Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Augenzeuge Johannes

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Als Schriftsteller ist Friedrich Rochlitz (1769-1842) in der berühmten Inselbücherei verewigt. Mit dem Titel „Tage der Gefahr“ wurde 1913 sein Tagebuch der Leipziger Völkerschlacht als Bändchen Nr. 17 veröffentlicht. 1988 kam eine neue Auflage heraus. Seine anderen Schriften gerieten in Vergessenheit. Da er mit vielen seiner berühmten Zeitgenossen wie Goethe, Schiller, Wieland oder Hoffmann in Kontakt stand, taucht sein Name ehr in gedruckten Briefwechseln und in der Literaturwissenschaft häufiger als auf Buchdeckeln auf. Bekannt war er auch mit dem Komponisten Louis Spohr. Der Text seines Passionsoratorium Des Heilands letzte Stunden stammt von Rochlitz. Um das zu erfahren muss man in der neuen Aufnahme, die bei Carus (83.540) herausgekommen ist, bis zum Text im Booklet vordringen. Auf den Aufschlagseiten bleibt der Librettist, der in Wien auch Beethoven und Schubert begegnete, unerwähnt. Mit dem goldfarbenen Aufkleber „Welt-Ersteinspielung“ schmückte sich ein Plattenalbum des Werkes, das 1984 von der Internationalen Spohr-Gesellschaft als Mitschnitt aus Wiesbaden veröffentlicht  wurde und noch immer antiquarisch zu finden ist. Auch die neue Aufnahme beruht auf einem Konzert vom 31. Oktober 2023 im Bremer Konzerthaus „Die Glocke“, das vom Deutschlandfunk Kultur übertragen wurde. Anlass war die Gründung der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen vor dreißig Jahren. Mit dabei der Kammerchor Stuttgart, der von Frieder Bernius, dem Dirigenten des Oratoriums, gegründet wurde. Alles in allem ist der Live-Klang gut. Hin und wieder treten die Pauken zu stark hervor. Kommen Orchester und Chor in dramatischen Passagen gleichzeitig zum Einsatz, verlieren die Strukturen an Klarheit. Es machen greifen Dumpfheit und Gräue um sich, was nicht gewollt sein kann.

Textdichter Friedrich Rochlitz (1769-1842) auf einem Aquarell von Veit Hans Friedrich Schnorr von Carolsfeld / Wikipedia

„Das Passionsoratorium ist mit Blick auf seine textliche wie musikalische Gestaltung in mehrerer Hinsicht besonders“, vermerken Dominik Höink und Regina Werbick in ihren ausführlichen und faktenreichen Beitrag für das Booklet, in dem alle beteiligten in Wort und Bild vorgestellt werden und auch das Libretto abgedruckt ist. Obschon Rochlitz verschiedene Figuren vorsehe, die gleichsam als Beteiligte das Passionsgeschehen miterlebbar machten, handele es sich nicht um ein dramatisches Oratorium. Emotionale Interaktionen zwischen den Figuren fehlten weitestgehend. Vielmehr werde die Komposition zu Recht als „lyrisch-dramatischer Mischtyp“ bezeichnet. „Die Funktion eines Erzählers übernimmt Johannes, jedoch nicht als auktorialer Erzähler, sondern als Beteiligter, als Augenzeuge. Ungewöhnlich ist sodann der Beginn des Werkes. Zu erwarten wäre, wie in zahlreichen anderen Passionsvertonungen, ein Einbezug der Abendmahlserzählung“, so die Autoren.

Indes beginne das Werk mit dem Chor der Freunde und Freundinnen Jesu, der auf die Gethsemaneszene Bezug nehme. Mit einem Rezitativ des Johannes werde der Ortswechsel hin zum Palast des Hohepriesters vollzogen. „In der nachfolgenden Gerichtsszene erscheint Pilatus nicht, was gravierende Auswirkungen auf die Rolle der jüdischen Protagonisten hat. Dadurch ergibt sich zunächst eine Zuspitzung des dramatischen Geschehens, jedoch wird das Gericht über Jesus zugleich zu einer rein jüdischen Angelegenheit.“ Kaiphas allein trage die Verantwortung für den Tod Jesu. An dieser Figurenkonstellation sowie weiteren Stellen im Libretto zeigten sich, wie auch bei anderen Oratorien des 19. Jahrhunderts, antijüdische Elemente, heißt es in dem Text. Und weiter: „Gelegentlich wurde die in das Oratorium aufgenommene, nicht-biblische Figur des Philo mit Pilatus gleichgesetzt, was nicht plausibel ist. Vielleicht ist hier ein Rekurs auf Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias-Dichtung zu erkennen, in dem ebenfalls eine Philo-Figur erscheint.“ Mit Blick auf die Musik sei zunächst bemerkenswert, dass Spohr gänzlich auf den Einsatz von Chorälen verzichte und damit nicht, wie etwa Mendelssohn in seinem Paulus, der Tradition Bachscher Passionen folge. Darüber hinaus sei auf die Verwendung von regelrechten Auftrittsarien verwiesen. „Obschon vielfach kontrapunktische Gestaltung die Nummern prägt und bisweilen Einflüsse barocker Vorbilder, etwa die Oratorien Georg Friedrich Händels oder die Bachschen Passionen, ausgemacht worden sind, so ist der persönliche Stil Spohrs jedoch unverkennbar, weshalb Des Heilands letzte Stunden mit einiger Berechtigung als herausragendes Passionsoratorium des 19. Jahrhunderts gelten kann“, vermerken beide Autoren.

Das Oratorium verlangt acht Solisten, denen die handelnden Figuren zugeordnet sind. Als Maria ist Johanna Winkel mit innigem Sopran als einzige Sängerin im Männerensemble zu hören. Florian Sievers (Tenor) bringt die zahlreichen Rezitative des Johannes mit großer Klarheit und Deutlichkeit zum Vortrag. Maximilian Vogler (Tenor) ist Jesus, Arttu Kataja (Bass) Petrus, Thomas E. Bauer (Bariton) Judas, Felix Rathgeber (Bariton) Kaiphas und Magnus Piontek (Bass) Philo. Rüdiger Winter

Suche nach Licht und Schatten

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Es braucht eine gehörige Portion Ausdauer, ein musikalisches Vorhaben in dieser schnelllebigen Zeit auf vier Jahre anzulegen – und zwar auf Konzertpodien und im Studio. 2028 wird der 200. Todestag von Franz Schubert begangen. Im Hinblick darauf brachten der Bariton Samuel Hasselhorn und sein Pianist Ammiel Bushakevitz bereits im Herbst 2024 ihre Schöne Müllerin heraus (HMM 902720). Mit der CD „Licht und Schatten“ folgte jetzt der zweite Titel (HHM 902747). Bis 2028 sollen Winterreise und Schwanengesang vorliegen. Das Projekt richtet sich nach Angaben des Labels an eine neue Generation des Lied-Publikums und widmet sich der Frage, inwieweit Schuberts Lieder für unser Leben im 21. Jahrhundert relevant seien und wie diese Verbindung hör- und erfahrbar gemacht werden könne. Schubert starb am 19. November 1828 einunddreißigjährig in Wien. „Wir unternehmen den Versuch, in jene Zeit zurückzukehren und uns der Lieder von Schubert genau 200 Jahre nach ihrer Entstehung anzunehmen“, lassen Hasselhorn und Bushakevitz ihr Publikum im Booklet der Neuerscheinung wissen. „Unser harmonia-mundi-Projekt lädt also nicht nur zu einer Reise in die Vergangenheit ein, sondern blickt auch in die Zukunft!“ Es bleibt also spannend.

Lenkt die Müllerin zumindest scheinbar ins Freie und auf Wanderschaft, entstanden die meisten Lieder der neuen CD abseits der Schubertschen „Sommerfrischen während der Winter- und Frühjahrsmonate“ der Jahre 1824 und 1825 in Wien, wie der Musikwissenschaftler Roman Hinke im Booklet vermerkt. Somit fallen sie in der Spätphase des Schaffens. „Ihre Themen kreisen vordringlich um die zeittypischen Motive Sehnsucht und Einsamkeit, berühren dabei aber auch die grundlegenden Aspekte der Ichsuche, des metaphysischen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, zwischen Individuum und Ganzheit der Welt.“ Dabei würden Licht und Schatten eng ineinandergreifen. Hasselhorn und sein Begleiter, der auch mit einigen passend ausgewählten Klaviersolostücken – Länder und Deutsche Tänze – in Erscheinung tritt, versuchen sich in der kontrastreichen Darstellung dieses aufregenden Wechselspiels. Ihre thematisch inspirierte Programmgestaltung erweist sich erneut als Mehrwert an sich. Die Auswahl macht‘s. Nummern werden nicht vornehmlich nach dem stimmlichen Vermögen und den persönlichen Neigungen des Solisten ausgewählt wie das bei den meisten historischen Einspielungen Brauch gewesen ist. Vielmehr sollen die inhaltliche Zusammenhänge und Bezüge zwischen den Liedern deutlich, das Wissen um den Komponisten und sein Werk vertieft werden. Das hat auch seinen Preis.

Hasselhorn zögert nicht, ihn zu zahlen. Denn einige Titel habe es in sich. Gleich an dritter Stelle begibt er sich mit dem Lied bei Die Allmacht, für das er gut fünf Minuten braucht, an hörbare Grenzen, was gewollt zu sein scheint. Mutig testet er sich aus. Für Ausdruck wird Schöngesang geben. Und auch aus dem Flügel hat man selten so berstende Töne vernommen: „Groß ist Jehova, der Herr! Denn Himmel und Erde verkünden seine Macht!“ Dass Hasselhorn seinem Wesen nach ein sehr sensibler und feinsinniger Interpret ist, davon legt der weitere Programmverlauf reichlich Zeugnis ab. Obwohl seine Stimme dramatischer und größer geworden scheint, erweisen sich die lyrischen Stücke und entsprechende Passagen nach wie vor als sein eigentliches Terrain. Im Abendrot oder Wandrers Nachtlied II? Das Publikum dürfte sich kaum entscheiden können, welches Lied von beiden nun mehr zu Herzen geht.

Franz Schubert/OBA

Es ist guter Brauch geworden, dass junge Sänger ihre Aufnahmen mit ganz persönlichen Gedanken versehen. Nicht selten lassen sie dabei in ihr Innerstes schauen. Hasselhorn, Jahrgang 1990 ist so einer. Er hat kein Problem damit, auch über seine Gefühle zu sprechen, wenn er den literarischen Figuren, die er darzustellen hat, in ihren Handlungen, Sehnsüchten, Nöten, Ängsten und Glückmomenten, die meist nur selten von Dauer sind, nachspürt. Das fiktive lyrische Ich der Dichtungen wird sozusagen wörtlich genommen und konkretisiert. Das unterscheidet diese junge Generation von ihren meisten berühmten Großeltern-Kollegen. Fischer-Dieskau – um dieses Beispiel zu nennen, das noch immer herangezogen wird, wenn es um Liedinterpretationen geht, hätte den Jahren nach immerhin schon der Urgroßvater von Hasselhorn sein können. So hat er im Müllerin-Booklet auf die lange Zeitspanne zwischen der Entstehung der Lieder und unserer Gegenwart verwiesen – und die Frage gestellt: „Was hat das mit mir, mit uns zu tun?“ Ihm persönlich sei der Zugang zu der Geschichte von dem Müllerburschen, der sich Hals über Kopf in die Tochter des Müllers verliebt, die aber seine Liebe nicht erwidert, stets relativ schwer gefallen. „Irgendetwas kam mir immer ein wenig seltsam vor, nicht wirklich greifbar. Über die weibliche Figur erfährt man kaum etwas: Wir wissen nur, dass sie blonde Haare und blaue Augen hat.“ Mehr nicht. Lasse man die recht konventionelle Dreiecksgeschichte vom Jüngling, der ein Mädchen liebe, das aber einen andern erwählt habe, beiseite, erscheine zwischen den Zeilen eine ganz andere Lesart. Die männliche Figur bleibe allein zurück, der erhofften Liebe und Anerkennung beraubt. Jenseits der ein wenig simplen Geschichte von einer verschmähten Liebe gehe es indirekt nämlich um gesellschaftliche Ausgrenzung. Wer nicht den geltenden Normen entspreche, werde wegen seiner Individualität und damit seines ,Andersseins‘ ausgeschlossen, und an dieser sozialen Isolierung verzweifele er schließlich. „Vielleicht haben gerade deshalb diese vor 200 Jahren entstandenen Lieder für uns im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Aktualität eingebüßt“, so Hasselhorn. Das mag ein wenig offiziell klingen, aber es ist nun mal so.

