme Ducros hat die Begleitung am Klavier übernommen. Es handelt sich um die dritte Zusammenarbeit beider Künstler. Der französische Pianist tritt auch als Komponist in Erscheinung. Gelegentlich – wie beim Musensohn – schenkt Ducros mit seinem rasanten Tempo dem Sänger nichts. Auffällig anders klingen hier und da gewisse musikalische Details. Schuberts Unergründlichkeit wird unkonventionell ausgetestet. Nicht nur vom Pianisten. Auch Jaroussky macht vieles anders, weil er nun mal kein geborener Schubert-Interpret ist, der schwer am Erbe eines Wunderlich, Fischer-Dieskau oder seines Landsmanns Souzay zu tragen hätte. Dieser Last und damit auch diesem Vergleich ist er, der Countertenor, ledig – der künstlerischen Verantwortung jedoch nicht. Er muss eigene Wege gehen. „Stets hat die Klarheit und Tiefe der Musik von Schubert mein musikalisches Leben begleitet – als Geiger, Pianist und schließlich als Sänger“, schreibt Jaroussky im Booklet und bezeichnet das Album als „eine Liebeserklärung“ an dessen „ergreifendes Genie, aber auch an die deutsche Sprache, der ich mich immer mehr verbunden fühlte“.

Das Programm scheint nicht immer den individuellen stimmlichen Möglichkeiten angepasst zu sein. Schon im zweiten Lied Herbst kann Jaroussky dem Romantiker Ludwig Rellstab nicht überzeugend folgen, wenn der darüber sinniert, dass die Blüten des Lebens dahin welken und die kalten Winde über dem Hügel den Rosen der Liebe den Tod bringen. Statt Stimmungen zu erzeugen gefällt er sich in gekünstelten Mitteilungen, die den Bezug zur Musik zu verlieren drohen. Drittens schließlich „Du bist die Ruh‘“ nach einem Gedicht von Friedrich Rückert. Da ist Jaroussky in aller Schlichtheit ganz auf der Höhe. Wenn auch die obere Lage angestrengt wirkt, geht dieses Lied wie hingehaucht vorüber. Insgesamt werden neunzehn Titel geboten. Gemessen an der Kapazität der CD bleiben noch gut zehn Minuten übrig. Es gibt keinen Anlass, daraus ein Manko abzuleiten, zumal die Zusammenstellung mit Liedern wie An die Musik, Nacht und Träume, Ellens dritter Gesang (Ave Maria) von einem Höhepunkt zum anderen führt. Rüdiger Winter

Neu entdeckter „Regenlied-Zyklus“

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Brahms geht immer. Zumal in prominenter Besetzung. Von dieser Überzeugung ließ sich wohl auch das in Glasgow ansässige Plattenlabel Linn Records leiten. Es ist auf Klassik, Jazz und schottische Musik spezialisiert und Teil von Linn Products, einer Firma, die sich mit innovativer Tontechnik für gehobene Ansprüche einen Namen gemacht hat. Unternehmerisch macht diese Mischung durchaus Sinn. Neue im Katalog sind zwei „Songbooks“ in ökologisch vorbildlichen Hüllen, die völlig ohne Plastik auskommen. Vol. 1 (CKD 693) wird von Thomas Oliemans bestritten, Vol. 2 (CKD 749) von Sarah Connolly und Hanno Müller-Brachmann. Beide Male begleitet am Flügel der aus Edinburgh stammende Pianist Malcolm Martineau, der vornehmlich als Liedbegleiter in Erscheinung tritt. Zugkräftig ist mit der Schönen Magelone der Einstieg in die Edition gewählt. Das Werk erfreut sich anhaltender Beliebtheit und wurde sehr oft eingespielt. Der niederländische Bariton Oliemans singt nur die fünfzehn Romanzen, was ursprünglich auch im Sinne des Komponisten gewesen ist. Dadurch geht aber der Bezug zur romantischen Erzählung selbst verloren. Nur wer Tiecks Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence kennt, kann folgen. Da nützt es auch wenig, dass die Verse im Booklet abgedruckt sind. In seiner Zeit konnte Brahms auf ein Publikum vertrauen, das seinen Tieck kannte. Davon kann heutzutage kaum mehr die die Rede sein. Obwohl sich Oliemans in Deutsch vergleichsweise sicher bewegt – schließlich tritt er auch in der Zauberflöte, im Ring des Nibelungen und in der Fledermaus auf – ist er keine geborener Vermittler und Deuter sprachlich verschlungener romantischer Verse. Wohl aber vermag er mit seinem etwas herben Bariton Stimmungen hervorzubringen, die dem Zyklus gerecht werden. Stimmungen, an denen der Mann am Klavier hier wie auch an den anderen Liederbüchern erheblichen Anteil hat.

Der eigentliche Mehrwert der CD ist der so genannte Regenlied-Zyklus, der aus vier Nummern besteht, die auf Gedichte von Klaus Groth (1819-1899) beruhen. Er führt keine eigene Opuszahl und ging später in der Sammlung Acht Lieder und Gesänge op. 59 auf, in die er sich thematisch einordnet und die umfangreichere Zusammenstellung inhaltlich erweitert. Brahms hielt viel von Groth, der wie Fritz Reuter zu den Begründern der niederdeutschen Literatur gehört. In Kiel, wo er wirkte, starb und begraben ist, finden sich gleich mehrere Gedenkorte. Auch in Berlin (Westend) und in anderen Städten zeugen Straßennamen von der einstigen Bedeutung dieses Literaten. Nicht nur die Regenlieder gehen auf ihn zurück. Groth lieferte die Verse für einige seiner schönsten Erfindungen. Zu nennen sind „O wüsst‘ ich doch den Weg zurück“ und „Wie Melodien zieht es mir leise durch den Sinn“. Die Online-Enzyklopädie Lieder.net weist zudem Vertonungen von Groth durch Goldmark, Flotow, Grieg, Nietzsche, Fibich, Jenner, Schönberg, Reger, Raff und Blech nach, die ihrer Wiederentdeckung harren.

Im Brahms-Handbuch (Metzler/Bärenreiter 2009, S. 224) wird der Komponist dahingehend zitiert, dass die meisten Sänger und Sängerinnen sich die Lieder ganz willkürlich zusammenstellen, wie sie gerade ihrer Stimme lägen und gar nicht beachteten“, dass er, Brahms, sich stets große Mühe gegeben habe, seine Liedkompositionen wie zu einem Bouquet zusammenzustellen. Diese Willkürlichkeit hat sich bekanntlich auch auf dem Musikmarkt eingenistet. Nicht in übler Absicht sondern meist aus ganz praktischen Erwägungen, wie sie auch schon von Brahms beargwöhnt worden sind. Er konnte nicht ahnen, dass auch in den ersten Plattenaufnahmen von Liedern, die deren Verbreibung ungemein förderlich gewesen sind, gar nicht daran zu denken war, in sich geschlossene Werkgruppen einzuspielen. Allein die Kapazitäten von Tonträgen gaben das nicht her. Der lockere Umgang mit den originalen Einteilungen hat sich schließlich mehr und mehr durchgesetzt. Deshalb sind Editionen wie diese Songbooks, die den Intentionen des Komponisten folgen, ein gutes Werk.

Gruppen mit den Opuszahlen 43, 48, 57, 72 und 105 sind auf der CD Vol. 2 versammelt. Opus 105 wird von “Wie Melodien zieht es“, dem bereits erwähnten Groth-Titel wirkungsvoll eingeleitet. Mit „Immer leiser wird mein Schlummer“ folgt ein weiteres Highlight, das jeder, der sich auch nur ganz nebenbei mit Liegesang beschäftigt hat, kennte. Kaum ein Liederabend mit einer Brahms-Gruppe kommt ohne diesen Titel aus. Einmal gehört, vergisst er sich nie wieder. Die englische Mezzosopranistin Connolly singt es mit aller gebotenen Schlichtheit, Innerlichkeit und Ruhe – Vorzüge, die auch bei ihrer Interpretation der Lieder Die Mainacht und Von ewige Liebe (beide op. 43) den Vergleich mit den besten Brahms-Interpreten nicht zu scheuen brauchen. Müller-Brachmann, ein auch im Liedgesang geschätzter Bassbariton, weiß in derselben Werkgruppe mit den balladesken Titeln „Ich schell mein Horn ins Jammertal“ und „Das Lied vom Herrn von Falkenstein“, die eine Nähe zu Carl Loewe erkennen lassen, aufregende Kontraste zu setzen, die einen starken Eindruck hinterlassen. Rüdiger Winter

Windgassens erster Siegfried

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1953 war ein guter Bayreuther Jahrgang. Die Nachkriegsfestspiele fanden zum dritten Mal statt. Der Neuanfang war künstlerisch geglückt. Mit Lohengrin gelangte ein weiteres Werk auf den Spielplan. Wieland Wagner feilte an seiner Ring-des-Nibelungen-Inszenierung, die 1951 erstmals gezeigt worden war. Bei allem Glanz nach außen etablieren sich die Festspiele nach innen als Werkstatt. Leider ist das optisch nicht mehr nachzuvollziehen. Beschreibungen und Fotos vermitteln nur einen bescheidenen Eindruck von dem Prozess, der auch als Entrümpelung der Wagner-Bühne in die Musikgeschichte einging. Nennenswerte Filme gibt es nicht, nur die akustischen Mitschnitte. Und die nicht zu knapp. Inzwischen dürften fast alle Premieren der Nachkriegsfestspiele dokumentiert sein, dank der weitsichtigen Vergaberechte an den Bayerischen Rundfunk. 1953 teilten sich Joseph Keilberth und Clemens Krauss in die musikalische Leitung des Ring des Nibelungen, mit dem das Festspielhaus 1876 eingeweiht worden war. Krauss kam nur einmal nach Bayreuth, während Keilberth neben Hans Knappertsbusch zu einer tragenden Säule der Festspiele wurde. Beide Ring-Zyklen – und das erweist sich als ausgesprochener Glücksfall – sind mitgeschnitten worden und schon vor Jahren in unterschiedlichsten Ausgaben an die Öffentlichkeit gelangt. Nicht immer ganz legal, nicht immer gut im Ton.

