Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Auf die Neunte folgt die Fünfte

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Gerd Schallers bei Profil/Hänssler erscheinende Reihe „Bruckner für Orgel“ geht weiter. Diesmal steht die fünfte Sinfonie im Mittelpunkt (PH23014). Im Gespräch mit Rainer Aschemeier, das im Beiheft abgedruckt ist, gibt Schaller Auskunft darüber, weshalb nach der bereits vorgelegten Neunten seine Wahl diesmal auf die Fünfte fiel. Keine der Bruckner-Sinfonien sei derart kontrapunktisch gearbeitet, so Schaller, besonders die monumentale Fuge im Schlusssatz. Nach Ansicht des Dirigenten (und Organisten) eigneten sich keineswegs alle Sinfonien Bruckners für eine Orgelbearbeitung; er führt als dritte noch die Achte an. Der Schwierigkeiten, die mit einer Transkription einhergehen, ist sich Schaller durchaus bewusst, selbst wenn gerade Bruckners Fünfte in ihrer Klanglichkeit der Orgel mitunter sehr nahe komme. Die der Sinfonie Nr. 5 teils verliehenen Beinamen wie „Katholische“ oder „Glaubenssymphonie“ sieht Schaller jedenfalls kritisch. Wiederum entschied man sich, wie bereits beim Sinfonien-Zyklus, für die Ebracher Abteikirche mit ihrer sehr eigenen Akustik und ihrer adäquaten Orgel von Wolfgang Eisenbarth (eingespielt im November 2022, wiederum in Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk).

Tatsächlich lässt sich Schallers Argumentation nachvollziehen, da die Fünfte eine genuine Eignung für eine Orgelbearbeitung aufweist. Das Klangbild ist stellenweise erstaunlich nahe an der gewohnten Orchestrierung. Freilich gilt es gleichwohl auch hier, da und dort Kompromisse einzugehen, lassen sich doch bestimmte Orchestereffekte auf einer Orgel nicht oder allenfalls annäherungsweise darstellen, denkt man an das Streichertremolo oder den Paukendonner. Der Überwältigungseffekt stellt sich in der finalen Apotheose der Schlusscoda, worauf von Anfang an alles hinzielt, in der Tat auch hier ein. Die angeschlagenen Tempi (18:34 – 16:17 – 14:36 – 23:05) unterscheiden sich nicht grundsätzlich von der gewöhnlichen Orchesterfassung; die Gesamtspielzeit ist mit gut 72 Minuten sogar nahezu identisch mit Schallers vorliegender Einspielung. Das zweisprachige Booklet (Deutsch, Englisch) ist gewohnt aufschlussreich und bietet unter anderem die Orgeldisposition in allen Details. Daniel Hauser

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Die Orgel sei „das Instrument Bruckners“, so verkündet Gerd Schaller, ohne Frage einer der großen Bruckner-Exegeten unserer Zeit, im kundigen Gespräch mit Andrea Braun, welches im Booklet der nun bei Profil/Hänssler aufgelegten Einspielung der von Schaller selbst arrangierten Orgelbearbeitung der neunten Sinfonie von Anton Bruckner abgedruckt ist (PH21010). Diese Aussage Schallers ist durchaus nachvollziehbar, spielte die Orgel im Leben Bruckners doch eine eminent wichtige Rolle – und, wenn man so will, sogar über seinen Tod hinaus, liegt er doch bekanntlich unter der Orgel von St. Florian begraben. Im Zuge des Projektes BRUCKNER2024 hat es sich der Dirigent zum Ziel gesetzt, sämtliche Bruckner-Sinfonien in teils sehr wenig gespielten Fassungen aufzunehmen. Dieses ambitionierte Vorhaben ist bereits weit gediehen und hat so manche wirklich ausgezeichnete Interpretation hervorgebracht.

Die Idee, Bruckner mittels einer Orgeltranskription näherzukommen, gleichsam zur Essenz vorzudringen, ist so neu nicht. Tatsächlich beabsichtigt auch der Organist Hansjörg Albrecht beim Label Oehms eine Gesamteinspielung der Sinfonien in Orgelbearbeitungen (die „Nullte“ ist 2020 bereits erschienen). Schaller geht es, wie er ausdrücklich betont, keineswegs um eine 1:1-Übertragung der Orchesterfassung auf die Orgel. Die Konzentration auf das Wesentliche unter Weglassung letztlich nicht übertragbarer Details der Orchestrierung sei essentiell. Dabei räumt er durchaus ein, „[i]n einem gewissen Sinne“ eine Bearbeitung geschaffen zu haben. Für Schaller (und auch für die seriöse moderne Bruckner-Forschung) steht es außer Frage, dass der Komponist seine letzte Sinfonie viersätzig konzipierte. Hinsichtlich des Finalsatzes bediente sich Schaller seiner eigenen Komplettierung, die bei Profil/Hänssler bereits zweifach und, dies darf hinzugefügt werden, überaus überzeugend vorgelegt wurde (Fassung 2015 auf PH16089, Revision 2018 auf PH18030). Eine gewisse Orientierung an den großen französischen Orgelkomponisten des 19. Jahrhunderts Guilmant, Widor und Vierne habe durchaus Pate gestanden, so Schaller, wenngleich er einräumt, dass der Vergleich auch hinke, da die genannten Komponisten ja primär schon für die Orgel komponierten und nicht erst später transkribierten.

Beim in dieser Neuaufnahme verwendeten Instrument handelt es sich um die Orgel der ehemaligen Zisterzienserabteikirche Ebrach in Franken, zwischen Bamberg und Würzburg gelegen. Bei dieser handelt es sich um die Rekonstruktion einer Barockorgel durch den Passauer Orgelbaumeister Wolfgang Eisenbarth (1984). Die Ebracher Hauptorgel eigne sich aufgrund ihres sowohl barocken als auch romantischen Charakters besondere für Bruckner, der in St. Florian selbst auf der spätbarocken Orgel von Franz Xaver Krismann gespielt hat. Wie nun klingt dieses gewagte Experiment? Um es mit Gerd Schallers eigenen Worten zu sagen: „ganz anders“ als die altbekannte Orchesterfassung der Neunten. Der ganz eigene, intime Charakter einer Orgelsinfonie kommt zweifelsohne ausgezeichnet herüber. Die in Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk – Studio Franken zwischen 2. und 5. November 2020 entstandene, also praktisch taufrische Einspielung weiß auch klanglich zu überzeugen und ist ein wenig Ausdruck der derzeitigen Pandemie, die zur Rückbesinnung auf den Einzelnen, in diesem Falle eben den Organisten, animiert. Dies muss nicht nur ein Verzicht, sondern kann eben durchaus auch ein Gewinn sein.

Meine grundsätzliche Skepsis gegenüber Orgeltranskriptionen großer spätromantischer Orchesterwerke will ich nicht verleugnen. Nicht alle derartige Versuche wussten zu überzeugen (denkt man etwa an Wagner). Indes, im Falle Bruckners scheint es zu klappen. Die von Schaller angeschlagenen Tempi (26:01 – 11:06 – 24:53 – 25:17) unterscheiden sich keinesfalls von seinen beiden Einspielungen der Orchesterfassung, ganz im Gegenteil, sie sind beinahe auf die Sekunde identisch. Nun sollte man freilich hinzufügen, dass auch die Orchesterversionen am selben Ort, im Kloster Ebrach, eingespielt wurden. Es klingt jederzeit nach Bruckner. Verheißungsvoll der Auftakt im langgestreckten Kopfsatz. Das oft angriffslustig dargebotene Scherzo erhält mittels der Orgel einen mehr kontemplativen Charakter. Ihre große Stärke kann die sehr voll tönende Orgel naturgemäß im himmlischen Adagio ausspielen, das auch zum Höhepunkt der Darbietung gerät. Ein Bruch zwischen dem Finale und den drei vorangegangenen Sätzen ist in dieser Orgelfassung tatsächlich nicht feststellbar. Der Schlusssatz wird nicht zuletzt zu einem neuerlichen Plädoyer für Schallers eigene Fassung. Das Booklet ist zweisprachig gehalten (Deutsch und Englisch), überzeugt durch ansprechende Photographien und listet auch die Disposition der Eisenbarth-Orgel minutiös auf, was besonders für Orgelbegeisterte von Wichtigkeit sein dürfte. Eine rundum gelungene Produktion, die auch dem fortgeschrittenen Brucknerianer neue Einsichten in vermeintlich Altbekanntes zu gewähren im Stande ist. Daniel Hauser

Liedermarathon

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Liedaufnahmen erfreuen sich anhaltender Konjunktur. Einst gingen in den Studios Sängerinnen und Sänger gemeinsam mit ihren Begleitern auf der Suche nach Vollendung im Ausdruck bis an ihre Grenzen ihrer Fähigkeiten. Vom britischen Produzenten Walter Legge (1906-1979) ist ein Satz überliefert, mit dem er seinen hohen Anspruch zusammenfasst: „Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden.“ Legge betreute viele Einspielungen aller Genres, die nie vom Markt verschwunden sind. Hugo Wolf stand im Zentrum. Das weit verbreitete Interesse am Lied dürfte auch seinem nachhaltigen Wirken zu danken sein. Mit den Jahren ist das Spektrum immer breiter geworden. Es tauchen Komponisten aus der Vergangenheit auf, die aus sehr unterschiedlichen Gründen in Vergessenheit gerieten. Bernhard Sekles (1872-1934) ist einer von ihnen. Er studiere am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Mai bei Engelbert Humperdinck. Nach der Ausbildung zum Dirigenten wirkte an Opernhäusern und kehrte 1923 als Direktor an das Konservatorium zurück. Dort gründete es gegen den Protest konservativer Kreise die europaweit erste Jazz-Klasse. Die Nationalsozialisten entfernten den gebürtigen Juden 1933 aus seinem Amt und verboten seine Werke. Der reiche kompositorische Nachlass von Sekles ist kaum erschlossen.

Doch es kommt Bewegung auf. Innerhalb kürzester Zeit sind gleich zwei Alben mit Liedern auf den Markt gelangt. Von hr2, dem Kulturprogramm des Hessischen Rundfunks hat Hänssler Classic Lieder und Klavierwerke übernommen (HC 22008). Die Sopranistin Tehila Nini Goldstein singt den Zyklus Aus Schi-King. Dabei handelt es sich um achtzehn Lieder für hohe Stimme und Klavier nach der Übertragung ins Deutsche von Friedrich Rückert op. 15 – so der vollständige Titel. Der Legende nach sollen die Lieder vom chinesischen Philosophen Konfuzius gesammelt worden sein, was sich in neuen Forschungen aber nicht bestätigte. Sekles erfand dazu eine Tonsprache in teils kräftigen Farben, denen die Sängerin, die sich bei Hänssler auch mit anderen Wiederentdeckungen von in Vergessenheit geratenen Komponisten einen Namen machte, engagiert gerecht zu werden versucht. Im Booklet sind die Texte abgedruckt. Begleiter ist der russische Pianist und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov, der an der Musikhochschule „Franz Liszt“ in Weimar und an der Universität in Jena lehrt. Er bestreitet die zweite CD des Albums mit Fantasietten, 23 kleinen Stücken für Klavier solo, op. 42 und steuert zudem einen sehr informativen Textbeitrag über Sekles bei. Bei Toccata Classics hatten sich zuvor der Tenor Malte Müller und der Pianist Werne Heinrich Schmidt ebenfalls dem Liedschaffen von Bernhard Sekles zugewandt (TOCC 0651). Im Zentrum ihrer CD steht ebenfalls der Schi-King-Zyklus. Laut Onlinedatenbank LiederNet ist Sekles der einzige Komponist, der sich den Versen zuwandte.

Bei Toccata Classics wandten sich der Tenor Malte Müller und der Pianist Werne Heinrich Schmidt seinem Liedschaffen zu (TOCC 0651). Im Zentrum ihrer CD steht der Zyklus Aus Schi-King op. 15. Der Legende nach sollen die Lieder vom chinesischen Philosophen Konfuzius gesammelt worden sein, was sich in neuen Forschungen aber nicht bestätigte. Sekles griff auf die Nachdichtung von Friedrich Rückert zurück und erfand dazu eine Tonsprache in teils kräftigen Farben, denen der Sänger engagiert gerecht zu werden versucht. Laut Onlinedatenbank LiederNet ist Sekles der einzige Komponist, der sich den Versen zuwandte.

Seinen russischen Zeitgenossen Nikolai Medtner (1880-1951) widmet Brilliant Classic eine Edition der kompletten Lieder, die inzwischen bei Volume 4 angelangt ist (96066). Medtner, der ein Gegner der Oktoberrevolution war, emigrierte 1921 zunächst nach Berlin und lebte drei Jahre in der Stadt. Er hatte deutsche Wurzeln. Daraus erklärt sich auch seine geistige und künstlerische Nähe zu Deutschland. Seines ehr traditionellen Stils wegen nannten ihn Kritiker den „russischen Brahms“. Die neue Einspielung entstand 2022 in den Niederlanden und besteht aus Lieder nach Texten von Goethe und Heine. Sie sind in vier Werkgruppen unterteilt. Alle Lieder der Sammlung werden von der Mezzosopranistin Ekaterina Levental dargeboten. Ihr Begleiter ist Frank Peters, der am Amsterdamer Konservatorium studierte und nun dort auch selbst lehrt. Die Sängerin stammt aus Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans, und durchlief ihre musikalische Ausbildung in Den Haag, Detmold und Rotterdam. Sie ist international aktiv und vielseitig unterwegs – auch als Opernsängerin. Ihr Interpretationsansatz wirkt etwas zu robust und zu dramatisch. Die Stimme findet nur selten in lyrische Ausdrucksbereiche. Vor allem jene Lieder, die auf sehr bekannte Gedichte Goethes zurückgehen wie Nachtlied II („Über allen Gipfeln ist Ruh'“) oder Mignon („Nur wer die Sehnsucht kennt“) lassen entsprechendes Einfühlungsvermögen vermissen. Hinzu kommt, dass die Sängerin im Umgang mit der deutschen Sprache nicht genug geübt ist, um sich präzise verständlich zu machen.

Insomnia. Diesen Titel haben Katharina Konradi und der Pianist und Gitarrist Ammiel Bushakevitz ihrer CD mit Liedern von Franz Schubert gegeben. Sie ist bei BR Klassik/Berlin Classics herausgekommen (0302961BC). Warum Insomnia, wird die aus Kirgisistan stammende Sängerin, die mit fünfzehn Jahren nach Deutschland kam und hier ihre neue Heimat fand, im Booklet von jemanden gefragt, der sich nicht zu erkennen gibt: „Wenn man schlecht schläft, bzw. die Nächte wach liegt, kommen dem Menschen allerlei Bilder, Fantasien und Gefühle ins Gemüt, die einem unter der Einwirkung der Dunkelheit oder der Dämmerung meistens konfus, übergroß und sehr existenziell vorkommen. So ist es bei unserer Lied-Auswahl: Die Stücke behandeln die großen Gefühle wie Liebe, Tod, Hass, Sehnsucht unter dem Brennglas nächtlichen Empfindens.“ In der Trackliste tauchen sehr bekannte und weniger bekannte Titel auf. Der Zwerg ist dabei, Nacht und Träume, An den Mond, Ständchen. „Der Vollmond strahlt auf Bergeshöh‘n“, die Romanze aus der Schauspielmusik zu Rosamunde gehört zu den Werken, die Bushakevitz nach eigenem Arrangement auf der Gitarre begleitet. Zu Nacht und Träume hätte man sich am Ende doch lieber das Klavier gewünscht, das weiche, sanfter und entrückter klingt als das Lauteninstrument.