Hasselhorn singt gerade in der Müllerin wie von sich. Mit Empathie und sehr viel Einfühlungsvermögen dringt er regelrecht in die Lieder ein, lässt keinen noch so verborgenen Winkel aus. Nichts entgeht ihm. Wenngleich manches auch spontan daher kommt, dürfte jede musikalische Lösung genau kalkuliert und vorher erprobt worden sein. Er spielt gekonnt mit dem Tempo, zieht es an, wenn es ihm angezeigt scheint, um dann wieder wie auf der Stelle zu treten, weil es in ein bestimmtes masochistisch angehauchtes Detail so verlangt. Dass dies nur durch ein vertrauensvolles Zusammenspiel mit dem Pianisten Ammiel Bushakevitz möglich ist, versteht sich von selbst. Beider Vortrag wirkt schlüssig und sicher. Und doch bewegt sich Hasselhorn auf dieser Wanderung in den Tod in einer Art Rausch. Von Beginn an steht fest, dass es kein gutes Ende nehmen wird mit diesem Wandergesell. Sein oft betont männlich wirkender Bariton, der ihn älter erscheinen lässt als er in Wirklichkeit ist, zeichnet sich durch eine hohe Flexibilität aus. Stimmliche Grenzen werden nicht so stark berührt wie in der neuen CD. Er ist grundsätzlich sehr gut zu verstehen. Nicht, dass Hasselhorn in seiner Interpretation den Faden verlöre. Nein, das nicht. Es fällt aber auf, dass manche Lieder dieses Zyklus durch zu viele interpretatorische Zutaten und Nuancen zur Vereinzelung neigen, sich zu sehr aus dem Großen und Ganzen herauslösen. Gewisse opernhafte Züge greifen im Ausdruck, in Spiel mit den Worten Platz. Die Lieder werden nicht mehr nur gesungen – sie werden aufgeführt. (Das große Foto oben ist ein Ausschnitt des Cover-Bildes von Uwe Arens). Rüdiger Winter

Diese Uhr tickt anders

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Mythos. In ihrer äußerlichen Aufmachung gibt sich die CD geheimnisvoll wie der Inhalt. Wie in einer Opernszene von Wagner treten der Sänger Konstantin Krimmel und seine Pianist Ammiel Bushakevitz aus dem Nebel hervor. Sie kommen nicht, und sie gehen nicht. Sie sind nur da. Für den Titel der Neuerscheinung bei Alpha-Classics in Zusammenarbeit mit BR Klassik wurde eine treffliche Illustration gefunden (Alpha 1088). Es bestätigt sich die alte Erfahrung, dass das Auge mithört. Und das nicht nur in Bezug auf die Optik des Covers. Auch das musikalische Programm hat starke bildhafte Züge. Geboten werden Lieder und Balladen von Franz Schubert und Carl Loewe als Mythen der Romantik mit den auch im Boooklet aufgezählten typischen Themen Leidenschaft, Einsamkeit, Sehnsucht, Weltschmerz, Eskapismus, Tod. Es kann von Vorteil sein, wenn ein Interpreten-Duo wie der deutsche Bariton und sein israelisch-südafrikanische Liedbegleiter derselben Generation angehören. Beide sind unter vierzig, also vergleichsweise jung. Sie schleppen nicht solche Vorbehalte mit sich herum, die auch dazu führten, dass bei der Bewahrung und Aneignung musikalischen Erbes manches unter den Tisch fiel oder gar vorschnell ausgesondert wurde. Sie sind neugierig und in Entdeckerlaune, wollen sich ganz offensichtlich eigene Urteile bilden, prüfen, was für die Gegenwart taugt und was nicht. Für den Komponisten Loewe ist das ein Glücksfall. In zunehmendem Maße wird er wieder gesungen, aufgeführt und eingespielt. Auch sein oratorisches Werk mit seinen spannenden musikdramatischen Zügen, die den verhinderten Opernkomponisten verraten – dem Kirchenmusiker Loewe war es qua Amt untersagt, entsprechende Werke zu schaffen – kommt mehr und mehr live und im Studios zur Geltung.

Das war nicht immer so. So galt die Ballade Die Uhr, mit der die CD-Auswahl selbstbewusst abgeschlossen und zugleich abgerundet wird, bis in die jüngste Vergangenheit als Inkarnation eines betulichen Musikverständnisses, das sich jeder Veränderung verweigerte. Nicht von ungefähr ist die mit Beginn der zwanzigsten Jahrhunderts einsetzende Liste der Aufnahmen länger als die anderer Balladen Loewes. Richard Tauber hat mit seiner vom Salonorchester verzuckerten Einspielung Generationen nach ihm den Zugang zu dem populären Stück verdorben, dessen Textdichter Johann Gabriel Seidl (1804-1875), der die österreichischen Kaiserhymne von 1854 „Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land!“ dichtete, kein Neuerer gewesen ist. Krimmel entlockt der Uhr ihre faszinierende Melodie und erzählt eine Geschichte, die den im 19. Jahrhundert weit verbreiteten zyklischen Gedanken des menschlichen Lebens von der Wiege bis zur Bahre aufgreift. Er trägt sie so vor, dass die Spannung von Vers zu Vers steigt und man unbedingt das Ende wissen will – egal, ob man es nun längst kennt oder nicht. Wie wenn man sich immer wieder einen Lieblingsfilm anschaut.

Sein Pianist Ammiel Bushakevitz lässt das Uhrwerk betont verfremdet in den Saiten klingen, so dass die gereimten Worte durch die pointierte Begleitung unerwartet modern wirken. Beider Zusammenspiel  bewährt sich auch bei den anderen Loewe-Balladen – darunter Archibald Douglas, Meerfahrt, Totentanz, Süßes Begräbnis – und freilich bei Franz Schubert. Der eröffnet das CD-Programm mit dem König in Thule nach Goethe. Eine Ballade, in der die Interpreten die Spannung ebenfalls bis zum Schluss halten. Dies ist nur deshalb möglich, weil der Sänger in perfektem Deutsch singt. Mit der neuen CD hat sich Krimmel als Liedsänger weiter profiliert (17.01.25). Rüdiger Winter

Suche nach dem Weiblichen

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Die norwegische Sängerin Marianne Beate Kielland hat im bisherigen Verkauf ihrer Karriere mit Franz Schubert gefremdelt. Sollte sie nun in Album mit seinen Liedern aufnehmen oder nicht? Sie entschied sich zunächst dagegen. Warum? Für sie habe sich Schubert in der Wahrnehmung stets mit dem Klang fantastischer Tenöre verbunden. Und auch fabelhafte Baritone hätten unvergessliche Versionen von seinen Liedern vorgetragen. Namen nennt sie nicht, wenngleich sie mit Dietrich Fischer-Dieskau ein wichtiges Beispiel hätte anführen können, weil sie noch an einem seiner Meisterkurse teilnahm. Und doch kam sie an Schubert nicht vorbei, der größere Anforderungen an Interpreten stelle als anderer Komponisten – und zwar in Klarheit, Diktion, Intimität, Rhythmus, lyrischem Ausdruck, perfekter Intonation. Solche persönlichen Überlegungen finden sich in einem eigenen Text für die erste Schubert-CD der Mezzosopranistin, die bei Lawo Classics veröffentlicht wurde (LWC 1355). Begleiter am Flügel ist ihr Landsmann Nils Anders Mortensen, der auch an der Musikhochschule Hannover lehrte und mit deutschem Liedgut sehr vertraut ist. Bei Lawo handelt es sich um ein norwegisches Unternehmen, das vornehmlich Interpreten und Musik aus Vergangenheit und Gegenwart dieses Landes bekannt machen möchte.

Die Winterreise, die sich seit der Interpretation durch Lotte Lehmann im Repertoire vieler Sängerinnen als ganz selbstverständlicher Bestandteil findet, kommt für Marianne Beate Kielland nicht infrage. Sie können beim Singen keine männlichen Emotionen vortäuschen, gibt sie sich kompromisslos – und greift damit eine alte Debatte vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen zum Thema Geschlechterneutralität neu auf. „Aber wenn man ein wenig recherchiert, stellt man fest, dass Schubert in der Tat Texte vertont hat, die eher weiblich als männlich sind.“ Goethes Mignon-Figur ist für sie ein androgynes Kind mit einer komplexen existenziellen und emotionalen Befindlichkeit, ohne dass die Texte weiblich oder männlich seien. Die entsprechenden fünf Titel, die sängerisch sehr gut gelingen, stellen für die Interpretin das „Herzstück der Sammlung“ dar. Bei Suleika trete das Weibliche in den Vordergrund, und tatsächlich seien diese beiden Gedichte von einer Frau, nämlich Marianne von Willemer, geschrieben. Sie habe sich selbst als Suleika gesehen. Goethe, mit dem sie Briefe wechselte, nahm die Verse in seine Gedichtsammlung West-östlicher Divan auf.

Der Einstieg ist mit der „bemerkenswerten und melancholischen Geschichte vom König von Thule“ bewusst gewählt, um „die Stimmung für die folgenden Lieder festzulegen“. Und sie beendet ihr Programm mit dem weniger bekannten Grenzen der Menschheit, über die Beziehung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. „Das Gedicht kommt zu dem Schluss, dass die Menschheit ihren Platz kennen muss und nicht mit den Göttern um die Überlegenheit wetteifern darf. Die Menschheit muss mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben – wo sie hingehört. Und ich kann im selben Atemzug sagen, dass ich auch meinen Platz unter den größten Schubert-Interpreten der Weltgeschichte kenne“, gibt sich die Sängerin demütig und realistisch zugleich. Sie habe versucht, ihre Sicht auf den „größten Liedkomponisten aller Zeiten zu finden und möglicherweise eine etwas andere Seite von ihm zu zeigen – eine, die von Unsicherheit, Melancholie und Ruhelosigkeit geprägt ist“. Dafür wählt sie durchweg einen betont sachlichen Vortragstil. Marianne Beate Kielland ist nicht auf betörend schön klingende Details aus, die dazu verleiten, dieses oder jenes Lied wiederholt anzusteuern, weil man nicht genug davon bekommen kann. Genüssliche Erwartungen werden nicht erfüllt. Wer ihr genau zuhört, lernt aber die oft gehörten Lieder von Franz Schubert noch besser kennen. Rüdiger Winter

Pathos und Heldenverehrung

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Mit Egmont liegen nun die vier großen Schauspielmusiken von Ludwig van Beethoven in neueren Einspielungen vor. Allen ist die zeitliche Nähe zum 250. Geburtstag des Komponisten im Jahr 2020 zu Eigen. Zum Jubiläum selbst wurde der Musikmarkt mit neuen Produktionen und Wiederauflagen überschwemmt. Nachzügler findet womöglich mehr Aufmerksamkeit. Die bei Querstand erschienene EgmontCD (VKJK 2406) setzt sich von der Konkurrenz zusätzlich noch dadurch ab, dass dafür eine neue Textfassung erarbeitet wurde, die nun erstmals auf Tonträger zugänglich ist. Besorgt wurde sie von Fabian Enders, der zugleich die Filharmonie Brno leitet. Es handelt sich um einen drei Jahre alten Mitschnitt in Kooperation mit dem Deutschlandfunk Kultur vom 19. November 2021 in der Potsdamer Friedenkirche von knapp einer Stunde Spieldauer. Solisten sind die Sopranistin Evelin Novak und der Bariton Klaus Mertens. Für die meisten Schauspielmusiken gilt, dass separate Aufführungen oder Einspielungen den genauen Zusammenhang dem jeweiligen literarischen Werk vermissen lassen. Schließlich wurden sie ursprünglich ja zur akustischen Untermalungen der Bühnenstücke geschaffen. Solche kompletten Aufführungen gibt es aber in der Praxis kaum mehr. So haben sich die Schauspielmusiken oder einzelne Teile daraus – Beethoven ist dafür ein treffliches Beispiel – selbstständig gemacht.

Fabian Enders will mit seiner Fassung Goethes Werk inhaltlich wieder stärker in seine Rechte einsetzen. Er habe versucht, eine von der Notwendigkeit des Dialogischen gelöste Textgestalt zu erreichen, die die Szenen gleichsam als Bilder und Bezugsmomente der Musik deutlich … und Motive der Handlung im Hintergrund schlüssig sichtbar werden lässt“, schreibt er im Booklet. Die Texte dienten teils dem Handlungsfortgang, teils fungierten die den Dialogen entnommenen Elemente als Reflexionen. „So wird sowohl die Handlung des Trauerspiels nachvollzogen als auch die jeweilige Situation verdeutlicht, die der musikalische Kommentar Beethovens vertiefen bzw. ankündigen will. Den Worten Goethes wurde in diesem Zuge durch mich kein neuer Text hinzugefügt.“ Eine Zuordnung zu den Figuren findet also nicht statt. Nur wer sich mit dem Original auskennt, weiß, dass die erste längere Textpassage aus dem Munde von Machiavell, der im Dienste der Regentin der Niederlande steht, stammt, die zweite auf den Bürgersohn Brackenburg zurückgeht. Egmont selbst kommt dann erstmals indirekt im Gespräch mit Wilhelm von Oranien zu Wort. Als Einleitung zum Clärchens Lied „Freudvoll und leidvoll“ gibt es wörtliche Anleihen aus dem Dialog mit der Mutter, wobei beide Seite zitiert werden. Und so weiter. Anhand des Booklet können die konzeptionellen Überlegungen von Enders nachgeprüft und nachstudiert werden. Ob sich der Sinnzusammenhang während einer öffentlichen Aufführungen, bei der man nicht den einen oder den anderen Track wiederholen oder in der Vorlage blättern kann, erschließt, ist fraglich. Für die CD aber ist die neue Fassung ist wie gemacht. Mertens ist ein versierter Sänger – kein Schauspieler. Insofern wirken die langen gesprochenen Abschnitte nicht ganz optimal. Ein Profi des Wortes hätte eine stärkere Wirkung erzielen können. Gleiches gilt für die aus Kroatien stammende Evelin Novak, deren Akzent beim Sprechen unüberhörbar ist, die aber dem jugendlichen Gesang Clärchens nichts schuldig bleibt. Enders begleitet einfühlsam und ohne Pathos.

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Musikfreunde, die in die Jahre gekommen sind, dürften sich noch genau an die feierliche Inbesitznahme des wiederaufgebauten Münchner Nationaltheaters am 21. November 1963 erinnern. Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen waren dabei und berichteten ausführlich. Der Tag war auch ein Medienereignis, das bis jetzt im Internet nachhallt. Von den ersten beiden Opernaufführungen – Frau ohne Schatten und Meistersinger von Nürnberg – haben sich offizielle Mitschnitte erhalten. Noch bevor sich der Vorhang hob, erklang als erste Musik bei einem Festakt im prachtvollen Bau die Ouvertüre zum Schauspiel Die Weihe des Hauses von Ludwig van Beethoven, dirigiert von Hans Knappertsbusch. Konservativ gewandet trat er ans Pult, das weise Haupthaar zur hochindividuellen Wasserwelle gelegt, den Blick nach oben gerichtet. Ein Mann, der ganz genau wusste, was es bedeutet, ein solches Haus der Kunst zu weihen. Wird heute eine x-beliebige Einrichtung – und sei es ein Jugendclub oder ein Supermarkt– eröffnet, ist zwar immer noch von Einweihung die Rede. Seinen ursprünglichen feierlich-erhabenen Sinn aber hat der Vorgang verloren. Die Beschäftigung mit dem Werk hat durchaus auch einen etymologischen Aspekt.