Jetzt hat das Label Pan Classics (Note 1) die Aufnahme unter Keilberth in einer handlichen, Platz sparenden Box neu herausgegeben (PC10461) – zum Verwechseln ähnlich der bereits vor knapp zehn Jahren erstmals veröffentlichten Box. Für die Zeit ist das Klangbild sehr gut. Keilberths zupackender Stil wirkt gar nicht so historisch, wie es die zeitliche Distanz erwarten lassen würde. Das berühmte Ensemble nahm Gestalt an. Es sollte in seinem Kern über mehrere Spielzeiten Bestand haben und Maßstäbe im Wagnergesang setzen, die bis jetzt nie übertroffen wurden. Martha Mödl sang die Brünnhilde bei Keilberth, während Astrid Varnay unter Krauss besetzt war. Hans Hotter gab Wotan und Wanderer während Gustav Neidlinger im Alberich seine Paraderolle auf dem Grünen Hügel gefunden hatte. Wolfgang Windgassen, 1952 noch der Froh im Rheingold, sang seine ersten Siegfriede. Er kreierte einen völlig neuen Typ als Heldentenor. Windgassen stand nicht das metallische und schneidende Material eines Lorenz zur Verfügung. Seine Stimme war lyrisch und kleiner, was zur Folge hatte, dass die Figuren plötzlich viel menschlicher klangen. Aus der Not wurde eine Tugend. Dieser Tenor drückt denn auch dem Ring seinen besonderen Stempel auf. Für die Sieglinde wurden die Sängerinnen in diesen Anfangsjahren öfter ausgewechselt als bei anderen tragenden Rollen. 1953 war dafür die Amerikanerin Regina Resnik angereist, die damals noch das Sopranfach sang. Sie sollte – wie ihre Landsmännin Eleanor Steber für die Elsa im Lohengrin – allerdings nicht wiederkommen. Bei der Besetzung der Walküren wurde auch 1953 nicht gespart. Nicht selten waren hochdramatische Kaliber darunter, die an ihren Stammhäusern selbst Brünnhilden und Sieglinden oder Isolden sangen – wie Brünnhild Friedland (Ortlinde) oder Liselotte Thomamüller (Helmwige). Wer stand noch auf dem Besetzungszettel? Ramón Vinay (Siegmund), Paul Kuen (Mime), Erich Witte (Loge), Josef Greindl (Fafner, Hunding, Hagen), Ira Malaniuk (Fricka, Waltraute), Maria von Ilosvay (Erda), Rita Streich (Waldvogel). Rüdiger Winter

Männerliebe und Leben

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Ist es jetzt geschehen? Sollte sich ein Sänger an Schumanns Frauenliebe und -leben gewagt haben? Zumindest legt der Titel einer neuen CD für einen kurzen Moment diese Vermutung nahe. Eine Vermutung, die gewollt sein dürfte. Aufsehen erregt sie allemal. Männerliebe und Leben nennen Günther Groissböck und seine schottischer Pianist Malcom Martineau ihr jüngstes Album, das bei Gramola erschienen ist (99294). Im Innern, auf dem Aufschlagfoto des Booklets, sitzen beide dröhnend lachend an einem Bistrotisch, als würde sie sich Witze erzählen und weniger dem lyrischen Ich der zur Interpretation anstehenden Stück nachsinnen. Solche Ausgelassenheit hätte denn auch nicht gepasst zu Schumanns Liederzyklus nach Versen Chamissos. Das letzte, was einem angesichts des ungewöhnlich freien Nachsinnens einer jungen Witwe über den Verlust des heiß geliebten Gatten einfiele, wär eine fröhliche Herrenrunde.

Diese Frauenliebe also ist auch nicht kompatibel mit der Männerliebe, von denen die Lieder der neuen CD erfüllt sind: Beethovens An die ferne Geliebte und Schumanns Dichterliebe. Aus gegebenem Anlass – nämlich des 200. Geburtstages von Anton Bruckner, der bekanntlich ein sehr schwieriges und gehemmtes Verhältnis zu Frauen unterhielt, sind drei seiner selten zu hörenden Lieder berücksichtigt worden, die sich hören lassen können: Mein Herz und deine Stimme (August von Platen), Im April (Emanuel Geibel) und Herbstkummer (Ernst – Dichterpseudonym des bedeutenden Botanikers Matthias Jacob Schleiden, einem Mitbegründer der Zelltheorie). Beschlossen wird das Programm mit einer aus sechs Titeln bestehenden Liedergruppe von Johannes Brahms, darunter Wie bist du, meine Königin, Die Mainacht und „O wüsst‘ ich doch den Weg zurück“. Bis auf Bruckner eine sehr geläufige Auswahl.

Groissböck ist seit gut zwanzig Jahren international im Geschäft. Wagner steht mit Hunding, Fafner, Fasolt, Landgraf, Pogner, König Marke, Gurnemanz und König Heinrich im Mittelpunkt seiner Opernauftritte. Erfolg bescherte ihm auch der Ochs im Rosenkavalier bei den Salzburger Festspielen, den er dort in der Inszenierung von Harry Kupfer strichlos sang und der eine seiner zentralen Partien bleiben sollte. Er ist gut beraten, seinen schweren Bass mit Liedern flexibel zu halten. Diesem Genre gelten zahlenmäßig die meisten seiner bisher veröffentlichten Solo-Aufnahme. Zwei Jahre vor dieser Neuerscheinung kam ebenfalls bei Gramola die CD „Nicht Wiedersehen!“ mit Liedern von Strauss, Rott und Mahler heraus. Schon damals soll die Redakteurin Helene Breisach vom Österreichischen Rundfunk als Titel „Männerliebe und Leben“ ins Spiel gebracht haben. Nun wurde daraus Wirklichkeit. Verglichen mit Schumann und Carl Loewe, der die Chamisso-Verse ebenfalls vertont hat, ist die inhaltliche Konzeption eine ganz andere. Insofern bleibt der lockere Umgang mit dem Titel nicht mehr als ein Spiel.

Mit den Jahren ist Groissböcks Stimme schwerer geworden. Gestaltungsmöglichkeiten fliegen ihm nicht mehr ganz so leicht und reichlich zu wie beispielweise in der Lieder-CD „Herz-Tod“ von 2018 bei Decca. Eleganter könnte der Aufstieg zur Höhe klingen. Vokale wie das O beim mehrfach wiederholten „wonnevoll“ im ersten Brahms-Titel des aktuellen Programms haben nicht die Ruhe und Festigkeit, die zu wünschen wären. Das Schluss-T fällt mitunter etwas scharf aus. Und doch bringt er ein unverwechselbares Timbre ein, und er ist gut zu verstehen. Obwohl die CD an drei Tagen im Februar 2024 im Mozart-Saal in Salzburg produziert wurde, drängte sich mir gelegentlich der Eindruck auf, einer Liveveranstaltung beizuwohnen, in der gewisse Ungenauigkeiten nicht auf die Goldwaage zu legen sind. Rüdiger Winter

Wolfgang Sawallisch

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Wolfgang SawallischComplete Opera Recordings. Eine neue Box bei Warner mit nicht weniger als 31 CDs entpuppt sich als ein spannendes Kapitel Schallplattengeschichte (5054197949463). Schon der Zeitraum des Entstehens der Aufnahmen, nämlich 1956 bis 1993, lässt nur diesen Schluss zu. Was ist in diesen Jahren nicht alles geschehen? Endgültig setzte sich die Stereophonie durch, die Schallplatte wurde durch die CD ersetzt. Die deutsche Teilung, die auch auf Besetzungslisten in Aufnahmestudios Spuren hinterließ, wurde 1990 durch die Wiedervereinigung überwunden. Sawallisch (1923-2013) gehörte also zu jener Dirigentengeneration, die sich gleich mehreren Herausforderungen stellen musste. Die Edition bildet das anschaulich ab, ohne dass die betreffenden Ereignisse, die auch Einschnitte waren, im Booklet alle dokumentiert sind. Das wäre gewiss zu viel verlangt. Musikfreunde und Sammler kennen sich aus, verknüpfen mit Tondokumenten zudem eigene Erlebnisse und Erinnerungen.

