Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Neues vom Musensitz

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Argenore, ein hartherziger König, ist die Titelfigur der gleichnamigen einzigen Oper von Wilhelmine von Bayreuth. Das dramma per musica hat nicht weniger als fünf Akte und würde bei einer Aufführung nach dem Original mehr als ebenso viele Stunden dauern. Ob die Oper L’Argenore zum Geburtsfest ihres Mannes, des Markgrafen von Bayreuth, am 10. Mai 1740 tatsächlich aufgeführt wurde, ist unklar.


Friederike Sophie Wilhelmine von Preußen bzw. Wilhelmine von (Brandenburg-)Bayreuth (* 3. Juli 1709 in Berlin; † 14. Oktober 1758 in Bayreuth) war das älteste von zehn überlebenden Kindern des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I. und Sophie Dorothea von Hannover. Sie wurde als zukünftige Königin von England erzogen, musste aber letztendlich – nach jahrelangem Hin und Her – Friedrich III. von Brandenburg-Bayreuth heiraten und wurde als dessen Ehefrau Markgräfin. Literarische, historische, sowie musikhistorische Bedeutung erlangte sie u. a. durch den Briefwechsel mit ihrem Bruder Friedrich dem Großen und durch die Veröffentlichung ihrer Memoiren, die durch ihre teils unverblümten Schilderungen des Lebens am preußischen Hofe von besonderem kulturgeschichtlichem Wert sind. Besonders als Kunstmäzenin, Komponistin und Opernintendantin prägte sie in bedeutendem Maße das kulturelle Leben der Stadt Bayreuth bis in die heutige Zeit. Das von ihr initiierte Markgräfliche Opernhaus wurde 2012 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erhoben./ Wikipedia

In neuer Fassung ist sie jetzt bei Coviello herausgekommen (COV 92504), ergänzt durch ein Sprechspiel von Marlene Streeruwitz, das die Dialoge ersetzt. Musikalisch bleibt alles erhalten. Die inzwischen 75jährige Österreicherin machte sich als Schriftstellerin weit über ihr Heimatland hinaus einen Namen. Ihre Werke sind preisgekrönt. In Deutschland erschein sie meist im renommierten Fischer-Verlag. In dieser ganz besonderen Form ist die Mischung aus Musik und Wort zwar gewagt, geht sich aber aus – wie die Österreicher zu sagen pflegen. Weil die Idee, auf der die Konzeption beruht, in sich stimmig erscheint. Auf solcher Grundlage böte sich eine Umsetzung auf dem Theater durchaus an. Alle musikalischen Bestandteile – es gibt nach einem Einleitungschor fünfundzwanzig Arien – sind den Angaben im Booklet zufolge übernommen worden. An Stelle der Dialoge tritt Wilhelmine selber in Erscheinung. Durch ihre Monologe aus der Feder einer heutigen Autorin, die sich zwischen die Musiknummern schieben, erfährt die Oper eine formale und auch inhaltliche Weiterung.

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Es spielt das Göttinger Barockorchester unter der Leitung von Antonius Adamske. Die Besetzung der Titelrolle mit der Mezzosopranistin Magdalena Hinz ist durch die Überlieferung bestimmt, dass sie für einen Kastraten komponiert worden sein soll. Sie war Stipendiatin der Internationalen Bach-Akademie Stuttgart unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann, der als herausragender Heinrich-Schütz-Dirigent gilt, sowie der Liedakademie des Heidelberger Frühlings  bei Thomas Hampson, ist im Booklet nachzulesen. Erste Opernengagements führten sie mit Telemanns Don Quichotte an das Theater Osnabrück und als Mercédes in Carmen zur Opernakademie Schloss Weikersheim. Weitere Stationen waren Münster und Passau. Zu hören ist sie auch bei Liederabenden sowie in Kantaten von Johann Sebastian Bach. Als freie Mitarbeiterin beim RIAS Kammerchor geht Magdalena Hinz weltweit auf Konzertreisen. Den Widerspruch zwischen der sanften und wohlgeformten Stimme und den Abgründen des Charakters ihrer Rolle muss die Phantasie der Zuhörer ausgleichen. Eumene unter dem Namen des Feldherrn Ormondo wird von der aus Bern stammenden Sopranistin Marysol Schalit gesungen, die ihr Konzert-, Solisten- und Operndiplom an der Hochschule der Künste in ihrer Heimatstadt Bern mit Auszeichnungen abschloss. Alle anderen Rollen sind nach ihrem Geschlechte besetzt: Pia Davila als die heimliche Braut von Ormondo, Palmide; Gerald Tompson als ihr Verehrer Leonida. Die vermeintliche Schwester des Ormondo, Martesia singt Lena Spohn, den Königsberater Alcasto Janno Scheller, in dessen Händen zugleich künstlerische Konzeption und Produktionsleitung liegen. Produziert wurden die musikalischen Teile zwischen dem 13. und 20. Oktober 2024 im Konzertsaal der Waldorfschule im Bremer Stadtteil Osterholz.

Die neuen Monologe, die von Claudia Michelsen gesprochen werden, gelangten erst im März dieses Jahres auf Band. Nicht, dass sie wie ein Fremdkörper wirkten. Die Separierung schafft eine gewisse Distanz im Gesamteindruck, der beabsichtig sein dürfte. Schließlich ist Wilhelmine nicht Teil der Handlung. Man hört der Bühnen- und Fernsehschauspielerin gern zu. Sie verzichtet auf jedwede Wehleidigkeit, tritt als kluge, selbstbewusste und erfahrwende Frau mit einem leichten melancholischen Einschlag in Erscheinung. Die Textvorgabe macht es ihr leicht, ihre höfische Umgebung und deren Kabalen zu durchschauen. Im Booklet werden ihre ausführlichen Wortbeiträge nur markiert und nicht gedruckt wiedergegeben wie die in Italienisch komponieren musikalischen Nummern, die sich auch in tabellarischen angelegter deutscher und englischer Übersetzung finden. Das fällt nicht ins Gewicht, weil die Autorin Marlene Streeruwitz sie so angelegt hat, dass sie ihren Scharfsinn ohnehin erst in gesprochener Form zu entfalten vermögen.

In ihren Monologen übernimmt die hier eingeschobene Wilhelmine verschiedene Aufgaben zugleich. Sie durschaut Motive, Absichten und Intrigen der Figuren, deutet sie psychologisch, erkennt Fallstricke und Hinterhalte. Vor ihrem Spürsinn ist niemand sicher. Als wisse sie schon Bescheid, noch bevor etwas geschieht, ohne eine Hellseherin zu sein. Ihre Warte sind Moral und Anstand. Sie ist der gute Geist. Sie reflektiert das nicht unkomplizierte Geschehen. Ohne sie wäre es noch anstrengender, zu folgen, als es ohnehin ist. So wird es eingeordnet, entfernt sich aber deutlich vom Original. Das ist der Preis, den zu zahlen sich lohnt. Wir, die Hörer, werden Zeugen eines literarischen Kunstgriffes. Wilhelmine ist also mehreres in einem: Als Kommentatorin lebt sie in der Handlung ihrer Oper, als preußische Prinzessin, Tochter von Friedrich Wilhelm I. und Bruder des späteren Friedrich II. wird sie zur allwissenden Zeitzeugin. In ihrer Person verschmelzen eine erfundener Opernstoff nach den Konstellationen ihrer Zeit mit historischer Wirklichkeit. Der tyrannische Vater, der als Soldatenkönig in die Geschichte eingegangen ist, verwandelt sich in ihren Erzählungen in Argenore und wieder zurück in den Herrscher Preußens, der seine Kinder unmenschlichen Prüfungen unterzog.