Eine neue Aufnahme von Beethovens Schauspielmusik Die Weihe des Hauses hat Profil Edition Günter Hänssler auf den Markt gebracht (PH22012). Besonderer Wert wird durch einen entsprechenden Hinweis auf dem Cover darauf gelegt, dass es sich um die vollständige Musik handelt. Unterschiede zur bislang einzigen und komplettesten Einspielung von Claudio Abbado, die 1996 bei Deutsche Grammophon entstand, können auch musikalischen Laien nachvollziehen. Mit dem Werk wurde am 3. Oktober 1822 der Neubau des Theaters in der Wiener Josefstadt eröffnet. Das alte Haus war zu klein geworden und hatte den Anforderungen nicht mehr genügt. Schon bald wird auch den Hörern, die nicht sattelfest sind im Umgang mit den weniger bekannten Vokalwerken Beethoven klar, dass es sich bei dieser Schauspielmusik um einen Rückgriff auf die Ruinen von Athen handelt. Letzte Zweifel verfliegen, wenn der Türkische Marsch erklingt. Deren Entstehung ist ebenfalls einer Theatereröffnung zu verdanken, nämlich des neuen Theaters in Pest. Beide Städte trennen an die dreihundert Kilometer. Die Pester Premiere lag zehn Jahre zurück. Solche Zweitverwertungen dürften damals – wenn sie denn überhaupt auffielen – nicht so ins Gewicht gefallen sein wie heute, wo sich durch die weltweit vernetzten Medien alles sofort herumspricht. Carl Meisl (1775-1853), im Hauptberuf hoher Beamter im österreichischen Staatsdienst und nur nebenher als Dramatiker tätig, passte das Original von August von Kotzebue den neuen Bedürfnissen an und fügte auch Verse hinzu. Beethoven lieferte im letzten Moment noch zusätzliche Musik wie die Ouvertüre, die bald ein Eigenleben führte, den Tanz für Sopran und Chor „Wo sich die Pulse jugendlich jagen“ und den Schlusschor „Heil unserem Kaiser! Heil! Heil unserem Öst’reich! Heil!“ Gehuldigt wurde damit Franz I., der 1804 das Kaisertum Österreichs begründete hatte.

Die neue Aufnahme von Beethovens „Weihe des Hauses“ kommt als Mitschnitt aus der Potsdamer Friedenskirche,  vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV., der in der Krypta seine letzte Ruhestätte fand, selber entworfen. Foto/Wikipedia

Im Booklet finden sich lediglich die Texte der Musiknummern. Das vollständige Libretto hat Seltenheitswert. Fabian Enders, der Dirigent der Aufnahme, fasst den Inhalt – versehen mit Zitaten – zusammen. Er ist in seinen Grundzügen schnell erzählt. Thespis, in dem der griechische Gelehrte Aristoteles den entscheidenden Wegbereiter des Dramas gesehen habe, gelangt in eine unwirtliche Gegend, der die Musen zunächst abhold scheinen. Die Göttin Minerva kann den Dichter zum Bleiben überreden. Allegorische Figuren bevölkern die Szene. Begleitet von Beethoven groß instrumentierter Musik, so Enders, böten unterschiedliche Stationen „Gelegenheit zur Betrachtung des werdenden Tempels der Musen und seines schönen Scheins“. Zu Wort kommt im Booklet auch Peter Berg aus Leipzig, dem nach den erhaltenen Quellen „die vollständige Rekonstruktion von Partitur und Aufführungsmaterial“ gelang. Und zwar mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Gestalt“, in der das Werk 1822 unter Beethovens eigener Leistung erklungen ist. Mit der neuen CD schließt sich eine Lücke in der Beethoven-Rezeption. Sie beruht auf einem Konzertmitschnitt in der Potsdamer Friedenkirche vom 19. November 2021. Für ein Werk, in dem die römische Göttin Minerva auftritt, ist der Ort gut gewählt. Die Kirche am Rand des Schlossparks Sanssouci ist von italienischen Vorbildern inspiriert und geht auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zurück. Der hatte schon als Kronprinz 1839 einen ersten Entwurf vorgelegt, der sich an der Basilica San Clemente in Rom orientierte. Der Monarch war von Italien, das er auch selbst bereist hatte, regelrecht besessen und sei – wie er selbst einräumte – von einem „Romfiber“ erfasst gewesen. Gemeinsam mit seiner Gemahlin Elisabeth fand er in der Krypta der Kirche auch seine letzte Ruhestätte.

Die Kirche klingt mit auf dieser CD. Und das macht einen Teil ihrer Wirkung aus. Die Tontechniker haben den Umgang mit den schwierigen akustischen Verhältnissen eindrucksvoll organisiert – und Hall auch Hall sein lassen. Der Chor, der viel zu tun hat, kann sich räumlich gestaffelt entfalten, klingt nicht übersteuert und ist dazu noch sehr gut zu verstehen. Für die Aufführung haben sich Vocalconsort Berlin und Sächsischer Kammerchor zusammengetan. Die Philharmonie Brno spielt unter der Leitung von Fabian Enders. Solistisch eingesetzte Instrumente verleihen der Aufführung bei aller feierlichen Pracht auch intime kammermusikalische Momente. Als Solisten wirken Evelin Novak (Sopran) und Klaus Mertens (Bariton) mit. Sie treten zunächst im Duett „Ohne Verschulden Knechtschaft dulden“ gemeinsam auf. Anstrengende Höhen hat der Sopran in dem bereits erwähnten Tanz mit Chor „Wo sich die Pulse jugendlich jagen“, der im Werkverzeichnis Beethovens auch einzeln als WoO (Werke ohne Opuszahl) 98 geführt wird, zu bestehen. Sie gelingen der Sängerin vorzüglich. Gleich drei schwierige Einsätze warten auf den Bariton – und zwar das pathetische Melodram des Apollo über die Harmonie auf dem Theater, ein Rezitativ und schließlich noch eine große Arie, die ebenfalls melodramatisch gespickt ist. Mertens entledigt sich dieser Aufgaben mit der ihm eigenen Professionalität.

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Für einen genauen Vergleich mit der Schauspielmusik Die Ruinen von Athen bietet sich die jüngste Aufnahme von Naxos an (8.574076) an. Sie unterscheidet sich von anderen Einspielungen durch ihre Vollständigkeit. Zur Musik gibt es auch den gesprochenen Text. Zudem hatte Naxos das musikalische Festspiel König Stephan (8.574042) komplett vorgelegt. Damit war das Eröffnungsprogramm für das neue Theater in Pest, das seinerzeit noch eine selbstständige Stadt war und erst 1873 mit den ebenfalls eigenständigen Buda zu Budapest zusammengelegt wurde, eingeleitet worden. Die für Oktober 1811 in Aussicht genommene Eröffnung musste auf den 9. Februar 1812 verschoben werden. In dem Haus, das über dreitausend Plätze verfügt haben soll, wurde ausschließlich in deutscher Sprache gespielt – neben Schauspielen auch Opern und Operetten. Zwischenzeitlich nahm es bei einem Brand Schaden, wurde aber umgehend wieder aufgebaut. Mit der Revolution 1848/1849 kam der Betrieb zum Erliegen. 1889 brannte das Gebäude vollständig ab. Es existiert also nicht mehr.

Die Initiative zu diesem Theaterneubau – und hier gibt es wieder eine historische Verbindung zur Weihe des Hauses – war 1804 gleichfalls von Franz I. ausgegangen. Damit sollte die Treue Ungarn zur österreichischen Monarchie demonstriert werden. Deshalb wurde bei der Premiere König Stephan als „Vorspiel mit Chören“ gegeben.  Als Textdichter war ebenfalls der in hohem Ansehen stehende Kozebue gewonnen worden. Dem Publikum der Uraufführung waren die Libretti gedruckt gereicht worden. Digitalisiert stehen sie bei der Library of Congress in Washington – der größten Bibliothek der Welt – kostenlos über das Netz zur Verfügung. Nicht in den Booklets, wohl aber auf der eigenen Internetseite bietet Naxos moderne Abschriften an.

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Revolutionäre Theaterstücke, die dem Freiheitsgedanken huldigen wie Fidelio oder die 9. Sinfonie, sind nicht zu erwarten. Im Gegenteil. Dem Anlass gemäß werden Pathos und Heldenverehrung historisch verbrämt und mit antiker Garnierung gereicht. Auch das ist Beethoven. Er lebte von Aufträgen. In den Ruinen von Athen erwacht die Göttin Athene – hier ebenfalls als Minerva auftretend – nach tausenden von Jahren. Getrieben von der Sehnsucht, die ihr geweihte Stadt mit dem Parthenon wiederzusehen, findet sie sich in Ruinen wieder. Athen steht unter osmanischer Herrschaft, der legendäre Turm der Winde ist eine Moschee. Derwische huldigen ihrem großen Propheten und der Kaaba, was Minerva ihrerseits als „barbarisches Geschrei“ wahrnimmt. Ein türkischer Marsch, der wie in der Weihe des Hauses zu den Zugnummern des Werkes gehört, verbreitet mehr eingängig-flotte Folklore als Schrecken. Nachdem die Göttin ein in Musik gesetztes Gespräch eines griechischen Mädchen und eines Griechen mit angehört hatte, bei dem diese Menschen aus dem Volke beklagen „ohne Verschulden Knechtschaft dulden“ zu müssen, entschließt sie sich zur Flucht. Sie begibt sich auf die Suche nach einer neuen Heimat, wo „Wissenschaft und Künste blühen“. Denn wo man die holden Musen feiere, da „steht gewiss auch mein Altar“. Von Merkur geleitet, gelangt sie nicht ganz zufällig nach Pest. Von einem Greis erfährt das mythologische Paar, bei einem Volk angelangt zu sein, dem „die alte Treue für seinen König nie erstarb“. Dieses Volk nun schickt sich an, das Theater, diesen neuen Tempel der Musen, in Besitz zu nehmen. Und Merkur ruft Minerva zu: „Vergiss dein Griechenland, es ist gewesen, das Alte schwand, das Neue begann.“ Die Musik- und Theatermusen Thalia und Melpomene werden enthusiastisch gefeiert. Und so schließt das Festspiel damit, dass sich Zeus, der Vater Minervas, dazu herablässt, ein Bildnis des Kaisers Franz auf dem Altar der Kunst zwischen die beiden Musen zu stellen. Mit dem Chor „Heil unserm König! Heil! Vernimm uns Gott. Dankend schwören wir aufs Neue alte ungarische Treue bis in den Tod!“ endet dieses Spiel.

Zu danken sind die Ausgrabungen bei Naxos dem finnischen Dirigenten Leif Sergerstam, dem Chorus Cathedralis Aboesis und dem Turku Philharmonic Orchestra. Es war eine glückliche Wahl, deutschsprachige Schauspieler zu verpflichten. Sie garantieren die Textverständlichkeit. Angela Eberlein spricht die Minerva, Claus Obalski den Merkur, Roland Astor unter anderen den Greis. Die drei Gesangspartien in den Ruinen voin Athen, das griechische Mädchen und der Grieche sowie der Hohepriester, der am Schluss in Erscheinung tritt, sind mit Reetta Haavisto und Juha Kotilainen besetzt. Insgesamt vier Sprechrollen – wieder sind es Claus Obalski, Roland Astor, Ernst Oder und Angela Eberlein – sieht der Komponist für König Stephan vor. Gewiss können die ambitionierten Einspielungen die Werke als Ganzen nicht retten.  Wer sich aber tiefer hineinhört, findet einen Einfallsreichtum, wie ihn nur ein Beethoven hervorbringen kann. Als ob sich die Musik über den abstrusen Inhalt erhebt. Dreimal gehört, und bestimmte Passagen gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. So ist es vielleicht auch Richard Strauss ergangen, der eine tiefe Neigung zu antiken Stoffen hatte. Der benutze nämlich Beethovens Musik für seine neue Bearbeitung nach einem Schauspiel von Hugo von Hofmannsthal, das genauso in der Versenkung verschwunden ist wie das Original.

Ohne die Einbettung in das Gesamtwerk bleiben die musikalischen Nummern aller drei Schauspiele unverständlich. Andererseits ist es kaum vorstellbar, Schöpfungen wie diese einem heutigen Publikum bei einer öffentlichen Aufführung komplett zuzumuten. Das Wissen um die Mythologie und ihre Gestalten sowie sehr spezielle historische Ereignisse sind nicht mehr so verbreitet wie einst. Aspekte, die als islamfeindlich wahrgenommen werden könnten, ließen sich auch mit Mitteln des zeitgenössischen Theaters schwerlich relativieren. Umso verdienstvoller ist es, die Stück wenigstens in dieser Form zugänglich zu machen, wie das Naxos und nun auch Hänssler ermöglichten. Rüdiger Winter

Sueños de verano españoles

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Noch ein Sommernachtstraum? Die neueste Einspielung der Schauspielmusik von Felix Mendelssohn Bartholdy ist in ihrer Art so ungewöhnlich und aufwändig, dass sich die Frage erübrigt. Sammler können ohnehin nie genug bekommen. Alia Vox brachte die Aufnahme gelegentlich des 25jährigen Bestehens heraus (AVSA 9960). Das Label wurde vom katalanischen Musikwissenschaftler, Gitarrist und Dirigent Jordi Savall begründet und ist in der Gemeinde Bellaterra bei Barcelona ansässig. Vom Mittelalter bis in die Gegenwart reicht das Repertoire. Das Unternehmen, welches der historischen Aufführungspraxis verpflichtet ist, nimmt für sich in Anspruch, dass „es folgerichtig und notwendig war, in einer Zeit, in der Klassikeinspielungen vor so großen Problemen stehen, eine Firmenpolitik einzuschlagen, die sich durch die absolute Priorität für die kreative und musikalische Dimension auszeichnet“. Savall leitet den Chor La Capella Nacional de Catalunya und das Orchester Le Concert des Nations mit Schwung und Hingabe. Beide Ensembles wurden von ihm und seiner verstorbene Ehefrau, der Sopranistin Montserrat Figueras, ins Leben gerufenen. Die Aufnahmesitzungen unter Studiobedingungen im August, September und Oktober 2023 waren von zehn Liveaufführungen – darunter in Hamburg und Bremen – begleitet.