Platz eins der Sammlung belegt Mozarts Zauberflöte. Eine gute Wahl, auch wenn sie ganz zufällig getroffen sein dürfte. Ein Ordnungsprinzip für eine Reihgenfolge etwa nach Buchstaben oder Aufnahmejahr ist nicht zu erkennen. Für die Heraushebung spricht vieles. Doch was beim ersten Erscheinen für Aufsehen sorgte, hat mit den Jahren die Exklusivität verloren. Eingespielt wurde die Oper 1972 an acht Tagen im August im geschichtsträchtigen Bürgerbräu-Saal in München, der sieben Jahre Neubauten Platz machen musste. Sawallisch leitete Chor und Orchester der Bayerischen Staatsoper. Als Nachfolger von Joseph Keilberth hatte er das Amt als neuer Generalmusikdirektor seit einem Jahr inne. Produzent im Studio war Helmut Storjohann, dem die Electrola schon zahlreiche prominent besetzte Aufnahmen verdankte. „Quadrophonie“ prangte es wie ein Transparent noch über dem Titel auf dem originalen Plattencover. Damals der neueste Schrei, hat sich diese Technik der Mehrkanal-Aufzeichnung und -wiedergabe längst überholt und ist auch nicht mehr erwähnenswert. Unvergessen bleibt hingegen, dass die Stimme von Edda Moser als König der Nacht seit 1977 für „eine geschätzte Lebensdauer von 500 Millionen Jahren“ durchs Weltall schwebt, wie es auch Booklet-Autor Christoph Vratz vermerkt. „Ich bekam einen Brief aus Kalifornien“, zitiert Vratz die Moser aus einem Gespräch mit dem Musikjournalisten Thomas Voigt, „ob ich einverstanden sei, dass meine Aufnahme auf die Platte der Voyager-Sonden könne. Das habe ich natürlich mit Freuden getan.“ Die Aufzeichnung sei morgens um zehn „in einem Rutsch“ gegangen. „Wollen Sie einen Probelauf, oder nehmen wir gleich auf?“, habe Sawallisch gefragt. Die Antwort: „Von mir aus gleich Aufnahme!“

In anderen Quellen stellt sich die offenkundig mehrfach erzählte Geschichte etwas anders dar. Wikipedia zitiert sie Sängerin aus einem Interview mit dem Forum-Forum von 2013: „An die Entstehung dieser legendären Zauberflöte erinnere ich mich noch sehr gut, die war wie ein Wunder. Mit Kurt Moll, Theo Adam, Walter Berry und Peter Schreier hatten wir damals ein komplett deutschsprachiges Ensemble, das alleine war schon außergewöhnlich. Mich hatte man als Königin der Nacht für diese Aufnahme engagiert. Ich kam dann nach München, da sagte mir der Produzent Helmut Storjohann: ‚Es gibt da ein kleines Problem: Frau Sawallisch möchte Sie nicht als Königin haben.´ Worauf ich fragte, was Frau Sawallisch mit der Aufnahme zu tun hätte? Daraufhin hat der von mir verehrte Helmut Storjohann gesagt: ‚Wenn die Edda die Königin der Nacht nicht singt, fällt die ganze Produktion aus!‘ Sawallisch hat dann in den sauren Apfel gebissen und fragte mich bei der ersten Sitzung etwas kühl, ob ich mit der ersten oder zweiten Arie anfangen möchte. Ich sagte, ich nehme gerne die zweite. Und in dieser Wut, die ich hatte, weil man mich nicht wollte, habe ich den ganzen Zorn in die Arie gelegt und in einem Take durchgesungen.“ Ob in Details so oder so – gut ist die Geschichte allemal.

Gewisse Vorbehalte gegen die Moser dürften sich auch daraus erklären, dass sie als Königin einen ganz neuen Typ verkörperte, nämlich die rasende verletzte Frau, die sich ihrer Tochter und ihres Erbes beraubt sieht, die sich nichts gefallen lässt und sich gegen die ihr feindlich gesinnte Männerwelt zu wehren weiß. Das passte in die frauenbewegte Zeit während der Einspielung, wurde von der Sängerin auch stimmlich überzeugend dargestellt – und verfehlte die Wirkung nicht. München war durch Erika Köth geprägt, die noch immer zum Ensemble der Staatsoper gehörte. Sie hatte die Königin im In- und Ausland mehr als 270 Mal gesungen. Ihre Interpretation war stilistisch mehr oder weniger immer die gleiche geblieben, die Koloraturen wie in Stein gemeißelt. Generationen wollten es so und nicht anders hören. Ich lege sie immer wieder gern auf, staunen, wie man so perfekt singen kann wie sie. Zufall oder nicht. Edda Moser ließ bei der Aufzählung der Mitglieder des von ihr geschätzten deutschsprachigen Ensembles Anneliese Rothenberger weg. Die war als ihre Tochter Pamina fast zwanzig Jahre älter als die Mutter. Und das hört man auch. Nicht, dass sie ihre Partie technisch nicht bewältigte. Sie kann sich aber nicht glaubhaft einbringen, wirkt wie ein Fremdkörper – in den gesprochenen Dialogen noch mehr als im Gesang. Die Betonfrisur ist etwas verrutscht. Für die Rothenberger kommt die Aufnahme eindeutig zu spät.

Was die Einspielung von allen anderen unterscheidet, wäre auch bei der neuen Ausgabe durch Warner eine Bemerkung wert gewesen. Wer die Zauberflöte als solche verinnerlicht hat und diese Aufnahme nicht genau kennt, dürfte bei Track 4 auf CD 2 aufhorchen: „Pamina, wo bist du?“ Mit dieser Frage stimmt Tamino (Peter Schreier) ein unbekanntes Duett mit Papageno (Walter Berry) an. Was hat es damit auf sich? Im Nachtragsband zur Neuen Mozart-Ausgabe würden auch verschiedene unter dem Namen Mozart überlieferte Kompositionen als „Werke zweifelhafter Echtheit“ zur Diskussion gestellt, klärt Ulrich Leisinger, Direktor der Forschungsabteilung der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg, im Bärenreiter-Magazin Takte auf. Zu diesen Werken gehöre besagtes, das singulär in einer Partiturabschrift des frühen 19. Jahrhunderts überliefert sei, die sich in der Lippischen Landesbibliothek Detmold befinde. Nach Angaben des Musikwissenschaftlers wurde es wurde dann auch in Auflagen aus dem frühen 20. Jahrhundert des Zauberflöten-Klavierauszugs des Verlags C. F. Peters gedruckt, allerdings in die bis heute bekannte Ausgabe des Klavierauszugs der Zauberflöte von Kurt Soldan (1932) nicht mehr aufgenommen. In Partitur sei es bislang ungedruckt. Leisinger bezeichnet das Duett über weite Strecken des Vokalstimmensatzes als „mozartisch“. Dies gelte auch für die abwechslungsreiche und recht dichte Orchesterbegleitung im ersten Teil. Der stilistische Befund im weiteren Verlauf des Stücks sei allerdings zwiespältig: Taminos „Monolog“ wirke für ein Duett eher deplatziert, und der zurückhaltend instrumentierte Schluss lasse mozartsche Überraschungsmomente vermissen, die hingegen am Beginn des zweiten Teils in einigen harmonisch ungewöhnlichen Wendungen noch anzutreffen seien. Leisinger, seit 2005 Herausgeber der Neuen Mozart-Ausgabe, spricht von einem „musikalisch interessantes Stück, das zwar früh in der Überlieferung der Oper auftaucht, aber weitgehend unbeachtet geblieben ist“. Aus der Kenntnis von Mozarts Schaffensweise und seines Personalstils sei es aus der Tatsache, in keiner einzigen weiteren Quelle überliefert zu sein, allerdings unwahrscheinlich, dass es in allen Teilen von Mozart stamme. Soweit der Mozart-Experte.

Sawallisch nahm es auf – und das spricht für seine Kenntnis und seinen wissenschaftlichen Spürsinn. Die neue Zauberflöte aus München hatte sich auch in der DDR herumgesprochen. Briefe flogen hin und her. Telefonleitungen glühten. Hast du schon, wie findest du …? Man zapfte alle nur möglichen Bezugsquellen an, bemühte Onkel und Tante, um in ihren Besitz zu gelangen. Obwohl mit Schreier und Theo Adam als Sprecher die beiden namhaftesten Sänger aus dem Osten mitwirken, blieb die Einspielung dem westdeutschen Publikum vorbehalten, denn es handelte sich um keine Koproduktion, wie sie es auch gab. Deshalb wohl auch der ausdrückliche Hinweis in der Plattenausgabe, dass Schreier „mit freundlicher Genehmigung des VEB Deutsche Schallplatten“ mitwirke. Zudem war der kleinere ostdeutsche Markt 1970 mit einer eigenen Produktion gesättigt, an der Schreier ebenfalls als Tamino beteiligt war, während Adam den Sarastro gab. Mit Helen Donath konnte sie sich der überzeugenderen Pamina sicher sein. Und als Königin der Nacht trat die aus Ungarn stammende Sylvia Geszty ins Rampenlicht – mit ihrem betont dramatischen Impetus der Moser nicht unähnlich.