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Das Markgräfliche Opernhaus Bayreuth: Innenraum mit Logenrängen, 1879 (Gemälde von Gustav Bauernfeind)/Wikipedia

Versuche, das Werk dem Repertoire zu erschließen, sind seit 1993 vielerorts untergenommen worden – so im Markgrafentheater Erlangen, an der Neuköllner Oper, im Schlosstheater Potsdam, in Rheinsberg, Bayreuth, in Malmö. Die erste ungekürzte konzertante Argenore-Aufführung gab es am 24. November 2022 in Nienburg/Weser mit dem Orchester und Dirigenten, die nun die CD-Aufnahme unter Studiobedingen verantwortet haben. „Auch wenn die Produktion positives Echo fand, entstand im Nachgang der Wunsch, eine komprimierte Version des Werks zu erstellen, die sich mehr den heutigen Rezeptionsgewohnheiten annimmt als das etwa sechsstündige Original des Rokoko“, so Janno Scheller, der den Königsberater Alcasto singt, im Booklet. „Die Sprachbarriere der ausgedehnten italienischen Rezitative sollte durch ein deutschsprachiges Äquivalent ersetzt werden. Auf diese Weise sollte auch der Person Wilhelmine von Bayreuth als Komponistin sowie als Eingeweihte in Macht und Machtmissbrauch mehr Gehör verschafft werden.“ Da die musikalische Qualität des Werks zuvorderst in den Arien zur Geltung komme, von denen bislang noch keine Gesamteinspielung vorgelegt worden sei, sollten diese vollständig in der neuen Fassung enthalten bleiben. Mit den Arien zeichne die Komponistin nicht nur eindrücklich die Gegensätzlichkeit der einzelnen Figuren, sondern erschaffe eine Nahbarkeit der Sympathieträger. Dies vermag sie, indem sie den Zuhörenden Seelenwelten aufschließe, so Scheller.

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Markgräfin Wilhelmine (am Cembalo) und ihr Orchester 1739 (auf die Platte eines Wandtisches gemaltes, heute verschollenes Bild)/Wikipedia

Welches Leben war Wilhelmine bestimmt, dass es so viele Jahre nach ihrem Tod 1758 in einem musikalischen Kunstwerk nachwirkt und Touristen aus aller Welt an ihre Wirkungsstätten in Bayreuth mit dem einzigartigen Markgräflichen Opernhaus aus dem 18. Jahrhundert anzieht? Dirigent Antonius Adamske hat es in einem eigenen Beitrag für das Booklet mit Akribie beleuchtet. „Die Begründung für die deutlichen Abweichungen der Oper Argenore vom Ideal der seinerzeit oftmals nachgeahmten Metastasio-Libretti wurde zuweilen aus der Biographie der Verfasserin erklärt. Diese wuchs als Friederike Sophie Wilhelmine von Preußen am Berliner Hof ihres Vaters auf, des preußischen Prinzen und späteren ,Soldatenkönigs‘ Friedrich Wilhelm I. (1688-1740). Ihre Mutter, die kurhannoversche Prinzessin Sophia Dorothea, hatte ein Jahr vor der Geburt Wilhelmines bereits einen Sohn und Thronfolger zur Welt gebracht. Dieser war allerdings im Kindbett verstorben.“ Zitiert wird die Hannoversche Kurfürstin Sophie in ihrem Gratulationsschreiben zum zweiten Kind: „Es hätte zwar noch mehr erfreut, wann Euer Königliche Majestät durch ein Prinz wären gesegnet worden, doch haben Euer Majestät auch eine königliche Prinzessin nötig, Alliancen zu machen.“

Erst drei Jahre später, 1712, habe Wilhelmine einen Bruder zur Seite bekommen, jenen Friedrich, der später ,Friedrich der Große‘ genannt werden würde. Die Geschwisterschaft der beiden jungen Preußen sei geprägt gewesen durch ihren Altersabstand. Friedrich habe nur zögernd die Rolle eines Thronfolgers angenommen – „sein Vater war im Sinne des Wortes ein unerbittlicher Mensch, Konflikte waren vorprogrammiert“. Nach Angaben von Adamske heben die Memoiren von Wilhelmine als Gegensatz zum gestrengen Vater den Patriarchen und königlichen Großvater Friedrich I. (1657-1713) hervor. Anlässlich ihres dreijährigen Geburtstags habe sie von ihm eine eigene Kutsche erhalten. Mit dreieinhalb Jahren sei ihr eine italienische Gouvernante zur Seite gestellt worden, die sie neben Geographie und Geschichte auch in „guten Manieren“ unterrichten sollte – und das auch mehr als beflissen an ihrem Ziehsprössling ausgelebt habe. In den Memoiren berichte Wilhelmine von der Begebenheit, dass ihr ein schwedischer Offizier als Sechsjährige aus den Handlinien eine Kette widriger Schicksale gelesen habe. Und in der Tat sei Wilhelmine lebenslang von ständiger Krankheit gezeichnet gewesen. Im jugendlichen Alter hätten beide Geschwister Lautenunterricht vom Komponisten Silvius Leopold Weiss (1687-1750) erhalten. Darüber hinaus habe Wilhelmine einige Fertigkeit auf dem Cembalo erlangt.

Wilhelmine mit ihrem Bruder Friedrich (dem späteren Großen Fritz); Antoine Pesne/Wikipedia

Dazu Adamske: „Mit wem Wilhelmine nun zum Wohle des Staates eine ,Alliance machen‘ sollte, war durchaus umstritten. Während sich die Mutter für eine Doppelhochzeit ihrer Kinder mit dem englischen Königshaus bemühte, favorisierte der König aus territorialpolitischen Interessen im Nordischen Krieg zeitweise das schwedische Königshaus. Überhaupt verfolgten die beiden königlichen Eltern von Wilhelmine und Friedrich oft gegensätzliche Interessen, die sie gegenüber ihren Kindern mittels Anreizen und Druck gleichermaßen durchzusetzen versuchten. Erhielten die Kinder Erlaubnis vom einen Elternteil, war eine Verweigerung durch das andere geradewegs sicher. Die Kinder dienten als Spielball dieser Interessen und wurden dementsprechend instruiert. Im Alter von neun Jahren hatte die misstrauische Mutter Wilhelmine gar aufgetragen, die eigene Erzieherin auszuspitzeln.“ Diese dürfte in den Intrigen, die ganz unmittelbar von den gekrönten Häuptern selbst ausgingen, wichtige Anregungen für den Stoff ihrer Oper Argenore erhalten haben.

„Die Heiratspläne des Vaters für Wilhelmine sollten sich noch mehrmals ändern. Als der Markgraf von Schwedt in die engere Auswahl kam, ergriff der Bruder Partei für Wilhelmine und bedrohte den Markgrafen öffentlich im Falle, dass er die Hand seiner Schwester ergreifen sollte. Ohnehin im ernstlichen Zwist mit seinem Vater, versuchte der Kronprinz mehrfach die Flucht. Beim letzten aussichtsreichen Versuch am 5. August 1730 wurde der Flüchtige entwaffnet, Friedrichs musischer Freund und Fluchthelfer Hans Hermann von Katte von einem Kriegsgericht zu lebenslanger Festungshaft verurteilt. Der Urteilsspruch wurde jedoch vom König persönlich in ein Todesurteil verwandelt. Das Urteil sollte vor den Augen des Kronprinzen vollstreckt werden. Dieser entzog sich schließlich in Ohnmacht dem schrecklichen Schauspiel. Der königliche Zorn ging so weit, auch eine Hinrichtung des Kronprinzen selbst ins Auge zu fassen – was immerhin durch Eingaben mehrerer Monarchen, darunter Kaiser Karl VI., verhindert werden konnte.“

Markgraf Friedrich von Bayreuth, um 1780, Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Es falle nicht schwer, im Verhalten des Soldatenkönigs eine weitere Parallele zur Willkürherrschaft von Argenore zu ziehen. Auch für Wilhelmine sei die Flucht ihres Bruders biographisch prägend gewesen, wurde sie doch als Mitwisserin zu langem Hausarrest verurteilt, der sich mit einer schweren Lungenentzündung auswirkte. Mit dem österreichisch-englischen Vertrag vom März 1731 und der folgenden Entspannung „rückte die Notwendigkeit der Heiratsverbindung mit London für Preußen in den Hintergrund. Wilhelmine konnte aus Sicht des preußischen Monarchen also gewinnbringender verheiratet werden – etwa nach Bayreuth, das sich in den Jahren zuvor dem Einfluss Preußens entzogen hatte. Übereinen Ministerialbefehl ließ Friedrich Wilhelm seiner Tochter verlautbaren, sie habe sich einer Hochzeit mit dem Erbprinzen der Markgrafschaft von Bayreuth zu fügen, andernfalls drohe ihr Festungshaft. Wilhelmine willigte ein“.