Das tschechische Label Supraphon hat für eine CD mit Gesängen aus Des Knaben Wunderhorn von Gustav Mahler den deutschen Bariton Peter Schöne engagiert (SU 4322-2). Das hat den Vorteil, dass er als Muttersprachler sehr wissend mit den Texten von großer literarischer Qualität umgehen kann. Schöne ist seit 2017 Mitglied des Saarländischen Staatstheaters und gibt neben seinen Opernauftritten Lieder- und Konzertprogramme. Begleitet wird er vom Prager Philharmonia Octet. Dadurch gewinnen die Gesänge an kammermusikalischer Durchsichtigkeit. Für die Aufnahme wurde eine spezielle Zusammenstellung getroffen. Schöne singt nicht alle zwölf Titel jener zwischen 1892 bis 1898 entstandenen Gedichtsammlung für Singstimme und Orchester, die erst später als Zyklus ein Eigenleben zu führen begann. Es fehlen Verlorene Müh‘, Trost im Unglück, Wer hat das Liedlein erdacht? und – was schade ist – Revelge. Dafür wurden Urlicht (vierter Satz der zweiten Sinfonie) und „Es sungen drei Engel“ (fünfter Satz der dritten Sinfonie), die ursprünglich Teile der Orchesterlieder waren, wieder hinzugenommen. Unterbrochen werden die Gesangsnummern mit Scherzo und Blumine, zwei Sätzen aus Urfassung der 1. Sinfonie, die alsbald verworfen wurde. Im Booklet werden die Hintergründe ausführlich beleuchtet. Rüdiger Winter

Reife Braut

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Anny Schlemm ist mit der Oper Die verkaufte Braut von Smetana mehrfach dokumentiert. Beim WDR gab sie der Marie in einer Fernsehproduktion ihre Stimme, die am 25. Dezember 1958 erstmals in der ARD ausgestrahlt und zeitgleich auch vom österreichischen Fernsehen übernommen wurde. Als Darstellerin erschien die Österreicherin Herta-Maria Perschy auf dem Bildschirm. Auch die übrigen Figuren wurden von Schauspielern gedoubelt. Der Soundtrack gelangte später separat ins Hörfunkprogramm und hat sich in Sammlerkreisen erhalten. Die musikalische Leitung lag in den Händen des ungarischen Dirigenten László Somogyi, der nach dem Volksaufstand in Ungarn 1956 in den Westen emigrierte und vornehmlich in den USA tätig war. Bereits 1954 wirkte die Schlemm in einem von Fritz Lehmann dirigierten Querschnitt durch die Oper für die Deutsche Grammophon an der Seite von Walther Ludwig als Hans und Josef Greindl als Kezal mit. 1962 ging sie in Dresden für das DDR-Label Eterna ins Studio, um die Marie in einer Gesamtaufnahme in deutscher Sprache zu singen.

Brilliant Classics hat diese Verkaufte Braut jetzt in eine Collection von Werken Bedrich Smetanas übernommen (96909). Die Auswahl will mit bekannten Stücken punkten. Neben der Oper gibt es die Orchesterwerke, dargeboten vom Janacek Philharmonic Orchestra unter der Leitung des ukrainisch-amerikanischen Dirigenten Theodore Kuchar. Im Zentrum, wie könnte es anders sein, der Zyklus Mein Vaterland, den Kuchar mit schwermütigen Harfenschlägen wirkungsvoll eröffnet. Beschworen wird der sagenumwobene Vysehrad. Es hat den Anschein, als ob jene frühmittelalterlichen Burgwälle auf einem Hügel am Moldauufer in Prag nicht aus gewaltigen Gesteinsbrocken sondern aus Musik aufgetürmt wurden. In der Aufnahme von 2007 wird große Pracht entfaltet. Zu hören ist auch die Triumph-Sinfonie. Zitate der österreichischen Kaiserhymne im festlichen Finale erinnern daran, dass der dreißigjährige Smetana dieses Werk der Kaiserin Sisi widmete. Die Übermittlung einer Kopie an den Wiener Hof blieb allerdings ohne Antwort. Antonin Kubalek und Roberto Plana spielen Klaviermusik, das Stamitz-Quartett und das Joachim Trio Kammermusik.

Die Verkaufte Braut kam in der DDR noch in einer Schallplattenbox heraus. Auch ein Querschnitt war davon verfügbar. Obwohl in die Jahre gekommen, hielt sie sich bis ins CD-Zeitalter und ist ebenfalls bei Berlin Classics zu haben. Nachdem der Dirigent und Musikforscher Nikolaus Harnoncourt herausgefunden hatte, dass sogar in der originalen Partitur ein deutscher Text eingetragen ist, scheint sich bei dieser Oper das sonst übliche Verlangen nach der Originalsprache in Grenzen zu halten. Deren andauernde Beliebtheit beruht schließlich auch auf bestimmten Textstellen in betulichem Deutsch: „Seht am Strauch die Knospen springen“, „Mit der Mutter sank zu Grabe mein ganzes junges Glück“ oder „Komm, mein Söhnchen, auf ein Wort„. Sie finden sich so auch in der DDR-Produktion.

Theodore Kuchar dirigiert Smetana bei Brilliant/ Wikipedia

Anny Schlemm, obwohl bei der Aufnahme erst wenig über dreißig, wirkt für die Marie etwas zu reif. Obwohl die Tochter des Bauern Kruschina (Günther Leib) und seiner Frau Kathinka (Annelies Burmeister) entschlossen für ihre Liebe zu Hans (Rolf Apreck) zu kämpfen weiß, bleibt sie in ihrem Innersten zart und verletzlich. Dem Timbre der Schlemm fehlen dafür Farbe und Sinnlichkeit. Sie klingt mir etwas zu resch. Theo Adam, der auf der Schwelle zur internationalen Karriere stand, hatte in der DDR bei Plattenproduktionen offenbar den ersten Zugriff auf Rollen, die er gern einmal gestalten wollte. Der mit allen Wassern gewaschene Heiratsvermittler Kezal ist ihm aber nicht auf den Leib geschrieben. Es gebricht ihm an Volumen. Die Höhe klingt angestrengt, die Flucht in den Sprechgesang wird ihm in solchen Situationen erhalten bleiben. Seine typische goldene Stimmfarbe nützt ihm als Heiratsvermittler wenig. Dieser Mann ist nicht so vornehm, wie er bei Adam klingt. Und doch ist der Kezal ein bemerkenswertes Ereignis in seiner umfänglichen Diskographie. Auf der Besetzungsliste steht auch Harald Neukirch. Er gestaltet den Wenzel, der Schwierigkeiten mit der Sprache hat, sehr anrührend. Im Zusammenspiel entfaltet die Produktion letztlich sehr viel Charme, so dass sich gewisse Einschränkungen relativieren. Daran haben der Dirigent Otmar Suitner, die Staatskapelle Dresden und der Chor der Semperoper ganz erheblichen Anteil. Rüdiger Winter

Romantik mit Krawatte

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Es gibt Dinge im Leben eines Musikfreundes, die man aus heutiger Sicht nicht mehr für möglich hält. Und doch hat es sie gegeben. Es sollte fast bis Mitte der 1970er Jahre dauern, bis in der DDR Lieder von Robert Schumann in größerem Stil auf Tonträgern verfügbar waren. Von Schumann also, der 1810 im sächsischen Zwickau zur Welt kam und über Jahre das musikalische Leben in Leipzig und Dresden nachhaltig prägte. Der in Leipzig seine dort geborene Frau Clara, Tochter des einflussreichen Musikpädagogen Friedrich Wieck, kennenlernte, die eine eigene Karriere als gefeierte Pianisten und Komponistin einschlug. Mehr biographischer Bezug zu Städten in der einstigen DDR geht nicht. Es gab Bücher, eine Briefmarke und Platten mit Sinfonien, Konzerten und Kammermusik, Sendungen im Rundfunk. Lieder nur vereinzelt. Und wenn, dann in Liederabenden. Wer spezielle Interessen entwickelte, musste nach Moskau reisen und sich dort mit einschlägigen Platten eindecken. Die Sowjetunion hatte sich noch nicht zum internationalen Urheberrecht bekannt und presste einfach nach, was im Westen eingespielt worden war.

Auf diese Weise machten DDR-Bürger, wenn sie denn keine direkten Kontakte in den Westen hatten, ihre erste Bekanntschaft mit dem Schumann-Interpreten Dietrich Fischer Dieskau. Dann kam auch Bewegung in den schwerfälligen, unter chronischer Materialknappheit leidenden ostdeutschen Markt. Der volkeigene Schallplattenbetrieb startete unter seinem Label ETERNA eine umfängliche Robert-Schumann-Edition, in der alle Genres seines Schaffens angemessen berücksichtigt wurden. Das Gros der Lieder hatte Peter Schreier übernommen. Gemeinsam mit dem amerikanischen Pianisten Norman Shetler wurden zwischen 1972 und 1974 fünf Langspielplatten in der Dresdener Lukaskirche, die wegen ihrer guten Akustik der DDR als Aufnahmestudio diente, eingespielt. Sie sind jetzt eins zu eins von Berlin Classics neu aufgelegt worden (03029288C). Damit bleibt die ursprüngliche Zusammenstellung erhalten, was den historischen Wert dieser Edition ehr steigert, auch wenn die CD-Spielzeiten zwischen achtundvierzig und dreiundfünfzig Minuten weit unter dem möglichen Fassungsvermögen liegen.

Der 1931 in Iowa geborene Shetler war 1955 zum Studium nach Wien gekommen. Schreier, auf den er dort kurz vor Beginn der Plattenaufnahmen traf, war drei Jahre jünger. Wie der Pianist in einem Interview für das Booklet berichtete, ging Initiative für die Zusammenarbeit im Studio von Schreier aus, der ihn dazu eingeladen habe. Bei gemeinsamen Liederabenden im Wiener Brahms-Saal des Musikvereins war dafür das künstlerische Fundament gelegt worden. Beide Künstler blieben die nächsten Jahre eng verbunden und traten oft gemeinsam auf. „Ein Pianist, der meinen Vorstellungen in idealer Weise entspricht“, wird Schreier im Booklet von Karsten Blüthgen aus seinem Erinnerungsbuch „Aus meiner Sicht“ (Union Verlag Berlin 1983) zitiert. Shetler sei ein poesievoller Begleiter, der – obwohl er doch aus einem ganz anderen Kulturkreis komme – eine „erstaunlich starke Einfühlung in das deutsche Liedgut“ beweise. Schreier, der aus Meißen stammte, weiter: „Ich habe beispielsweise schon als Kind in meiner Heimat Mühlen gesehen und gehört, Shetler nicht.“. Er sei auf seine Intuition angewiesen gewesen, so der Sänger in Anspielung auf ein immer wiederkehrendes Motiv, das in Schuberts Schöner Müllerin seinen Höhepunkt findet. Noch einmal Shetler über Schreier: „Er war so vertraut mit meinen Fähigkeiten.“ In dem Moment, in dem Musik erklungen sei, habe alles übereingestimmt. „In der Hauptsache haben wir seine Vorstellungen umgesetzt“, räumt der Pianist – ganz Realist – ein. Aber Schreier „hat mich wunderbar mitgenommen in seine Interpretation“.

Friederike Arnold: Adolph Menzel hat die Tochter seines Freundes und Malerkollegen Carl Heinrich Arnold  mehrfach porträtiert.

Die Lieder wiedergehört, fällt durchaus auf, dass Schreier den Ton angibt. Seinen Ton. Er war nicht nur mit Shetlers Begabung vertraut, er war es vor allem mit dem deutschen Liedgut. Als Sohn eines Lehrers und Kantors und schon seit 1943 in der Vorbereitungsklasse des Dresdener Kreuzchores, wuchs er in einer Umgebung auf, in der Musik und Literatur ganz selbstverständlich zum Alltag gehörten. Von 1945 an Vollmitglied des berühmten Chores, der damals von Rudolf Mauersberger geleitet wurde, trat er schon bald auch solistisch hervor, war in Konzerten und im Rundfunk zu hören. Aufnahmen aus seiner frühen Zeit haben sich erhalten und sind inzwischen auch bei Berlin Classics auf CD erschienen. Schreier sang bis zum Ende seiner langen Karriere ungemein genau. Bis auf wenige Ausflüge in dramatische Bereiche wie mit Max in der Plattenaufnahme von Webers Freischütz unter Carlos Kleiber, blieb er immer der lyrische Tenor, der sich sicher zwischen Lied, Oratorium und Oper bewegte. Er setzte seine Stimme nicht unnötig Risiken aus und lebte in der Praxis den Beweis, auch als lyrischer Tenor eine andauernde internationale Karriere machen zu können.

Sein Publikum bekam immer hundert Prozent Schreier geboten – und damit die hohe Kunst des Gesangs. So auch bei den Schumann-Liedern der neuen Sammelbox. Seit Jahrzehnten mit diesen Aufnahmen vertraut, habe ich sie mit Gewinn und innerer Anteilnahme neu auf mich wirken lassen. Da war es wieder, dieses Staunen über technische Perfektion und Disziplin, die sich aus dem Wort entwickelt und nie verselbstständigt. Und doch vermisste ich auch etwas. Nämlich ein gewisses Wagnis, den Versen eine stärkere persönliche Note beizumischen, sich einer dramatischen Situation mit mehr Überschwang hinzugeben. „Du meine Seele, du mein Herz.“ Der Anfang von Widmung, einem der berühmtesten Lieder des Komponisten, könnte etwas weniger kontrolliert klingen. Schreier bewahrt immer die Contenance. Deshalb sollte man auch nicht von ihm verlangen, was nicht in seinen Diensten steht.

Robert Schumann gezeichnet von Adolph von Menzel Foto: Wikipedia

Die Box versammelt das Beste des Liedkomponisten. Frauenliebe und -Leben ist freilich nicht dabei. Dieser Zyklus wurde im Rahmen der Eterna-Edition von Arleen Auger gesungen, wobei nicht Shetler sondern Walter Olbertz begleitete. Mit Dichterliebe dürfte Schreier eine seiner besten Leistungen gelungen sein, die auch nach fünfzig Jahren noch ihre jugendliche Frische bewahrt hat. Eine der rätselhaftesten Schöpfungen Schumann sind die Zwölf Gesänge von Joseph Eichendorff im Liederkreis op. 39 – ein Gipfelpunk der deutschen Romantik. Für Schreiers stimmliche Fähigkeiten ein Selbstläufer in vollendeter Diktion. Die Töne sind exakt miteinander verbunden, einer geht nahtlos in den anderen über. Gleich im ersten Lied rauscht die „schöne Waldeinsamkeit“ wie sie schöner nicht rauschen kann. Auch wenn in der Mondnacht der Himmel tatsächlich die Erde zu küssen scheint, kommt es mir so vor, als ob Schreier bei eingeschalteter Lampe singt und nicht aus dem Dunkel heraus. Er bleibt das Geheimnis schuldig. „Hast du einen Freund hienieden, trau‘ ihm nicht zu dieser Stunde.“ In Zwielicht sollten einem diese zwei Verszeilen den Atem stocken lassen. Bei Schreier klingen sie eine Spur zu nett. Und warum weint nun die Braut im fröhlichen Hochzeitszug auf dem Rhein im Lied Auf einer Burg, während oben auf dem Felsen der auf der Lauer sitzende Ritter zu Stein geworden ist? Der Sänger scheint weniger dran interessiert zu sein, über die Gründe nachzusinnen. Er vermittelt eine Geschichte. Das ist ja auch immerhin etwas. Man muss dem Interpreten seine eigene Erzählperspektive zubilligen und sich als Zuhörer darauf einlassen.