Nach CD-Menge gerechnet, bildet Richard Wagner mit dem Ring des Nibelungen und den Meistersingern von Nürnberg den größten Posten der Edition. Vratz im Booklet: „Wolfgang Sawallisch hat stets hervorgehoben, dass das Orchester der Bayerischen Staatsoper eine besondere Beziehung zu Wagners Musik pflegt.“ Er wisse nicht, zitiert er den Dirigenten, wie es zu erklären sei, aber seit den Uraufführungen scheine sich von Generation zu Generation eine Wagner-Überlieferung erhalten zu haben. Daher habe Sawallisch diese Ring-Aufführung, die von Nikolaus Lehnhoff szenisch realisiert und die in den Folgejahren sukzessive weiterentwickelt worden sei, resümierend für einen bedeutenden Beitrag in der Ring-Rezeption der vergangenen Jahrzehnte gehalten Und doch hatte es dieser Mitschnitt nicht ganz leicht. 1989, im Jahr des Mauerfalls, im Münchner Nationaltheater von NHK Enterprises gemeinsam mit dem Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet, kam er mit einiger Verspätung in den gesamtdeutschen Handel, wo er sich bald starker Konkurrenz ausgesetzt sah. Es sollte nicht sehr lange dauern, bis sich der nächste Ring bei EMI unter Bernard Haitink ankündigte. Von der Metropolitan Opera war unter dem Gelblabel (Deutschen Grammophon) eine Produktion auf DVD und CD mit Hildegard Behrens, die die Brünnhilde auch bei Sawallisch ist, zu erwarten. Und aus Bayreuth drängte Daniel Barenboim ebenfalls in Ton (Teldec) und in Bild (Unitel) in den Handel. Ein Mitbewerber gab mittendrin auf. Christoph von Dohnányi kam bei Decca nur bis zur Walküre. Die Schlacht um das große Buffet war eröffnet. An Nachschub mangelte es nicht. Ein Ring nach dem anderen würde in den kommenden Jahrzehnten folgen. Ungeachtet der Tatsache, dass Georg Solti, dieser Herr der Ringe, mit seiner epochalen Wiener Decca-Produktion in immer neuen Auflagen wie eine unbezwingbare Gebirgswand vor die Konkurrenten geschoben hatte.

Für mich sind die Filetstücke der Edition bei Richard Strauss zu finden. Mit Studioeinspielungen von vier Werken hat sich Sawallisch Meriten vom Feinsten erworben. Obwohl noch in Mono ist Capriccio mit Elisabeth Schwarzkopf als Gräfin Madeleine (1958) bis heute der Standard geblieben. Keine andere Aufnahme kann es mit der musikalischen Delikatesse dieser hochkarätig besetzten Produktion aufnehmen, in der sich der Dirigent auch im Ensemble als einer der Diener verewigt ist. Wie Capriccio war auch Intermezzo (1980) die erste offizielle Aufnahme dieses Stückes und hat nicht zuletzt durch Lucia Popp in der Rolle der Christine die Maßstäbe gesetzt. Die Frau ohne Schatten (1987) ist die erste komplette Aufnahme. Auch wenn sie es mit der Stimmung, die Karl Böhm in seiner allerersten Einspielung bei Decca eingefangen hat, nicht aufnehmen kann, darf sich unter neuesten Stereo-Bedingungen die rauschhafte Breitwandmusik endlich in ihrer überbordenden Dramatik, die sich immer wieder in feinsten Verästelungen selbst auszubremsen scheint, entfalten. Und zwar mit voller Wucht. Was die Akustik in keinem Opernhaus hergibt, wurde im Studio exemplarisch zelebriert. Ute Vinzing ist als Färberfrau in einer ihrer seltenen Auftritte vor dem Mikrophon zu erleben. Alfred Muff gibt ihren Gatten. Das Kaiserpaar singen Cheryl Studer, die damals aus den Studios nicht herausgekommen war und dennoch keine tiefenden Spuren hinterließ, und René Kollo. Hanna Schwarz bleibt der Amme deren Dämonie schuldig. Elektra (1990) ist eine unter vielen geblieben. Ihre Besonderheit, nämlich nach Georg Solti bei Decca mit der Nilsson die wohl einzige offizielle ohne den großen Strich in der Auseinandersetzung auf Leben und Tod mit Klytämnestra (Marjana Lipovsek) zu sein, wird nicht erwähnt. Was noch? Jeweils eine CD nehmen Abu Hassan von Carl Maria von Weber und Die Zwillingsbrüder von Franz Schubert (beide 1975) in Anspruch. Ob ihnen die Mitwirkung von Edda Moser, Helen Donath, Nicolai Gedda, Dietrich Fischer-Dieskau und Kurt Moll gerecht wird, darf mit zeitlichem Abstand hinterfrage werden. 1975 tat ihnen der prominente Einsatz gewiss gut. Plötzlich redete man über diese abseits stehenden singspielartigen Stücke.

Die Edition klingt versöhnlich aus in einer Welt, die zur alten Ordnung zurückgefunden hat. Und zwar mit Kinderstimme und Zitherbegleitung, dass es zu Herzen geht: „Ah, da hängt ja der Mond.“ Wir sind bei Carl Orff, dem bayerischen Landsmann von Sawallisch, für den er sich bereits am Beginn seiner internationalen Karriere von London aus verwendet hat. Dort gelangten kurz hintereinander Die Kluge (1956) der Schwarzkopf und Der Mond (1957) mit Hans Hotter als Petrus auf Schallplatte. Zum Glück hatte sich Produzent Walter Legge diesmal auf Stereo eingelassen, was beiden turbulenten Einaktern sehr zum Vorteil gereicht indem sie deutlicher als kraftvolle Theaterstücke erkennbar werden. Es sollten fast fünfzehn Jahre vergehen, bis sich in München erneut Kurt Eichhorn an beide Stücke für Eurodisc machte. In der DDR nahm sich Herbert Kegel zunächst den Mond vor, um 1978 die Kluge nachzureichen. Seither kam nichts mehr von Belang. Rüdiger Winter

Wer war Bertha Kirchner?

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Lieder von Wilhelm Kienzl, jenem Kienzle, der mit seinem Evangelimann Musikgeschichte geschrieben hat, bei Toccata Classics (TOCC 0736). Mehr musikalisches Singspiel als traditionelle Oper lebt das Werk vor allen durch zwei Melodien auf Tonträgern fort – den zur Arie geformten Choral „Selig sind, die Verfolgung leiden“ und Magdalenas wehmütige Erinnerungen an ihre „schönen Jugendtage“. Kaum ein Tenor, kaum eine Altisten, die sich damit nicht verewigt haben. Bühnenaufführungen sind ehr selten geworden. Umso erfreulicher ist es, dem Komponisten, der einst sehr populär war, wichtige Posten besetzt hielt und mit den Kollegen seiner Zeit sehr gut vernetzt gewesen ist, in Erinnerung zu bringen. Lieder bieten sich an. Sie sind in der Produktion nicht so aufwändig. Der Markt ist schon vergleichsweise gut versorgt. Zumindest aus zweiter Hand ist die CD mit dem amerikanischen Bariton Steven Kimbrough bei Koch/Schwann noch zu haben. Chandos hatte eine Edition mit Christiane Libor, Carsten Süss und Jochen Kupfer gestartet. Dagmar Schellenberger ist bei cpo zu finden, wo vor gut zwanzig Jahren erstmals auch seine Oper Don Quichotte veröffentlicht wurde. Kienzl hat 238 Lieder mit Klavierbegleitung hinterlassen, die fast alle gedruckt vorliegen. Sie „geben Einblick in ein langes Komponistenleben mit einer stetig musikalischen Entwicklung“, vermerkt die österreichische Musikwissenschaftlerin Carmen Ottner im Booklet, wo sich auch die Liedtexte finden. Diesmal sind vier kleine Zyklen im Angebot, die in dieser Geschlossenheit bisher nicht zugänglich waren auf Tonträger. Darauf wird auf dem Cover zurecht verwiesen. Von einfachen „volkstümlichen“ Liedern bis zu an der Grenze der Atonalität harmonisch gestalteten Kunstliedern dokumentierten die „die erstaunliche Bandbreite einer Künstlerpersönlichkeit“.

Solist der neuen CD ist der Tenor Malte Müller. Er wird von Werner Heinrich Schmitt am Klavier begleitet. Müller begann seine Ausbildung bei den Regensburger Domspatzen, studierte zunächst Jura und anschließend Gesang an der Musikhochschule Mannheim. Zum Liedgesang fühlt er sich besonders hingezogen. Er könnte etwas freier singen. In den vielen von Leidenschaft getragenen Liedern entfalten sich die Gefühle, mit denen es rauf und runter geht, nicht immer überzeugend. Sie werden gedeckelt und ausgebremst. Der Vortrag wirkt auf mich zu introvertiert, um noch als so gewollt und beabsichtigt verstanden zu werden. Müller singt für meinen Geschmack oft zu groß. Sein Ansatz hat gelegentlich schon heldisch Züge, die sich mit den poetischen Botschaften oft nicht gut vertragen. Dafür ist er, was für einen Liedsänger ein großer Vorteil ist, ziemlich gut zu verstehen. Sein Timbre hat Wiedererkennungswert. Ottner: „Prinzipiell dominieren Liebesgedichte Kienzls Lieschaffen, oftmals in Verbindung mit Naturbildern, eine Usance, die von zeitgenössischen Musikwissenschaftlern als Schwäche angeprangert wurde.“ Hinsichtlich der textlichen Vorlagen lasse sich Kienzls Oeuvre in zwei Gruppen einteilen: „Volkstümliche“ – und „Kunstlieder“. Der überwiegende Teil der Gedichte stamme von zeitgenössischen, eher wenige von bedeutenden romantischen Dichtern. „Wollte Kienzl einen Vergleich mit Liedkomponisten wie Schubert, Schumann, Brahms, Wolf vermeiden“, fragt sich die Autorin. „Man könnte aber auch das Bildungsideal der damaligen Zeit, in seinem Elternhaus gepflegt, als Erklärung heranziehen.“