Bayreuth sollte sich nach Auffassung des Autors in gewissen Grenzen schließlich als Glücksfalls für Wilhelmine erweisen. „Der Erbprinz teilte mit Friedrich die Leidenschaft für das Flötenspiel. Wilhelmine zog sich gern in die ,Eremitage‘ zurück, einen Landschaftsgarten, über den sie später ganz verfügen sollte. Auf dem nahegelegenen Gut ,Monplaisir‘, das ihr der Schwiegervater zum 23. Geburtstag überantwortet hatte, konnte sie sich fortan mit Musik beschäftigen. Zunächst hatten sich die kulturellen Möglichkeiten des kleinen Fürstentums bei Wilhelmines Ankunft begrenzt dargestellt. Nach dem Dreißigjährigen Krieg hatte Bayreuth wieder aufgebaut werden müssen und sich hoch verschuldet. Zur Zeit Wilhelmines herrschte ein rigoroser Sparkurs unter ihrem Schwiegervater Markgraf Georg Friedrich Carl (1688-1735).“

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Friedrich der Große ließ zum Andenken an seine 1758 verstorbene Lieblingsschwester von Carl von Gontard zwischen 1768 und 1770 in Sans-Soucì diesen „Freundschaftstempel“ bauen/Foto Winter

Mit dem Amtsantritt ihres Mannes Friedrich III. (1711-1763) sei das Pendel wieder in die andere Richtung geschlagen. Eine rege Bautätigkeit habe eingesetzt. Höfische Feste hätten sich aneinander gereiht. Ende der 1730er-Jahre scheine Wilhelmine sich deshalb vollends dem Musensitz Bayreuth gewidmet zu haben. Aus dieser Zeit stamme auch die Komposition Argenore, die eigentlich anlässlich des Geburtstags des Markgrafen, am 10. Mai 1740, aufgeführt werden sollte, wozu es aber vermutlich nie gekommen sei. –  Rüdiger Winter

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(Abbildung oben: Ausschnitt aus einem Pastell  1745, Jean-Étienne Liotard zugeschrieben / Wikipedia) 

Groß in Form

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Die Wiederentdeckung des niederländischen Komponisten Jan van Gilse hierzulande kann cpo für sich in Anspruch nehmen. Wer neugierig darauf ist, wen es jenseits der großen Namen wie Beethoven, Mozart, Bruckner oder Brahms noch so alles gibt in der zweiten oder gar dritten Reihe, ist beim Musiklabel des Medienversandhändlers jpc genau richtig. Im Katalog tauchen Namen auf, die selbst gut informierte Konzertgänger noch nie gehört haben. Es sind nicht die berühmtesten Orchester und Solisten aus den internationalen Musikzentren am Werk. Stattdessen bilden Fundstücke und Ausgrabungen eine eigene Währung. Ich verdanke cpo – in der Langfassung classic production osnabrück – beispielsweis die Gesamtaufnahme aller Lieder und Balladen von Carl Loewe und die Bekanntschaft mit den Märchen-Melodramen von Carl Reinecke. Oft sind Werke im Angebot, die seit ihrer Uraufführung nie wieder erklungen sind. Vermittelt wird die heilsame Erfahrung, dass das musikalische Erbe nicht nur aus Preziosen besteht. In den meist aussagekräftigen Booklets werden jene Kapitel der Musikgeschichte aufgemacht, die in den gängigen Nachschlagewerken und selbst im Netz zu kurz kommen – wenn sie denn überhaupt existieren oder nicht total veraltet sind. Bei vokalen Kompositionen finden sich in der Regel die Texte, die nicht selten nur ganz schwer zu beschaffen wären. Insgesamt dürften es etwa fünf Alben sein, die cpo Jan van Gilse bisher gewidmet hat, darunter seine vier vollendeten Sinfonien, das Klavierkonzert, diverse Orchesterstücke sowie das Oratorium Eine Lebensmesse nach Richard Dehmel. Jetzt also eine neue CD mit Sulamith und Der Kreis des Lebens (555 648-2).

In beiden Fällen handelt es sich um Kantaten mit Solostimmen, Chor und Orchester. Die fünf Sängerinnen und Sänger kommen aus fünf verschiedenen Ländern – die Sopranistinnen Sumi Hwang aus Südkorea und Elena Tsallagove aus Russland, die Tenöre Denzil Delaere aus Belgien und Benjamin Bruns aus Deutschland sowie der Bariton Thomas Oliemans aus den Niederlanden. Es singt der große niederländische Rundfunkchor (Groot Omroepkoor). Das Philharmonische Rundfunkorchester (Radio Filharmonisch Orkest) wird bei Sulamith von dem aus Petersburg stammenden Stanislav Kochanovsky, Chefdirigenten der NDR Radiophilharmonie in Hannover, und der Kreis des Lebens vom US-Amerikaner James Gaffigan geleitet. Es hatte sich also ein internationales Ensemble zusammen gefunden, von dem angenommen werden kann, dass es auch dem Komponisten gefallen hätte. Der war länderübergreifend tätig.

Gilse, am 11. Mai 1881 in Rotterdam geboren, stammte aus bürgerlichen Verhältnissen. Schon als Kind versuchte er sich mit einem Trauermarsch für Klavier im Komponieren. Nach dem Abitur bestand er die Aufnahmeprüfung für das renommierte Kölner Konservatorium, das von Franz Wüllner geleitet wurde. Als Dirigent der Uraufführungen von Rheingold und Walküre, die 1869 bzw. 1870 in München gegen den Willen Richard Wagners von König Ludwig II. durchgesetzt wurden, ging er in die Geschichte ein. Wüllner wurde Gilses Lehrer in Orchesterleitung und Komposition. Die erste Sinfonie stammt aus dieser Zeit und begründete den eigenen Stil. Den Anschluss des Studiums bildete Sulamith. „Aufgrund eines Streits, an dem van Gilse übrigens nicht Schuld war, musste er das Kölner Konservatorium vorzeitig verlassen, weshalb die geplante Aufführung der Sulamith nicht stattfand“, vermerkt der Autor des Boooklet-Textes John Smit. Im November 1902 sei van Gilse nach Berlin gegangen, um sein Studium bei Engelbert Humperdinck fortzusetzen. Die erste Aufführung habe 1903 in seinem Heimatland, und zwar beim zweitägigen Musikfest in Arnheim unter der Leitung des Komponisten stattgefunden. Dafür wurden 120 Orchestermusiker und ein mehr als 500-köpfigen Chor aufgeboten.

Jan van Gilse auf einem Gemälde seines Landsmann Heinrich Martin Krabbé / Wikimedia

Der Text stammt von dem deutschen Prinzen Erich von Schönaich-Carolath (1852-1908), einem Gutsherrn, der sich als Schriftsteller betätigte. Als der Dichterprinz aus der Haseldorfer Marsch gelangte er zu Ansehen über seinen unmittelbaren Wirkungskreis hinaus. Smit nimmt an, dass Wüllner den Komponisten mit dem Stoff bekannt machte. Dieser habe die allmächtige, selbstaufopfernde Liebe einer Frau schildern wollen – und sie als die sagenumwobene biblische Sulamith in der Dichtung des Prinzen gefunden. Im Gegensatz zur Vorlage erscheint ihr Name aber nur als Titel und nicht im Handlungsverlauf selbst, wo sie Maronitenweib ist, das des Weges daher kommt und einem bedrängten Bettler beisteht. Smit: „Liebe und Barmherzigkeit sind daher auch das Hauptthema dieses Gedichts. Sie sind es, die das böse Spiel dessen zerstören, der alles verneint, und ihm immer wieder vor Augen führen, dass er sein Teufelswerk nie wird vollenden können. Auf einem Felsen nahe der heiligen Stadt Jerusalem sitzend, will er zur Osterzeit wieder einmal seinen Triumph über die Schöpfung Gottes genießen, und der vorbeiziehende Pilgerchor macht es ihm leicht: Der alte, dürstende Bettler, der den frommen Leuten in den Weg kommt, wird ignoriert und zu den Worten von der Auferstehung Christi seinem erbärmlichen Schicksal überlassen. Satan jubiliert … jedoch nicht lange: Eine junge maronitische Mutter nimmt sich des Verschmachtenden an und stillt seinen Durst. Der Beobachter starrt fassungslos ins Leere.“ 

Prinz Erich von Schönaich-Carolath verfasste den Text für „Sulamith“ / OBA

Seinen Kreis des Lebens wollte Jan van Gilse als eine Symphonie verstanden wissen. Er bediente sich bei Rainer Maria Rilke. In der Partitur ist das Werk indes als Zyklus für Sopran und Tenor, achtstimmigen gemischten Chor und Orchester bezeichnet. Die Gedichte wurden nicht willkürlich ausgewählt, sondern sollen die Grundidee erklären, auf der das Werk beruht. Smith zitiert den Komponisten mit den Worten: „Wie könnte man diesen Gedanken in seiner einfachsten Form wiedergeben? Als die Erkenntnis, dass das Leben ein Kreislauf ist, dass Anfang und Ende ineinanderfließen und sich nur in einem höheren Grad der Bewusstheit unterscheiden. Und darüber hinaus, dass Tod und Leben eins sind, dass der Tod nichts anderes ist als die unbeleuchtete Seite des Lebens, wie Rilke es ausdrückt.“ Große Gedanken verlangen in dieser Zeit nach großer Form. Gilse ist in der Wahl seiner Mittel nicht eben bescheiden, was ihn mit dem Zeitgenossen Gustav Mahler verbindet. Dem Publikum wird einiges abverlangt. Wer die deutschen Texte nicht kennt, dürfte Mühe haben, den inhaltlichen Botschaften zu folgen. Zumal heutzutage ganz andere Themen gesetzt sind, die Ausdrucksformen weniger wortreich auskommen und sich zunehmend an der Alltagssprache orientieren.