Adolph Menzel malte Clara Schmidt von Knobelsdorff in biedermeierlicher Tradition. In der CD-Edition finden sich keine Hinweise auf die Coverbilder.

Geboten werden auf den fünf CDs einhundertzwölf Lieder. Neben den bereits genannten Zyklen sind dies der Liederkreis op. 24, die Zwölf Gedichte von Justinus Kerner op. 35, Sechs Gedichte von Nikolaus Lenau und Requiem (altkatalonisches Gedicht) op. 90, Fünf Lieder op. 40 sowie zahlreiche einzelne Lieder aus unterschiedlichen Werkgruppen. Mal sind die Textdichter genannt, mal nicht. Hier sind eigenes Wissen und Recherche gefragt. Für eine Sammlung, die auf dem Titel den Anspruch erhebt, eine Lied-Edition zu sein, sind das nicht die allerbesten Voraussetzungen. Schließlich ist auch schlicht vergessen worden, die Herkunft der Bilder auf den einzelnen CD-Hüllen, die den ETERNA-Schallplatten nachempfunden sind, zu benennen. Sie stammen von Adolf Menzel. Auf den Originalen wurde dieser Informationspflicht genüge getan. Es fanden sich dort auch alle Angaben über die die Dichter der literarischen Vorlagen. Wer seinerzeit die Texte nachlesen wollte, musste sie in Büchern nachschlagen. Bei Heine, Goethe oder Eichendorff dürfte das noch relativ einfach gewesen sein. Wer aber hatte schon eine Ausgabe von Geibel, Lenau oder Rückert im Regal? Heute tut’s ein Blick ins Internet. Rüdiger Winter

Romantik pur

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Joseph von Eichendorff gehört zu den am häufigsten vertonten deutschen Dichtern. LiederNet, die Onlinedatenbank, die sich ausschließlich dem Liedgesang widmet, weist ganz konkret 1640 Kompositionen in dieser Kategorie nach, die sich auf 340 Texte des Romantikers, der von 1788 bis 1857 lebte, beziehen. Es sind die großen Namen der Zunft dabei. Neben Schumann, Brahms, Mendelssohn, Strauss, Pfitzner, Mendelssohn, Wolf finden sich Cornelius, Franz, Marschner, Thuille, Korngold, Sommer, Lassen, Schoeck oder Eisler. In der Datenbank wird auch Friedrich Kiel geführt, der erst im CD-Zeitalter zu neuen Ehren kam. Der 1885 in Berlin gestorbene Kiel war in seiner Zeit ein sehr angesehener Musikpädagoge, der selbst komponierte. Der Tenor Georg Poplutz hat ihn für sich entdeckt. Für seine bei Spektral erschienen CD Nur über uns die Linde rauscht (SRL4-22198) berücksichtigte er mit „Sage mir, mein Herz, was willst Du?“ und „Bist Du manchmal auch verstimmt“ zwei Lieder aus Opus 31. Sie sind ausgesprochen hörenswert – pointiert und prägnant in der Ausführung. Als nähmen sie musikalische Ausdrucksformen von Hugo Wolf vorweg, von dem fünf Lieder, darunter Der verzweifelte Liebhaber, zu hören sind.

Besonders interessant wird es, wenn dieselben literarischen Vorlagen von unterschiedlichen Komponisten vertont worden sind. Im Programm gibt es dafür ein Beispiel-Gedicht: „Es weiß und rät es doch keiner“ von Felix Mendelssohn, welches in Robert Schumanns Liederkreis op. 39 unter dem originalen Titel Die Stille auftaucht. Es gehört zu den besonders oft in Noten gesetzten Werken Eichendorffs. Die von Mendelssohn gewählte komplette Fassung bewahrt formal mehr Eigenständigkeit, während sich das von Schumann um den dritten Vers gekürzte Gedicht gedanklich nahtlos in den Zyklus einfügt, der den Mittelpunt der Neuerscheinung bildet und auch so platziert ist. Der Sänger und sein Pianist Rudolf Lutz sind hörbar bemüht, auf den Liederkreis nicht mehr künstlerischen Enthusiasmus und Hingabe zu verwenden als für das übrige Programm. Die Heraushebung ergibt sich ganz von selbst durch die Genialität des Werkes. Zur Dramaturgie der Einspielung, die in Kooperation mit dem Deutschlandfunk erfolgte, gehört es wohl auch, dass der Liederkreis von zwei ausgesprochenen Meisterwerken eingerahmt ist – und zwar von Schumanns Der frohe Wandersmann und von Mendelssohns Nachtlied. Das passt ganz ausgezeichnet.

Der Außenseiter Friedrich Theodor Fröhlich folgt weiter hinten. Der 1803 geborene schweizerische Romantiker, der in Berlin bei Zelter studierte und auch mit Mendelssohn bekannt war, fühlte sich nach der Rückkehr in seine Heimat künstlerisch nicht genug gewürdigt hatte auch mit erheblichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Er schied 1835 freiwillig aus dem Leben. Sein Lied Das zerbrochene Ringlein, das mit einer der berühmtesten Zeilen, nämlich „In einem kühlen Grunde“ beginnt, hat eine eingängige Melodie, die aber durchaus auch auf andere Verse passen würde. Die Magie, die selbst aus der zum Volkslied mutierten Weise entspringt, der Pastor und Komponist Friedrich Glück (1793-1840) dazu erfand, bleibt Fröhlich schuldig.

Der Literaturwissenschaftler und Autor Rüdiger Safranski sieht in Eichendorff nicht den „Dichter der Heimat, sondern des Heimwehs, nicht des erfüllten Augenblicks, sondern der Sehnsucht, nicht des Ankommens, sondern der Abfahrt“. Das macht ihn offenbar auch für zeitgenössische Komponisten anziehend. Die neue CD stellt diese Aktualität heraus indem ein Bogen von der Romantik in die Gegenwart gespannt wird. Der musikalisch sehr vielseitige Rudolf Lutz aus der Schweiz, der Poplutz am Klavier begleitet, ist auch als Komponist hervorgetreten und hat Eichendorff-Gedichte vertont. Zu hören sind zwei einzelne Lieder, eine Bearbeitung seines schon erwähnten Landsmanns Fröhlich sowie als Finale ein Zyklus aus sieben Liedern. Sie vertragen sich stilistisch sehr gut mit dem übrigen Programm, ohne dass sie kompositorisch angepasst sind. Vielmehr scheint sich Lutz tief in die Gedankenwelt Eichendorffs eingelassen zu haben und hat musikalisch heraufbefördert, was die Zeiten überdauert hat. Sein Sänger ist ihm dabei mit seiner Sensibilität und genauen Aussprache sehr behilflich. Alle Texte sind im Album abgedruckt worden. Elisabeth Binder hat ihrem lesenswerten „kleinen Versuch über Joseph von Eichendorff“ den Titel Wozu Dichter in „gnadenloser Zeit“ gegeben. Einen Text zu den Liedern von Lutz steuerte Ingo Müller bei. Rüdiger Winter

Zum Abschied Richard Strauss

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Elektra auf der Bühne ohne Strich? Eine Neuerscheinung von Sterling (CDA-1867/1868-2) weckt eine falsche Hoffnung. Der Box mit dem Mitschnitt des Strauss-Einakters vom 4. Mai 1996 aus dem Königlichen Opernhaus Stockholm liegt ein Libretto mit dem kompletten Text der großen Szene zwischen Elektra und Klytämnestra bei. „Was bluten muss? Dein eigenes Genick, wenn dich der Jäger abgefangen hat!“ Im Original folgte darauf eine Flut von Gewaltfantasien, mit denen die gedemütigte Tochter die Mutter konfrontiert. In der Praxis wird diese Stelle auf etwa ein Drittel zusammengekürzt – auch, um die Solistin zu schonen. Die unerschütterliche Birgit Nilsson hat den Strich im Decca-Studio gemeinsam mit dem Dirigenten Georg Solti aufgemacht und damit dieser Aufnahme einen einzigartigen Stempel aufgedrückt. In Stockholm wurde das Experiment durch Laila Andersson-Palme, die 1941 geborene Landsmännin der Nilsson, aber nicht wiederholt. Track 11 der ersten CD ist offenbar irrtümlich der vollständige Text zugeschlagen worden. Gesungen wird er nicht. Muss er auch nicht zwingend. Denn in der Kürze spitzt sich die Situation viel rascher und damit auch wirkungsvoller zu.

Der Mitschnitt in breitem Stereo hält eine höchst spannende Aufführung fest, mit der die Sängerin der Titelpartie Abschied von der ersten Opernbühne ihres Landes nahm. Noch bevor das Orchester zu Beginn wie ein Beil niederfährt, ist ein gellender Schrei zu vernehmen, auf den man auch als Hörer nicht gefasst ist. Es kann nicht schaden, vorsorglich den Lautstärkepegel abzusenken, denn es bleibt nicht bei einem Schrei. Siegfried Köhler ist am Pult auch nicht eben zimperlich und dirigiert eine insgesamt dramatisch aufgeheizte Vorstellung mit vielen rasanten Akzenten der Blechbläser, die man so noch nicht zu vernehmen glaubte. Er war damals Hofkapellmeister in Schwedens Hauptstadt. Für Laila Andersson-Palme fand eine lange und erfolgreiche Karriere ihren fulminanten Abschluss. Sie hatte etwa hundert Rollen gesungen und war Mitte fünfzig. Obwohl gewisse Verschleißerscheinungen nicht zu überhören sind, gelingt ihr mit Professionalität und Erfahrung ein eindrucksvolles mitleidsvolles Porträt der Königstochter, die ihr Dasein im Hinterhof bei den Hunden fristen muss. Alle anderen einheimischen Mitwirkenden sind stimmlich bestens disponiert: Gunilla Söderström (Klytämnestra), Anita Soldh (Chrysothemis), Gunnar Lundberg (Orest) und Lennert Stregard (Aegisth). Niemand lässt sich zu grellen Übertreibungen verleiten. Der Dirigent achtet wohl auch streng darauf, dass die Oper gesungen und an keiner Stelle gesprochen wird. Alle Mitwirkenden sind gut bis sehr gut zu verstehen sind. Sie bezeugen das hohe künstlerische Niveau an diesem Haus.

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Die schwedische Sopranistin Laila Anderson-Palme sang so gut wie alles. Von der Königin der Nacht in der Zauberflöte bis hin zur Elektra, Salome, Brünnhilde und Ortrud. Dazwischen Lulu, Marschallin im Rosenkavalier, Butterfly, Tosca, Lady Macbeth und die Marie in Bergs Wozzeck. Palme im Doppelnamen rührt von ihrer Ehe mit dem renommierten Schauspieler Ulf Palme (1920 bis 1993) her. In allen Sopranlagen unterwegs, gilt sie als eine der vielseitigsten Sängerinnen. Sterling, das 1980 in Stockholm gegründete Label, hat ihr auch ein Doppelalbum gewidmet (CDA-1806/1807-2). Es ist prall gefüllt, lässt nicht eine Minute frei und bildet die Breite ihres Rollenspektrums ab. Auch Lieder gehören dazu. Allein fünf Titel – darunter Morgen, Meinem Kinde und Die Nacht – stammen von Richard Strauss. Musik aus ihrem Heimatland ist bei der Programmauswahl stiefmütterlich behandelt worden. Gerade mal fünf Liedern sind für Ture Rangström abgefallen, nur zwei für Wilhelm Stenhammar. Beide waren Zeitgenossen von Strauss und haben in Berlin studiert und dort Impulse empfangen, die auch herauszuhören sind. Das Opernrepertoire in der Edition ist ausschließlich deutschen und italienischen Ursprungs. Warum nur? Er wurde eine Chance verpasst, die Sängerin auch mit mehr Werken ihrer Heimat vorzustellen, die im Rest Europas weiterhin unbekannt sind. Offenbar mussten die Herausgeber aber auch an die Verkaufszahlen denken, was verständlich ist. Wagner, Strauss, Verdi, Puccini und Mozart gehen eben nach wie vor besser als schwedische Musik. Selbst wenn sie schwedisch gesungen werden wie das Schlussterzett aus dem Rosenkavalier, die Arien der Königin der Nacht, die Butterfly und die Wozzeck-Marie.

An wen erinnert mich die Stimme von Laila Andersson-Palme? An Anja Silja. Die Höhe ist sehr ähnlich, gleißend, grell, manchmal gar gellend, die Tiefe wenig ausgeprägt. Ihre Faszination ist eine andere. Nämlich diese unerschrockene, ja erbarmungslose Vielseitigkeit, die keine Herausforderung scheut. Auf der Bühne muss das stark gewirkt haben. Teile des Publikums lieben diesen Kitzel, wenn das Scheitern mit einer künstlerisch anspruchsvollen Aufgabe in der Luft liegt. In der Schlussszene der Salome kann das leicht passieren, passiert ihr aber nicht. In der Box ist ein Mitschnitt aus der Deutschen Oper in Berlin vom 27. Februar 1984 unter der Leitung von Heinrich Hollreiser zu finden, in dem sie sich erstaunlich wacker schlägt. Neben Elektra dürfte Salome zu ihren größten Erfolgen gehört haben. Sogar an der Met ist sie damit 1981 in einer Vorstellung nachgewiesen. Auftritte gab es auch an der Wiener Staatsoper, in Rio de Janeiro und in Gelsenkirchen.

Aus der dänischen Stadt Aarhus hat sich das Finale der Walküre mit Leif Roar als Wotan erhalten. Mit gut dreißig Minuten ist es der größte Brocken der Edition – und hinterlässt auch den stärksten Eindruck. Wer Aufnahmen dieses Werkes hinterher ist, wird dankbar sein für diese unverhoffte Ergänzung der Sammlung. Sie ist eine entschlossene Brünnhilde, die ihre stählerne Höhe heftig  gegen den zornigen Vater einsetzt wie Peitschen. „Was hast Du erdacht, das ich erdulde?“ Atemlos und gehetzt wirft die Andersson-Palme die Frage hin, dass sich ihre Kritiker wieder versöhnen mit ihr, weil sie der Wahrheit des Moments durch Ausdruck so nahe kommen kann. Diese Edition ist ein Werk der Liebe, nicht des Schöngesangs. Rüdiger Winter

Entdeckungsreise

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.Gelangt eine neue CD mit Philippe Jaroussky auf den Markt, ist es nicht damit getan, einfach mal reinzuhören. Schon gar nicht nebenbei. Und wenn dann noch die geheimnisvoll lächelnde Christina Pluhar gleichberechtigt auf dem Cover in Erscheinung tritt, dürfte endgültig klar sein, dass es nicht nur um Gesang geht. Beide sind seit fünfzehn Jahren künstlerisch eng verbandelt. Sie scheinen sich gesucht und gefunden zu haben. Gemeinsam begeben sie sich auf Entdeckungsreisen, bei denen sie ungeahnte musikalische Erlebnisse und Erfahrungen zutage fördern. Der Franzose Jaroussky ist mit seinem Countertenor, die Österreicherin Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata, das sie im Jahre 2000 gründete. Für das Publikum in der Rolle des Mitreisenden lohnte es sich allemal. Es kommt voll auf seine Kosten. Obwohl hinter allen künstlerischen Darbietungen die Kernerarbeit der musikwissenschaftlicher Forschung zu ahnen ist, die Hörer – ob in den Konzertsälen oder an den Lautsprechern – merken davon fast nichts. Im Vortrag dominieren Spielfreude und gehobene Unterhaltung über historische Erkenntnisse und Informationen. Und nie umgekehrt. Ihr gemeinsames Album Passacalle de la Follie ist bei Erato erschienen (5054197221873). Es widmet sich der französischen Hofmusik des 17. Jahrhunderts. Aus einer Zeit also, in der in Italien das Madrigal in seiner späten Blüte stand.