Seine literarischen Vorlagen haben oft einen direkten Bezug zu persönlichen Beziehungen mit den Autoren. Den Angaben im Booklet zufolge war Kienzl gut bekannt mit Robert Hamerling (1830-1889), Hermann Lingg (1820-1905) und Peter Rosegger (1843-1918). Linggs Gedicht „Immer leiser wird mein Schlumme“ haben auch Johannes Brahms und Hans Pfitzner vertont. Besonders eng war die Freundschaft mit Rosegger, der in vielen Städten mit Straßennamen und Denkmälern geehrt wurde. Ihr reger Briefwechsel wurde in Buchform veröffentlicht. Als Dichter des Liedes „Wie ist doch die Erde so schön“ taucht Robert Reinick (1805-1852) auf, der Italien bereist hatte und auch als Kunstmaler wirkte. Er war mit Richard Wagner, Ferdinand Hiller und Robert Schumann bekannt, für dessen Oper Genoveva er das Libretto beisteuerte. Solcherart waren damals die segensreichen Verknüpfungen. Nach Angaben der Booklet-Autorin wurden zur Lebenszeit des Komponisten Wilhelm Kienzl Lieder stets von bedeutenden Sängerinnen und Sängern interpretiert, wie es auch durch die Widmungen der auf der CD interpretierten Werke deutlich wird. Der Zyklus Liebesfrühling, der auf Gedichten von Friedrich Rückert beruht, ist Paul Bulss, in anderen Quellen Bulß geschrieben (1847-1902), zugeeignet. Er trat erfolgreiche in Dresden, Berlin und Wien als Holländer, Don Giovanni und Hans Heiling auf. Eine direkte Verbindung zu Kienzl ergibt sich auch daher, dass er in den Uraufführungen seiner Opern Evangelimann (Johannes Freudhofer) und Don Quichotte (Carrasco) mitwirkte. Und wer war Fräulein Bertha Kirchner? Kienzl hat der Königlich Preußischen Hofopernsängerin sein Opus 24 in Form von Drei Albumblättern gewidmet. Mehr ist auch aus dem Booklet nicht zu erfahren. In der siebenbändigen Ausgabe des Großen Sängerlexikons von K.J. Kutsch und Leo Riemens wird sie nicht genannt. In Besetzungslisten der infrage kommenden Berliner Premieren taucht sie auch nicht auf. Rüdiger Winter

„Die Schönheit ihres Tons“

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„Die reine Schönheit ihres Tons und Perfektion ihrer Technik hoben sie turmhoch über die restliche Besetzung hinaus. Dieses Lob gilt Elisabeth Schumann. Es stammt von Walter Legge, der es nach einer Rosenkavalier-Vorstellung im Mai 1927 in Covent Garden zu Papier brachte. Die Schumann sang die Sophie, die eine ihrer wichtigsten Opernrollen bleiben sollte. Bevor Legge zum mächtigen EMI-Produzenten aufstieg, verdingte er sich in London als Musikkritiker. Das Zitat findet sich im Buch Gehörtes, Ungehörtes, Memoiren von Legge und seiner späteren Ehefrau Elisabeth Schwarzkopf (Noack-Hübner Verlag München, S. 20). Für Sammler ist der akustische Nachlass der Schumann ein weites Feld. Akribische Suche verspricht eine reiche Ernte. Es lohnt sich also, die weit verstreuten Dokumente, die ihr musikalisches Können und auch ihre Grenzen belegen, zusammenzutragen.

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Geboren wurde Elisabeth Schumann 1888 im damals noch sächsischen Merseburg an der Saale. Ihr Vater war Lehrer und Organist. Am sanierten Geburtshaus in der Gotthardstraße 27 erinnert eine Tafel an die berühmte Tochter der Stadt, die 1909 in Hamburg erstmals auf einer Opernbühne stand. Sie sang den jungen Hirt im Tannhäuser. In den folgenden zehn Jahren erarbeitete sie sich mit Cherubino, Susanna und Zerlina ihren stimmlichen Möglichkeiten entsprechende Mozart-Partien. Sie avancierte zu einem Liebling des Publikums, das auch ihrer aparte Erscheinung und ihr schauspielerisches Talent zu schätzen wusste. Bereits 1914 wurde die Metropolitan Opera auf die Sechsundzwanzigjährige aufmerksam und engagierte sie für ihr Debut als Sophie im Rosenkavalier. Nach der ersten von fünf Vorstellungen war der Kritiker Max Smith, der auf der Archivseite der Met ausführlich zitiert wird, des Lobes voll: „Mit bemerkenswerter Leichtigkeit bewältigte sie Strauss‘ lang ausgehaltene Phrasen und spann ihre süßen, ansprechenden und ausdrucksstarken Töne selbst in den erhabensten Höhen auf eine Weise, die Gesangsschülern durchaus als Anschauungsunterricht hätte dienen können. Miss Schumanns lyrischer Sopran ist nicht groß. Aber er ist bewundernswert platziert, fein konzentriert und wird von einer ausgezeichneten Atemkontrolle unterstützt. Gestern Abend hat die Sängerin ihre Stimme zu keinem Zeitpunkt überanstrengt und nicht ein einziges Mal ist sie von der richtigen Tonhöhe abgewichen.“ Die neue Sopranistin habe sich aber nicht nur „durch ihren Gesang als wahre Künstlerin“ entpuppt. „Ihre Darstellung der Sophie war in theatralischer Hinsicht ebenso beeindruckend wie stimmlich.“ Insgesamt stand sie in dieser Spielzeit für zehn Partien unter Vertrag, darunter die Musette in La Boheme, Humperdincks Gretel und die Fidelio-Marzelline. Ungeachtet des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges konnte sie im Mai 1915 aus den USA nach Hamburg zurückkehren. Bis 1938 war sie einer der Stars der Wiener Staatsoper, wo sie als ewige Sophie und mit ihren Mozart-Rollen genau richtig gewesen ist. 1938 wanderte sie nach New York aus, wo sie bis zu ihrem Tod am 23. April 1952 lebte. Sie wurde 64 Jahre alt. Während des Krieges beschränkte sie sich vornehmlich auf Konzerte und wirkte auch als Lehrerin privat und am Curtis Institute of Music in Philadelphia. Als Liedsängerin klang ihre erfolgreiche Karriere aus.

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Mit Schwanengesang ist eine CD getitelt, die jetzt von der Firma Panassus Records veröffentlicht wurde (PACD 96088). Sie enthält dreißig Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Franz und Hugo Wolf. Das Programm klingt mit Morgen von Richard Strauss aus, sowohl mit als auch ohne Orchester geboten. Letzter Aufnahme, bei der die Sängerin nach dem Vortrag des kompletten Lieds auch erklärend und beispielgebend das Wort ergreift, entstand bei einer Master Class. Mit Abstand die meisten Titel stammen von Wolf, der auch für alternde Sängerinnen, deren stimmliche Ressourcen zunehmend begrenzter werden, enorme Gestaltungsmöglichkeiten bereithält. So auch für Elisabeth Schumann. Es dauert immer ein wenig, bis sie in die Struktur eines Liedes hinein findet. Je weiter sie vordringt, umso sicherer wird der Umgang mit dem poetischen Instrumentarium. Ein treffliches Beispiel für die enorme Beherrschung der tief verinnerlichten Gestaltungsmittel ist das Lied „Wie glänzt der helle Mond“ nach Gottfried Keller. Langsam aufsteigende Linien gelingen besser als kokette Figuren und Einsprengsel, wie sie im Italienischen Liederbuch, dem gleich mehrere Nummern, darunter „Ihr jungen Leute“, „O wär´ dein Haus durchsichtig wie ein Glas“ und „Ein Ständchen euch zu bringen“ – entnommen sind. „Schumanns umfangreiche Diskographie begann mit Akustikaufnahmen im Jahr 1915 und endete mit den vorliegenden Aufnahmen, die 1950 in New York gemacht wurden“, ist aus dem Booklet zu erfahren. Und weiter: „Allegro Records, das sie aufnehmen wollte, erhielt die Genehmigung von HMV, wo sie noch immer unter Vertrag stand. Die Aufnahmen wurden in ihrer Wohnung in Manhattan gemacht, bei Mendelssohn und Franz im Februar und April, bei Wolf im Dezember.“ Trotz ihrer schillernden Opernkarriere blieb sie dem Liedgesang bis zum Schluss innigst verbunden, reicherte das eine Genre mit den Erfahrungen aus dem anderen an. Nicht selten klangen Arien wie Lieder und Lieder wie Arien. Lotte Lehmann soll von der Kollegin gesagt haben, dass sie den vielleicht reinsten Gesangsstil des deutschen Liedgesangs besessen habe.