In beiden Werken sind die Solisten um Verständlichkeit bemüht. Als zusätzlich hilfreich erweist es sich, dass im Booklet die literarischen Vorlagen in der Originalsprache und in englischer Übersetzung abgedruckt sind. Die modernen Klangkörper – Chor auch Orchester – tragen zudem dazu bei, die Kantaten durch mehr Durchsichtigkeit und Klarheit dem heutigen Zuhörerschaft angemessen zu vermitteln. Dennoch dürften es beide Stücke schwer haben, im normalen Konzertbetrieb Fuß zu fassen. Sie werden allenfalls Festivals vorbehalten bleiben, was auch schon ein Gewinn wäre. Für die Ausgabe bei cpo wurden sie 2018 (Sulamith) bzw. 2023 (Der Kreis des Lebens) beim traditionellen Freitagskonzert – AVROTROS Friday Concert – im Utrechter Tivoli Vredenburg mitgeschnitten. Die Veranstaltungen gelten als festlicher Start ins Wochenende. Auf dem Programm stehen neben klassischen Meisterwerken auch unbekannte Stücke vornehmlich niederländischer Komponisten. Ständige Gastgeber sind die Radio-Philharmonie und der Rundfunkchor, die sich jeweils Solisten aus dem In- und Ausland einladen.

Nach Gedichten von Rainer Maria Rilke wurde „Der Kreis des Lebens“ komponiert / Wikipedia

Die Kantate war in Berlin entstanden, wo Gilse von 1927 bis 1933 wohnte und als Gastdirigent wirkte. Erstmals erklang sie 1937 mit dem vom Komponisten geleiteten Concertgebouw Orkest in Amsterdam. Das Echo war geteilt. Kritiker bemängelten, dass Text und Musik ganz und gar nicht zusammenpassten. Die leisen Dichterworte stünden im Widerspruch zu dem bombastischen Orchester. Obwohl zu dieser Zeit noch nicht von den Nationalsozialisten besetzt, herrschte eine negative Haltung gegenüber Deutschland, die sich auch in den Reaktionen niederschlug. Im Booklet wird auf jene Beobachter verwiesen, die Gilse vorwarfen, „zu deutsch“ zu komponieren. Seine Lebensdaten finden sich auch in der Biographie, die das Huygens-Institut für die Geschichte der Niederlande, kurz Huygens ING, im Internet anbietet. Es ist der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften angegliedert. Als Hitler an die Macht kam, habe er Deutschland verlassen und sei 1933 nach Utrecht zurückgekehrt – nunmehr als Direktor des Konservatoriums und der Musikschule. „Angesichts zahlreicher Enttäuschungen in diesen Positionen, die ihn an der Verwirklichung seiner Ideen hinderten, trat er 1937 zurück, um sich ganz der Komposition zu widmen.“ Pläne für eine neue Oper gehen auf 1937 zurück, heißt es weiter. Sie sollte sein größtes Werk werden. Der Text basiere auf Charles de Costers Buch Die Legende und die heldenhaften, fröhlichen und ruhmreichen Abenteuer von Ulenspiegel und Lamme Goedzak im flandrischen Lande und anderswo. Die Partitur sei am 29. November 1940 fertiggestellt worden, eine vollständige Aufführung jedoch aufgrund des Krieges nicht möglich gewesen. „Für Herbst 1941 waren bereits Aufführungen der Trauermusik aus dieser Oper im Amsterdamer Concertgebouw angekündigt; diese wurden jedoch abgesagt, da Jan van Gilse sich weigerte, der Kultuurkamer (Kulturkammer) beizutreten. Seine Musik wurde bis Kriegsende nicht mehr aufgeführt, und er selbst erlebte die Befreiung nicht.“ Da Jan van Gilse seine antinationalsozialistische Gesinnung mehrfach unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe, drohte ihm die Inhaftierung. Kurz vor einem deutschen Angriff auf sein Amsterdamer Haus im Februar 1942 wurde er gewarnt und gezwungen, unterzutauchen. „Von da an begann für ihn und seine Frau ein schwieriges Leben, sie flohen von einem Versteck zum anderen. Am 1. Oktober 1943 fiel Maarten van Gilse, ihr jüngster Sohn, den Kugeln der Besatzungstruppen zum Opfer, und am 28. März 1944 starb sein ältester Sohn Janrik auf die gleiche Weise“, heißt es in der Huygens-Biographie. Jan van Gilse habe sich nie von diesen rasch aufeinander folgenden Schicksalsschlägen erholt. „In seinem letzten Versteck bei dem Komponisten Rudolf Escher in Oegstgeest erkrankte er schwer. Eine bösartige Krankheit raffte ihn innerhalb weniger Monate dahin, und er starb am 8. September 1944. Um andere vor der Gefahr zu schützen, wurde er unter einem anderen Namen begraben.“ Rüdiger Winter

Von Wäldern und Kosaken

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Das Lied von den Wäldern: Jenes Oratorium für Tenor, Bass, Knabenchor, gemischten Chor und Orchester gehört zu den populärsten Werken von Dmitri Shostakovich. Es entstand 1949 und trägt die Opuszahl 81. Das Libretto stammt von Jewgeni Dolmatowski (1915-1994). Als Major der Roten Armee war er 1945 an der Befreiung Berlins beteiligt. Er schrieb vornehmlich Liedtexte und Gedichte und wurde in seiner Heimat mit hohen Auszeichnungen geehrt. Gleich zu Beginn wird der „schwere Kampf“ gegen Nazideutschland, der nun vollbracht sei, heraufbeschworen. Die Aufforderung, Wälder als „grünes Band zu pflanzen“, wird als Zeichen von Überwindung der Zerstörungen gepriesen. Damals galt Stalin noch als der große Führer, weshalb die Bewohner der nach ihm benannten Städte voranschreiten würden. Dennoch dürfe „das Leid“ nie vergessen werden. Für die Zukunft wird ein Lustwandeln beim Gesang der Nachtigall versprochen. Mit einem Preislied von Kindern klingt das Werk machtvoll aus und nimmt im Ansatz das Finale der 12. Sinfonie, die zwölf Jahre später entstand, etwas vorweg. Es wurde häufig aufgeführt. Beim DDR Rundfunk entstand 1961 eine Aufnahme mit dem Tenor Gerhard Unger, der kurz darauf in den Westen ging, und dem Bassisten Christan Pötsch. Beide wirken in der Rosenkavalier-Produktion bei Deutsche Grammophon unter Karl Böhm als Valzacchi beziehungsweise Lakai mit. Übersetzt ins Deutsche wurde Dolmatowskis Textvorlage von Franzpeter Müller-Sybel, einem bekannten Dirigenten und Chorleiter im Osten Deutchlands. Für die Dresdener Einspielung von Wagners Rienzi stand der Chor der Dresdener Staatsoper unter seiner Leitung. Weitverzweigte Verknüpfungen auf dem Musikmarkt sind – wie dieses Beispiel zeigt – nicht selten. Sogar bis nach Japan gelangte das Oratorium, wo es 1978 bei einem Gastspiel des Chors des Allunionsrundfunks Moskau und des Staatlichen Sinfonieorchesters der UdSSR unter Leitung von Jewgeni Swetlanow mit Erfolg in Tokio aufgeführt und vom Rundfunk übertragen wurde. Ein Mitschnitt gelangte auf DVD. Obwohl die Beziehungen zwischen Japan und der Sowjetunion wegen gegenseitiger territorialer Ansprüche angespannt waren, blieb der Kulturaustausch davon unberührt. Das Zusammenwirken ging sogar so weit, dass ein japanischer Kinderchor bei der Aufführung mitwirkte und in die deutlich prosowjetisch ausgerichteten Verse in der Originalsprache einstimmte.