Im mehrsprachigen Booklet, das zudem reich bebildert ist, beschäftigt sich der Musikwissenschaftler Alessio Ruffatti mit den historischen Hintergründen, die sich als weit weniger galant darstellen als es das CD-Programm verheißt. „Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts ist in politischer Hinsicht eine für Frankreich und das übrige Europa turbulente Zeit.“ Mit Königsmorden wurde der Kampf um die Macht ausgetragen. „Dabei waren dieselben Protagonisten dieser blutigen Zeit auch große Kunstliebhaber„, weiß Ruffatti. So habe Ludwig XIII. (1601-1643) gemalt, komponiert, Gitarre gespielt und leidenschaftlich getanzt. Sein Bruder und politischer Widersacher Gaston de Bourbon (1608-1660) „verfügte über eine Gruppe von Sängern und ein ganzes Orchester“. Höfische Vokalmusik dieser Zeit – meist handelt es sich um Liebeslieder – ist als Air de Cour in die Musikgeschichte eingegangen. Der Name leitet sich von Air für Lied und Cour für Hof her. Zentrales Instrument ist die Laute. Christina Pluhar, die als Lautenistin auch international einen guten Ruf genießt, ist mit der Neuerscheinung wieder ganz in ihrem Element. Sie spielt vornehmlich eine Theorbe, die zur Familie der Lauteninstrumente gehört und sich durch einen verlängerten Hals auszeichnet. Und sie hat die meisten Titel auch selbst so arrangiert, dass das dunkel timbrierte virtuose Potenzial dieses Instruments voll ausgeschöpft wird. Vier instrumentale Zwischenspiele wie die Improvisation von Les Folies d’Espagne nach Marin Marais, einem Schüler von Lully und Robert de Visèe, einem berühmten Pluhar-Vorgänger am Hof Ludwig XIV. geraten zu Höhepunkten, die den Gesang nicht vermissen lassen. Mit ihnen stehen die Namen anderer bedeutender Vertreter der französischen Hofmusik, darunter von Gabriel Bataille, Antoine de Boësset, Michel Lambert, Etienne Moulinié und Pierre Guédron, in der Trackliste aus insgesamt sechzehn Nummern.

Jaroussky hat seine Kunst von der atemberaubenden Virtuosität mit den nicht enden wollenden Koloratur-Kaskaden längst in ehr sanfte Bereiche verlegt. Sein stimmliches Spektrum gewann an Tiefe im Ausdruck, wenngleich die technische Ausführung inzwischen auch an Grenzen kommt. Hohe Töne klingen oft angestrengt – und in meinen Ohren nicht sonderlich schön. Dabei bleibt der frivole Charme dieser Lieder, deren Texte sich auch in deutscher Übersetzung im Booklet finden, hin und wieder auf der Strecke. Trotz alledem ist der 1978 geborene Sänger von seiner unverwechselbaren Stimmarbe her der Alte geblieben. Wo Jaroussky draufsteht, ist auch Jaroussky drin. Rüdiger Winter

Einschließlich Heft sieben

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Die Deutschen Volkslieder von Johannes Brahms liegen nun komplett bei Naxos vor. Vol. 3 der neuen Edition mit sämtlichen Liedern des Komponisten enthält die verbliebenden zwei Hefte (8.574346). Bei den Volksliedern handelt es sich um Bearbeitungen überlieferter Vorlagen. Mit den Quellen beschäftigt sich Ulrich Eisenlohr, der Klavierbegleiter der Edition, im Booklet. Brahms habe sich vor allem aus der Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen“ der Volksliedforscher Andreas Kretzschmer (1775-1839) und Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1803-1869) bedient, die etwas siebenhundert Titel aus dem deutschsprachigen Raum umfasst. Zuccalmaglio, der dreißig Jahre nach Kretzschmer starb, sei es in seiner Forschung „nicht um eine wissenschaftliche Rekonstruktion akribisch gesammelter und konservierter Volksweisen, unabhängig von jeder künstlerischen Qualität gegangen“. Vielmehr habe er Wert auf den „Geist“ des Volksliedes gelegt, wozu Eisenlohr „Ursprünglichkeit, Einfachheit, Klarheit, Tiefe, Wahrhaftigkeit im Inhaltlichen wie im Musikalischen“ zählt. Diese Herangehensweise sei von Brahms ganzem Herzen unterstützt worden. Zuccalmaglio veröffentlichte Texte und Melodie. „Brahms‘ künstlerischer Beitrag besteht im Hinzufügen einer Klavierbegleitung. Er begnügte sich dabei keineswegs mit dem Unterlegen simpler Begleitfiguren und akkordischer Grundierungen. Es herrscht große Vielfalt an Ausarbeitungen des Klavierparts“, so der Pianist. Alle Lieder, die Brahms bearbeitet habe, handelten von Geschichten, die das Leben schreibe. Auch wenn die äußerlichen Situationen, die Berufe der handelnden Personen und die Sprache „uns heute antiquiert klingen“, seien Inhalte, die sich um Liebeserklärungen und -abweisungen, Treueschwüre und -brüche, zu Herzen gehende und vergiftete Komplimente, Verführungsversuche, Sex ohne Einverständnis oder Tod in der Blüte des Lebens drehten, immer aktuell.

Insofern macht es Sinn, dass sich junge Sänger, die noch am Beginn ihrer Karriere stehen, diesen Liedern zuwenden und dabei ihren eigenen Erfahrungen und Empfindungen einbringen. Teilen sich in den meisten Aufnahmen zwei Solisten in die Sammlung, wartet Naxos gleich mit vier in unterschiedlichen Stimmlagen auf: Alina Wunderlin (Sopran), Esther Valentin-Fieguth (Mezzosopran), Kieran Carrel (Tenor) und Konstantin Ingenpaß (Bariton). Und noch etwas unterscheidet diese Volkslieder-Einspielung von ihren Vorgängern: Sie ist komplett, enthält auch das siebte Heft, dessen Titel für Vorsänger und kleinen Chor – hier die vier Solisten – angelegt sind. Dadurch kommt noch zusätzlich eine gewisse theatralisch-singspielartige Atmosphäre auf, die ihren ganz besonderen Reiz hat. Nach Auffassung des Pianisten Eisenlohr öffnen sich durch die Wechselgesänge neue Ebenen des Musizierens. Komplettiert wird das Programm der CD mit den Volkskinderliedern. Brahms hatte sie den Kindern von Robert und Clara Schumann gewidmet. Hierbei sei die musikalische Faktur und Ausführbarkeit des Klaviersatzes einfach und „kindgerecht“, so Eisenlohr. Für die Liedauswahl gelte das nicht immer. So gehöre das Heidenröslein mit seiner sexuell konnotierten Symbolik trotz „vordergründig naiver Erzählweise nicht in den Bereich des Kindlichen“.

Startet eine Firma eine neue Gesamtaufnahme aller Lieder ist dies immer noch ein besonderes Ereignis auf dem Musikmarkt. Zuletzt hatte Hyperion aus London so eine Edition mit insgesamt 249 Titeln einschließlich der Volksliedbearbeitungen vorlegt. Diese abgezogen beläuft sich die einschlägige Abteilung im Schaffen von Brahms auf etwa 200 originäre Lieder. Wer die Texte näher besehen oder beim Hören mitlesen möchte, findet sie auf Naxos.com. Sie können in der Originalsprache sowie in englischer Übersetzung heruntergeladen werden. Die genaue Seite ist auch diesmal auf der CD-Hülle angegeben. Ein – wie ich finde – Papier sparender und praktischer Service, an dem man sich bei dieser Firma inzwischen gewöhnt hat. Aufgenommen wurde die neue CD 2021 ebenfalls im nach dem Dirigenten Hans Rosbaud benannten Studio des SWR in Baden-Baden. Rüdiger Winter

Wagner-Wunder in HD

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Keine Aufführung hat die Bayreuther Festspiele im 20. Jahrhundert nachhaltiger geprägt als Patrice Chéreaus bahnbrechende Inszenierung von Wagners Ring des Nibelungen. Die Aufführung von 1976 schrieb Operngeschichte. Sie setzte sich nach anfänglicher Skepsis und heftigen Protesten der konservativen Fraktionen des Publikums im Laufe der Jahre eindrucksvoll durch. Heute gilt sie als unabdingbare, nicht zu hintergehende Modernisierung des Wagner-Bildes der Gegenwart. Chéreau hatte die Bayreuther Szene mächtig aufgewühlt. Seine Idee, das Setting des Rings ins frühe Industriezeitalter zu verlegen, verlieh Wagners schillernder Mythenwelt eine ungeahnte Aktualität.

Der französische Theatermann konfrontierte das Publikum mit den sozialen Problemen der Arbeitswelt und stellte die traditionelle Logik am Grünen Hügel völlig auf den Kopf. Weisheitliche und heroische Gestalten wie Wotan oder Siegfried traten als herrschsüchtig und heuchlerisch in Erscheinung. Dagegen verwandelten sich typische Bösewichte wie Alberich oder Mime in Opfer der Gesellschaft. Alles roch nach Veränderung in jenem Jahr 1976, in dem die Bayreuther Festspiele ihr hundertjähriges Bestehen feierten.
Chéreau war der erste Nicht-Deutsche und mit 31 Jahren der jüngste Regisseur, der in Bayreuth inszenieren durfte. Ihm zur Seite stand der große Komponist und Dirigent Pierre Boulez, der im Orchestergraben eine musikalische Revolution anzettelte. Boulez verlangte dem Festspielorchester einen kammermusikalischen Ton ab, dessen entschiedene Pathosferne komplett den Gewohnheiten des opulenten Wagner-Ideals widersprach, heute jedoch gerade deshalb, der klanglichen Finesse wegen, Bewunderung hervorruft.

Eine wuchtige Wirkung entfaltete das Bühnenbild. Richard Peduzzi veranschaulichte mit einfachen Mitteln wie einem mächtigen Räderwerk oder einem überdimensionalen Dampfhammer die ästhetische Faszination und unheimliche Atmosphäre der frühen Industriewelt. Unter den Sängerstars des glänzenden Castings der Aufführung, die bis 1980 lief, stachen Gwyneth Jones als Brünnhilde, Peter Hofmann in der Rolle des Siegmund und Donald McIntyre als Wotan hervor.

Jetzt erscheint die revolutionäre Inszenierung erstmals auf Blu-ray Video, neu gemastered in HD-Qualität. Die sinnliche Qualität der Ausgabe ist enorm. Man wird hautnah an das Bühnengeschehen herangeführt und erlebt den poetischen Reichtum der Musik ganz neu. Neben den vier Discs mit den Opern wartet die Edition mit einem Making-of der Inszenierung auf. Die Dokumentation gewährt faszinierende Blicke hinter die Kulissen der Aufführung. Deutsche Grammophon / 0736180 (Quelle Universal)

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Gemessen an der Bedeutung, welche dem „Jahrhundertring“ zugesprochen wird, nimmt es wunder, dass über vierzig Jahre verstreichen mussten, ehe eine technisch adäquate Umsetzung der vielleicht berühmtesten Nachkriegsproduktion der Bayreuther Festspiele auf den Markt kommt. Nun legt Deutsche Grammophon/Unitel endlich ein zeitgemäßes Remastering dieser Jubiläumsproduktion der Wagner-Tetralogie auf fünf Blu-ray-Discs (inklusive The Making of) vor (00440 073 6180). Anlass war die 1976 anstehende 100. Wiederkehr der kompletten Erstaufführung des Rings des Nibelungen. Verantwortlich zeichnete das fast ausschließlich französische Team um Pierre Boulez (Dirigent, assistiert von Jeffrey Tate), Patrice Chéreau (Regie), Richard Peduzzi (Bühnenbild), Jacques Schmidt (Kostüme), Manfred Voss (Lichtgestaltung) und François Regnault (Dramaturgie). Besonders die beiden erstgenannten Namen gingen dadurch in die Geschichte ein, wobei landläufig tatsächlich zurecht in erster Linie vom Chéreau-Ring die Rede ist. Die künstlerische Gesamtleitung oblag dem Bayreuther Festspielleiter Wolfgang Wagner, dessen eminenter Anteil am Zustandekommen des Mammutprojektes nicht unterschlagen werden darf. Tatsächlich war Chéreau gar nicht die erste Wahl, sollte doch ursprünglich der Regisseur Peter Stein herangezogen werden, was sich aufgrund künstlerischer Differenzen indes zerschlug. Wie mutig es von Wolfgang Wagner eigentlich war, dann ausgerechnet den „Erbfeind“ mit der Neuinszenierung zu betrauen, erschließt sich aus heutiger Sicht nicht mehr auf den ersten Blick, doch war die formale deutsch-französische Aussöhnung durch Konrad Adenauer und Charles de Gaulle seinerzeit erst knapp anderthalb Jahrzehnte her. Damit nahm der bis dahin im Vergleich zu seinem verstorbenen Bruder Wieland als biederer Bewahrer geltende Wolfgang den Zorn des ihm lange wohlgesonnen Bayreuther Kreises in Kauf. Dass es gerade in Frankreich schon immer besonders eifrige Wagnerianer gab, ist freilich genauso richtig. Dies merkte Frau Winifred Wagner im Zuge des fünfstündigen Dokumentarfilms von Hans-Jürgen Syberberg, der im Vorjahr 1975 entstand, gleichsam erklärend an. Dass ihr bereits nach der Generalprobe dann der Ausspruch „Jetzt sind wahrhaft die Irren los“ entfuhr, wie der Spiegel berichtet (Ausgabe 32/1976), muss im Kontext der Zeit betrachtet werden. Tatsächlich war die Schwiegertochter Richard Wagners nicht die einzige Kritikerin des „Franzosenrings“. Alte und neuerdings überwunden geglaubte Ressentiments traten im Zuge der streitbaren Premierenaufführungen im Sommer 1976 zu Tage. Die erregte Stimmung des noch zu einem guten Teil aus Altwagnerianern bestehenden Publikums steigerte sich von Abend zu Abend, wie man anhand der Live-Rundfunkmitschnitte des BR anschaulich nachvollziehen kann. Im Laufe der Zeit hatte man sich Trillerpfeifen organisiert, mit denen vor allem die Aufführung der abschließenden Götterdämmerung zeitweise fast zum Erliegen gebracht wurde. Einige Sänger im Premierenjahr hielten nicht groß hinterm Berg mit ihrem Unverständnis hinsichtlich dessen, was sich auf der Bühne tat. Dies dürfte mitunter zu Umbesetzungen geführt haben, wie sie sich in den späteren Wiederaufnahmen der Produktion manifestierten. Dass der „Jahrhundertring“ überhaupt fünf Jahre im Programm bleiben konnte, war nach der ganz überwiegenden und teils geradezu aggressiven Ablehnung im Premierenjahr alles andere als gewiss. Tatsächlich kehrte im Laufe der Zeit mehr und mehr Ruhe ein, was freilich auch daran gelegen haben dürfte, dass sich mancher erzkonservative Gralshüter demonstrativ nicht mehr auf dem Grünen Hügel blicken ließ.