Geboten wird der Sommernachtstraum in vier Varianten, die gleich viele CDs in Anspruch nehmen. Zu hören sind die komplette Bühnenmusik aus Chören, Zwischenaktmusiken,  Soli und Melodramen, in denen die Schauspieler ihre Texte auf die untergelegte Musik rezitieren sowie die konzertante  Fassung, in der solistisch lediglich die Elfen auftreten – jeweils in Deutsch und in Englisch. Äußerlich sprengt die üppig illustrierte Ausgabe das herkömmliche Format. Passend zum Inhalt des Werkes scheinen sich die CDs im Innern in ihren dekorative Hüllen wie in einem Wald zu verbergen. Dazwischen auf 307 Seiten Informationen und Bilder satt. Neben erklärende Wortbeiträge in mehreren europäischen Sprachen zum Stück mit der Musik Mendelssohns, seiner Entstehungsgeschichte, die ausgewählten Texte von William Shakespeare im Original und in der deutschen Übersetzung durch August Wilhelm Schlegel, auf die Mendelssohn bei seiner Komposition zurückgriff. Die Musik setzt erst mit dem zweiten Akt ein, der im Wald vor den Toren Athens spielt, wo die über Kreuz liegenden menschlichen Figuren auf das königliche Elfenpaar Titania und Oberon mit ihrem Gefolge treffen – und, wie es der komödiantische Zufall will, robuste Handwerker ein Theaterstück für die bevorstehende Hochzeit von Theseus und Hippolyta proben. Die belgische Sopranistin Flore Van Meerssche (Sopran) und kroatische Mezzosopranistin Diana Haller übernehmen in sämtlichen Fassungen mit viel lyrischem Einfühlungsvermögen die kleinen solistischen Aufgaben der Elfen, während die muttersprachlichen Schauspieler in beiden Bühnenfassungen mit Ausnahme des Puck (Thomas Höft/Maia Jemmett) in mehrere Rollen schlüpfen. Der Bariton Dietrich Henschel – um bei der deutschsprachigen Aufnahme zu bleiben – gibt Oberon und Theseus, Reiki von Carlowitz Titania, Hippolyta und Elfe, Georg Kroneis spricht Demetrius und Zettel sowie im Theater auf dem Theater den Pryamus sowie Leonhard Srajer Lysander, Flaut und im Theaterstück die Thisbe. Schließlich treten mit Johanna Rose Falkinger (Herminia und Elfe) und Anna Manske Helena, Sequez und Elfe) noch zwei Sängerinnen in Erscheinung.

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Der Mendelssohn-Forscher R. Larry Todd ist Professor für Kunst und Wissenschaft an der Duke University (USA) / Screenshot YouTube

Im Boooklet kommt auch R. Larry Todd, Professor für Kunst und Wissenschaft an der Duke University (USA) mit einem großen Beitrag zu Wort, den wir um einige musiktheoretische Details gekürzt widergeben. Todd gilt als Mendelssohn-Kapazität und hat auch eine umfangreiche Biographie mit dem Titel „Sein leben und seine Zeit“ verfasst, die in deutscher Übersetzung bei Carus / Reclam erschien (ISBN 978-3-89948-098-6).

Hier nun Auszüge aus seinem Text: Zu Beginn des Jahres 1845 erhielt Felix Mendelssohn Bartholdy, damals auf dem Höhepunkt seines in Deutschland und England gleichermaßen gefeierten Ruhms, einen Brief des Londoner Musikverlags Beale & Chappell mit der dringenden Bitte, ein neues großes Musikprojekt zu Shakespeare in Angriff zu nehmen: „Bedenken Sie doch, welch ungeheures Aufsehen es in der Musikwelt erregen würde, wenn Sie die Musik zum ganzen ,Sturm‘ von Shakespeare komponieren würden, zumal keine Originalmusik zu dieser wunderbaren Schöpfung des unsterblichen Dichters erhalten ist, und gäbe es sie, wäre sie der Erwähnung nicht wert.“ Mendelssohn war von dem Vorschlag angetan und antwortete aus Frankfurt, dass er hoffe, bald einige dieser Gedanken umsetzen und sie in guten Achtel- und Sechzehntelnoten über den Kanal schicken zu können. In der Tat war man optimistisch, dass er eine neue Bühnenkomposition vollenden und mit der Partitur an den Erfolg seiner Schauspielmusik zu Shakespeares Komödie Ein Sommernachtstraum, op. 61 anknüpfen oder ihn gar noch übertreffen würde. … Der französische Schriftsteller Eugene Scribe hatte eingewilligt, für eine Opernfassung von Der Sturm das Libretto zu schreiben, außerdem bestand die Aussicht, dass die gepriesene schwedische Sopranistin Jenny Lind eine der Rollen singen würde. In einem Brief an Lind sinnierte Mendelssohn: „Einstweilen habe ich leeres Notenpapier und gespitzte Federn auf dem Tisch liegen, und warte.“ Doch dann gerieten die Pläne ins Wanken. Nachdem er im Januar 1847 das Libretto von Scribe erhalten hatte, lehnte Mendelssohn die Vertonung mit der Begründung ab, es fehle die Zeit und das Libretto sei „zu französisch“. Die englische Presse ließ sich noch eine Weile über die Angelegenheit aus, die Mendelssohn nun als „langweilige Operngeschichte“ abtat, so dass er seinem Freund Karl Klingemann schrieb: „Ist das nicht statt des Tempest ,much ado about nothing‘?“ Eine flüchtige Durchsicht der erhaltenen Korrespondenz Mendelssohns (fast 6.000 Briefe) bestätigt, dass er mit den Werken des englischen Dichters mehr als vertraut war. Insgesamt bezieht er sich wiederholt auf ungefähr zwanzig Werke. … Als Hector Berlioz mit Mendelssohn 1831 in Rom zusammentraf, war das gemeinsame Interesse für Shakespeare ein Gesprächsthema. Beide hielten es für möglich, sich die Szene mit der Fee Queen Mab in Romeo und Julia in Form eines Scherzo vorzustellen. Als Berlioz einige Jahre später in seiner dramatischen Symphonie Romeo et Juliette (1839) ein Vokal-Scherzetto und ein Orchester-Scherzo einfügte, um die Fee als Hebamme der Träume darzustellen – eine verführerische Musik, die sich Mendelssohns Markenzeichen, dem Elfenstil, annäherte -, konnte der Franzose die Befürchtung nicht unterdrücken, dass der Komponist der Sommernachtstraum-Ouvertüre dasselbe Thema bereits vertont hatte.

Die Mendelssohn-Biographie von R. Larry Todd gilt als Standartwerk. In deutscher Übersetzung ist sie bei Carus/Reclam erschienen.

Er hatte es nicht getan, doch zweifellos ist Shakespeares Einfluss auch für die Ausbildung und Entwicklung des reifen Musikstils von Mendelssohn entscheidend gewesen. Insbesondere der flüchtige, quecksilbrige Elfenton, den wir mit vielen Werken Mendelssohns assoziieren … verdankt sicher einen großen Teil seiner magischen Wirkung dem Sommernachtstraum. Dieses Theaterstück war schon die Lieblingslektüre des Jungen gewesen, als er noch mit seiner älteren Schwester Fanny die Szenen auf dem Puppentheater darstellte. Dasselbe Stück hatte den frühreifen Heranwachsenden angeregt, mit siebzehn Jahren die außergewöhnliche Orchesterouvertüre op. 21 zu komponieren, und schließlich hat es den künstlerisch gereiften preußischen Kapellmeister bewegt, zu seiner jugendlich-romantischen Inspiration zurückzukehren und deren phantasievolle Verlockungen in der Schauspielmusik op. 61 wieder aufleben zu lassen, die nun das ganze Theaterstück musikalisch interpretiert…

Worauf beruhte die Faszination, die der englische Dichter in Deutschland ausübte? In den 1790er Jahren hatte sich A. W. Schlegel anlässlich einer Reihe von Wiener Vorlesungen, in denen er systematisch alle Stücke besprach, unter anderem mit dieser Frage beschäftigt. Schlegel verteidigte energisch Shakespeares Verletzung der aristotelischen Einheit von Zeit, Ort und Handlung, die jahrhundertelang die neo-klassische Auffassung von einem guten Bühnenstück beherrschte. Obwohl Shakespeare die Einheiten flexibel handhabte – nicht immer findet in seinen Stücken eine einzige Handlung an einem Ort und an einem Tag statt – beobachtete Schlegel eine übergreifende organische Einheit, ein harmonisches Ganzes, das sich auf den ersten Blick hinter dem Nebeneinander von gegensätzlichen Einzelrollen und Personengruppen verbirgt. Vielleicht dachte Schlegel hier an den Sommernachtstraum, das erste von ihm übersetzte Stück, und die Eingebung, die Mendelssohn in einem Brief an Fanny vom Juli 1826 eine „gränzenlose Kühnheit“ nannte, nämlich, den „midsummrnightsdream zu träumen anfangen“.

Im Neuen Palais in Potsdam wurde die Schauspielmusik erstmals am 14. Oktober 1843 im Beisein des Königs Friedrich Wilhelm IV. vor geladenen geladenen Gästen aufgeführt / Winter

Die daraus hervorgegangene Ouvertüre, die Bernhard Shaw Jahrzehnte später pries, weil sie einen faszinierenden, originellen und zugleich vollkommen neuen Musikstil einführte, hätte vermutlich auch den Beifall von Shakespeares Übersetzer gefunden. Der generelle Aufbau der Komposition besteht aus einer erweiterten dreiteiligen Sonatenform mit einer Exposition, in der die dramatis personae in klar definierten thematischen Gruppen vorgestellt werden: zuerst ein zartes Stakkato der Streicher für die vorbeihuschenden Elfen, dann königliche Fanfaren für die Herrscher Athens, leuchtende lyrische Melodien für die beiden Paare der verwechselten Liebenden, rüpelhafte Musik für die Handwerker, unter denen der brüllende Weber Nick Bottom (Zettel) hervorsticht. Die zentrale Entwicklung entspricht den Verwicklungen der mittleren Akte, die im Wald stattfinden, wo die menschliche und die übernatürliche Welt aufeinanderstoßen, sodass Titania, die Elfenkönigin, sich in Zettel verliebt, der einen Eselskopf bekommt. Die Reprise und die Coda führten uns nach Athen zurück, wo Mendelssohn, Shakespeare folgend, den Handlungsknoten auflöst. Die subtil komponierte Coda, die frühere Motive in veränderter Form wieder aufgreift, bereitet die Bühne für Pucks Epilog, in dem er Abbitte leistet und versichert, dass die ganze Angelegenheit „nicht mehr als ein Traum“ gewesen sei.

Doch wie kann der Traum musikalisch heraufbeschworen werden? Hier gelang dem jungen Mendelssohn ein Geniestreich, indem er die konventionelle Sonatenform dadurch modifizierte, dass er die Komposition mit einer Reihe von vier mottoartigen Akkorden beginnen und enden lässt, die auch in den formalen Ablauf eingreifen, um die Reprise anzukündigen. Diese Akkorde werden durch hinzugefugte Fermaten über ihre natürliche metrische Dauer hinaus gehalten und erhalten dadurch eine dramaturgische Funktion; sie sind das Tor, durch das wir die Zeit der realen Welt verlassen, um in einen verzerrten Traumzustand zu fallen. Am Ende der Ouvertüre machen dieselben Akkorde den Zauber wieder rückgängig und erlauben uns, aus dem Traum in die Realität zurückzukehren. …

Die Uraufführung der Sommernachtstraum-Ouvertüre leitete 1827 Carl Loewe in Stettin. Das dem Komponisten, Dirigenten und Organisten gewidmete Denkmal vor der Jakobikirche der Stadt existiert nicht mehr / Wikipedia

Die ersten Aufführungen der Ouvertüre fanden 1826 im privaten Kreis (als Klavierduo mit Fanny) im Berliner Wohnsitz der Familie in der Leipzigerstraße statt; es folgte 1827 die öffentliche Uraufführung der Orchesterfassung in Stettin, wo die Elfen beeindruckten und mit „Insektenschwärmen, die in den untergehenden Sonnenstrahlen einen angenehmen, lebhaften Tumult erregen“, verglichen wurden. Passenderweise fand die englische Premiere am Mittsommertag statt. Am 24. Juni 1829 wurde die Komposition in den Londoner Argyle Rooms gespielt. Eine im Harmonicon erschienene Rezension fand die Musik „sprühend vor Genie und effektvoll; einige Teile spielerisch und sylphidenhaft, andere erhaben und solide; das Ganze zeigt, dass der Musiker den Dichter studiert hat, in seine Gedanken eingedrungen ist und sogar etwas von seiner Phantasie aufgefasst hat“. In Paris war die Ouvertüre erstmalig 1832 im Conservatoire unter der Leitung von F.-A. Habeneck zu hören, allerdings erst nach vier sorgfältigen Proben. Bei einer übernahm Mendelssohn selbst den Paukenpart. Die Aufführung war ein Erfolg, was aber Ferdinand Hillers Bericht zufolge zwei Musikliebhaber nicht davon abhielt, zu murmeln: „C’est très-bien, très-bien, mais nous savons le reste“ [Das ist ja alles schön und gut, aber wir kennen den Rest], und das, obwohl sie in der Nähe des Komponisten saßen. Als Mendelssohn 1835 endlich die vollständige Partitur der Ouvertüre bei Breitkopf & Härtel als op. 21 veröffentlichte, schien sein Shakespeare-Projekt ganz offiziell abgeschlossen zu sein.