Mit historischem Abstand hat Capriccio das Oratorium in einer Edition, die dem erfolgreiche Wirken des Dirigenten Michail Jurowski beim WDR gewidmet ist, neu aufgelegt (C7465). Erstmals war es 1999 bei der Firma auf einer einzelnen CD herausgegebene worden. Jurowski, der 2022 in Berlin starb, ist der Sohn des mit Shostakovich eng befreundeten Komponisten Wladimir Jurowski und Vater der Dirigenten Wladimir und Dmitri Jurowski. Er bringt also auch biografische Voraussetzungen für eine authentische Interpretation mit. Unter seiner schwungvollen Leitung agiert das ehemalige Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester (jetzt WDR-Sinfonieorchester) sehr eingängig. Als solle sich die Musik einschmeicheln. Härten werden gezügelt, dem Überschwang der Komposition Tür und Tor geöffnet. Mit den muttersprachlichen Solisten Vladimir Kasatschuk (Tenor) und Stanislav Sulejmanov (Bass) hatte der Dirigent bereits bei anderen Aufnahmen für den WDR zusammengearbeitet. Sie betonen das Liedhafte ihrer Aufgaben und verzichten auf theatralische Gesten, die sich durchaus angeboten hätten. Der aus Berlin hinzugezogene Rundfunk-Kinderchor und der Kölner Rundfunkchor (WDR Rundfunkchor) haben mit den russischen Versen keinerlei technische Probleme. Den Text näher besehen, hätte es dieses Stück derzeit vor dem Hintergrund des Überfall Russlands auf die Ukrainer gewiss sehr schwer. Niemand käme wohl auf die Idee, es öffentlich aufzuführen. So aber wirkt die Originalsprache wie eine Schranke, hinter der es vor allem seinen musikalischen Reichtum als durch und durch historisches Dokument entfalten kann.

Eingebettet ist das Lied von den Wäldern in der Edition in Werke von Shostakovich, die ohne vordergründige politische Botschaft auskommen. Dazu gehören die Suite aus der Oper Die Nase und Intermezzos aus Katarina Ismailowa, der Zweitfassung des Musikdramas Lady Macbeth von Mzensk. Sie sind von großer sinfonischer Kraft und stehen formal fast schon außerhalb der Oper. Sechs Romanzen nach Worten der russischen Lyrikerin Marina Zwetajewa, die zweitweise auch in Deutschland gelebt hat, sind in der Fassung mit kleinem Orchester zu hören, zudem die Lieder aus der jüdischen Volkspoesie und die Suite nach Worten von Michelangelo. Stanislav Sulejmanov tritt nochmals als Solist in dem Poem Die Hinrichtung des Stepan Rasin mit Chor und Orchester in Erscheinung. Neben dem Lied von den Wäldern ist es das zweite oratorische Werk in der Edition von Capriccio. Es entstand 1964 nach der literarischen Vorlage von Jewgeni Jewtuschenko und wurde mehrfach auf Tonträgern eingespielt. Rasin war ein militärischer Anführer der Kosaken. Der nach ihm benannte Aufstand im Wolgagebiet von 1670 gegen die Leibeigenschaft und die zaristische Verwaltung scheiterte. Rasin wurde hingerichtet. Rüdiger Winter

Singen und reden

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Dietrich Fischer-Dieskau und kein Ende. Selbst nach dem Gedenken an seinen 100. Geburtstag im Mai dieses Jahres kommen Aufnahmen auf den Markt, die es zuvor auf Tonträgern nicht gab. A Centenary Tribute nennt denn SOMM Records ein Album mit Live-Produktionen vornehmlich aus London (Ariadne 5038-2). Vertonte Gedichte Goethes von Anna Amalia, der Herzogin von Sachsen-Weimar und Eisenach, Johann Friedrich Reichardt, Carl Friedrich Zelter, Richard Strauss, Max Reger und Ferruccio Busoni gelangten vom Helsinki Festival 1971 auf die Neuerscheinung. Busoni spielt im Wirken des Sängers eine wichtige Rolle. Die Titelrolle seiner Oper Doktor Faust hatte er schon in den fünfziger Jahren in Berlin auf der Bühne gestaltet und auch bei der Deutschen Grammophon eingespielt. Im neuen Album ist er zudem mit vier weiteren Busoni-Liedern aus der Londoner Festival Hall von 1962 mit Gerald Moore am Klavier vertreten. Sie liegen dem Sänger vorzüglich, weil er darin seine Neigung zur Deklamation wirkungsvoll ausleben kann. Begleitet von Karl Engel folgt eine Gustav-Mahler-Gruppe aus der Royal Festival Hall von 1970 mit drei Gesängen aus der Jugendzeit und ebenfalls drei Titeln aus den Rücker-Liedern: „Ich atmet’ einen linden Duft“, „Blicke mir nicht in die Augen“ und „Um Mitternacht“.

Seinem Höhepunkt strebt das Liedangebot mit dem immer noch selten anzutreffenden Zoltán Kodály zu, der bei dem Konzert mit dem London Symphony Orchestra am 3. Juni 1960 wiederum in der Royal Festival Hall selbst am Pult steht. Bei A közelitö tél (Der nahende Winter) und Sirni, sirni, sirni (Schrei, Schrei, Schrei) handelt es sich um Vertonungen von „Gedichten, die sich mit dem Tod befassen, im ersten indirekt und im zweiten direkt“, vermerkt der Musikjournalist Jon Tolansky im Booklet, wo alle Texte in der Originalsprache mit englischer Übersetzungen abgedruckt sind. Der erste Titel nach Versen von Daniel Berzsenyi, einem Vorreiter der ungarischen Romantik, setzt den Herbstanfang und den kommenden Winter metaphorisch mit dem Verlust von Leben gleich, während Sirni, sirni, sirni auf ein Gedicht von Endre Ady Verzweiflung hervorrufe, indem sich ein Sarg bei einer Mitternachtsbeerdigung nähere. Kádár Kata sei durch Kodalys Transkription des gleichnamigen siebenbürgischen Liedes während seiner zweiten Sammeltour von Volksmusik dieser Region entstanden. Später habe er es zunächst für Gesang und Klavier und dann für Gesang und Orchester arrangiert. Es sei ein stimmungsvolles Stück voller Melancholie, dem Thema Heimatlosigkeit angemessen. „Fischer-Dieskau, der hier in ungarischer Sprache singt, bringt die ganze Bandbreite seiner Stimmfarben … zur Geltung, um die eindringliche Atmosphäre dieser bemerkenswerten Werke zu erzeugen“, so Tolansky. Das erste und das dritte Werk geraten mit fast elf beziehungsweise gut fünfzehn Minuten formal in die Nähe von Zyklen. Fischer-Dieskau ist sehr gut in Form und erfasst das Wesen dieser impressionistisch gehaltenen Musik ganz genau. Er überwindet die Fremdsprachigkeit indem er die musikalischen Stimmungen und Vorgänge genau vermittelt. Auch wer des Ungarischen nicht mächtig ist, wird so in die Lage versetzt, dem Geschehen zumindest emotional zu folgen.

Das Album wird vervollständigt durch zwei Interviews, die Fischer Dieskau gelegentlich seines 75. und seines 80. Geburtstages gab. Gesprächspartner ist der Boooklet-Autor Jon Tolansky, der auch als Produzent in Erscheinung trat und zahlreiche namhaften Sänger und Dirigenten begegnet ist. Er kennt die Szene genau und stellt seine Fragen mit Sachverstand. Die Themen sind allerdings nicht ganz neu für jemanden, der sich in der Biografie des Sängers auskennt. Fischer-Dieskau bemüht sich um kritische Distanz, erzählt von seinen ersten musikalischen Eindrücken im Elternhaus, wo er besonderes Gefallen an Schallplatten mit Lohengrin-Musik fand. Mit Schuberts Winterreise, die ihn sein langes Künstlerleben lang beschäftigte, sei er sehr frühzeitig in Berührung gekommen durch einen Liedervortrag von Emmi Leisner. Man werde nie wirklich zum Kern dieser Liederzyklus vordringen. Aber er versuche es, sich anzunähern über vierundzwanzig Stationen des Leidens und der Leidenschaft. Der Inhalt sei im Wesentlichen derselbe, wird aber auf sehr, sehr, sehr unterschiedliche Weise behandelt. Angesprochen auf sein professionelles Bühnendebüt als Posa in Verdis deutsch gesungenem Don Carlos 1948 räumt Fischer-Dieskau ein, dass es sich um eine für einen Anfänger fast unmögliche Partie handele. Zuerst habe er sehr gezögert, sich dann aber doch darauf eingelassen. Mit der Veröffentlichung des Mitschnitts aus der Städtischen Oper Berlins unter der Leitung von Ferenc Fricsay sei er überhaupt nicht einverstanden. Doch es spiele keine Rolle. Den Dirigenten Wilhelm Furtwängler nennt der Sänger einen väterlichen Freund. Als er ihm vorschlug, Mahler zu singen, war er zunächst schockiert, weil er Mahler sein Leben lang nicht mochte. Aber dann tat er es. Die Lieder eines fahrenden Gesellen von 1952 mit Furtwängler und dem Philharmonia Orchestra haben seither Kultstatus in Sammlerkreisen. Solcherart sind die Themen und Anmerkungen von Dietrich-Fischer Dieskau den Interwies. R.W.