Dass es zum Abschluss dieser am Ende bereits legendären Produktion zu einer filmischen Umsetzung im Zuge einer Koproduktion des Bayerischen Rundfunks mit Unitel kam, darf aus heutiger Sicht durchaus als Glücksfall bezeichnet werden. Von Anfang an war primär an eine Fernsehausstrahlung gedacht, was auch das dort seinerzeit übliche Format 4:3 erklärt. Die Fernsehregie führte Brian Large. Aufgezeichnet wurden die vier Ring-Teile in den beiden letzten Jahren der Inszenierung 1979 (Götterdämmerung) und 1980 (Das Rheingold, Die Walküre, Siegfried). Zunächst wurde die Walküre am 29. August 1980 als einziger Teil im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt; die weiteren Opern folgten sukzessive, wobei es erst im Zuge des Wagner-Jahres 1983 (100. Todestag) zu einer vollständigen Ausstrahlung des kompletten Rings kam. Die weitere Genese für den Privatgebrauch ist durchaus interessant. 1981 erschienen die Tonspuren auf 16 LPs bei Philips. Später kam die Videoproduktion bereits auf dem heute vergessenen Format als CD Video (einer Kombination von CD und Laserdisc) heraus. Es folgten Anfang der 1990er Jahre die Audiospuren auf CD sowie die Videos auf VHS. 2005 schließlich kam dieser Ring als DVD-Box auf den Markt. Ihnen allen gemein ist die technisch nicht besonders überzeugende Machart, die eher erahnen als erfahren ließ, was den „Jahrhundertring“ auszeichnet. Dies lag zum einen an der suboptimalen Bildqualität, zum anderen aber gerade auch am dumpfen und wenig kontrastreichen Klang. Dass diese Produktion ihre volle Wirkung nur als Einheit von Ton und Bild erzielen kann, liegt auf der Hand. Beides muss auf hohem Niveau sein. Dies ist nun zum ersten Mal überhaupt der Fall, denn gerade beim Klang (24-Bit Stereo PCM und DTS-HD Master Audio Surround 5.1) wurde kaum mehr für möglich Gehaltenes erzielt. Das Bild ist nun schärfer und detaillierter denn je, wenngleich man natürlich keine heutigen Standards erwarten sollte und das altmodische Bildformat für den modernen Zuschauer auch erst einmal etwas gewöhnungsbedürftig anmuten kann.

All diese technischen Belange treten allerdings sogleich in den Hintergrund, sobald man den Einstieg wagt. Mit dem Vorabend, also dem Rheingold, beginnt die monumentale Tetralogie. Das schon ikonisch gewordene erste Bild mit dem Staudamm ist als unmittelbarer Startpunkt genial gewählt. Wie wichtig wirkliche Sängerschauspieler für den nachhaltigen Erfolg des Gesamtkunstwerkes im wagnerischen Sinne sind, ist bei Hermann Bechts Alberich erfahrbar. Die Anfangsszene mit den drei Rheintöchtern (Norma Sharp als Woglinde, Ilse Gramatzki als Wellgunde, Marga Schiml als Floßhilde) lässt im Grunde nichts zu wünschen übrig. Auch zeigt sich bereits hier, welch guter Kenner der Partitur Chéreau war, dessen Gesamtkonzept, im industriellen Zeitalter angesiedelt, nur mit Bauchschmerzen unter „modernes Regietheater“ einzuordnen ist und herzlich wenig mit dem zu tun hat, was sich heutzutage auf den Bühnen abspielt. Mit Hanna Schwarz tritt eine resolute Fricka ihrem Göttergatten Wotan, verkörpert von Donald McIntyre, entgegen. Bereits hier lässt sich das spätere Unheil erahnen. Allvaters fast schon kindische Naivität wird von Donner (Martin Egel) und Froh (Siegfried Jerusalem) – beide unübersehbar der Dekadenz verfallen – zu Ungunsten Freias (Carmen Reppel) geteilt. Der Unmut der (wirklich riesenhaften) Riesen Fasolt und Fafner, großartig dargestellt von Matti Salminen und Fritz Hübner, ist hier sehr nachvollziehbar. In einer absoluten Glanzrolle geht Heinz Zednik als listiger, durchaus skrupelloser Feuergott Loge auf. Den Reigen ergänzen adäquat Helmut Pampuch als Mime und Ortrun Wenkel in der Partie der Erda. Die Überlistung Alberichs, dessen sich anschließender Fluch und die Warnung Wotans durch die Urwala dürfen also weitere Höhepunkte gelten. Die sich am tiefsten einprägende Szene ist allerdings der Einzug der Götter in Walhall, das bereits hier auf tönernen Füßen steht. Unfreiwillig komisch und halb widerwillig folgt die unsterbliche Schar Wotan in den herrlichen Bau, während der vom eigenen Bruder ermordete Fasolt, das erste Opfer des verfluchten Rings, als böses Omen den „Vorgarten“ ziert. Loge indes seilt sich sich mit süffisanter Miene rechtzeitig ab. Er ist es dann auch, der vielsagend den Vorhang zuzieht.

Der erste Tag, die Walküre, genießt inmitten des Ring-Zyklus seit jeher eine Sonderstellung. Fraglos kann sie am ehesten auch für sich allein genommen bestehen, was auch für die Chéreau’sche Deutung gelten darf. Der erste Aufzug, häufig konzertant gegeben, steht und fällt mit den drei Protagonisten. Peter Hofmann als Wälsungenspross Siegmund erlebt man, sängerisch wie darstellerisch, in der Rolle seines Lebens. Dass das „Hofmann-Bashing“ später in gewissen Kreisen zum guten Ton gehörte, nimmt diesem unglaublichen Urerlebnis nichts von seiner Wirkung. Hier wird erfahrbar, wieso der seinerzeit blendend aussehende Tenor von den ganz großen Dirigenten wie Herbert von Karajan, Leonard Bernstein und James Levine umworben wurde. Vom späteren traurigen und allzu verfrühten Niedergang glücklicherweise noch keine Spur. Mit Jeannine Altmeyer hat er eine kongeniale Zwillingsschwester Sieglinde an seiner Seite, der man die Unschuld vom Lande ohne Wenn und Aber glaubwürdig abnimmt. Als nicht zu unterschätzende Komponente, die selbst in der goldenen Glanzzeit des Wagnergesangs selten genug erfüllt war, muss die ungemein adäquate Optik des Wälsungenpaares gelten. Vortrefflich auch Matti Salminen als saturierter und selbstgefälliger Hunding. Dass Peduzzi den Hundingsbau gewaltig und durch seine Kälte abweisend zugleich zeichnet, darf als künstlerische Freiheit ebenso durchgehen wie das in der Partitur nicht vorgesehene Gefolge Hundings, das dessen gesellschaftlichen Status freilich gut unterstreicht. Dies gilt letztlich auch für den zweiten Aufzug, der zu einem guten Teil im Innern Walhalls sich abspielt. Donald McIntyres Wotan, nicht mehr jugendlich frisch, sondern auf der Höhe des Lebens, erweist sich letztlich als Pantoffelheld, Hanna Schwarz‚ Fricka hörig. Mit Gwyneth Jones tritt erstmals die namensgebende Titelfigur in Erscheinung. Obwohl gerade einmal zwei Jahre jünger als McIntyre, ist das Vater-Tochter-Verhältnis sehr glaubhaft. Die zeitlose Todesverkündigungsszene mit dem weißen Leichentuch dürfte Generationen von Bayreuth-Pilgern fest im Gedächtnis verankert geblieben sein. Im dritten Aufzug tritt bekanntlich die übrige Walkürenschar hinzu (Carmen Reppel als Gerhilde, Karen Middleton als Ortlinde, Katie Clarke als Helmwige, Gabriele Schaut als Waltraute, Marga Schiml als Siegrune, Ilse Gamatzki als Grimgerde, Gwendolyn Killebrew als Schwertleite, Elisabeth Glauser als Rossweiße), die letztlich außer Stande ist, der vermeintlich verräterischen Schwester beizustehen. Wotans Zorn dämpft sich sukzessive ab und mündet im herzergreifenden Abschied, der eine Meisterleistung der Personenführung darstellt. Die Reminiszenz des Walkürenfelsens, der an Böcklins Toteninsel gemahnt, ist seither breit rezipiert worden.

Der Siegfried stellt als zweiter Tag gewissermaßen das Scherzo des Rings dar und ist bis heute in gewisser Weise das Stiefkind geblieben. Mehr als alle anderen Ring-Opern hängt dieser Teil an einer einzigen Figur, was Teil des Dilemmas sein kann. Mit Manfred Jung konnte man einen bewährten und insgesamt guten Rollenvertreter vorweisen, obschon man ihm gerade den Jung-Siegfried äußerlich nur schwer abnimmt. Hier erwies sich der Wegfall René Kollos, der diese Partie bis in der Produktion bis 1978 verkörpert hatte, als nachteilig. Umso überzeugender dafür abermals Heinz Zednik, diesmal als Mime. Man geht wohl nicht zu weit, in Zednik den größten Rolleninterpreten des vergangenen halben Jahrhunderts zu erblicken. Er zeichnet den intriganten Nibelung nicht nur als Witzfigur. Weitere Highlights sind die Auftritte des Wanderers, vor allem im ersten und dritten Akt, wo Donald McIntyre zunächst noch zum letzten Mal gebieterisch den Ton angibt, um dann am Ende vom eigenen Abkömmling verlacht und aller Macht entkleidet zu werden. Die kurze aber einprägsame Szene mit Alberich (wiederum Hermann Becht) hat ihren Reiz. Fritz Hübners abermaliges Auftreten als Fafner ist von Chéreau letztlich sehr textnah umgesetzt worden. Die kurzen Einstreuungen des Waldvogels, gesungen von Norma Sharp, sind ähnlich überzeugend wie Erdas (Ortrun Wenkel) letztmaliges Erscheinen. Gwyneth Jones‚ wiedererweckte Brünnhilde, erst ganz am Schluss auftretend, zeigt stimmlich hier deutlicher als noch in der Walküre stimmliche Defizite, die indes den Gesamteindruck kaum trüben.

Mit der Götterdämmerung wird am dritten Tag sodann die Tetralogie beschlossen. Die einleitende Nornenszene (verkörpert von Ortrun Wenkel, Gabriele Schnaut und Katie Clarke) führt eigentlich vor Augen, dass die Würfel bereits gefallen sind. Die Morgendämmerung und das sich anschließende große Duett stellen den Höhepunkt des Vorspiels dar, welches Wagner beinahe schon als eigenen Akt dem Geschehen voranstellte. Hier wird durch Siegfried und Brünnhilde, unverändert Manfred Jung und Gwyneth Jones, noch einmal die euphorische Stimmung vom Finale des Siegfried aufgegriffen. In dem Maße, in welchem Jung als gereifter Held augenfälliger herüberkommt, werden andererseits berechtigte Kritikpunkte hinsichtlich der Stimmführung der Jones ebenso offenkundiger. Indes gilt nach wie vor, dass die Wirkung als großes Ganzes keine merklichen Einbußen erfährt. Der nachfolgende eigentliche erste Götterdämmerungs-Akt gilt nicht ganz zu Unrecht als Bewährungsprobe. Bei allzu statischer und wortundeutlicher Ausführung kann es mitunter etwas mühselig werden. Diese Gefahr besteht erfreulicherweise mitnichten, erzeigen sich doch nicht nur der Hagen Fritz Hübners, sondern erstaunlicherweise auch der von Franz Mazura dargebotene Gunther als große Interpreten. Gerade der oftmals blasse Gibichungenherrscher gewinnt hier an Format. Dass Siegfried gleichwohl zunächst Hagen für den Herrn hält, führt Gunther die Bedrohung durch den eigenen Halbbruder vor Augen. Auch als Gutrune weiß Jeannine Altmeyer für sich einzunehmen und wird Teil des Komplotts gegen den Heroen. Dass sich Hermann Bechts Alberich, letztmalig in Erscheinung tretend, der Treue seines Sohnes Hagen nicht vollauf gewiss sein kann, ist unübersehbar. Zwar ist Hübner nicht der stimmgewaltigste Nachtalbensprössling – so beim Mannenruf, allerdings sehr gekonnt szenisch vom erstmals auftretenden Chor unterstützt –, doch erscheint sein heimtückischer Mord dadurch auf seine Art auch nachvollziehbarer. Siegfried, der ohne eigenes Zutun zum Eidbrüchigen wird, steuert unaufhaltsam seinem traurigen Schicksal entgegen. Das nochmalige Auftreten der Rheintöchter (neuerlich Norma Sharp, Ilse Gramatzki und Marga Schiml) als letzte Chance zum unblutigen Ausgang ist zum Scheitern verurteilt. Eine der stärksten visuellen Szenen gelingt Chéreau während Siegfrieds Trauermarsch, was freilich auch der gekonnten Fernsehregie von Brian Large hoch anzurechnen ist, der mittels Nahaufnahmen den Eindruck des Volkes einfängt, ein filmisches Element, welches auch ganz am Ende nach Brünnhildes Schlussgesang wirkungsvoll angewandt wird.

Es bleibt insgesamt ein gewaltiger Gesamteindruck, angesichts dessen die ganz wenigen Kritikpunkte zu Marginalitäten verkommen. Pierre Boulez erweist sich als sehr gediegener Begleiter, der sich niemals in den Vordergrund drängt und die volle Konzentration somit auf das Bühnengeschehen ermöglicht. Es gibt insofern gewiss emotionalere Ring-Dirigate, doch passt Boulez‘ nüchterner Ansatz gut ins hier angestrebte Gesamtkonzept. Das einstündige Making of bietet schließlich interessante Einblicke in die Hintergründe dieser Produktion. In der Summe kann angesichts der hervorragenden Aufbereitung eine volle Empfehlung auch an diejenigen ausgesprochen werden, die den „Jahrhundertring“ bereits in einem Vorgänger-Format vorliegen haben (alle Fotos Unitel/DGG). Daniel Hauser

Mit und ohne Orchester

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Die Versuchung, Lieder von Franz Schubert zu orchestrieren, hält sich hartnäckig. Schon Zeitgenossen wie Hector Berlioz haben sich damit versucht. Dessen hochdramatische Bearbeitung des Erlkönig hat ihre Faszination bis in die Gegenwart behalten und ist oft eingespielt worden. Hermann Prey hat die Ballade als einer der ersten Sänger bei RCA auf einer Platte mit zahlreichen anderen Bearbeitungen eingespielt. Neben Berlioz finden sich darauf die Namen von Johannes Brahms, Franz Liszt, Jacques Offenbach und Richard Strauss. Anne Sofie von Otter und Thomas Quasthoff legten ein Album vor, auf dem sich auch Orchestrierungen von Benjamin Britten und Anton Webern (Deutsche Grammophon) finden. Bei Erato entstanden Einspielungen mit Wiebke Lehmkuhl und Stanislas de Barbeyrac. Besonders oft taucht in den Tracklisten der Name Max Reger auf. Von ihm ist überliefert, dass er für seine feinsinnigen Orchestrierungen einen ganz praktischen Grund hatte. Als Dirigent setzte er Lieder gern auf seine Konzertprogramme zwischen sinfonische Werke. Es störte ihn, dass dafür immer ein Konzertflügel aufs Podium geschoben werden musste. Also versah er sie mit Orchesterstimme. Sämtliche Versionen sangen Camilla Nylund und Klaus Mertens komplett für eine CD bei cpo.