Der katalanische Dirigent Jordi Savall während einer Probe für die Aufnahme / Toni Penarroya (Booklet)

Doch es kam anders. 1843 gab Friedrich Wilhelm IV., der Mendelssohn 1841 als Kapellmeister und Generalmusikdirektor für geistliche Musik nach Berlin berufen hatte, dem Komponisten den Auftrag, Shakespeares Komödie komplett mit Schauspielmusik aufzuführen. Der Bühnenschriftsteller und Erzähler Ludwig Tieck sollte auf Grundlage von A. W. Schlegels Übersetzung Regie führen, während Mendelssohn für die Schauspielmusik zu den Szenen und zwischen den Akten verantwortlich war. Karl Klingemann, ein enger Freund des Komponisten, meinte zwar, dass die Zeit für Märchenopern vorbei sei, doch Mendelssohn erwiderte, dass die Feen viel besser zur Geltung kämen, wenn man ihrem phantastischen Leben ein wirkliches irdisches Leben entgegensetzen würde. Unerwartet hatte der Komponist auf der Höhe seines Ruhms die Gelegenheit erhalten, die „Lieblingslektüre“ seiner Jugend noch einmal zu bearbeiten. … Das vielleicht markanteste Merkmal der neuen Schauspielmusik ist die kunstvolle Art und Weise, in der Mendelssohn Materialien aus der ursprünglichen Ouvertüre op. 21 nahtlos in die Musik für op. 61 einfließen ließ. Wenn man sich die Komposition anhört, kann man keinen Bruch zwischen der textlosen Ouvertüre (1826) aus der Jugendzeit und der nach einer langen Pause von siebzehn Jahren entstandenen Fassung mit Text für den König (1843) feststellen. Mit einem Wort, alles ist wie aus einem Guss. Die Musik zum kompletten Bühnenwerk durchziehen zahlreiche Anklänge an die Ouvertüre, zu viele, um sie hier alle zu erwähnen. …

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Bleibt noch, einen Blick auf das bemerkenswerte Nachleben von Mendelssohns Shakespeare-Experiment zu werfen. Zum einen könnte die viktorianische Mode der Feenbilder, die sich ab den 1840er Jahren in den Gemälden von Richard Dadd, Joseph Noel Paton und anderen durchsetzte, zum Teil eine Reaktion auf Mendelssohns Überhöhung des Phantastischen gewesen sein. Leigh Hunt bezeichnete diese Art der Phantasie 1844 als „die jüngste Schwester der Imagination ohne das Gewicht der Gedanken und Gefühle der anderen“. Wohl am bekanntesten wurde der berühmte Entr’acte-Hochzeitsmarsch für die Hochzeit von Theseus und Hippolyta. Er erklang bei der Hochzeit der königlichen Prinzessin Vicky mit dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm im St. James’s Palace in London. So begann eine Tradition, die das Leben von Millionen von Menschen veränderte.

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Preußen-König Friedrich Wilhelm IV. gab den Auftrag für die Komposition. Franz Krüger malte ihn 1846 in seinem Arbeitszimmer / Wikipedia

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Mendelssohns op. 61 so verbreitet, dass man kaum noch an Shakespeares Stück ohne seine Musik denken konnte. Doch es sollte noch eine weitere, wesentlich unheilvollere Wendung geben. Mit dem Aufstieg des Dritten Reichs in den 1930er Jahren wurde Mendelssohns Musik in Deutschland verboten, und man bemühte sich, eine neue Komposition für Shakespeares Ein Sommernachtstraum in Auftrag zu geben. Richard Strauss lehnte das Ansinnen mit der Begründung ab, dass er Mendelssohns Musik nicht verbessern könne. Schließlich schuf Carl Orff eine neue Partitur, deren geplante Uraufführung in Frankfurt im Jahr 1944 jedoch wegen eines alliierten Bombenangriffs abgesagt werden musste. Währenddessen bereitete cm anderer Komponist, Erich Korngold, der 1934 in die USA emigriert war, eine neue Filmmusik für Max Reinhardts gefeierten Film von 1935 vor. Zur Besetzung gehörten der junge Mickey Rooney als Puck, Olivia de Havilland als Hermia und James Cagney als Bottom, der Weber (Zettel). Es überrascht nicht, dass Korngold ohne zu zögern auf Mendelssohns Schauspielmusik zurückgriff, doch er baute auch Anspielungen auf andere Werke des Komponisten ein. In einer für die damalige Zeit bemerkenswert optimistischen Einschätzung sagte Korngold voraus, dass Mendelssohn Hitler überleben würde. (Dank an den Autor/ Übersetzung Claudia Kálasz/Red. Rüdiger Winter/ Abbildung oben: Gemälde des schottischen Malers Joseph Noel Paton (1821-1901 / Wikipedia)

Die Sängerin begleitet sich selbst

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Die Sängerin Rachel Fenlon begleitet sich bei ihren Auftritten selbst. Das ist noch kein Alleinstellungsmerkmal. Wenn aber Schubert auf dem Programm steht, dazu noch dessen Winterreise – der Liederzyklus schlechthin, Gipfelpunkt kompositorischen Schaffens und mancher Sängerkarriere, dann stellt sich die Frage ein, ob es das je gegen hat. Bei Hauskonzerten gewiss, doch auf CD? Ich habe kein zweites Beispiel gefunden. Kaum ein Werk ist so häufig eingespielt worden wie die Winterreise. Immer und immer wieder haben sich Interpreten den vierundzwanzig Liedern nach Texten von Wilhelm Müller auf Podien und in Studios hingegeben, um letzte Geheimnisse zu entschlüsseln, neue Ansätze zu finden, die Geschichte in das jeweils aktuelle gesellschaftliche Umfeld zu stellen. Komponisten haben sich mit unterschiedlichem Erfolg an Bearbeitungen versucht. Statt eines Flügels mussten alternative Instrumente zur Begleitung herhalten. Selbst Akkordeons wurden bemühet. Die Winterreise blieb keine Domäne der Männer. Sängerinnen aller Lagen haben sie nach mutigen Anfängen der Altistin Therese Behr-Schnabel 1910 in Berlin ganz selbstverständlich im Repertoire. Sogar Chöre sind zum Einsatz gelangt. Ist die eigene Begleitung lediglich der neueste Schrei?

Mit dieser Vermutung täte man der in Großbritannien geborenen, an der Westküste Kanadas aufgewachsenen und jetzt in Berlin lebenden Sopranistin unrecht. Rachel Fenlon erklärt sich ihrem Publikum mit einen eigenen Text im Booklet der Neuerscheinung bei Orchid Classics (ORC 100343). Im vierten Lebensjahr begann der Klavierunterreicht. Mit Beginn der Gesangsausbildung habe sie sich schon als Siebzehnjährige gefragt, warum sie sich nicht selbst begleiten sollte, zumal in ihrer musikalischen Identität Stimme und Instrument gleichwertig ausgeprägt seien. Dieser Gedanke hat sie ihren eigenen Schilderungen zufolge nicht wieder losgelassen. Schließlich habe sie den Mut gefasst, bei ihrem ersten öffentlichen Konzert in Toronto, das ausschließlich aus Schubert-Liedern bestand, ihre eigene Begleiterin zu sein. Damit habe sie ihren eigenen Weg gefunden – ungeachtet warnender Stimmen, die diese Kombination nicht für machbar hielten. Als sie anfing, über den Inhalt ihre erste Platte nachzudenken, „war es keine Frage, dass es Schubert sein würde“. Während der isolierten Jahre der Pandemie, vertiefte sie sich in die Winterreise. Sie sei in Schubert auf jemanden getroffen, den tiefe Einsamkeit, leidenschaftliche Liebe und Trauer erfüllten. „Ich fand viel von mir selbst in dem Werk wieder“, das sie sich in zwei Jahren langsam und systematisch aneignete – auch während stundenlanger Spaziergänge im Wald, „um mir die Musik vorzustellen und sie in meiner Seele zu finden“. Im Sommer 2022 gab es dann die allererste Aufführung in Berlin, der eine Tournee folgte.

Auf mich wirkt die Vortragsweise von Rachel Fenlon zu unentschieden. Als ob sie sich stilistisch nicht zwischen Lied und Oper entscheiden kann. Sie verliert sich in Details, die ausgeschmückt werden wie kleine musikdramatische Szenen. Registerwechsel in die Tiefe klingen unerwartet derb und sind nicht als bewusst eingesetztes Ausdrucksmittel erkennbar. Meist ist sie gut zu verstehen, was für sie als Liedsängerin spricht. Spannungsreiches Widerspiel zwischen Stimme und Instrument, das die meisten guten Aufnahmen der Winterreise auszeichnet, kann sich nicht aufbauen, da Sängerin und Begleiterin Ein und Dieselbe sind. Rüdiger Winter

Sigrid Kehl

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Welches Weihnachtsoratorium für die Feier in den eigenen vier Wänden? Es soll schon etwas Besonderes sein. In meinen Beständen findet sich der Videomitschnitt aus der Leipziger Universitätskirche vom 15. Dezember 1963. Der dürfte besonders genug sein. Die Kirche im Zentrum der Stadt gibt es nicht mehr. Obwohl sie die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstanden hatte, wurde sie 1968 abgerissen. Proteste hatten nichts genützt. Das Gotteshaus war den hochfliegenden Neubauplänen der sozialistischen Machthaber im Wege. Leipziger Bürger haben das bis heute nie verwunden. Die Formen sind im 2017 fertiggestellten Neubau der Paulinerkirche an alter Stelle bewahrt – der Klang des Raumes in eben dieser seltenen Aufnahme. Sie kann getrost als musikalisches Denkmal gelten. Die Kameras fingen nicht nur das musikalische Geschehen ein, sie dokumentierten auch das Kirchenschiff fünf Jahre vor seiner Zerstörung. Entdeckt hatte die Fernsehaufzeichnung, die auch im Folgejahr nochmals gesendet wurde, der Leipziger Paulinerverein im Deutschen Rundfunkarchiv.

„Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn!“ Die Altpartie sang damals Sigrid Kehl. Mit einer gewissen Kühle und Distanz gelang ihr eine Wirkung der besonderen Art. Ein inniges Gefühl des Moments stellte sich nicht bei der Künstlerin, sondern beim Publikum. Nicht sie waren ergriffen, ihre Zuhörer waren es. Als mir der bewegende Mitschnitt wieder in die Hände fiel, erreichte mich die Nachricht von ihrem Tod. Neben der Kehl sind Elisabeth Breuel (Sopran), Peter Schreier (Tenor) und Günther Leib (Bariton) zu hören. Als Verkündigungsengel hat der spätere Schlagersänger und Entertainer Hans-Jürgen Beyer, einen seiner ersten öffentlichen Auftritte. Thomaskantor Erhard Mauersberger leitet den Thomanerchor, dem Bayer angehörte, und das Gewandhausorchester Leipzig.

Die Sängerin wurde am 23. November 1929 in Berlin geboren. Nach dem Studium an der Berliner Musikhochschule wurde sie in das Nachwuchsensemble der Lindenoper aufgenommen, wo besondere Begabungen zusätzliche Förderung erfuhren. Zuerst ist sie 1957 an diesem Haus als eines der Polowetzer Mädchen im zweiten Akt von Borodins Fürst Igor aufgetreten. Noch im selben Jahr wurde sie ans Opernhaus Leipzig verpflichtet, dem sie bis zum Bühnenabschied verbunden blieb. Keine Rolle ihres Fachs, die sie nicht gesungen hätte. Höhepunkt der Leipziger Karriere war die Brünnhilde in Wagners Ring in der Inszenierung von Joachim Herz, die in vielen Punkten die spektakuläre Deutung von Patrice Chéreau 1976 in Bayreuth vorwegnahm. Die Tetralogie wurde szenisch in der Entstehungszeit angesiedelt. Damit hatte sich die Sängerin nach einem allmählichen Übergang als Hochdramatische etabliert. Ihre Wirkung auf der Bühne war enorm und konnte durch Mikrophone nur bedingt eingefangen werden. Man musste die Kehl auch sehen. Sie war eine hoheitsvolle Erscheinung. Ihre Brünnhilde ist mir als kontrolliert und kühl in Erinnerung geblieben. Sie war eine stolze Wotans-Tochter, ließ sich niemals gehen – auch stimmlich nicht. Bleibenden Eindruck hinterließ sie als Amme in der damals noch selten gespielten Frau ohne Schatten von Strauss, mit der sie auch an die Berliner Staatsoper zurückkehrte. Die jeweiligen Aufführungen hatten umjubeltes Festspielniveau. Eng mit ihrer Karriere ist die Ortrud in Lohengrin verbunden gewesen, die sie auch an die Wiener Staatsoper führte.

Sigrid Kehl hat in ihrer langen und überaus erfolgreichen Karriere relativ wenige Tondokumente hinterlassen, die nicht einmal alle auf CD gelangt sind. Ihre herbe, schnörkellose Stimme mit fabelhaftem Sitz und hohem Wiedererkennungwert ist um 1970 auf einer LP aus der Reihe „Opernabend mit …“ des DDR-Labels Eterna umfassend eingefangen. Paul Schmitz, der Dirigent, wirkte damals als Generalmusikdirektor am Opernhaus Leipzig. Höhepunkt des Programms ist der Schlussgesang der Brünnhilde als Vorgriff auf die szenische Gestaltung der kompletten Partie. In einer deutsch gesungenen Gesamtaufnahme von Händels Radamisto ist sie die Zenobia. Als Mercedes wirkt die in der Leipziger Carmen-Plattenproduktion mit. In einer Szenen-Folge aus Don Carlos steuert sie die Eboli bei. Völlig in der Versenkung verschwunden ist ein Querschnitt durch Die Macht des Schicksals von Verdi mit ihrer Preziosilla, der auch bei Philips erschien.