Schleier-Tanz als Zwischenspiel

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„Wie schön ist die Prinzessin Salome heute Nacht!“ Der atemberaubende Beginn der Oper von Richard Strauss gehört bekanntlich Narraboth. Für den jungen Syrer, dessen Schönheit auch Herodes ins Auge gestochen hatte, ist der aus Norwegen stammende Bror Magnus Tødenes sehr gut gewählt. Er verzehrt sich nach Salome mit strahlendem an James King erinnernden Tenor, während die Polin Hanna Hipp als Page, der seinerseits für Narraboth entrannt ist, mit auffahrenden Klytämnestra-Tönen das Objekt ihrer Begierde vergeblich für sich zu gewinnen trachtet. Kennte man den Oscar-Wilde-Text in der Übersetzung von Hedwig Lachmann nicht auswendig, würde wenig zu verstehen sein. Für alle Fälle hält das Booklet das Libretto in deutscher Sprache bereit. Die Schwedin Malin Byström, die vor fünfundzwanzig Jahren in Lübeck mit Rossini begann, ist in hochdramatischen Sphären angelangt und sang die Salome auch an der Staatsoper in München. Diesmal ist sie im August 2022 beim Internationalen Festival in Edinburgh zu hören, welches in jenem Jahr sein 75. Jubiläum beging. Der erst jetzt bei Chandos veröffentlichte Mitschnitt der konzertanten Aufführung ist auf dem Cover als Hommage an dieses Ereignis ausgewiesen (CHSA 5356). Es spielte das Bergen Philharmonic Orchestra unter der Leitung des Engländers Edward Gardner. Seinerzeit war er noch Chefdirigent des norwegischen Orchesters und leitet inzwischen das London Philharmonic Orchestra.

Mitschnitte, die in akustischer Bearbeitung auf Tonträger gelangen, haben durchaus ihre Tücken. Nebengeräusche, die es in jedem Konzert gibt, sind weitestgehend eliminiert worden. Kein Publikum ist so gebannt, dass es nicht einen Mucks von sich geben würde. Der bereinigte Sound wirkt etwas trocken. Nicht immer ausgewogen scheint die Balance zwischen Solisten und Orchester. So lässt sich Jochanaan aus seiner Zisterne nicht wie aus geheimnisvoller Tiefe, sondern mehr von hinten oder von der Seite vernehmen. Der magischen Wirkung der Szene ist dies nicht zuträglich. Sänger bleiben – wie in einem Konzert üblich – immer an derselben Stelle stehen, bewegen sich also auch klanglich nicht. Bei Stereo fällt das umso mehr auf. Oft ist das gut studierte Orchester zu sehr im Vordergrund, was in den sinfonischen Passagen nicht stört, vielmehr zusätzlichen Eindruck macht. Auch beim Tanz der sieben Schleier, der hier allerdings wie ein Zwischenspiel wirkt und nicht wie eine zentrale theatralische Aktion. Geht es vielstimmig zu wie beim religiösen Streit über die Bedeutung des eingekerkerten Propheten, wird es laut und undeutlich. Johan Reuter aus Dänemark scheint als Jochanaan nicht seinen besten Tag erwischt zu haben. Er klingt in der Höhe unstet, angestrengt und herb, was man ihm im Zweifel als gestalterisches Mittel durchgehen lassen kann. Reif und üppig verbreitet sich die Schwedin Malin Byström in der titelgebenden Rolle. Bereits kurz nach ihrem ersten Auftreten findet sie Gelegenheit, ihren auch in der Tiefe erprobten Sopran zur Geltung zu bringen. Sie agiert immer mit hundert Prozent, spart auch für den kräftezehrenden Schlussgesang nichts auf und besteht ihn eindrucksvoll. Ihre Landsfrau Katarina Dalayman, einst weltweit im hochdramatischen Fach unterwegs, schenkt sich als Herodias ebenfalls nichts. Sie lässt stimmlich keinen Zweifel daran aufkommen, wer am Hofe des Tetrarchen Herodes, den der deutsche Tenor Gerhard Siegel überzeugend und stets deutlich singt, das Sagen hat. Eigentlich müsste das Ende der Aufführung in Beifallstürmen untergehen. Auf dem Konzertpodium läuft schließlich alles noch mehr darauf hinaus als im Opernhaus. Niemand braucht sich über die Inszenierung aufzuregen, die beim Publikum oft Stein des Anstoßes ist. Alle Bekundungen aus Parkett und von den Rängen gehören in der ersten Aufwallung den Sängern, die sich nicht beim Rollenspiel zu verausgaben brauchen sondern alles mit der Stimme geben können. Das haben sie – wenn auch mit unterschiedlichen Ergebnissen – getan. Deshalb wirkt es befremdlich, wenn dieser Teil der Veranstaltung abgeschnitten ist. Diese Salome endet wie im Nichts. Rüdiger Winter

Augenzeuge Johannes

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Als Schriftsteller ist Friedrich Rochlitz (1769-1842) in der berühmten Inselbücherei verewigt. Mit dem Titel „Tage der Gefahr“ wurde 1913 sein Tagebuch der Leipziger Völkerschlacht als Bändchen Nr. 17 veröffentlicht. 1988 kam eine neue Auflage heraus. Seine anderen Schriften gerieten in Vergessenheit. Da er mit vielen seiner berühmten Zeitgenossen wie Goethe, Schiller, Wieland oder Hoffmann in Kontakt stand, taucht sein Name ehr in gedruckten Briefwechseln und in der Literaturwissenschaft häufiger als auf Buchdeckeln auf. Bekannt war er auch mit dem Komponisten Louis Spohr. Der Text seines Passionsoratorium Des Heilands letzte Stunden stammt von Rochlitz. Um das zu erfahren muss man in der neuen Aufnahme, die bei Carus (83.540) herausgekommen ist, bis zum Text im Booklet vordringen. Auf den Aufschlagseiten bleibt der Librettist, der in Wien auch Beethoven und Schubert begegnete, unerwähnt. Mit dem goldfarbenen Aufkleber „Welt-Ersteinspielung“ schmückte sich ein Plattenalbum des Werkes, das 1984 von der Internationalen Spohr-Gesellschaft als Mitschnitt aus Wiesbaden veröffentlicht  wurde und noch immer antiquarisch zu finden ist. Auch die neue Aufnahme beruht auf einem Konzert vom 31. Oktober 2023 im Bremer Konzerthaus „Die Glocke“, das vom Deutschlandfunk Kultur übertragen wurde. Anlass war die Gründung der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen vor dreißig Jahren. Mit dabei der Kammerchor Stuttgart, der von Frieder Bernius, dem Dirigenten des Oratoriums, gegründet wurde. Alles in allem ist der Live-Klang gut. Hin und wieder treten die Pauken zu stark hervor. Kommen Orchester und Chor in dramatischen Passagen gleichzeitig zum Einsatz, verlieren die Strukturen an Klarheit. Es machen greifen Dumpfheit und Gräue um sich, was nicht gewollt sein kann.

Textdichter Friedrich Rochlitz (1769-1842) auf einem Aquarell von Veit Hans Friedrich Schnorr von Carolsfeld / Wikipedia

„Das Passionsoratorium ist mit Blick auf seine textliche wie musikalische Gestaltung in mehrerer Hinsicht besonders“, vermerken Dominik Höink und Regina Werbick in ihren ausführlichen und faktenreichen Beitrag für das Booklet, in dem alle beteiligten in Wort und Bild vorgestellt werden und auch das Libretto abgedruckt ist. Obschon Rochlitz verschiedene Figuren vorsehe, die gleichsam als Beteiligte das Passionsgeschehen miterlebbar machten, handele es sich nicht um ein dramatisches Oratorium. Emotionale Interaktionen zwischen den Figuren fehlten weitestgehend. Vielmehr werde die Komposition zu Recht als „lyrisch-dramatischer Mischtyp“ bezeichnet. „Die Funktion eines Erzählers übernimmt Johannes, jedoch nicht als auktorialer Erzähler, sondern als Beteiligter, als Augenzeuge. Ungewöhnlich ist sodann der Beginn des Werkes. Zu erwarten wäre, wie in zahlreichen anderen Passionsvertonungen, ein Einbezug der Abendmahlserzählung“, so die Autoren.