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In ihrer 28 Jahre dauernden Karriere sang Schumann in etwa neunzig Rollen, die von der englischen Wikipedia aufgelistet werden. Am Beginn stand der schon erwähnte Tannhäuser-Hirt, am Ende das Erste Blumenmädchen im Parsifal in einer Vorstellung vom 1. November 1937 an der Wiener Staatsoper. Die auch von kleineren Aufgaben durchzogene Liste lässt den Schluss zu, dass es im Verständnis von Elisabeth Schumann von Opern keine eigentlichen Nebenrollen gab. Sie überschritt nie Fachgrenzen, bewegte sich streng im Rahmen ihrer Möglichkeiten und bewahrte sich nicht zuletzt dadurch bis ins Alter einen hervorragenden Sitz ihrer Stimme. Von Wagner und Strauss hielt sie sich bis auf wenige Ausnahmen fern. Stattdessen gehörten die Marie in der Verkauften Braut, Antonia in Hoffmans Erzählungen, Marguerite in Gounods Faust und Ännchen im Freischütz, die Micaëla in Carmen zu ihrem Repertoire. Erfolge feierte sie auch in Opern, die so gut wie nicht mehr auf den Spielplänen stehen, lyrischen Stimmen aber reichhaltige Einsatzmöglichkeiten boten wie die Margiana (Barbier von Bagdad) von Cornelius, die Marie in Zar und Zimmermann, die Nanette im Wildschütz, die Nuri in Tiefland. Gelegentlich trat sie auch in Operetten auf.

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Ihr vielseitiges Wirken auf Opernbühnen findet sich auch auf Tonträgern nur bruchstückartig abgebildet. Schließlich waren in ihrer großen Zeit die dafür notwendigen technischen Voraussetzungen begrenzt. Es lassen sich keine Gesamtaufnahmen nachweisen. Lediglich große Ausschnitte aus dem Rosenkavalier, die der Dramaturgie des Werkes folgen, wurden im September 1933 unter Studiobedingungen in Wien von der Londoner EMI produziert. Bis auf den großen Monolog des Ochs (Richard Mayr) im zweiten Akt sind die entscheidenden Szenen berücksichtigt. Als Marschallin ist Lotte Lehmann, als Octavian Maria Olszewska zu hören. Der renommierte englische Musikkritiker Alan Blyth spricht im Booklet der ersten CD-Ausgabe von einen mädchenhaften stürmischen Portrait der Schumann als Sophie. „Zwar können wir die warmherzige Persönlichkeit und die blitzenden braunen Augen nicht sehen — doch es scheint, als wurden sie sogar von der Aufnahme übertragen.“ Wie schon Legge in seinem Erinnerungsbuch-Buch erwähnt auch Blyth eine Besonderheit der Einspielung. Sie betrifft die beiden letzten Worte der Marschallin: „Ja, ja.“ Nachdem die Lehmann bereits abgereist war, wurde festgestellt, dass sie noch nicht aufgenommen worden waren. Kurzerhand sprang die Schumann ein. Und zwar so, dass es kaum zu merken ist. Sie war in der Lage, sie Situation der Marschallin in diesem Moment der Handlung und das Timbre der Kollegin genau nachzuempfinden. Auch das ist Kunst. Der Nachruhm von Elisabeth Schumann beruht zu einem Großteil auf diesem Dokument mit legendärem Status, das nie vom Markt verschwunden gewesen ist. Naxos hat sich seiner angenommen und gleich zwei Editionen herausgegeben. Nicht nur das. Die Firma gab auch die frühen Arien-Einspielungen der Jahre 1915 bis 1923 und 1926 bis 1938 in vorzüglichem Klang neu heraus. Auf beiden CDs sind jene Komponisten mit Mozart im Mittelpunkt versammelt, in deren Opern sie auch auftrat. Liegt aber die Arie der Baronin aus Lortzings Wildschütz auf oder stimmt das Freischütz-Ännchen ihre Ariette vom Schlanken Burschen an, dann ist zumindest für diese Momente Mozart vergessen. Wer sich am Schalllack-Knistern nicht stört, wird Zeuge ihres Ruhms, kann also nachvollziehen, warum die Sängerin in ihrer Zeit so gefeiert wurde.

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Vergleichen mit solchen Dokumenten schneiden die Liedaufnahmen rein rechnerisch deutlich besser ab. Ihre Exklusivfirma hat im Laufe der Jahre etliche Platten veröffentlicht, die bei später bei Seraphim zu günstigen Preisen neu aufgelegt wurden. 2011 ist noch bei EMI eine Edition mit sechs CDs herausgekommen, die nach der Übernahme durch Warner nochmals kurzeitig im Handel war – inzwischen aber nur noch antiquarisch zu finden ist. Nach wie vor in Sammlerkreisen geschätzt ist die aus vierundzwanzig Boxen bestehende Edition mit Live-Aufnahmen aus der Wiener Staatsoper der dreißiger und vierziger Jahre, die 1993 bei Koch/Schwann erschien. Darin in ist die Schumann gleich zweifach als Waldvogel in Siegfried mit Max Lorenz in der Titelrolle zu hören – und nochmals als Sophie an der Seite von Lotte Lehmann und Anny Konetzni als Marschallinnen.

Auf Spurensuche nach der Sängerin stößt man auch auf eine Biographie in englischer Sprache, erschienen 1996 bei Grant & Cutler in London (978-0729303941). Autor ist Gerd Puritz (1914-2007), der Sohn von Elisabeth Schumann, der 1948 nach England gezogen war, wo er für den deutschsprachigen Dienst der BBC arbeitete. Rüdiger Winter

Mozart, Schikaneder & Co.

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Der Stein der Weisen oder Die Zauberinsel: Es ist keine zwei Jahre her, dass der Bariton Konstantin Krimmel mit seiner CD Zauberoper bei Alpha und BR Klassik dieses Singspiel wieder in Erinnerung rief. Ein zweiteiliges Werk von nicht weniger als vier Komponisten. 1790 uraufgeführt, wurde es erst 1996 vom amerikanischen Musikwissenschaftler David J. Buch als historische Kopie in der Musikabteilung der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek „Carl von Ossietzky“ entdeckt.

Zwei Jahre später legte der Dirigent Martin Pearlman mit dem von ihm gegründeten Boston-Baroque-Ensemble eine Aufnahme vor, die bei Telarc erschien und zumindest noch antiquarisch zu finden ist. Aufführungen gab es danach unter anderen in Augsburg, beim englischen Festival Garsington Opera und in Innsbruck. Die Ausgrabung des Werkes wurde seinerzeit schon deshalb als Sensation gefeiert, weil sich eine Verbindung zur Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart zeigt, die ein Jahr nach dem zweiteiligen Singspiel ebenfalls im Theater auf der Wieden uraufgeführt wurde.

Nicht genug. Emanuel Schikaneder (1751-1812) verfasste für beide Stücke die Texte. An der Kompositionen des Singspiels waren neben Mozart drei Männer beteiligt, die – wie Schikaneder in der Rolle des Papageno – an der ersten Aufführung der Zauberflöte beteiligt gewesen sind: Benedikt Schack (1758-1826) als Tamino, Franz Xaver Gerl (1764-1827) als Sarastro sowie Johann Baptist Henneberg (1768-1822), der die musikalische Einstudierung besorgte und die Oper von der dritten Aufführung an dirigierte. Drei junge Musiker also, die offenkundig sehr vielseitig ausgebildet waren, nicht nur singen oder dirigieren, sondern auch komponieren konnten. Vier weitere Künstler wirken in den Uraufführungen beider Werke mit, darunter Anna Gottlieb, die erste Pamina, die im Stein der Weisen die Nadine gab.

Jetzt hat Harmonia Mundi eine neue Einspielung vorgelegt (19802802922). Sie entstand im Rahmen einer Liveaufführung zwischen dem 12. und 15. Dezember 2022 in der Himmelfahrtkirche Sending in München. Es spielt die Hofkapelle München, die sich der historischen Aufführungspraxis widmet, unter der Leitung ihres künstlerischen Chefs Rüdiger Lotter, der von Haus aus Geiger ist. Er formt die die orchestralen Passagen zu den Höhepunkten, die Overture zum zweiten Akt womöglich noch mehr als die zum ersten Akt.

Auch der böhmische Komponist Wenzel Lachnith hatte sich der „Zauberflöte“ bemächtigt und mit seiner französisch-sprachigen Folge-Oper „Les mystères d´Isis“ 1801 in Paris Aufsehen erregt. Anläßlich der Aufnahme bei Glossa gab es einen Beitrag in der Reihe „Die vergessene Oper“ bei operalounge.de

Es singt der Chor der Klangverwaltung, der – wie aus dem Booklet hervorgeht – im Jahre 2000 von Enoch zu Guttenberg als professioneller Projektchor für das Bachfest auf Schloss Herrenchiemsee gründet wurde. Beide Ensembles kennen sich von einer Produktion von Bachs Johannes-Passion. Sie sind wie füreinander geschaffen. Die klangvolle Einheit des Zusammenspiels bildet das Fundament und die Stärke der Aufnahme. Der Sound ist vorzüglich und lässt in seiner Durchsichtigkeit und Akkuratesse ehr an eine Studioaufnahme denken. Verglichen mit der Telarc-Einspielung wirkt sie etwas heller und leichter. Es gibt noch mehr Unterschiede. In Kenntnis der Erst-Edition durch David Buch von 1998 entschloss sich die Münchner Hofkapelle nach Auskunft ihres Dirigenten für eine eigene Edition, die sich in vielerlei Hinsicht von jener unterscheide. Wie sich inzwischen herausstellte, existieren nämlich mehrere Abschriften der Partitur. Die Hamburger Quelle sei aber „die einzige mit Namensnennung der Komponisten“, bemerkt Lotter im Booklet.