Matthias Goerne geht mit seiner neuen CD, die bei Deutsche Grammophon erschienen ist, einen ganz anderen Weg (500741). Er greift nicht auf Vorhandenes zurück. Die Orchesterstimmen stammen allesamt von Alexander Schmalcz, seinem langjährigen Begleiter. Er hat neunzehn Titel im Programm, darunter Ganymed, Fahrt zum Hades, Schäfers Klagelied, Drei Gesänge des Harfners, Des Schäfers Liebesglück, Alinde. Selbstreden ist auch Erlkönig dabei. Grenzen der Menschheit mit gut sieben Minuten ragt nicht nur wegen seines schwergewichtigen Inhalts sondern auch der Form nach deutlich heraus. Goerne ist des Lobes voll über die Arbeit von Schmalcz und folgt dessen Eingebungen mit stimmlicher Professionalität und Hingabe zugleich: „Sein Einfallsreichtum bei der Adaption dieser Lieder für das Orchester ist enorm, sein stilistisches Feingefühl und sein subtiler Ansatz, die richtigen Instrumente im richtigen Moment einzusetzen, sind wirklich erstaunlich. Die Auswahl an Liedern bekommt eine klangliche Dimension, die das Klavier so nicht darstellen kann. Das heißt nicht, dass sie besser ist, sondern anders“, so der Sänger, der von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter der Leitung von Florian Donderer begleitet wird.

Anders“– das trifft es. Wenn nicht sogar – ganz anders. Wer sich darauf einlassen will und kann, dem sind spannende und durchaus unterhaltsame Momente garantiert. Ich habe mich nicht eine Minute gelangweilt mit dieser CD. Verglichen mit weiter oben genannten Beispielen führen die Bearbeitungen von Schmalcz nach meinem Empfinden zu sehr von Schubert weg, als dass sie ihn viertiefen. Allenfalls illustrieren sie ihn. Das kann durchaus positive Wirkungen haben auf jenen Teil des Publikum, der sich mit dem klassischen Klavierlied noch immer schwer tut. Musikalische Einleitungen wie bei Heimweh, Pilgerreise oder dem das Programm abschließenden Abendstern klingen wie auch Passagen innerhalb einzelner Lieder fast einschmeichelnd. So gehört, hat CD hat die Potenzial, Anstöße für die vertiefte Beschäftigung mit dem Original zu geben.

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Mit dem Original also, wie es auf der CD mit dem Bassisten Andreas Bauer Kanabas anzutreffen ist, die bei Avi-music erschien (8553516). Begleitet wird er von Daniel Heide. Im Zentrum der Neuerscheinung steht Schuberts Schwanengesang, jene Sammlung, die erst nach seinem Tod zu ihrem Namen kam. Zunächst sind Der Wanderer, Totengräbers Heimweh, Der Tod und das Mädchen sowie Wehmut im Angebot. Diese Balladen sind ein gelungener Einstieg. „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück“, singt der Wanderer, der vom Gebirge her kommt. Und umreißt mit diesen bekannten Worten die Gedanken- und Gefühlswelt des Komponisten. Bauer, der erst seit wenigen Jahren den Zusatz Kanabas in seinem Namen trägt, verleugnet nicht den Opernsänger, als der er vorzugsweise tätig ist. Sein Liedvortrag entwickelt sich aus dem Wort und der jeweiligen dramatischen Situation. Das muss kein Nachteil sein, zumal er sehr gut zu verstehen ist. Er vermag, regelrecht plastisch zu singen. Atlas oder Doppelgänger wuchtet er stimmlich so hin, als stünden sie vor einem. Bei ausgesprochen lyrischen Titeln greift diese Methode nicht so überzeugend. Da wünschte man sich doch mehr Eleganz und mehr Farbe iom Ausdruck. Rüdiger Winter

Gleich drei heilige Könige

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Im Schaffen von Hugo Wolf bilden die Lieder nach Texten von Goethe einen gewaltigen Block. Im Werkverzeichnis folgen sie unmittelbar auf die Mörike-Vertonungen. Entstanden sind die insgesamt einundfünfzig Titel zwischen Oktober 1888 und Februar 1889. Kaum eine Sängerin, kaum ein Sänger, die sich nicht daran versucht hätten. Die ganz großen Namen der Zunft sind dabei. Allen voran Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau. In Reclams Liedführer, der bei Musikfreunden, die sich näher mit dem Genre beschäftigen, in Reichweite steht, wird unter Bezug auf diese Lieder von der unglaublich gut entwickelten Fähigkeit Wolfs gesprochen, sich „in fremde Geisteswelten einzufühlen“. Er dürfte die genialen und Maßstäbe setzenden Goethe-Vertonungen seines 1828 gestorbenen Landsmanns Franz Schubert gut gekannt haben. Das Publikum kannte sie auch. „Wenn sich Wolf nun mit Schubert maß, tat er es in der Überzeugung, ihn an Wahrheit des Ausdrucks und Schärfe der Charakterisierung übertreffen zu können und wählte Gedichte die besonders abgelegene und extreme Regionen seines Dichtwerks bezeichnen.“

Stone Records hat die Lieder im Rahmen einer Hugo-Wolf-Edition neu vorgelegt. Erschienen sind sie auf zwei einzelnen CDs – part 1 (5060192780918) und part 2 (5060192780932). Aufgenommen wurden sie den Angaben im Booklet zufolge bereits 2013 in Oxford. In England gibt es eine bemerkenswert lange Tradition bei der Pflege von Wolfs Liedern. Sie reicht bis in die 1930er Jahre zurück. 1931 wurde von der Firma HMV in London eine Schallplatten-Society ins Leben gerufen, die bis 1938 reichte. Deren Ziel war es, Aufnahmen der Wolf-Lieder durch Subskriptionen einem interessierten Käuferkreis zugänglich zu machen. Die Plattenauflage ausgewählter Liedgruppen sollte durch jeweils fünfhundert Alben limitiert sein. Mehr als zwanzig Goethe-Lieder sind auch dabei. Als erste Solisten wurde Elene Gerhardt aus Deutschland gewonnen. Ihr folgten zahlreiche andere namhafte Sänger wie Elisabeth Rethberg, Ria Ginster, Marta Fuchs, Herbert Janssen, Gerhard Hüsch, Alexander Kipnis. Über die künstlerische Qualität wachte der Musikproduzent Walter Legge, mit dessen Namen die Edition fortan eng verbunden ist. In neuem Remastering ist sie mit dem ursprünglichen EMI-Logo noch immer im Handel. Die originalen Platten sind inzwischen gesuchte Sammlerstücke.

Die neue Einspielung greift die Idee auf, die Lieder von mehreren Sängern vortragen zu lassen. Damit verbreitert sich das Ausdrucksspektrum ganz automatisch. Beteiligt sind zehn Solisten in allen Stimmlagen: Louise Alder, Sophie Bevan, FFlur Wyn (Sopran); Katarina Karnèus, Rowan Hellier (Mezzosopran); Adrian Thompson (Tenor); Roderick Willians, John Chest (Bariton) Neal Davies, Jonathan Lemalu (Bass-Bariton). Begleitet werden sie von englischen Pianisten Sholto Kynoch, der seinem Instrument so wunderbare dunkle Töne entlocken kann. Liedgruppen, die auch inhaltlich zusammengehören, bleiben in einer Hand. Die Lieder der Mignon – ein, wenn nicht der Höhepunkt innerhalb der Goethe-Gruppe – singt die Schwedin Katarina Karnèus mit dramatischem Aplomb, der manchmal die ganz feinen und schwebenden Töne vermissen lässt. Sie legt großen Wert auf sprachlicher Exaktheit, um auch des Dichters Wort gerecht zu werden, das schließlich gleichberechtigter Teil des Werkes ist. Nicht immer wird das so konsequent umgesetzt. Davies, der englische Bass-Bariton, erzeugt mit den Harfenspieler-Gesängen eine bedrückende Stimmung, in die er seine Hörer regelrecht hineinzieht, ist aber nicht immer so gut zu verstehen wie es eigentlich nötig wäre. Es bietet sich an, in Epiphanias die heiligen drei Könige einmal mit verteilten Rollen auftreten zu lassen und zwar durch Rowan Hellier, Adrian Thompson und Roderick Willians während FFlur Wyn als Erzählerin die den Rahmen der Geschichte übernimmt. Rüdiger Winter

Paul Dessaus „Lanzelot“

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Uraufführungen der Opern von Paul Dessau an der Berliner Staatsopern waren stets Veranstaltungen der besonderen Art. Lukullus in seinen beiden Fassungen, Puntila und Lanzelot gingen noch weit vor meiner Zeit in Ostberlin erstmals über die Bühne. Bei Einstein (1974) sowie Leonce und Lena (1979) war ich selbst unter den Zuschauern. Es war nicht so, dass ich wild erpicht auf die Musik gewesen wäre. Ein Eingeständnis, mit dem ich gewiss nicht allein stand. Es war das Theaterereignis selbst, das magisch anzog. Der Cäsarenkopf des charismatischen Komponisten war schnell ausgemacht auf dem Stammplatz im ersten Rang. Im Publikum viele bekannte Gesichter der Musik- und Kunstszene aus Ost und West. Dessau war gut vernetzt. Regisseurin aller Uraufführungen war Ruth Berghaus, die Ehefrau des Komponisten. Man konnte also sicher sein, die Werke so authentisch zu sehen und zu hören wie es dem Schöpfer vorschwebte. Die Verurteilung des Lukullus, Puntila, Einstein sowie Leonce und Lena erschienen bei der DDR-Firma Eterna auch auf Platten. Den Puntila dirigierte Dessau sogar selbst. Lanzelot wurde nicht eingespielt. Audite holt dies jetzt mehr als fünfzig Jahre nach der Uraufführung am 19. Dezember 1969 nach. Die Firma veröffentlichte den Mitschnitt einer Vorstellung im Deutschen Nationaltheaters Weimar vom 23. November 2019 (23.448).

Warum kam in der DDR keine Aufnahme zustande? Zufall? Wohl kaum. Der Komponist hatte seine Oper anlässlich des 20. Jahrestages der Gründung der DDR „allen, die in unserer Republik für den Sozialismus kämpfen und arbeiten“, gewidmet. Dessau dürfte aber nicht Dessau gewesen sein, wenn da nicht auch dialektische Hintergedanken im Spiele gewesen wären, die auch die verantwortlichen Funktionäre um Partei- und Staatschef Walter Ulbricht, der seinerzeit noch im Amt war, verstanden. Lanzelot verschwand nach weiteren Aufführungen Anfang der siebziger Jahre in München und Dresden in der Versenkung. Die literarische Vorlage ist das satirische Schauspiel der Drache des russischen Schriftstellers Jewgeni Schwarz, der sich überlieferter Märchenstoffe bedient, um die politischen Verhältnisse in seiner sowjetischen Heimat satirisch unter die Lupe zu nehmen. Obwohl sein Drache den Hitlerfaschismus symbolisierte – das Stück entstand 1943 unter dem Eindruck der Blockade Leningrads durch deutsche Truppen – wurde schnell klar, dass Schwarz auch eine überzeitliche Botschaft vermitteln wollte. Unter der Herrschaft des mystischen Untieres, in einem totalitären Staatswesen also, richten sich Menschen ein, fühlten sich versorgt und geschützt. Und bringen es zu einem gewissen Wohlstand, wenn sie denn nicht aufbegehren. Schließlich wird nicht der Unterdrücker sondern der potentielle Befreier von diesem Zustand als Bedrohung wahrgenommen. Nicht zufällig ist die titelgebende Gestalt bei Dessau Lanzelot, der Drachentöter. Das Libretto verfasste der für sein literarisches Interesse am Leben in Diktaturen bekannte Dramatiker Heiner Müller gemeinsam mit der Übersetzerin Glinka Tscholakowa. Es kann – dies ein beispielhafter Service – auf der Audite-Seite im Netz gemeinsam mit weiteren Materialien heruntergeladen werden.

Paul Dessaus „Lancelot“ in Weimar/ Szene/ Foto Candy Welz

Dessau, der Kommunist, glaubte an die zutiefst bürgerlich geprägte Kategorie Oper. „Ich jedenfalls betrachte diese komplexe Großform des Theaters, in der so vielfältige Kunstgattungen wie Musik, Dichtung. Pantomime, Tanz, Gesang, Sprechgesang (wie ihn Arnold Schönberg inaugurierte) einander ergänzend und steuernd ihre Platz finden, als das ausdrucksstärkste Genre, um die großen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit künstlerisch zu beleuchten“, schrieb er im Programmheft zur Uraufführung. Das Zitat findet sich auch im Booklet-Text der Audite-Neuerscheinung des Musikwissenschaftlers Michael Struck-Schloen. Schlaglichtartig offenbart es ein Problem. Man kann eine Opernproduktion auf CD nur hören – und nicht sehen. Dessau aber braucht die Bühne und die sprichwörtlicher Theaterluft. Die ausdrucksstärken bunten Bühnenfotos aus Weimar vermitteln von der Inszenierung durch Peter Konwitschny zwar einen starken Eindruck von dem prallen, oft die Szene wechselnden Geschehen, das Theatererlebnis selbst müssen sie letztlich schuldig bleiben.