Zwei Aufnahmen in der Diskographie verdienen besondere Erwähnung: Mitschnitte von Salome und Tannhäuser aus dem La Fenice. Sie sind in der CD-Reihe von Mondo Musica herausgekommen, deren Erlös in den Wiederaufbau des abgebrannten Opernhauses der Lagunenstadt geflossen ist. Der Klang ist nicht berauschend. Die Kehl ist als Herodias und als Venus zu hören, Rollen, die sie auch an ihrem Stammhaus in Leipzig gesungen hat. Beide Dokumente sind aber auch aus anderen Gründen interessant. Ernst Kozub gibt den Tannhäuser, während René Kollo, der sich die Partie ebenfalls erarbeiten sollte, den Walther singt. Da die so genannte Dresdener Fassung gespielt wird, bleibt Walthers schönes Solo im Sängerkrieg erhalten. Am 17. Dezember 2024 ist Sigrid Kehl gestorben. (Foto Wikipedia) Rüdiger Winter

Anspruchsvolles CD-Debut

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Contemplation! Der Titel gibt sich grüblerisch. Gemeint ist die erste CD, die ausschließlich dem Bariton Huw Montague Rendall gewidmet ist – erschienen bei Erato, wo er neuerdings unter Vertrag steht (2173236378). Diesen Namen muss man sich nicht erst merken, Freundinnen und Freunde der Oper kennen ihn. Auch wenn mancher noch rätseln mag, wie man den Vornamen richtig ausspricht. Er ist walischer Herkunft. Seine englische Form lautet Hugh, die deutsche schlicht Hugo. Onomatologisch gesehen bedeutet Huw „der Geistvolle“, der „mit großem Verstand Ausgestattete“. Seine Eltern sind die Mezzosopranistin Diana Montague und der Tenor David Rendall. Sie singt u. a. die Tauridische Iphigénie in Gardiners Aufnahme der Gluck-Oper bei Philips, er den Ferrando in Cosi fan tutte unter Alain Lombard bei Erato. Damit wäre auch die Zusammensetzung des Sohnes Nachname geklärt. Neigung und Talent zur Oper scheinen also vererbt.

Verschiedenen Biographien im Netz zufolge studierte Montague Rendall am Royal College of Music London und absolvierte das Internationale Opernstudio Zürich. Auftritte gab es in Covent Garden London, an der Lyric Opera von Chicago, am Théâtre des Champs-Élysées in Paris und bei den Festspielen in Glyndebourne, Salzburg und Aix-en-Provence. Im Repertoire hat er Almaviva und Figaro, Papageno, Pelléas, Aeneas von Purcell. Als Konzertsänger tritt er mit Liedern und Sakralwerken von Brahms, Händel, Fauré und Vaughan Williams auf. In jüngster Zeit hatte er eine Reihe bemerkenswerter Debüts, so in Ambroise Thomas’ Hamlet in einer Neuinszenierung an der Komischen Oper Berlin, seinen Einstand an der Opéra National de Paris in den Partien des Papageno und des Mercutio (Roméo et Juliette), an der Opéra National du Rhin, an der Staatsoper Hamburg sowie an der Santa Fe Opera. Geboren wurde er 1993. Wer ihn auf Bühnen oder in Filmclips gesehen hat, wird kaum nach seinem Alter fragen. Der Sänger verströmt Jugend, Charme, Weltläufigkeit und gute Manieren. Ein Sympathieträger durch und durch. Er weiß sich zu bewegen und kann – wenn es denn sein muss – auch still stehen.

Für das mehrsprachige Booklet hat er einen eigenen Text beigesteuert. Bei vielen Firmen hat sich das so eingebürgert, wenngleich es nicht immer nötig ist. Sein Text nun – kontemplativ wie es der Titel der Neuerscheinung selbst verlangt – hat es in sich. Ein junger Sänger will es nicht beim möglichst perfekten Gebrauch der menschlichen Stimme belassen. Und sich auf keinen Fall Szenen, Arien oder Lieder in einer x-beliebigen Sprache phonetisch einpauken. Er will verstehen, was er singt, ist durch vertiefte Betrachtung auf eigenen Erkenntnisgewinn aus, den er auch noch weitergeben möchte an sein Publikum. Ein Sänger mit philosophischen Ambitionen also, was mich an Fischer-Dieskau erinnert. Hört man es auch? Auf jeden Fall gefällt es. Und vielleicht gerade deshalb, weil sich Montague Rendall Gedanken macht. Der Text beginnt so: „Wer sind wir, was ist unser Zweck und was bleibt von uns nach unserem Tod? Wir sind nichts als Sternenstaub, Wesen kosmischen Ursprungs, schwebend in der Weite des Universums. Unsere flüchtige, vergängliche Existenz ist ein Rätsel, welches das kollektive menschliche Bewusstsein fesselt und unsere Geschichte formt wie die unablässigen Gezeiten die Küste formen.“ Künstler, die Visionäre unserer Welt, würden diesen existentiellen Konflikten auf den Grund gehen wollen, wobei sie ihre Kunst als Leuchtfeuer einsetzten, um diese Mysterien zu durchmessen und ständig zu erforschen, gibt sich Huw Montague Rendall, der allerdings nur für sich sprechen kann, überzeugt. Kontemplation habe ihm wie ein Spiegel Einblick in die vielfältige Art dieser Rätsel ermöglicht. Genau dieses Konzept sei der Kompass bei der Musikauswahl für dieses Programm gewesen. „Musik hat sich in meinem Leben immer wieder als beherrschende Kraft erwiesen, die mir in den heftigen Lebensstürmen Orientierung gibt.“ Sie sei eine unschätzbare Gefährtin und biete tiefe Einsichten in die labyrinthische Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche. Die „sorgfältig ausgewählten Kompositionen wirken wie ein Spiegel, indem sie die Vielfalt der Lebenswirklichkeit wiedergeben und zu besinnlichen Reisen in mein Unterbewusstsein anregen. Ohne diesen harmonischen Leitfaden und die dadurch gebotenen nachdenklichen Offenbarungen wäre mein Leben völlig anders verlaufen“. Diese Offenheit dürfte sein Publikum für ihn einnehmen.

Huw Montague Rendall (Papageno) und Elisabeth Boudreault (Papagena) bei der CD-Aufnahme im Studio / Warner Classics (YouTube Screenshot)

Die Auswahl will also mehr sein eine Auswahl an Vielseitigkeit und Können, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Sie folgt einem intellektuell ausgeklügelten Konzept. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Auch die Abfolge der Nummern nicht. Wenn beispielsweise auf die Szene des Fritz „Mein Sehnen, mein Wähnen“ aus Korngolds Die Tote Stadt Mahlers Lieder eines Jahrenden Gesellen folgen, geschieht dies mit hintersinnigem Bedacht, der – wenn alles gut geht – auch dem Publikum an den Lausprechern oder unter Kopfhörern aufgehen soll. Ein prüfender Blick in die im Booklet abgedruckten Texte erübrigt sich, weil jedes Wort zu verstehen ist, womit eine der Stärken des Interpreten herausgestellt sei. Noch mehr gewinnen die Stücke, wenn sie aus dem schwerfälligen konzeptionellen Überbau gelöst werden. So jedenfalls meine eigene Hörerfahrung mit dieser CD. In Anbetracht ihres träumerischen Ansatzes, eingebettet in raffinierte Tempi, könnte man schwören, die Gesellen-Lieder selten melancholischer vernommen zu haben. Damit dieser Eindruck nicht zu rasch wieder verfliegt, hilft nur der entschlossene Gebrauch der Pausentaste. Denn die sich unmittelbar anschließende Szene des Billy Budd „Look Through the Port“ aus der Britten-Oper wäre nach Mahler wohl des Guten zu viel. Bis auf den Liederzyklus nehmen die Nummern keinen Schaden, wenn sie in loser Abfolge und auch einzeln konsumiert werden. So ein Fall ist der herzzerreißend vorgetragene Monolog des arbeitslosten leichtfüßigen Billy Bigelow aus Carousel von Richard Rodgers, dem Broadway-Musical vom Feinsten. Eine dramatische Story teilt sich in einer eingängigen musikalischen Form mit, wie sie nur amerikanische Komponisten zuwege bringen. Bigelow sinnt über seine prekäre Lebenslage und das ungeborene Kind, dessen Vater er ist, nach. Er wird ein schlimmes Ende mit ihm nehmen. Wer am Vortrag von Montague Rendall Gefallen findet, wird zuletzt danach fragen, warum dieser Monolog eine kontemplative Reaktion in Gang setzen soll. Und selbst die Szene Papagenos mit Papagena (Elisabeth Boudreault) und den drei Knaben (Oliver Barlow, Sam Jackman und Benjamin Gilbert) aus dem zweiten Akt der Zauberflöte – genügt sie sich nicht in ihrer singspielartigen Klarheit und betörenden musikalischen Eingebung? Der Interpret sieht es etwas anders, wenn er schreibt: „Diese musikalischen Meisterwerke führen gelegentlich zu Betrachtungen über so vielseitige Themen wie Sterblichkeit, einen berauschenden Liebestrank und die ungeheure Kraft einer persönlichen Entscheidung. Sie dienen als zeitlose Anleitung für das Überwinden von Zeiten aufgewühlten Leids und sich auftürmenden, bedrängenden Unglücks. Die Macht der Musik lässt sich mit den unvorhersehbaren Strömungen eines mächtigen Flusses vergleichen: manchmal muss man die Stärke aufbringen, um gegen den reißenden Strom anzuschwimmen, während man sich andererseits der Strömung überlässt und sich von ihr stromabwärts treiben lässt. Musik zeugt, wie dieser Fluss, von der ehrwürdigen Schönheit der Natur und der Widerstandskraft des menschlichen Geistes.“

Mercutio (Huw Montague Rendall) kommt Roméo (Benjamin Bernheim) nahe. Eine Szene aus Gounods „Roméo et Juliette“ 2023 in der Pariser Oper / YouTube Screenshot

Noch mehr Mozart gibt es mit der großen Conte-Arie aus dem dritten Figaro-Akt „Hai già vinta la causa! … Vedrò, mentr’io sospiro“ und Don Giovannis Canzonetta „Deh, vieni alla finestra“ aus dem zweiten Akt. Szenen, die im Vergleich mit dem übrigen Angebot, etwas abfallen. Was noch? Mercutios Mab-Ballade aus Gounods Roméo et Juliette sowie Rezitativ und Arie des Valentin „O sainte médaille – Avant de quitter ces lieux“ aus Faust vom selben Komponisten – ein Fach, mit dem er seine eigentliche Domäne gefunden zu haben scheint. Montague Rendall passt die Stimmfarbe den Figuren an, haucht Töne aus und unterdrückt die Ängste nicht, mit denen der Bruder Marguerites in den Krieg zieht. Von der existentiellen Introspektion Hamlets, verewigt in Ambroise Thomas’ monumentaler Oper nach Shakespeares Meisterwerk, bis zu den skurrilen romantischen Eskapaden von Monsieur Beaucaire in der Sicht von André Messager (beide Werke werden vom Sänger als einzige direkt genannt) sei diese aufreizende Vorstellung von „vielleicht“ immer gegenwärtig. Dieser einzelne Begriff, gleichbedeutend mit möglich und ungewiss, beschäftige ihn ständig. „Kann sein“, „was wär wenn“. Derartige Betrachtungen führten zu einer geheimen Türschwelle; ein kurzer Blick durch das Schlüsselloch sei eine entmutigende Aussicht. „Wie steuert man durch das vertrackte Labyrinth grenzenloser Möglichkeiten?“ Diese Musikzusammenstellung zeuge von der unbeugsamen Natur der menschlichen Seele und ergründe „unsere angeborene Fähigkeit“ zu gesunden und durch Introspektion zu wachsen.

Montague Rendall, der vom Opéra Orchestre Rouen unter Ben Glassberg begleitet wird, lässt nicht locker: „Wir haben das außerordentliche Glück, in einer Zeit zu leben, in der der Diskurs über mentale Gesundheit stark zugenommen hat und die Hilfsmöglichkeiten sich vermehrt haben. Dieses günstige Umfeld hat zahllose Einzelpersonen dazu angeregt, mit ihren persönlichen Geschichten ins Rampenlicht zu treten, um Beziehungen zu Menschen mit gleicher Erfahrung aufzubauen. Dieses Album will Selbstbetrachtung fördern und bietet denjenigen Trost, die sich auf den Weg zur Selbstfindung machen.“ Und weiter: „Kontemplation hat mich zu einer beeindruckenden Introspektion befähigt, die mir den Weg zu meinem tiefsten Selbst bereitet hat. Voller Erwartung zeige ich nun diesen Weg auf und hoffe, mit Ihnen eine tiefempfundene Verbindung herzustellen. Voller aufrichtiger Gefühle biete ich Ihnen dieses Album an und lade Sie ein, mich auf diesem Weg zu begleiten.“ (Foto oben: Huw Montague Rendall in einem Ausschnitt aus dem Booklet seiner neuen CD / © Simon Fowler). Rüdiger Winter

Schubert „modern“

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Nicht Die sondern Eine schöne Müllerin verspricht der Titel der Neuerscheinung bei ET’CETERA (KTC 1827). Der Name Schuberts, der sich dem Betrachter des Covers zwangsläufig einstellt, findet keine Erwähnung. Es gibt auch keinen Hinweis drauf, ob jemand singt. In auffälligen Lettern treten das Ensemble Spectra hervor – und Daan Janssens, beim dem es sich um den 1983 in Brügge geborenen belgischen Komponisten handelt, der auch Opern schuf. Mehr nicht. Dabei hätte es der ebenfalls aus Belgien stammende Tenor Thomas Blondelle, dem auch in dieser Müllerin eine gewichtige Rolle zukommt, durchaus verdient gehabt, nicht erst auf der Rückseite genannt zu werden. Er ist auch in Deutschland sehr gut bekannt – und geschätzt. Mit Berlin fühlt er sich besonders verbunden. Dafür spricht, dass er bereits in mehr als zwanzig Produktionen an der Deutschen Oper mitwirkte. Seinen Einstand gab er 2009 mit dem Ersten Geharnischten in der Zauberflöte. Es folgten Loge, Tambourmajor, Erik, Eisenstein und etliches mehr. Und da er noch nicht sehr viele Einspielungen vorweisen kann, wäre sein Name für die neue CD gewiss verkaufsfördernd. Nach wie vor lassen sich Musikfreunde bei Neuerwerbungen oder beim Streamen auf diversen Plattformen im Netz von der Bekanntschaft mit Sängerinnen und Sängern auf Bühnen und Konzertpodien leiten. Sie sind und bleiben Zugpferde, schaffen Verbindungen zwischen gewohnten Werken und neuen Schöpfungen. Blondelle jedenfalls lässt sich unvoreingenommen und mit großem Enthusiasmus auf die Produktion ein und hinterlässt mit schönem, sensiblem und flexiblem Tenor sein individuelles Gütesigel. Gern würde man ihn auch mit dem Schubertschen Original hören. Er wäre – auch wegen seines perfekten Deutsch genau richtig. Nicht nur, dass er die Texte exakt vorträgt. Er findet den Sinn heraus, weiß also, worum es geht