In der Ankündigung der Uraufführung werden nur Emanuel Schikaneder und die Mitwirkenden genannt – nicht aber die Komponisten / Wienbibliothek im Rathaus

In einem gesonderten Booklet-Text kommt Sabine Radermacher zu dem Schluss, dass sich Schikaneder „irgendwann zwischen Sommer 1789 und Sommer 1790“ an das Libretto eines Singspiels gemacht haben muss, das Stoffe und Motive aus der gerade veröffentlichten Märchensammlung Dschinnistan von Christoph Martin Wieland schöpfe. Alle Erzählungen darin seien in der mythischen Welt Arkadiens angesiedelt. Schikaneder habe sich die Erzählung Nadir und Nadine als Vorlage genommen und mit dem Märchen Der Stein der Weisen angereichert. Ort der Handlung sei eine Zauberinsel, die von Astromonte (Michael Schade), Sohn eines mächtigen Zauberers beschützt werde. „Diese Figur scheint ambivalent: Denn einerseits ist Astromonte Beschützer der Insel, als Gegenleistung müssen deren Bewohner allerdings regelmäßig Jungfrauen an ihn abführen.“ Eine davon sei Nadine (Leonor Amaral). So wie später in der Zauberflöte Pamina von Sarastro geraubt, werde hier Nadine von Astromonte verschleppt. Nadir (Kai Kluge) versuche, seine Geliebte zurückzugewinnen und finde Hilfe nicht nur bei Lubano (Jonas Müller) und seiner Gattin Lubanara (Elena Harsányi/Katja Maderer) sondern auch beim Bruder von Astromonte, dem bösen Eutifronte (Martin Summer), der danach trachte, Astromonte zu töten und Nadir als Werkzeug seiner Rache nutzen zu wollen. Komplettiert wird das Ensemble von Theresa Pilsl als Genius und Joachim Höchbauer als Sadlik.

Und schließlich ist da noch, neben vielen anderen Vertonungen zum Thema, die Zauberposse mit Gesang „Der Barometermacher auf der Zauberinsel“ von Ferdinand Raimund, 1823 im Wiener Theater in der Leopoldstadt uraufgeführt/
Szenenbild, gestochen nach einem Aquarell von Johann Christian Schoeller/Wikipedia

Als „eine ganze neue heroisch-komische Oper in zwei Aufzügen“ sei das Stück in der Ankündigung der Uraufführung am 11. September 1790 im Freihaustheater auf der Wieden bezeichnet worden, so die Autorin. Vermerkt fänden sich darauf lediglich Schikaneder und die Darsteller. „Kein Wort zu(m) Schöpfer(n) der Musik. Es folgen Reprisen an einer ganzen Reihe von Theatern im deutschen Sprachraum bis in die 1810-er Jahre. Verschiedene Partitur-Abschriften kursieren, die ebenfalls nichts über Autoren preisgeben. Bis der Musikwissenschaftler David J. Buch in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg eine komplette Partitur-Kopie (ohne gesprochene Dialoge, diese werden später gefunden) entdeckt, in der über nahezu jeder Musiknummer ihr Schöpfer vermerkt ist.“ Diese Liste wurde in tabellarischer Form nur Telarc-Booklet abgedruckt, Harmonia Mundi verzichtet darauf. „Von Mozart“ stehe über zwei Teilen des Finales und über dem Duett „Nun liebes Weibchen“ (KV 625/592a) – auch bekannt als Katzenduett -, bei dem die in eine Katze verwandelte Lubanara ihre Melodien auf die Worte „Miau, miau“ singe. Radermacher: „Natürlich ist zu hinterfragen, ob Mozart wirklich der Komponist der ihm zugeschriebenen drei Abschnitte und inwieweit seine Musik in dieser Oper ein Originalbeitrag ist, oder ob er lediglich fremde Musik überarbeitet hat. Vor allem aber: ob seine (informelle) Beteiligung an der Partitur vielleicht sogar darüber hinausgeht. Möglicherweise hat er seinen Freunden ausgeholfen, ohne zu erwarten, dass sein Name auf der Partitur steht.“  Auffällig seien auch die vielen musikalisch-stilistischen Parallelen zwischen Teilen, die nicht Mozart zugeschrieben würden, und bemerkenswert ähnlichen Momenten der Zauberflöte.

Die Neuerscheinung ist also vielmehr als die zweite Aufnahme des Singspiels Der Stein des Weisen oder Die Zauberinsel. Sie hat einen bemerkenswerten musikwissenschaftlichen Mehrwert, der auf neuen Forschungserbnissen beruht. Als gesondertes Heft ist das Libretto beigelegt. Es erweist auch deshalb als unverzichtbar, weil die Solisten nicht immer ganz genau zu verstehen sind (Abbildung oben/Ausschnitt:Miranda von John William Waterhouse, 1916/Wikipedia). Rüdiger Winter

„Leuchtende Liebe, lachender Tod“

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Das Nachkriegs-Bayreuth lässt an einen Weinberg denken. Es gab sehr gute und weniger gute Jahrgänge. 1955 war ein vorzüglicher. Und das gleich aus mehreren Gründen. Nach Lohengrin stellte Wolfgang Wagner mit dem Holländer seine zweite Inszenierung vor. Damit war der so genannte Bayreuther Kanon wieder komplett. Neben Tannhäuser und Parsifal stand der Ring des Nibelungen in zwei Durchläufen auf dem Spielplan. Wieland Wagner hatte weiter an seinem Regiekonzept gefeilt. Decca war mit der neuesten Aufnahmetechnik angereist, um erstmals seit Beginn von Tonaufnahmen den kompletten Ring in Stereo mitzuschneiden, während es die Schwestergesellschaft Teldec auf den neuen Holländer abgesehen hatte. Der kam aber nur bei der Decca in Stereo heraus, bei der Teldec in Mono.

Allein die Anwesenheit des Teams mit den eigenen Mikrophonen dürfte für zusätzlichen Wirbel im Festspielhaus gesorgt haben. Als Präferenz für die Vermarktung hatte sich die englische Plattenfirma für den ersten Zyklus dieser Saison mit der Astrid-Varnay-Brünnhilde entschieden. Veröffentlicht wurde das einzigartige Dokument (von Testament) aber erst 2006, nachdem es um den von Georg Solti geleiteten spektakulären Decca-Studio-Ring etwas ruhiger geworden war und der Bayreuther Mitschnitt nicht mehr als Konkurrenz im eigenen Unternehmen wahrgenommen wurde.

Drei Jahre später schob Testament ebenfalls in Stereo, doch nicht so konsequent remastert Walküre und Götterdämmerung aus dem zweiten Ring-Zyklus mit Martha Mödl als Brünnhilde nach. Es wurden mehr Bühnengeräusche zugelassen, was die Live-Atmosphäre eher betonte als ihr abträglich schien. Dieser Mitschnitt war zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Er sollte bei der Herstellung des Masterbandes (für den oben erwähnten Varnay-Ring) offenbar als Korrekturmaterial in Reserve gehalten werden. Schade, dass nicht auch noch Rheingold und Siegfried folgten. Dadurch wurde die einmalige Chance vertan, aus einer Saison mit einem fast idealen Ensemble beide Ring-Aufführungen für die Nachwelt in Stereo dokumentiert zu haben.

Glück für Hänssler Profil. Die Firma konnte nun mit dem Siegfried die Brünnhilde der Mödl von 1955 komplettieren (PH23003).

Für die Mödl war die Siegfried-Brünnhilde die wohl heikelste Rolle im Ring: „Die Partie ist zwar kurz, bewegt sich aber immer um eine Terz über meiner Lage. Da musste ich besonders Obacht geben“, wird sie im Booklet aus ihrer vorgeblichen Autobiographie „So war mein Weg“ zitiert. Diese Autobiographie gibt es nicht. Wohl aber ist unter selbigem Titel 1998 bei Parthas ein Buch mit Texten und Protokollen von Gesprächen erschienen, die der Musikschriftsteller Thomas Voigt mit Martha Mödl geführt hat (ISBN 4-932529-08-1). Voigt war wie kein anderer mit ihren künstlerischen Fähigkeiten vertraut. Das versetzte ihn in die Lage, die Frage so zu stellen, dass sich die Mödl in ihren Antworten mitunter erst selbst über bestimmte Einsichten, Fähigkeiten, Vorzüge und Grenzen klar zu werden schien. Lesend ist sie so zu hören. Wer ihr noch persönlich begegnet ist, hat sie in ihrer Unverwechselbarkeit und Schlagfertigkeit plötzlich wieder vor sich. Sie kann wichtige Sachverhalte in klarer und einfacher Sprache abhandeln. Immer auf dem Punkt. Mit den Gesprächs-Matineen, die dem Buch folgten, verhalf Voigt der Mödl in vorgerücktem Alter zu einer dritten Karriere.

Vorangegangen war bei Hänssler Profil bereits ein Album mit dem dritten Aufzug und dem Mittelakt des Parsifal aus demselben Jahr, in dem die Mödl mit der Kundry eine ihrer wesentlichsten Rollen verkörperte (PH21055). Als Herausgeber beider Veröffentlichungen wird Helmut Vetter aus Stuttgart genannt, der 2012 zum hundertsten Geburtstag der Sängerin eine Ausstellung mit Kostümen, Fotos und anderen Dokumenten aus ihrem Nachlass organisiert hatte, die in Bayreuth und in Berlin zu sehen war.