Paul Dessau: 80. Geburtstag beim Solidaritätskonzert des Berliner Ensembles/ (1974)/ ADN-ZB Katscherowki-15.12.74 Berlin:  V.l.n.r.: Kurt Hager, Ruth Berghaus, Intendatin des „Berliner Ensambles“; Werner Rackwitz, Stellvertreter des Ministers für Kultur der DDR; Paul Dessau und Hans-Joachim Hoffmann, Minister für Kultur der DDR./ Wikipedia/ Bundesarchiv, Bild 183-N1215-0008 / Katscherowski (verehel. Stark), / CC-BY-SA 3.0

Der Mitschnitt unter der Leitung des Chefdirigenten für die Sparte Musiktheater, Dominique Beykirch, verlangt auch an den heimischen Lautsprechern nach einem aufmerksamen und neugierigen Publikum, das bereit ist, ein weithin völlig unbekanntes Stück kennenzulernen. Wer nach guten Kopfhörern greift, hat mehr davon. Die pralle Bühnenatmosphäre rückt dann noch dichter heran. Ein Manko der Aufnahme wird dadurch allerdings nicht geringer – die eingeschränkte Wortverständlichkeit, die im Theater weniger auffällt, weil die Bühnenaktionen aus sich heraus auch erklärend wirken. So wundert es nicht, dass diese Wiederentdeckung in der Stadt Goethes und Schillers zu einem einhelligen Erfolg geriet. Einem Erfolg, an dem neben Dirigent und Regisseur die maßgeblichen Solisten Emily Hindrichs (Elsa) Máté Sólyom-Nagy (Lanzelot), Oleksandr Pushniak (Drache), Juri Batukov (Charlesmagne), Wolfgang Schwaniger (Bürgermeister), Uwe Stickert (Heinrich), Daniela Gerstenmeyer (Kater) und Andreas Koch (Medizinmann) maßgeblichen Anteil hatten. Rüdiger Winter

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Lancelot als Opernstoff: Der Germanist Michael Waltenberger hat den Topos des Lancelot in der Oper in einem Aufsatz (in Mittelalterrezeption im Musiktheater: Ein stoffgeschichtliches Handbuch, De Gryuter 2021) untersucht und schreibt dort: Die Lancelot-Opern des neunzehnten Jahrhunderts konzentrieren sich in der Mehrzahl auf eine ganz bestimmte Episode aus dem weiten Handlungskreis um Lancelot, nämlich auf die krisenhafte Komplikation seiner heimlichen Beziehung zu Ginover durch die Liebe der Jungfrau von Escalot, die von ihm abgewiesen wird und aus Kummer stirbt (…).

Der Germanist Michael Waltenberger/ Autor des nebenstehenden Artkels/ Professor für Germanistische Mediävistik an der Ludwig-Maximilian-Universität München (hier Einzelheiten zur Person)

Noch vor dem mittelalterlichen Prosaroman wird der Lancelot-Stoff durch einen Versroman Chretiens de Troyes schriftliterarisch manifest: Der um 1170 entstan­dene Chevalier de la charrette exponiert bereits das dilemmatische Liebesdreieck zwischen dem Königspaar und dem besten Ritter der Tafelrunde. Nur wenige Jahr­zehnte später entsteht dann der französische Lancelot en prose, der nicht nur die Geschicke des Helden zu einer vollständigen Biographie erweitert, sondern diese auch noch in eine Gesamtchronik des Artusreichs einbettet und durch die Integra­tion des Gralsstoffs vor einen heilsgeschichtlichen Horizont rückt (… und) wird schon bald durch vorgeschaltete Teile (Estohe del Saint Graal – Estoire de Merlin) zum Lancelot-Gral-Zyklus erweitert. Dutzende von Manuskripten, dann auch eine Reihe von Drucken überliefern den Roman kontinuierlich vom dreizehn­ten bis zum beginnenden sechzehnten Jahrhundert; vielfältige Varianten entste­hen durch Bearbeitungen, Kompilationen und durch Kontamination mit anderen höfisch-ritterlichen Stoffen. Schon im Mittelalter weitet sich die Rezeption durch Ausläufer in mehrere europäische Literaturen aus.(…)

Paul Dessaus „Lancelot“/ Szene aus der Generalprobe im Dezember 1969 Staatsoper Berlin,  mit Siegfried Vogel und Reiner Süß, Dir. Herbert Kegel)/ youtube

Die Konjunktur dieser Episode als Opernstoff ist ein Epiphänomen ihrer breiten zeitgenössischen Popularität und der reichen literarischen wie bildkünstlerischen Rezeption ihrer Bearbeitung durch Alfred Lord Tennyson (1809-1892/ 1833 und revidiert 1842 Ballade The Lady of Shalott nach einer italienischen Novellenversion des dreizehnten Jahrhunderts). Auf Tennysons Idylle basieren unter anderem die Libretti der Lancelot- Opern von Charles Parry (entstanden 1884-1886) oder auch Victorin de Joncières (UA 1900 … u. a, ).

In vielen Fällen hat allerdings weniger Tennysons differenzierte romantische Psychologisierung (…) inspiriert, sondern eher das dra­maturgisch hochwirksame Plot-Gerüst. So reichern etwa Edouard Blau und Louis Gallet in ihrem Text für den überzeugten Wagnerianer Joncieres (1839-1903) das Geschehen mit Figuren und Handlungselementen aus anderen Prätexten an und rücken zugleich die Polarität zwischen den beiden Frauenfiguren behutsam der antithetischen Grundkonstellation des Tannhäuser (-> Dichter und Sänger) näher (Joncieres 1899). Musikalische, szenische und strukturelle Annäherungen an Richard Wagner sind selbstverständlich schon vor Joncieres zu finden. (…) (Übrigens gibt es im mittelalterlichen Lancelot en prose zwar keine erotische Spannung zwischen Lancelot und Artus, wohl aber eine enge homosoziale, mit homoerotischen Obertönen versehene Beziehung zwischen Lancelot und seinem besten Freund, dem König Galahot.). Soweit Michael Waltenberger

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Dank gilt Michael Waltenberger, Professor für Germanistische Mediävistik an der Ludwig-Maximilian-Universität München (hier Einzelheiten zur Person), und Autor des Beitrags zu Lancelot in: Mittelalterrezeption im Musiktheater: Ein stoffgeschichtliches Handbuch; herausgegeben von Christian Buhr, Michael Waltenberger. Bernd Zegowitz.; Walter de Gruyter GmbH & Co KG, 06.04.2021 – 652 Seiten, S. 305 pp: Michael Waltenberger hat uns liebenswürdiger Weise die Übernahme seiner Textpassagen gestattet. G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier

In den Tiefen der Seele

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Für seine neue CD hatte Günther Groissböck einen schönen Einfall. Er nahm Das Thal und Der Einsame von Richard Strauss ins Programm – zwei Gesänge mit der Werknummer Opus 51, die der junge Komponist während seiner Tätigkeit als erster Kapellmeister an der Berliner Hofoper dem gefeierter Bassisten Paul Knüpfer (1865-1920) widmete. Er war eine der eindrucksvollsten Erscheinungen seiner Zeit in diesem Stimmfach. Plattenaufnahmen bezeugen einen großen Stimmumfang, der auch Auftritte als Bariton gestattete, enormes Volumen, stilistische Sicherheit und große Ruhe im Vortrag. Wie Groissböck sang er den Ochs im Rosenkavalier und den Sarastro in der Zauberflöte. Strauss wusste also, für wen er komponierte und begleitete ihn auch bei der Uraufführung. Allein durch diesen historischen Hintergrund verdienen diese beiden Titel der Neuerscheinung, die bei Gramola (99280) herausgekommen ist, besondere Aufmerksamkeit, die sich auch im Text des Booklets von Christian Heidl niederschlägt: „Getragen, besinnlich mit emotionalen Aufwallungen, eine Rückschau über ein Leben – so stellt sich die Uhland-Vertonung Das Thal dar, während Der Einsame (Heinrich Heine) im Gedanken an den Verlust seiner Liebsten bei Strauss resignativ, aber doch auch in einem scheinbaren Frieden des Sängers mit sich selbst umgesetzt erscheint. Versöhnlich klingt es bei Uhland. Dessen geliebtes Tal, wo die Sonne eben erst „hinabgegangen“ ist, bietet auch Schutz vor dem Unbill des Lebens. Bitter und knapp tönt es bei Heine, der dem Einsamen die Dunkelheit mit sich herumtragen lässt, als sei sie Teil seiner selbst.

Mit den rasanten Möglichkeiten seines schwarzen Basses lässt sich Groissböck denn auch tief und immer tiefer hinab in Seelenzustände voller Finsternis, wo es nicht gemütlich, nicht heimelig ist. Für solche Extreme verfügt er über beträchtliche Ressourcen. Ihr Einsatz kostet Kraft. Dadurch geraten die inhaltlichen Dimensionen für meinen Geschmack etwas ins Hintertreffen. Und es gebricht an Wortverständlichkeit, die diesem Sänger gewöhnlich keine Probleme bereitet. Mit Zueignung, Allerseelen oder Heimliche Aufforderung wendet er sich auch solchen Liedern zu, die man vornehmlich mit Frauenstimmen verbindet. Als Bassist hat er es nicht leicht, gegen derlei Hörgewohnheiten anzugehen. Ich habe Elisabeth Schwarzkopf – und mit ihr wohl auch ein Klischee im Ohr. Groissböck bringt sich durch seinen ganz anderen Vortrag als spannende Alternative, als Erweiterung der Ausdrucksperspektive dieser Gesänge in Position.

Unstrittig als Interpret ist er mit Der Sänger, Geistesgruß und Wandrers Nachtlied des frühvollendeten österreichischen Komponisten Hans Rott, der kurz vor seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag starb. Bei der von Goethe gedichteten Säger-Ballade spart Groissböck nicht an dramatischem Impetus als stünde er in einer Oper auf der Bühne. Die dritte Abteilung der Neuerscheinung ist Gustav Mahler gewidmet. Er beginnt mit Nicht wiedersehen aus Des Knaben Wunderhorn, jenem Lied, das der gedankenschweren CD ihren Titel gibt. Groissböck schließt mit Urlicht. Das Lied ging später als vierter Satz in Mahlers zweite Sinfonie sein. Begleitet wird der Sänger vom schottischen Pianisten Malcolm Martineau, aufgenommen wurde im August vergangenen Jahres im Salzburger Mozart-Saal. Rüdiger Winter

GLANZVOLL AUFPOLIERT

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Am 23. September 1958 saßen zu nächtlicher Stunde der Decca-Produzent John Culshaw und der Dirigent Georg Solti in der Bar des Wiener Hotels Imperial beisammen. Plötzlich spazierte Culshaws EMI-Kollege Walter Legge herein und wollte wissen: „Was machen Sie hier?“ Solti entgegnete: „Wir nehmen Rheingold auf.“ Darauf Legge: „Sehr hübsch, aber Sie werden nicht einmal fünfzig Schallplatten verkaufen.“ Die Anekdote wird dieser Tage oft und gern erzählt. Und das aus gutem Grund. Rheingold, der Vorabend zu Richard Wagners Ring des Nibelungen ist in einem bislang einzigartigen Remastering neu aufgelegt worden. Nicht nur als SACD (485 315-9). In Referenz an das Original, das erstmals 1959 in den Handel gekommen ist, gibt es auch eine Vinyl-Ausgabe (SXL 2101/03-B). Walküre folgt noch 2022, Siegfried und Götterdämmerung dann im nächsten Jahr. Nachzulesen ist die Geschichte im Buch „Ausgespielt – Aufstieg und Fall der Klassikindustrie“ des englischen Musikkritikers Norman Lebrecht, verlegt 2007 bei Schott. Die Aufnahme selbst begann am Tag nach der nächtlichen Begegnung in den wegen ihrer Akustik geschätzten Sofiensälen. Erste Sitzung war eine Klavierprobe mit der dreiundsechzigjährigen Kirsten Flagstad, die die Fricka sang und damit nochmals in einer neuen Rolle debütierte. Sie hatte ihre Bühnenkarriere bereits beendet, blieb gelegentlich aber in Studios tätig. Culshaw, der ihr Sohn hätte sein können, verehrte sie sehr und wollte sie ursprünglich sogar als Brünnhilde besetzen, was sich aber nicht realisieren ließ. Ihren Zenit deutlich überschritten, verbreitet sie stimmlich aber noch immer majestätische Würde, die für Wotans göttliche Gemahlin genau richtig schien. Mit ihrem legendären Ruf drückte sie der Produktion ein Gütesigel der besonderen Art auf.

Als Fricka hinterließ die einst weltweit gefeierte Wagnerheroine eine letzte leuchtende Spur auf dem internationalen Musikmarkt. Sie starb 1962. Eine Decca-Platte zu ihrem Gedenken wurde denn auch mit einer großen Szene aus dem neuen Rheingold bestückt. Die Flagstad was das mit Abstand älteste Ensemblemitglied, gefolgt von dem neun Jahre jüngeren Set Svanholm, der als Loge mitwirkte. 1908 wurde Kurt Böhme (Fafner) geboren, 1910 Paul Kuën (Mime) und Gustav Neidlinger, der mit dem Alberich seine Glanzrollen gefundene hatte. Jahrgang 1918 war die Altistin Jean Madeira (Erda), 1919 Hetty Plümacher (Wellgunde) und Ira Malaniuk (Floßhilde). Nesthäkchen ist die erst vierundzwanzigjährige Dänin Oda Balsborg (Wellgunde) gewesen. Wotan George London (1920), Fasolt Walter Kreppel (1923), Freia Claire Watson (1927) sowie Froh Waldemar Kmentt und Donner Eberhard Waechter (beide 1929) lagen dem Alter nach dazwischen. Mit der Rheingold-Besetzung standen drei Sängergenerationen vor den Mikrophonen in den Sofiensälen. Nur Neidlinger und Böhme behielten ihre Rollen auch in den folgen Teilen bei, während die Watson zur Gutrune wechselte. Für Kontinuität im Großen und Ganzen standen Solti, die Wiener Philharmoniker und die Aufnahmeleitung. Der Dirigent war 1912 in Budapest geboren worden. Obwohl bereits seit 1947 bei Decca unter Vertrag, begann sein Aufstieg zum Weltruhm erst mit dem Ring.

Legge, der gewöhnlich als weitsichtig galt und mit den von ihm betreuten Aufnahmen kräftige Akzente setzte, die bis in die Gegenwart nachwirken, hatte sich diesmal geirrt – und zwar gewaltig. Mehrfach preisgekrönt, entpuppte sich dieser Ring als eine der erfolgreichsten Produktionen der Schallplattengeschichte. Endlich konnte Wagners Bühnenweihfestspiel auch in den eigenen vier Wänden gehört werden, immer und immer wieder, bei Tag und bei Nacht. Es bedurfte keiner Notenkenntnisse, um das Werk in seiner Kühnheit und Genialität kennenzulernen. Wer wissen wollte, wie Wagner klingen kann, kam daran nicht vorbei. Selbst Skeptiker griffen irgendwann danach. In kaum einer Sammlung dürfte er fehlen. Die erste Studioaufnahme, die erst 1965 vollendet wurde, war nie von Markt verschwunden, war immer griffbereit und landete auf keinem Wühltisch in Kaufhäusern. Vor diesem Schicksal bewahrte sie auch ein angemessener Preis. Von 1967 an trat Herbert von Karajan bei Deutsche Grammophon mit seinem Ring als der große Decca-Herausforderer auf, indem er neue ästhetische Klangvorstellungen entwickelte. Das Decca-Produkt ließ sich dadurch nicht verdrängen. Rüdiger Winter

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„Die größte aller Errungenschaften in der Geschichte der Schallplattenaufzeichnung.“ Mit Superlativen sollte man bekanntlich behutsam umgehen. Und doch ist die Zuschreibung des berühmten britischen Klassikmagazins Gramophone letzten Endes zutreffend. Die bald als Goldener Ring bezeichnete Produktion, die sich über nicht weniger als sieben Jahre erstrecken sollte, war zunächst gar nicht als Gesamteinspielung der Operntetralogie Richard Wagners geplant. Verantwortlich zeichneten der visionäre englische Produzent John Culshaw (1924-1980) und der ambitionierte aus Ungarn stammende Dirigent Georg Solti (1912-1997). Chronologisch korrekt, stand das Rheingold im Herbst 1958 am Anfang. Die Reihenfolge des Nibelungenrings wurde später indes nicht eingehalten, was auch daran lag, dass Decca 1961 die Walküre zunächst unter Erich Leinsdorf vorlegte und man insofern zunächst Siegfried (1962) und Götterdämmerung (1964) unter Solti den Vorrang gab. Erst 1965 produzierte Decca dann als Abschluss des Wiener Ring-Projektes nach gerade einmal vier Jahren eine weitere Einspielung der Walküre.