Indes beginne das Werk mit dem Chor der Freunde und Freundinnen Jesu, der auf die Gethsemaneszene Bezug nehme. Mit einem Rezitativ des Johannes werde der Ortswechsel hin zum Palast des Hohepriesters vollzogen. „In der nachfolgenden Gerichtsszene erscheint Pilatus nicht, was gravierende Auswirkungen auf die Rolle der jüdischen Protagonisten hat. Dadurch ergibt sich zunächst eine Zuspitzung des dramatischen Geschehens, jedoch wird das Gericht über Jesus zugleich zu einer rein jüdischen Angelegenheit.“ Kaiphas allein trage die Verantwortung für den Tod Jesu. An dieser Figurenkonstellation sowie weiteren Stellen im Libretto zeigten sich, wie auch bei anderen Oratorien des 19. Jahrhunderts, antijüdische Elemente, heißt es in dem Text. Und weiter: „Gelegentlich wurde die in das Oratorium aufgenommene, nicht-biblische Figur des Philo mit Pilatus gleichgesetzt, was nicht plausibel ist. Vielleicht ist hier ein Rekurs auf Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias-Dichtung zu erkennen, in dem ebenfalls eine Philo-Figur erscheint.“ Mit Blick auf die Musik sei zunächst bemerkenswert, dass Spohr gänzlich auf den Einsatz von Chorälen verzichte und damit nicht, wie etwa Mendelssohn in seinem Paulus, der Tradition Bachscher Passionen folge. Darüber hinaus sei auf die Verwendung von regelrechten Auftrittsarien verwiesen. „Obschon vielfach kontrapunktische Gestaltung die Nummern prägt und bisweilen Einflüsse barocker Vorbilder, etwa die Oratorien Georg Friedrich Händels oder die Bachschen Passionen, ausgemacht worden sind, so ist der persönliche Stil Spohrs jedoch unverkennbar, weshalb Des Heilands letzte Stunden mit einiger Berechtigung als herausragendes Passionsoratorium des 19. Jahrhunderts gelten kann“, vermerken beide Autoren.

Das Oratorium verlangt acht Solisten, denen die handelnden Figuren zugeordnet sind. Als Maria ist Johanna Winkel mit innigem Sopran als einzige Sängerin im Männerensemble zu hören. Florian Sievers (Tenor) bringt die zahlreichen Rezitative des Johannes mit großer Klarheit und Deutlichkeit zum Vortrag. Maximilian Vogler (Tenor) ist Jesus, Arttu Kataja (Bass) Petrus, Thomas E. Bauer (Bariton) Judas, Felix Rathgeber (Bariton) Kaiphas und Magnus Piontek (Bass) Philo. Rüdiger Winter

Suche nach Licht und Schatten

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Es braucht eine gehörige Portion Ausdauer, ein musikalisches Vorhaben in dieser schnelllebigen Zeit auf vier Jahre anzulegen – und zwar auf Konzertpodien und im Studio. 2028 wird der 200. Todestag von Franz Schubert begangen. Im Hinblick darauf brachten der Bariton Samuel Hasselhorn und sein Pianist Ammiel Bushakevitz bereits im Herbst 2024 ihre Schöne Müllerin heraus (HMM 902720). Mit der CD „Licht und Schatten“ folgte jetzt der zweite Titel (HHM 902747). Bis 2028 sollen Winterreise und Schwanengesang vorliegen. Das Projekt richtet sich nach Angaben des Labels an eine neue Generation des Lied-Publikums und widmet sich der Frage, inwieweit Schuberts Lieder für unser Leben im 21. Jahrhundert relevant seien und wie diese Verbindung hör- und erfahrbar gemacht werden könne. Schubert starb am 19. November 1828 einunddreißigjährig in Wien. „Wir unternehmen den Versuch, in jene Zeit zurückzukehren und uns der Lieder von Schubert genau 200 Jahre nach ihrer Entstehung anzunehmen“, lassen Hasselhorn und Bushakevitz ihr Publikum im Booklet der Neuerscheinung wissen. „Unser harmonia-mundi-Projekt lädt also nicht nur zu einer Reise in die Vergangenheit ein, sondern blickt auch in die Zukunft!“ Es bleibt also spannend.

Lenkt die Müllerin zumindest scheinbar ins Freie und auf Wanderschaft, entstanden die meisten Lieder der neuen CD abseits der Schubertschen „Sommerfrischen während der Winter- und Frühjahrsmonate“ der Jahre 1824 und 1825 in Wien, wie der Musikwissenschaftler Roman Hinke im Booklet vermerkt. Somit fallen sie in der Spätphase des Schaffens. „Ihre Themen kreisen vordringlich um die zeittypischen Motive Sehnsucht und Einsamkeit, berühren dabei aber auch die grundlegenden Aspekte der Ichsuche, des metaphysischen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, zwischen Individuum und Ganzheit der Welt.“ Dabei würden Licht und Schatten eng ineinandergreifen. Hasselhorn und sein Begleiter, der auch mit einigen passend ausgewählten Klaviersolostücken – Länder und Deutsche Tänze – in Erscheinung tritt, versuchen sich in der kontrastreichen Darstellung dieses aufregenden Wechselspiels. Ihre thematisch inspirierte Programmgestaltung erweist sich erneut als Mehrwert an sich. Die Auswahl macht‘s. Nummern werden nicht vornehmlich nach dem stimmlichen Vermögen und den persönlichen Neigungen des Solisten ausgewählt wie das bei den meisten historischen Einspielungen Brauch gewesen ist. Vielmehr sollen die inhaltliche Zusammenhänge und Bezüge zwischen den Liedern deutlich, das Wissen um den Komponisten und sein Werk vertieft werden. Das hat auch seinen Preis.

Hasselhorn zögert nicht, ihn zu zahlen. Denn einige Titel habe es in sich. Gleich an dritter Stelle begibt er sich mit dem Lied bei Die Allmacht, für das er gut fünf Minuten braucht, an hörbare Grenzen, was gewollt zu sein scheint. Mutig testet er sich aus. Für Ausdruck wird Schöngesang geben. Und auch aus dem Flügel hat man selten so berstende Töne vernommen: „Groß ist Jehova, der Herr! Denn Himmel und Erde verkünden seine Macht!“ Dass Hasselhorn seinem Wesen nach ein sehr sensibler und feinsinniger Interpret ist, davon legt der weitere Programmverlauf reichlich Zeugnis ab. Obwohl seine Stimme dramatischer und größer geworden scheint, erweisen sich die lyrischen Stücke und entsprechende Passagen nach wie vor als sein eigentliches Terrain. Im Abendrot oder Wandrers Nachtlied II? Das Publikum dürfte sich kaum entscheiden können, welches Lied von beiden nun mehr zu Herzen geht.