Bernd Zegowitz tritt abermals als Autor des Booklet-Textes in Erscheinung, geht aber auf die besonderen Umstände in dieser Saison nicht ein. Seines Themen unter der Überschrift „Griechische Germanen“ sind die Inszenierung sowie das Wirken Wielands auch außerhalb der Festspiele, die Vorzüge des Dirigenten Joseph Keilberth und des Ensembles, das bis auf die Brünnhilde in beiden Zyklen fast identisch ist.

Die Mödl ist bestens disponiert. Stimmlich hatte sie für mich ihren Höhepunkt erreicht. Sie würde nie mehr besser klingen. Die Bänder stammen nicht von der Decca, sondern wurden vom Bayerischen Rundfunk in Lizenz zur Verfügung gestellt – allerdings im damals üblichen Mono. Mastering und Sounddesign besorgte das Tonstudio von Holger Siedler in Dormagen, das in seiner Internetpräsentation darauf verweist, „Kundenwünsche nach einem authentischen und dynamischen analogen Klang“ erfüllen zu können.

Die Stimmen sind sehr deutlich und präsent. Sie rücken mehr als vielleicht nötig in den Vordergrund. Vor allem in der Erda-Szene. Es ist, als ob Maria von Ilosvay nach dem mächtigen Weckruf durch den Wanderer (Hans Hotter) plötzlich im Raum steht. So nahe kommt sie. Wer selbst schon im Festspielhaus saß, weiß, dass es dort anders, nämlich entfernter klingt. Mythische Distanz ist gewollt und Teil des noch von Richard Wagner erdachten Theaterzaubers. Bei diesem akustisch relativ vordergründigen Konzept bleibt es bis zum strahlenden Schluss, wenn sich Brünnhilde und Siegfried (Wolfgang Windgassen) in den „leuchtenden Liebe lachenden Tod“ stürzen. Bayreuther Akustik hin oder her, faszinierend klingt es unter guten Kopfhörern letztlich schon. Zumal die Mödl noch etwas mehr als ihr Partner mit buchstabengetreuem Ausdruck singt. Eine Fähigkeit, die immer seitdem mehr verloren geht. Die übrige Besetzung dieses Siegfried ist dieselbe wie im Decca-Mitschnitt. Das heißt: Gustav Neidlinger (Alberich), Paul Kuen (Mime), Josef Greindl (Fafner) und Ilse Hollweg (Waldvogel). Rüdiger Winter

Auf dem Flügel nach Walhall

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Es dauert ungefähr zehn Sekunden, bis auch die mit dem Werk Richard Wagners vertrauten Hörer schwören können, was ihnen geboten wird. Mit Macht tönt es aus dem Innern des Flügeln: Einzug der Götter in Walhall, das pompöse Rheingold-Finale. Für mich eine der imposantesten Eingebungen des Komponisten, die auch noch mit Blockflöte oder Akkordeon Eindruck machen dürfte. Das Klavier aber hat neben dem Orchester immer noch die größeren, die differenzierteren Ausdrucksmöglichkeiten. Bearbeitungen von Wagners Musikdramen für dieses Instrument sind so alt wie die Werke selbst. Sie sind aus der Not geboren. Schließlich waren seinerzeit die Möglichkeiten beschränkt, Wagner nach Laune und Bedürfnis hören zu können. Wir aber greifen in die Fülle der Regale und Festplatten mit einschlägigen Aufnahmen oder gehen ins Netz. Wagner für Klavier ist längst keine Lösung mehr – eine Möglichkeit schon. Mir gefällt daran am meisten, dass ich mich nicht über sängerische Defizite ärgern muss. Gerade in besagter Rheingold-Szene wird in Opernhäuser der Froh, der die Regenbogenbrücke zur Burg festlich besingt, vernachlässigt. Was hat man nicht alles gehört. Die „Bricke“, die zur Burg „fiehrt“ war noch harmlos. Solches Kauderwelsch bringt der Flügel nicht hervor.

Den neuerlichen Beweis liefert eine CD, die bei harmonia mundi erschienen ist (HMM 902393). Der russische Pianist Nikolai Lugansky hat die Musik aus dem Ring des Nibelungen sowie aus Parsifal und Tristan und Isolde weitestgehend selbst arrangiert, bedient sich also nicht nur aus dem großen Vorrat einschlägiger Bearbeitungen. Er folgt damit einem eigenen Bedürfnis, das er im Booklet eindrucksvoll und mit eigenen Erinnerungen versehen schildert. Er ist sich dessen bewusst, dass es selbstverständlich „verschiedene Methoden der Bearbeitung“ gibt. „Entweder man bleibt dem Original treu mit dem Ziel, das Werk bekanntzumachen und damit ein möglichst großes Publikum zu erreichen, was der Fall war, als es noch keine Plattenaufnahmen und kein Radio“ existierten. Und dann gebe es die „mehr frei, offene Art, bei der man das Klavier mit dessen eigenen Mitteln diese großartigen Erzählungen schildern lässt“. Für ihn, Lugansky, sei die „ideale Klavierbearbeitung ein Werk, dass für sich allein steht“. Wagner betreffend „bedeute dies, dass man die Orchesterstimmen der Originalpartitur nicht alle strikt beibehält, sondern idealerweise eine Auswahl trifft und ein Gleichgewicht findet, dass die emotionale Wirkung aufrechterhält“. Insofern ist seine Arbeit Ausdruck einer ganz persönlichen Auseinandersetzung mit dem verehrten Wagner, dessen Musik er als Achtzehnjähriger erstmals ganz bewusst vernahm. Wer die Einspielung genau hört, findet schnell heraus, was ihm wichtig ist. Er stellt seine Empfindungen zur Diskussion, lädt das Publikum dazu ein, herauszufinden, wo die eigenen Berührungspunkte mit Wagner jenseits der oft schwärmerischen Verehrung für Sänger, Chöre, Orchester und Dirigenten liegen.

Mit gut vierzig Minuten ist Musik aus dem Ring der größte Posten der CD. Zweimal, nämlich beim schon erwähnten Einzug der Götter in Walhall und beim Feuerzauber in der Walküre greift Lugansky auf Translationen des 1884 in St. Petersburg gestorbenen belgischen Pianisten Louis Bassin zurück und verknüpft sie teils mit eigener Bearbeitung. Die Verwandlungsmusik aus dem ersten Parsifal-Aufzug stammt von Felix Mottl und die Schluss-Szene aus Parsifal ist ein Mix von ihm selbst mit der Arbeit seines 2016 verstorbenen ungarischen Kollegen Zoltán Kocsis. Mit Isoldes Liebestod wird eine Reminiszenz an Franz Liszt gewählt, der sich mit seinen feinsinnigen Klavierbearbeitungen unermüdlich für die Verbreitung des Werkes seines Freundes Richard Wagner einsetzte.

Eine knappe Stunde Tristan und Isolde ohne Gesang. Ist das überhaupt möglich? Für das Solistenensemble D’Accord schon. Es hat eine Version mit Streichseptett eingespielt. Die sieben Musiker sind Martina Trumpp, von der die Bearbeitung stammt, und Franziska Bauer (Violine), Daniel Schwartz und Stephan Knies (Viola), Guillaume Artus und Nicola Pfeffer (Cello) sowie Benedikt Büscher (Kontrabass). Erschienen ist die CD in umweltfreundlichem Karton bei Caviello Classics (COV 92311). Die Fassung folgt dem Aufbau des Musikdramas, das Richard Wagner selbst als Handlung in drei Aufzügen hatte verstanden wissen wollen. Auf die jeweiligen drei Vorspiele folgen die konkreten Geschehnisse, die so bezeichnend sind, dass die Hörer auf Anhieb wissen, an welcher Stelle sich die Handlung befindet. Oft reichen Textzitate wie „Frisch weht der Wind der Heimat zu“ aus dem Lied des jungen Seemanns oder „Einsam wachend in der Nacht“ aus Brangänes Wachgesang. Dann wieder sind einzelne Szenen etwas lakonisch beschreibend markiert. Liebestrank, Ankunft auf der Burg, Jagd, Sehnsucht oder Tristans Tod, heißt es dann. Der Schluss aber, auf den alles hinausläuft in dem Werk, ist in aller Ausführlichkeit beschrieben mit „Mild und leise“ (Isoldes Liebestod. Tristan-Vertraute hätten die Notizen nicht gebraucht. Sie wisse im Schlaf, welche Musik in welcher Situation erklingt. Doch sie sind vielleicht auch nicht die ersten Adressaten für die Neuerscheinung. Sie wollen das Werk wohl am liebsten auch gesungen und auf der Bühne aufgeführt. Wer aber auf Gesang keinen sonderlichen Wert liege – dafür gibt es schließlich auch gute Gründe – und Wagner dennoch liebt, der ist bestens bedient mit dieser Version. Sie betont den sinfonischen Charakter der Musik.

Das Ensemble hat im Booklet Cosima Wagner als Zeugin aufgerufen. Sie habe in ihren Tagebüchern geschrieben, dass Tristan und Isolde „eigentlich gar keine Oper sei“ – jedenfalls „keine für Singstimmen mit Handlung und Orchesterbegleitung“. Wagner habe sich in diesem Werk „einmal ganz symphonisch geben“ wollen, ein Geflecht aus Harmonien und „unendlicher Melodie“ erschaffen, in dem Gesang nicht unbedingt die Hauptrolle spiele. Das Experiment finde ich sehr gelungen. Ich habe die Stimmen nicht vermisst. Das Septett gleicht sie durch seinen fein sinnigen und hochsensiblen Vortrag aus. Rüdiger Winter