Die wegen ihrer Akustik geschätzten Sofiensälen in Wien wurden zum Aufnahmestudio / Decca

Was rechtfertigt nun diese Neuausgabe? Dazu ist zunächst ein kurzer Rückblick vonnöten. Nachdem die Stereo-Langspielplatten von 1959 bis 1966 sukzessive erstmals auf den Markt kamen, erfolgte im Jahre 1984 – sicherlich angeregt durch das Wagner-Jubiläum anlässlich des 100. Todestages des Komponisten 1983 – die CD-Premiere des Culshaw/Solti-Rings. Der Produzent hat dies nicht mehr erlebt; von der Decca hatte er sich bereits 1967 getrennt und arbeitete danach einige Zeit für die BBC. Das Remastering für diese CD-Erstauflage erfolgte im seinerzeit durchaus adäquaten 16 Bit/48 kHz-Standard, galt allerdings landläufig als misslungen und dem Potential der Einspielung nur unzureichend gerecht werdend. 1997 schließlich – wohl eher zufälligerweise in Soltis Todesjahr – nahm sich Culshaws ehemaliger Assistent James Lock neuerlich der Gesamtaufnahme an. Diese Neuauflage wurde technisch verbessert in 24 Bit/48 kHz durchgeführt. Sie wurde zur Grundlage für alle weiteren Auflagen des letzten Vierteljahrhunderts und erzielte eine deutliche klangliche Verbesserung, die zumindest erahnen ließ, was Culshaw seinerzeit vorgeschwebt war. 2012 schließlich, am Vorabend eines weiteren Wagner-Jahres (200. Geburtstag), entschied sich Decca für eine Generalüberholung des 1997er Remasterings. Nach den damaligen offiziellen Angaben des Labels befanden sich die originalen Tonbänder zu diesem Zeitpunkt bereits in einem zu suboptimalen Zustand, um ein komplettes neues Remastering anzugehen.

Dies wurde von Musikkritikern verschiedentlich bereits damals in Zweifel gezogen und ein bloßer Vorwand vermutet. Aus heutiger Sicht erhärtet sich freilich der Verdacht, dass man 2012 die nicht unerheblichen Mühen scheute, die man ein Jahrzehnt später nun eben doch in Kauf nahm. Decca gibt als Grund für die Umsetzung des kaum mehr für möglich gehaltenen Unterfangens den 25. Todestag von Sir Georg Solti an. Wie dem auch sei, bleibt als Faktum, dass man nach zweieinhalb Jahrzehnten nun ein drittes Mal die Originaltonbänder heranzog und im sog. DSD-Verfahren (Direct Stream Digital) ein komplett neues Remastering in der sagenhaften Qualität von 24 Bit/192 kHz (sog. Hi-Res alias High Resolution) auf den Weg brachte.

Die Bandbreite der Dynamik der Einspielung ist nun nicht nur mittels Klangspektren nachweislich ins Unermessliche gesteigert, sondern auch hörbar noch einmal deutlich verbessert worden. John Culshaws Vision von einer audiophilen Produktion, die auch noch Generationen danach als die Referenzeinspielung gelten kann, hat sich nun, nach über einem halben Jahrhundert, womöglich doch noch bewahrheitet. Den Beweis für den wirklichen Qualitätszuwachs lieferte kürzlich bereits eine als The Golden Ring bezeichnete SACD (485 336-4) mit insgesamt klug ausgewählten Höhepunkten aus dem Ring des Nibelungen, wobei alle vier Opern gleichmäßig bedacht wurden. Bereits auf dieser Grundlage ließ sich sagen, dass es den Tontechnikern nun zum ersten Mal spektakulär gelungen ist, das in den bisherigen Ausgaben klanglich ein wenig abfallende, da am frühesten entstandene Rheingold in derselben Klanggewalt erklingen zu lassen wie den später eingespielten Rest. Geringfügige Abstriche, die man hier bisher machen musste, gehören somit der Vergangenheit an.

Dirigent Georg Solti und Decca-Produzent John Culshaw während der Aufnahmen zum „Ring“/ Foto Decca

Das nunmehr vollständig aufgelegte Rheingold (485 315-9) macht logischerweise den Anfang bei dieser hochauflösenden Edition, die bis Mai 2023 abgeschlossen sein soll. Dass sich Decca dazu entschloss, als zweites die Walküre zu berücksichtigen und somit der eigentlichen Reihung der Ring-Opern treu zu bleiben, ist ausdrücklich zu begrüßen. Es lässt sich jedenfalls festhalten, dass auch die Rheingold-Gesamtaufnahme den hohen Erwartungen, welche durch die Highlights-Disc geweckt wurden, vollumfänglich gerecht wird. Etwaige Befürchtungen, eine über die Jahrzehnte fortgeschrittene Abnutzung der Bänder könnte das Hörerlebnis beeinträchtigen, sind glücklicherweise nicht eingetreten. Die ganz wenigen Momente, wo man bei hyperkritischer Hörsitzung so etwas wie eine gewisse Bandabnutzung wähnen könnte, dürften schlicht und ergreifend an der jetzt bis ins kleinste Detail durchhörbaren Tontechnik liegen. Und selbst, wenn man in Rechnung stellte, dass die Bänder eben nicht mehr im selben Zustand vorliegen wie 1997, gilt es ohne Übertreibung hinzuzufügen, dass keine spätere Einspielung des Rheingold klanglich üppiger daherkommt als diejenige Soltis. Auch die vor einigen Jahren als Blu-ray-Audio remasterte Neuauflage der Deutsche-Grammophon-Einspielung unter Herbert von Karajan von 1967, die für sich genommen jetzt ebenfalls vorzüglich klingt, erreicht nicht ganz die Opulenz des von der Decca forcierten Klangbildes. Ganz zu schweigen von späteren Aufnahmen, wobei die unter Live-Bedingungen entstandenen wie diejenige von den Bayreuther Festspielen unter Karl Böhm (ebenfalls 1967 und später bei Philips aufgelegt) fairerweise nicht zum direkten Klangvergleich herangezogen werden sollten. Auf einen interessanten Unterschied zwischen den Einspielungen Soltis und Karajans – Ende der 1960er Jahre die einzigen erhältlichen – wies bereits der legendäre englische Musikkritiker des Gramophone Alec Robertson (1892-1982) hin: Während die Decca für das Gekreische der Nibelungen Soprane einsetzte, entschied sich die DG für Tenöre.

George London, hier als Wotan an der Met/ Wikipedia

Das künstlerische Niveau des Solti-Rheingolds ist bekanntlich auf einem später nicht mehr übertroffenen Level. Mit dem amerikanischen Bassbariton George London hatte man die idealtypische, noch eher jugendliche Verkörperung zumindest des Rheingold-Wotan verpflichtet, dem gleichwohl die natürliche und eben nicht bloß aufgesetzte göttliche Autorität zu eigen ist, die in dieser Partie unabdingbar erscheint. An seiner Seite die schon damals legendäre norwegische Wagner-Ikone Kirsten Flagstad als Fricka, deren schon etwas ältliche Klangfarbe in diesem Zusammenhang für diese Rolle durchaus als adäquat bezeichnet werden kann. Der zweite Skandinavier im Besetzungsteam, der schwedische Tenor Set Svanholm, brilliert hier in einer Altersrolle als Feuergott Loge. Luxuriöser könnten die übrigen Götter nicht besetzt sein. Mit dem aus Wien stammenden Bariton Eberhard Waechter hatte man einen absoluten Glücksgriff als Donner getroffen, dem man den Gewittergott auch glaubhaft abnimmt. Der Tenor Waldemar Kmentt, ebenfalls Wiener, gibt einen wohltimbrierten Froh. Dazu gesellen sich der jugendliche Sopran von Claire Watson als Freia und der überaus beeindruckende Alt von Jean Madeira als Erda – beide US-Amerikanerinnen. Die Nibelungen sind auf nicht weniger ausgezeichnetem Niveau. Der aus Mainz stämmige Bassbariton Gustav Neidlinger prägte die Partie des Alberich dermaßen, dass er völlig mit ihr identifiziert wurde. Seine Auftritte stellen fraglos Höhepunkte der Aufnahme dar. Mit dem Charaktertenor Paul Kuën ward zudem ein Mime aufgeboten, der nicht zur einseitigen Übertreibung neigte.

Kirsten Flagstad, die Sängerin der „Rheingold“-Fricka, starb 1962. Die Hommage-LP erschien mit einem Cover-Foto, das während der Aufnahme in Wien entstand / Decca

Das Riesenpaar besteht aus den Paradebassisten Walter Kreppel (Fasolt) und Kurt Böhme (Fafner), die verschieden genug klingen, um eine eindeutige Unterscheidung zu ermöglichen. Schließlich die Rheintöchter, bei welchen mit Oda Balsborg (Woglinde), Hetty Plümacher (Wellgunde) sowie Ira Malaniuk (Floßhilde) das hohe künstlerische noch einmal unterstrichen wurde. Bei ihnen allen ist die ausgezeichnete Diktion und Textverständlichkeit hervorzuheben, wie sie im Wagnergesang leider schon seit langem nicht mehr die Regel darstellt. Im selben Maße wie das vorzügliche Sängerensemble tragen die hier bezwingend aufspielenden Wiener Philharmoniker unter Georg Soltis begnadeter musikalischer Leitung zum Ausnahmerang dieser Produktion bei. Die orchestralen Höhepunkte kommen zuweilen beinahe orgiastisch ausgekostet daher, wobei die erste Verwandlungsmusik, die Fluchszene, Donners Hammerschlag und natürlich der Einzug der Götter in Walhall besonders zu erwähnen sind.

Das weitere Voranschreiten des klanglich nachhaltig aufgefrischten Culshaw/Solti-Rings darf von daher mit Spannung erwartet werden. Daniel Hauser

Empathie und Können

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Die Rezeptionsgeschichte der Les nuits d’été von Hector Berlioz auf Tonträgern wird von Sängerinnen dominiert. Vorgegeben ist das durch die Entstehungsgeschichte nicht. Die Lieder sind Vertonungen von Versen Théophile Gautiers aus einem Gedichtband. Dichter und Komponist kannten sich gut. Als Zyklus sind sie von vornherein nicht angelegt gewesen. Über etwa sieben Jahre erstreckte sich die Komposition. 1840 lag sie fertig vor, im Jahr darauf wurde die Klavierfassung veröffentlicht. Schon 1834 orchestrierte Berlioz Absence, in der endgültigen Reihenfolge an die vierte Position gerückt, 1856 – und damit mehr als zwanzig Jahre später – folgten die übrigen fünf Titel. Berlioz hat keine geschlossene Aufführung erlebt, sie aber dann doch als Sammlung verlegen lassen. Die Lieder wurden zu seiner Zeit nur einzeln gegeben, auch von Sängern. Davon zeugen unterschiedliche Transpositionen, die autorisiert sind. Aus Sicht des lyrischen Ichs der Dichtungen ist in den Liedern eine betont männliche Warte auszumachen. Schon im ersten Lied Villanelle wird eine Schöne zum Waldspaziergang animiert, um Maiglöckchen zu pflücken. Und im letzten Lied, L’île inconnue, lädt ein Seemann wieder eine junge Schönheit zu einer Fahrt mit unbestimmtem Ziel ein. Sie fragt nach dem Land, in dem die Liebe ewig wohne, welches für ihn aber nicht existiert. Stattdessen wiederholt er seine Einladung an das Mädchen.

Bei Erato singt Michael Spyres die Lieder in der Orchesterfassung, die sich gegen die ursprüngliche Klavierbegleitung durchgesetzt hat. Er wird begleitet vom Orchestre philharmonique de Strasbourg unter John Nelson (5054 1971 96850). Spyres hat auf CD etliche Vorgänger, darunter Nicolai Gedda, José van Dam, Jean-Paul Fouchécourt, Stéphane Degout, Ian Bostridge, Christian Gerhaher. Beim Süddeutschen Rundfunk, der sich schon in den 1950er Jahren auf Initiative seines Dirigenten Hans Müller-Kray an einer Berlioz-Renaissance versucht hatte, die zunächst folgenlos blieb, entstand eine Aufnahme mit Helmut Krebs in deutscher Übersetzung von Peter Cornelius. Selbst Komponist und dazu noch Dichter, war er am ehesten in der Lage, die Übersetzung der musikalischen Struktur des Originals anzupassen. Cornelius und Berlioz waren persönlich miteinander bekannt. Der Franzose hätte garantiert Einspruch erhoben, wären er mit der Arbeit des Kollegen nicht einverstanden gewesen. Es dürfte sich um die einzige Einspielung in deutscher Sprache handeln. Eine andere habe ich nicht gefunden.

Mich hatte bisher noch keine Interpretation durch einen Sänger, der auch auf Tonträgern nachzuhören ist, vollumfänglich überzeugt. Nicht einmal Nicolai Gedda, der in seiner Zeit ähnlich hohe Maßstäbe für Berlioz gesetzt hatte wie jetzt Spyres. Erst zweiundvierzig Jahre alt, ist der amerikanische Tenor als Énée, Benvenuto Cellini, Faust und Récitant in L’enfance du Christ im Musikbetrieb und auf CD fest etabliert. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis er sich den Liedern zuwenden würde. Nun ist es soweit. Seine Umtriebigkeit und sängerische Unerschrockenheit, die auch vor Wagners Tristan keinen Halt machte, ist bemerkenswert. Es besteht immerhin die Gefahr, dass die Stimme auf Dauer nicht mithält, was sehr schade wäre. Und dennoch scheint sich sein Repertoire, zu dem auch Händel und Mozart gehören, in der Summe in seiner Interpretation der Lieder niederzuschlagen. Er singt als Wissender. Mit sicherem Instinkt trifft er genau das, was Berlioz in seiner Zerrissenheit und Depression, in seinem Ungestüm ist. Hinter betörender, in Duft gehüllter Melancholie lauern Gefahren. Besonders in Au cimetière, jener Spukszene auf dem Friedhof mit ihrem Grabgesang, schöpft er die dissonante Vielfalt der Stilmittel von Berlioz bis zum Gehtnichtmehr aus. Dass ihn dabei der Dirigent, ein ausgewiesener Berlioz-Kenner, sicher durch Klippen führt und immer wieder aufs Neue inspiriert, steht außer Frage. Als künstlerische Partner haben sie sich gesucht und gefunden.

Gekoppelt sind Les nuits d’été auf der neuen CD, die im Oktober 2021 in Strasbourg aufgenommen wurde und die Nelsons vielgelobte Beschäftigung mit Berlioz in Strasbourg fortführt mit Harold en Italie (Joyce DiDonato sang dort nach den Troyens dto. mit Spyres ebenfalls die Nuits d´eté im Konzert). Beide Werke passen vorzüglich zusammen, weil auch in der Sinfonie ähnliche poetische Stimmungen aufkommen wie in den Liedern. Viola-Solist ist der Brite Timothy Ridout. Aufgenommen wurde im Oktober 2021 in Strasbourg. Rüdiger Winter