Der Tenor Thomas Blondelle auf einem Foto im Booklet / © Simon Payly

Bei dieser Müllerin handelt es sich um ein Auftragswerk des Festivals 20/21 im belgischen Leuven, das – wie es der Name schon in seinem Bezug auf zwei Jahrhunderte sagt, eine Brücke zwischen morgen, heute und gestern schlagen, die unglaublich vielen Facetten der jüngeren Musikgeschichte hörbar machen und am Puls der Zeit bleiben will. Ein Festival, das das Repertoire der letzten 118 Jahre in Ehren hält und zugleich furchtlos nach vorne blickt, was die musikalische Zukunft bereithält, ist aus erster Hand auf der eignen Website zu erfahren. Die Müllerin-Adaption entstand 2018. Der Wunsch sei es gewesen, eine Neuinterpretation dieses Meisterwerks zu schaffen, bei der das Original erkennbar bleibe, kann im Booklet nachgelesen werden. Es gehe aber um mehr, als um einer bloße „moderne Instrumentierung“. Den Angaben zufolge entschied sich Janssens dafür, seinem Werk zusätzliche textliche und musikalische Elemente hinzuzufügen. So würden zwei klangvolle und zwei poetische Welten in unterschiedlichem Maße miteinander verwoben. Die Rede ist von einem „Doppelzyklus“. Obwohl die Grundstruktur erhalten bleibt, wurden einige Titel mit neuen Versen oder instrumentalen Zwischenspielen – wie es heißt „überschrieben“. Dabei verwendet Janssens Texte des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa (1888-1935), der in seiner Heimat hochverehrt wird. Sie stammen aus seinem Buch der Unruhe. „Wie ein böser Geist / hat mich mein Schicksal damit gequält, / nur haben zu wollen, / was ich wohlweislich nicht haben kann“, beginnt – um ein Beispiel anzuführen – der Vers, der auf das Lied Der Neugierige im Original folgt. Romantischer könne ein Gedanke nicht sein. Diese Eingriffe erzeugten eine ständige Konfrontation zwischen zwei literarischen Welten (Müller / Pessoa) und zwei Musikstilen (Schubert / Janssens), wird im Booklet weiter erklärt. Die Absicht bestehe aber nicht so sehr darin, Gegensätze zu erzeugen, sondern vielmehr die eigentliche zeitgenössische Bedeutung des Stücks noch stärker hervorzuheben. Der Sänger geht mit den teils schroffen Übergänge dergestalt um, als sei es schon immer so gewesen.

Janssens hat sich hier dafür entschieden, Pessoas Texte in deutscher Übersetzung zu verwenden, um die Einheit von Schuberts Werk nicht zu stören, erfahren die Leser des Booklets weiter. Der Gesangspart bleibe erhalten und Janssens respektiere auch die formalen Strukturen der Lieder. „Der Hauptunterschied liegt also in den Begleitstimmen: Der ursprüngliche Klavierpart wird zu einem Ensemble aus neun Musikern (Violine, Viola, Cello, Flöte/Altflöte/Bassflöte, Klarinette/Bassklarinette, Horn, Akkordeon, Klavier und Schlagzeug) erweitert.“ Oft – insbesondere zu Beginn des Zyklus – bleibe Janssens den Noten von Schuberts Begleitung treu, reichere sie jedoch mit moderneren Elementen wie Geräuschen, Perkussionseffekten und speziellen Streichertechniken an. Dem aufmerksamen Publikum entgeht nicht, dass die Bearbeitung auch Deutung sein will. Im instrumental gehaltenen Einstieg klingt schon das Ende an. Nicht versöhnlich wie im Original sondern alsbald hart und brutal. Janssens schenkt seinem Publikum nichts. R.W.

Ein Romantiker aus der Schweiz

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Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt. Das Lied von 1833 hat bis heute nichts von seiner Popularität eingebüßt. Und als sich Nena und Heino seiner annahmen, ist es sogar zum Schläger mutiert. Einst gehörte es zur Aussteuer singender Studenten und der Wandervogelbewegung. Kein Chor, der es nicht im Repertoire hat. Der Text stammt von Joseph von Eichendorff, die Musik von Friedrich Theodor Fröhlich. Er soll sich an einer viel älteren Vorlage unbestimmter Herkunft orientiert haben. Die Melodie ist eingängig. Einmal gehört, vergisst sie sich nicht wieder. Wer war dieser Fröhlich? Er wurde am 20. Februar 1803 im schweizerischen Brugg geboren und schied am 16. Oktober 1836 in Aarau freiwillig aus dem Leben. Lange verkannt, wird er heute „als der bedeutendste Schweizer Komponist der Frühromantik angesehen“, ist sich Johannes Vigfusson, Präsident der Internationalen Friedrich Theodor-Fröhlich-Gesellschaft sicher. Ein Beleg dafür ist auch die wachsende Zahl von Einspielungen. Eine Neuerscheinung als CD-Premiere ist bei Hänssler Classic herausgekommen. Es handelt sich um den Liederzyklus Johannes und Esther nach Versen von Wilhelm Müller, jenem Müller, der auch die Vorlagen zu Müllerin und Winterreise von Schubert dichtete. Ian Bostridge wird von Julius Drake begleitet (HC 23010).

Der schweizerische Komponist Friedrich Theodor Fröhlich (1803-1836) schied freiwillig aus dem Leben / Wikipedia

Vigfusson hat einen Text mit biographischen Angaben für das Booklet beigesteuert. Bereits im Kindesalter habe Fröhlich eine starke Begabung für Musik gezeigt, nach dem Besuch des Gymnasiums in Zürich 1822 in Basel und 1823 in Berlin ein Jurastudium begonnen, das ihn aber nicht zu fesseln vermochte. „In Berlin knüpfte er Kontakte zu den Musikpädagogen Carl Friedrich Zelter, Bernhard Klein und Ludwig Berger. Diese Begegnungen bestätigten ihn darin, sich ganz der Musik zu widmen.“ Nach einer durch Krankheit bedingten Rückkehr und zweijährigem Aufenthalt in Brugg sei der Dreiundzwanzigjährige 1826 wieder nach Berlin gegangen, diesmal mit einem Stipendium der Aargauer Kantonsregierung, um dort seine Studien der Komposition fortzusetzen. In Berlin folgte nach Angaben von Vigfusson eine reiche Schaffensperiode. Zahlreiche Lieder und Chöre, drei Streichquartette, unter anderem auch eine Ouvertüre und eine Sinfonie seien entstanden. Einige seiner Liedersammlungen wurden in deutschen Verlagen veröffentlicht. Dennoch habe es ihm nicht recht gelingen wollen, sich in Berlin eine unabhängige Existenz als Musiker aufzubauen. Vigfusson: „Voller Hoffnung auf einen fruchtbaren Boden für seine kompositorische und musikpädagogische Arbeit kehrte er 1830 in die Schweiz zurück. In Aarau erhielt er an der Kantonsschule eine Teilzeitstelle als Musiklehrer. Daneben leitete er Chöre und ein Liebhaberorchester und erteilte Privatunterricht. Neben dem ermüdenden Brotberuf widmete er die spärliche Freizeit dem Komponieren, und es entstanden hochbedeutende Werke, die bei Rezensenten begeisterten Anklang fanden. Künstlerische Vereinsamung und die mangelnde Beachtung durch Verleger und Publikum nährten aber in ihm eine zunehmende Mut- und Hoffnungslosigkeit.“ Zusätzliche finanzielle Sorgen und private Probleme hätten schließlich dazu geführt, dass er sich das Leben nahm. Die große Anzahl handschriftlicher Kompositionen seien in privater Verwahrung rasch in Vergessenheit geraten, doch mehrheitlich erhalten geblieben.

Der Zyklus Johannes und Esther, der von Müller mit der Bemerkung „Im Frühling zu lesen“ versehen wurde, ist 1821 erstmals im Druck erschienen – und zwar in einem Sammelband gemeinsam mit Müllerin und Winterreise. Nicht vertont wurde das abschließende Gedicht An Johannes, weshalb es auch im Booklet weggelassen wurde. Gelesen hätte man es schon gern. „Die neun dazwischenstehenden Gedichte sind Johannes in den Mund gelegt. Sie handeln von den inneren Nöten, die eine (damals unerlaubte) interkonfessionelle Liebesbeziehung zwischen einem Christen und einer Jüdin verursachte“, so Vigfusson. Das angespannte Verhältnis der Religionen hätte Müller seit seiner Kindheit in Dessau beschäftigt, wo sein Elternhaus gegenüber einer Synagoge gestanden habe. Es sei aber nicht mit Sicherheit bekannt, ob er in Johannes und Esther auch eigene Erlebnisse oder die eines Jugendfreundes verarbeitet habe. Für beides gebe es Hinweise.

Leider lässt die Interpretation durch den englischen Tenor Ian Bostridge nicht erkennen, warum er sich ausgerechnet dieses Werkes angenommen hat. Es gibt auch im Booklet keinen Hinweis darauf. Er ist für seine enge künstlerische Bindung an deutschsprachiges Liedgut bekannt. Wilhelm Müller ist ihm in den Vertonungen durch Schubert bestens vertraut. Der Musikwissenschaftler in ihm befindet sich stets auf der Suche nach neuen Herausforderungen. So war der Weg in die Schweiz zu Fröhlich wohl nicht weit. Ich hätte mir eine schlichtere Darbietung gewünscht, die auch den Text und damit die spannende Geschichte deutlicher hervortreten lässt. Rüdiger Winter

Liebeserklärung

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„Ruhn in Frieden alle Seelen“: Die Litanei auf das Fest aller Seelen ist gut gewählt für den Einstieg in ein Programm mit Liedern von Franz Schubert. Ist der Titel der Dichtung von Johann Georg Jacobi (1740-1814) auch sperrig und sprachlich nur aus der Zeit zu verstehen, die tiefe musikalische Umsetzung ist es nicht. Im Gegenteil. Sie entfaltet Sogwirkung. Jacobi hatte als Schriftsteller einen schweren Stand bei Zeitgenossen. Goethe, Klopstock oder Lichtenberg lästerten scharfzüngig über ihn. Schubert aber muss sich zu ihm hingezogen gefühlt haben, er vertonte ihn mehrfach. Auch Mozart und Schumann bedienten sich bei ihm. Besagtes Lied bezieht sich auf das katholische Allerseelenfest, bei dem aller Verstorbenen gedacht wird, also auch jener armen Seelen, die im Fegefeuer ihre Sünden büßen. Schubert war Katholik. Mit fünfeinhalb Minuten ist das Lied vergleichsweise lang. Folglich muss es der Interpret beim Vortrag klug strukturieren, um die Spannung aufrechtzuhalten. Philippe Jaroussky gelingt das vorzüglich. Er singt es stromlinienförmig in einem leichten auf und ab. Bei ihm klingt es – und das macht den ganz besonderen Reiz aus – ein bisschen nach Arie. Der für lange Zeit mit Koloraturen gepflasterte Weg des Künstlers schimmert immer noch hindurch.

Seine neue CD ist bei Erato erschienen (01902967377688). Jérôme Ducros hat die Begleitung am Klavier übernommen. Es handelt sich um die dritte Zusammenarbeit beider Künstler. Der französische Pianist tritt auch als Komponist in Erscheinung. Gelegentlich – wie beim Musensohn – schenkt Ducros mit seinem rasanten Tempo dem Sänger nichts. Auffällig anders klingen hier und da gewisse musikalische Details. Schuberts Unergründlichkeit wird unkonventionell ausgetestet. Nicht nur vom Pianisten. Auch Jaroussky macht vieles anders, weil er nun mal kein geborener Schubert-Interpret ist, der schwer am Erbe eines Wunderlich, Fischer-Dieskau oder seines Landsmanns Souzay zu tragen hätte. Dieser Last und damit auch diesem Vergleich ist er, der Countertenor, ledig – der künstlerischen Verantwortung jedoch nicht. Er muss eigene Wege gehen. „Stets hat die Klarheit und Tiefe der Musik von Schubert mein musikalisches Leben begleitet – als Geiger, Pianist und schließlich als Sänger“, schreibt Jaroussky im Booklet und bezeichnet das Album als „eine Liebeserklärung“ an dessen „ergreifendes Genie, aber auch an die deutsche Sprache, der ich mich immer mehr verbunden fühlte“.

Das Programm scheint nicht immer den individuellen stimmlichen Möglichkeiten angepasst zu sein. Schon im zweiten Lied Herbst kann Jaroussky dem Romantiker Ludwig Rellstab nicht überzeugend folgen, wenn der darüber sinniert, dass die Blüten des Lebens dahin welken und die kalten Winde über dem Hügel den Rosen der Liebe den Tod bringen. Statt Stimmungen zu erzeugen gefällt er sich in gekünstelten Mitteilungen, die den Bezug zur Musik zu verlieren drohen. Drittens schließlich „Du bist die Ruh‘“ nach einem Gedicht von Friedrich Rückert. Da ist Jaroussky in aller Schlichtheit ganz auf der Höhe. Wenn auch die obere Lage angestrengt wirkt, geht dieses Lied wie hingehaucht vorüber. Insgesamt werden neunzehn Titel geboten. Gemessen an der Kapazität der CD bleiben noch gut zehn Minuten übrig. Es gibt keinen Anlass, daraus ein Manko abzuleiten, zumal die Zusammenstellung mit Liedern wie An die Musik, Nacht und Träume, Ellens dritter Gesang (Ave Maria) von einem Höhepunkt zum anderen führt. Rüdiger Winter

Neu entdeckter „Regenlied-Zyklus“

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Brahms geht immer. Zumal in prominenter Besetzung. Von dieser Überzeugung ließ sich wohl auch das in Glasgow ansässige Plattenlabel Linn Records leiten. Es ist auf Klassik, Jazz und schottische Musik spezialisiert und Teil von Linn Products, einer Firma, die sich mit innovativer Tontechnik für gehobene Ansprüche einen Namen gemacht hat. Unternehmerisch macht diese Mischung durchaus Sinn. Neue im Katalog sind zwei „Songbooks“ in ökologisch vorbildlichen Hüllen, die völlig ohne Plastik auskommen. Vol. 1 (CKD 693) wird von Thomas Oliemans bestritten, Vol. 2 (CKD 749) von Sarah Connolly und Hanno Müller-Brachmann. Beide Male begleitet am Flügel der aus Edinburgh stammende Pianist Malcolm Martineau, der vornehmlich als Liedbegleiter in Erscheinung tritt. Zugkräftig ist mit der Schönen Magelone der Einstieg in die Edition gewählt. Das Werk erfreut sich anhaltender Beliebtheit und wurde sehr oft eingespielt. Der niederländische Bariton Oliemans singt nur die fünfzehn Romanzen, was ursprünglich auch im Sinne des Komponisten gewesen ist. Dadurch geht aber der Bezug zur romantischen Erzählung selbst verloren. Nur wer Tiecks Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence kennt, kann folgen. Da nützt es auch wenig, dass die Verse im Booklet abgedruckt sind. In seiner Zeit konnte Brahms auf ein Publikum vertrauen, das seinen Tieck kannte. Davon kann heutzutage kaum mehr die die Rede sein. Obwohl sich Oliemans in Deutsch vergleichsweise sicher bewegt – schließlich tritt er auch in der Zauberflöte, im Ring des Nibelungen und in der Fledermaus auf – ist er keine geborener Vermittler und Deuter sprachlich verschlungener romantischer Verse. Wohl aber vermag er mit seinem etwas herben Bariton Stimmungen hervorzubringen, die dem Zyklus gerecht werden. Stimmungen, an denen der Mann am Klavier hier wie auch an den anderen Liederbüchern erheblichen Anteil hat.

Der eigentliche Mehrwert der CD ist der so genannte Regenlied-Zyklus, der aus vier Nummern besteht, die auf Gedichte von Klaus Groth (1819-1899) beruhen. Er führt keine eigene Opuszahl und ging später in der Sammlung Acht Lieder und Gesänge op. 59 auf, in die er sich thematisch einordnet und die umfangreichere Zusammenstellung inhaltlich erweitert. Brahms hielt viel von Groth, der wie Fritz Reuter zu den Begründern der niederdeutschen Literatur gehört. In Kiel, wo er wirkte, starb und begraben ist, finden sich gleich mehrere Gedenkorte. Auch in Berlin (Westend) und in anderen Städten zeugen Straßennamen von der einstigen Bedeutung dieses Literaten. Nicht nur die Regenlieder gehen auf ihn zurück. Groth lieferte die Verse für einige seiner schönsten Erfindungen. Zu nennen sind „O wüsst‘ ich doch den Weg zurück“ und „Wie Melodien zieht es mir leise durch den Sinn“. Die Online-Enzyklopädie Lieder.net weist zudem Vertonungen von Groth durch Goldmark, Flotow, Grieg, Nietzsche, Fibich, Jenner, Schönberg, Reger, Raff und Blech nach, die ihrer Wiederentdeckung harren.

Im Brahms-Handbuch (Metzler/Bärenreiter 2009, S. 224) wird der Komponist dahingehend zitiert, dass die meisten Sänger und Sängerinnen sich die Lieder ganz willkürlich zusammenstellen, wie sie gerade ihrer Stimme lägen und gar nicht beachteten“, dass er, Brahms, sich stets große Mühe gegeben habe, seine Liedkompositionen wie zu einem Bouquet zusammenzustellen. Diese Willkürlichkeit hat sich bekanntlich auch auf dem Musikmarkt eingenistet. Nicht in übler Absicht sondern meist aus ganz praktischen Erwägungen, wie sie auch schon von Brahms beargwöhnt worden sind. Er konnte nicht ahnen, dass auch in den ersten Plattenaufnahmen von Liedern, die deren Verbreibung ungemein förderlich gewesen sind, gar nicht daran zu denken war, in sich geschlossene Werkgruppen einzuspielen. Allein die Kapazitäten von Tonträgen gaben das nicht her. Der lockere Umgang mit den originalen Einteilungen hat sich schließlich mehr und mehr durchgesetzt. Deshalb sind Editionen wie diese Songbooks, die den Intentionen des Komponisten folgen, ein gutes Werk.

Gruppen mit den Opuszahlen 43, 48, 57, 72 und 105 sind auf der CD Vol. 2 versammelt. Opus 105 wird von “Wie Melodien zieht es“, dem bereits erwähnten Groth-Titel wirkungsvoll eingeleitet. Mit „Immer leiser wird mein Schlummer“ folgt ein weiteres Highlight, das jeder, der sich auch nur ganz nebenbei mit Liegesang beschäftigt hat, kennte. Kaum ein Liederabend mit einer Brahms-Gruppe kommt ohne diesen Titel aus. Einmal gehört, vergisst er sich nie wieder. Die englische Mezzosopranistin Connolly singt es mit aller gebotenen Schlichtheit, Innerlichkeit und Ruhe – Vorzüge, die auch bei ihrer Interpretation der Lieder Die Mainacht und Von ewige Liebe (beide op. 43) den Vergleich mit den besten Brahms-Interpreten nicht zu scheuen brauchen. Müller-Brachmann, ein auch im Liedgesang geschätzter Bassbariton, weiß in derselben Werkgruppe mit den balladesken Titeln „Ich schell mein Horn ins Jammertal“ und „Das Lied vom Herrn von Falkenstein“, die eine Nähe zu Carl Loewe erkennen lassen, aufregende Kontraste zu setzen, die einen starken Eindruck hinterlassen. Rüdiger Winter

Windgassens erster Siegfried

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1953 war ein guter Bayreuther Jahrgang. Die Nachkriegsfestspiele fanden zum dritten Mal statt. Der Neuanfang war künstlerisch geglückt. Mit Lohengrin gelangte ein weiteres Werk auf den Spielplan. Wieland Wagner feilte an seiner Ring-des-Nibelungen-Inszenierung, die 1951 erstmals gezeigt worden war. Bei allem Glanz nach außen etablieren sich die Festspiele nach innen als Werkstatt. Leider ist das optisch nicht mehr nachzuvollziehen. Beschreibungen und Fotos vermitteln nur einen bescheidenen Eindruck von dem Prozess, der auch als Entrümpelung der Wagner-Bühne in die Musikgeschichte einging. Nennenswerte Filme gibt es nicht, nur die akustischen Mitschnitte. Und die nicht zu knapp. Inzwischen dürften fast alle Premieren der Nachkriegsfestspiele dokumentiert sein, dank der weitsichtigen Vergaberechte an den Bayerischen Rundfunk. 1953 teilten sich Joseph Keilberth und Clemens Krauss in die musikalische Leitung des Ring des Nibelungen, mit dem das Festspielhaus 1876 eingeweiht worden war. Krauss kam nur einmal nach Bayreuth, während Keilberth neben Hans Knappertsbusch zu einer tragenden Säule der Festspiele wurde. Beide Ring-Zyklen – und das erweist sich als ausgesprochener Glücksfall – sind mitgeschnitten worden und schon vor Jahren in unterschiedlichsten Ausgaben an die Öffentlichkeit gelangt. Nicht immer ganz legal, nicht immer gut im Ton.

Jetzt hat das Label Pan Classics (Note 1) die Aufnahme unter Keilberth in einer handlichen, Platz sparenden Box neu herausgegeben (PC10461) – zum Verwechseln ähnlich der bereits vor knapp zehn Jahren erstmals veröffentlichten Box. Für die Zeit ist das Klangbild sehr gut. Keilberths zupackender Stil wirkt gar nicht so historisch, wie es die zeitliche Distanz erwarten lassen würde. Das berühmte Ensemble nahm Gestalt an. Es sollte in seinem Kern über mehrere Spielzeiten Bestand haben und Maßstäbe im Wagnergesang setzen, die bis jetzt nie übertroffen wurden. Martha Mödl sang die Brünnhilde bei Keilberth, während Astrid Varnay unter Krauss besetzt war. Hans Hotter gab Wotan und Wanderer während Gustav Neidlinger im Alberich seine Paraderolle auf dem Grünen Hügel gefunden hatte. Wolfgang Windgassen, 1952 noch der Froh im Rheingold, sang seine ersten Siegfriede. Er kreierte einen völlig neuen Typ als Heldentenor. Windgassen stand nicht das metallische und schneidende Material eines Lorenz zur Verfügung. Seine Stimme war lyrisch und kleiner, was zur Folge hatte, dass die Figuren plötzlich viel menschlicher klangen. Aus der Not wurde eine Tugend. Dieser Tenor drückt denn auch dem Ring seinen besonderen Stempel auf. Für die Sieglinde wurden die Sängerinnen in diesen Anfangsjahren öfter ausgewechselt als bei anderen tragenden Rollen. 1953 war dafür die Amerikanerin Regina Resnik angereist, die damals noch das Sopranfach sang. Sie sollte – wie ihre Landsmännin Eleanor Steber für die Elsa im Lohengrin – allerdings nicht wiederkommen. Bei der Besetzung der Walküren wurde auch 1953 nicht gespart. Nicht selten waren hochdramatische Kaliber darunter, die an ihren Stammhäusern selbst Brünnhilden und Sieglinden oder Isolden sangen – wie Brünnhild Friedland (Ortlinde) oder Liselotte Thomamüller (Helmwige). Wer stand noch auf dem Besetzungszettel? Ramón Vinay (Siegmund), Paul Kuen (Mime), Erich Witte (Loge), Josef Greindl (Fafner, Hunding, Hagen), Ira Malaniuk (Fricka, Waltraute), Maria von Ilosvay (Erda), Rita Streich (Waldvogel). Rüdiger Winter

Männerliebe und Leben

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Ist es jetzt geschehen? Sollte sich ein Sänger an Schumanns Frauenliebe und -leben gewagt haben? Zumindest legt der Titel einer neuen CD für einen kurzen Moment diese Vermutung nahe. Eine Vermutung, die gewollt sein dürfte. Aufsehen erregt sie allemal. Männerliebe und Leben nennen Günther Groissböck und seine schottischer Pianist Malcom Martineau ihr jüngstes Album, das bei Gramola erschienen ist (99294). Im Innern, auf dem Aufschlagfoto des Booklets, sitzen beide dröhnend lachend an einem Bistrotisch, als würde sie sich Witze erzählen und weniger dem lyrischen Ich der zur Interpretation anstehenden Stück nachsinnen. Solche Ausgelassenheit hätte denn auch nicht gepasst zu Schumanns Liederzyklus nach Versen Chamissos. Das letzte, was einem angesichts des ungewöhnlich freien Nachsinnens einer jungen Witwe über den Verlust des heiß geliebten Gatten einfiele, wär eine fröhliche Herrenrunde.

Diese Frauenliebe also ist auch nicht kompatibel mit der Männerliebe, von denen die Lieder der neuen CD erfüllt sind: Beethovens An die ferne Geliebte und Schumanns Dichterliebe. Aus gegebenem Anlass – nämlich des 200. Geburtstages von Anton Bruckner, der bekanntlich ein sehr schwieriges und gehemmtes Verhältnis zu Frauen unterhielt, sind drei seiner selten zu hörenden Lieder berücksichtigt worden, die sich hören lassen können: Mein Herz und deine Stimme (August von Platen), Im April (Emanuel Geibel) und Herbstkummer (Ernst – Dichterpseudonym des bedeutenden Botanikers Matthias Jacob Schleiden, einem Mitbegründer der Zelltheorie). Beschlossen wird das Programm mit einer aus sechs Titeln bestehenden Liedergruppe von Johannes Brahms, darunter Wie bist du, meine Königin, Die Mainacht und „O wüsst‘ ich doch den Weg zurück“. Bis auf Bruckner eine sehr geläufige Auswahl.

Groissböck ist seit gut zwanzig Jahren international im Geschäft. Wagner steht mit Hunding, Fafner, Fasolt, Landgraf, Pogner, König Marke, Gurnemanz und König Heinrich im Mittelpunkt seiner Opernauftritte. Erfolg bescherte ihm auch der Ochs im Rosenkavalier bei den Salzburger Festspielen, den er dort in der Inszenierung von Harry Kupfer strichlos sang und der eine seiner zentralen Partien bleiben sollte. Er ist gut beraten, seinen schweren Bass mit Liedern flexibel zu halten. Diesem Genre gelten zahlenmäßig die meisten seiner bisher veröffentlichten Solo-Aufnahme. Zwei Jahre vor dieser Neuerscheinung kam ebenfalls bei Gramola die CD „Nicht Wiedersehen!“ mit Liedern von Strauss, Rott und Mahler heraus. Schon damals soll die Redakteurin Helene Breisach vom Österreichischen Rundfunk als Titel „Männerliebe und Leben“ ins Spiel gebracht haben. Nun wurde daraus Wirklichkeit. Verglichen mit Schumann und Carl Loewe, der die Chamisso-Verse ebenfalls vertont hat, ist die inhaltliche Konzeption eine ganz andere. Insofern bleibt der lockere Umgang mit dem Titel nicht mehr als ein Spiel.

Mit den Jahren ist Groissböcks Stimme schwerer geworden. Gestaltungsmöglichkeiten fliegen ihm nicht mehr ganz so leicht und reichlich zu wie beispielweise in der Lieder-CD „Herz-Tod“ von 2018 bei Decca. Eleganter könnte der Aufstieg zur Höhe klingen. Vokale wie das O beim mehrfach wiederholten „wonnevoll“ im ersten Brahms-Titel des aktuellen Programms haben nicht die Ruhe und Festigkeit, die zu wünschen wären. Das Schluss-T fällt mitunter etwas scharf aus. Und doch bringt er ein unverwechselbares Timbre ein, und er ist gut zu verstehen. Obwohl die CD an drei Tagen im Februar 2024 im Mozart-Saal in Salzburg produziert wurde, drängte sich mir gelegentlich der Eindruck auf, einer Liveveranstaltung beizuwohnen, in der gewisse Ungenauigkeiten nicht auf die Goldwaage zu legen sind. Rüdiger Winter