Franz Schubert/OBA

Es ist guter Brauch geworden, dass junge Sänger ihre Aufnahmen mit ganz persönlichen Gedanken versehen. Nicht selten lassen sie dabei in ihr Innerstes schauen. Hasselhorn, Jahrgang 1990 ist so einer. Er hat kein Problem damit, auch über seine Gefühle zu sprechen, wenn er den literarischen Figuren, die er darzustellen hat, in ihren Handlungen, Sehnsüchten, Nöten, Ängsten und Glückmomenten, die meist nur selten von Dauer sind, nachspürt. Das fiktive lyrische Ich der Dichtungen wird sozusagen wörtlich genommen und konkretisiert. Das unterscheidet diese junge Generation von ihren meisten berühmten Großeltern-Kollegen. Fischer-Dieskau – um dieses Beispiel zu nennen, das noch immer herangezogen wird, wenn es um Liedinterpretationen geht, hätte den Jahren nach immerhin schon der Urgroßvater von Hasselhorn sein können. So hat er im Müllerin-Booklet auf die lange Zeitspanne zwischen der Entstehung der Lieder und unserer Gegenwart verwiesen – und die Frage gestellt: „Was hat das mit mir, mit uns zu tun?“ Ihm persönlich sei der Zugang zu der Geschichte von dem Müllerburschen, der sich Hals über Kopf in die Tochter des Müllers verliebt, die aber seine Liebe nicht erwidert, stets relativ schwer gefallen. „Irgendetwas kam mir immer ein wenig seltsam vor, nicht wirklich greifbar. Über die weibliche Figur erfährt man kaum etwas: Wir wissen nur, dass sie blonde Haare und blaue Augen hat.“ Mehr nicht. Lasse man die recht konventionelle Dreiecksgeschichte vom Jüngling, der ein Mädchen liebe, das aber einen andern erwählt habe, beiseite, erscheine zwischen den Zeilen eine ganz andere Lesart. Die männliche Figur bleibe allein zurück, der erhofften Liebe und Anerkennung beraubt. Jenseits der ein wenig simplen Geschichte von einer verschmähten Liebe gehe es indirekt nämlich um gesellschaftliche Ausgrenzung. Wer nicht den geltenden Normen entspreche, werde wegen seiner Individualität und damit seines ,Andersseins‘ ausgeschlossen, und an dieser sozialen Isolierung verzweifele er schließlich. „Vielleicht haben gerade deshalb diese vor 200 Jahren entstandenen Lieder für uns im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Aktualität eingebüßt“, so Hasselhorn. Das mag ein wenig offiziell klingen, aber es ist nun mal so.

Hasselhorn singt gerade in der Müllerin wie von sich. Mit Empathie und sehr viel Einfühlungsvermögen dringt er regelrecht in die Lieder ein, lässt keinen noch so verborgenen Winkel aus. Nichts entgeht ihm. Wenngleich manches auch spontan daher kommt, dürfte jede musikalische Lösung genau kalkuliert und vorher erprobt worden sein. Er spielt gekonnt mit dem Tempo, zieht es an, wenn es ihm angezeigt scheint, um dann wieder wie auf der Stelle zu treten, weil es in ein bestimmtes masochistisch angehauchtes Detail so verlangt. Dass dies nur durch ein vertrauensvolles Zusammenspiel mit dem Pianisten Ammiel Bushakevitz möglich ist, versteht sich von selbst. Beider Vortrag wirkt schlüssig und sicher. Und doch bewegt sich Hasselhorn auf dieser Wanderung in den Tod in einer Art Rausch. Von Beginn an steht fest, dass es kein gutes Ende nehmen wird mit diesem Wandergesell. Sein oft betont männlich wirkender Bariton, der ihn älter erscheinen lässt als er in Wirklichkeit ist, zeichnet sich durch eine hohe Flexibilität aus. Stimmliche Grenzen werden nicht so stark berührt wie in der neuen CD. Er ist grundsätzlich sehr gut zu verstehen. Nicht, dass Hasselhorn in seiner Interpretation den Faden verlöre. Nein, das nicht. Es fällt aber auf, dass manche Lieder dieses Zyklus durch zu viele interpretatorische Zutaten und Nuancen zur Vereinzelung neigen, sich zu sehr aus dem Großen und Ganzen herauslösen. Gewisse opernhafte Züge greifen im Ausdruck, in Spiel mit den Worten Platz. Die Lieder werden nicht mehr nur gesungen – sie werden aufgeführt. (Das große Foto oben ist ein Ausschnitt des Cover-Bildes von Uwe Arens). Rüdiger Winter

Diese Uhr tickt anders

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Mythos. In ihrer äußerlichen Aufmachung gibt sich die CD geheimnisvoll wie der Inhalt. Wie in einer Opernszene von Wagner treten der Sänger Konstantin Krimmel und seine Pianist Ammiel Bushakevitz aus dem Nebel hervor. Sie kommen nicht, und sie gehen nicht. Sie sind nur da. Für den Titel der Neuerscheinung bei Alpha-Classics in Zusammenarbeit mit BR Klassik wurde eine treffliche Illustration gefunden (Alpha 1088). Es bestätigt sich die alte Erfahrung, dass das Auge mithört. Und das nicht nur in Bezug auf die Optik des Covers. Auch das musikalische Programm hat starke bildhafte Züge. Geboten werden Lieder und Balladen von Franz Schubert und Carl Loewe als Mythen der Romantik mit den auch im Boooklet aufgezählten typischen Themen Leidenschaft, Einsamkeit, Sehnsucht, Weltschmerz, Eskapismus, Tod. Es kann von Vorteil sein, wenn ein Interpreten-Duo wie der deutsche Bariton und sein israelisch-südafrikanische Liedbegleiter derselben Generation angehören. Beide sind unter vierzig, also vergleichsweise jung. Sie schleppen nicht solche Vorbehalte mit sich herum, die auch dazu führten, dass bei der Bewahrung und Aneignung musikalischen Erbes manches unter den Tisch fiel oder gar vorschnell ausgesondert wurde. Sie sind neugierig und in Entdeckerlaune, wollen sich ganz offensichtlich eigene Urteile bilden, prüfen, was für die Gegenwart taugt und was nicht. Für den Komponisten Loewe ist das ein Glücksfall. In zunehmendem Maße wird er wieder gesungen, aufgeführt und eingespielt. Auch sein oratorisches Werk mit seinen spannenden musikdramatischen Zügen, die den verhinderten Opernkomponisten verraten – dem Kirchenmusiker Loewe war es qua Amt untersagt, entsprechende Werke zu schaffen – kommt mehr und mehr live und im Studios zur Geltung.

Das war nicht immer so. So galt die Ballade Die Uhr, mit der die CD-Auswahl selbstbewusst abgeschlossen und zugleich abgerundet wird, bis in die jüngste Vergangenheit als Inkarnation eines betulichen Musikverständnisses, das sich jeder Veränderung verweigerte. Nicht von ungefähr ist die mit Beginn der zwanzigsten Jahrhunderts einsetzende Liste der Aufnahmen länger als die anderer Balladen Loewes. Richard Tauber hat mit seiner vom Salonorchester verzuckerten Einspielung Generationen nach ihm den Zugang zu dem populären Stück verdorben, dessen Textdichter Johann Gabriel Seidl (1804-1875), der die österreichischen Kaiserhymne von 1854 „Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land!“ dichtete, kein Neuerer gewesen ist. Krimmel entlockt der Uhr ihre faszinierende Melodie und erzählt eine Geschichte, die den im 19. Jahrhundert weit verbreiteten zyklischen Gedanken des menschlichen Lebens von der Wiege bis zur Bahre aufgreift. Er trägt sie so vor, dass die Spannung von Vers zu Vers steigt und man unbedingt das Ende wissen will – egal, ob man es nun längst kennt oder nicht. Wie wenn man sich immer wieder einen Lieblingsfilm anschaut.

Sein Pianist Ammiel Bushakevitz lässt das Uhrwerk betont verfremdet in den Saiten klingen, so dass die gereimten Worte durch die pointierte Begleitung unerwartet modern wirken. Beider Zusammenspiel  bewährt sich auch bei den anderen Loewe-Balladen – darunter Archibald Douglas, Meerfahrt, Totentanz, Süßes Begräbnis – und freilich bei Franz Schubert. Der eröffnet das CD-Programm mit dem König in Thule nach Goethe. Eine Ballade, in der die Interpreten die Spannung ebenfalls bis zum Schluss halten. Dies ist nur deshalb möglich, weil der Sänger in perfektem Deutsch singt. Mit der neuen CD hat sich Krimmel als Liedsänger weiter profiliert (17.01.25). Rüdiger Winter

Suche nach dem Weiblichen

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Die norwegische Sängerin Marianne Beate Kielland hat im bisherigen Verkauf ihrer Karriere mit Franz Schubert gefremdelt. Sollte sie nun in Album mit seinen Liedern aufnehmen oder nicht? Sie entschied sich zunächst dagegen. Warum? Für sie habe sich Schubert in der Wahrnehmung stets mit dem Klang fantastischer Tenöre verbunden. Und auch fabelhafte Baritone hätten unvergessliche Versionen von seinen Liedern vorgetragen. Namen nennt sie nicht, wenngleich sie mit Dietrich Fischer-Dieskau ein wichtiges Beispiel hätte anführen können, weil sie noch an einem seiner Meisterkurse teilnahm. Und doch kam sie an Schubert nicht vorbei, der größere Anforderungen an Interpreten stelle als anderer Komponisten – und zwar in Klarheit, Diktion, Intimität, Rhythmus, lyrischem Ausdruck, perfekter Intonation. Solche persönlichen Überlegungen finden sich in einem eigenen Text für die erste Schubert-CD der Mezzosopranistin, die bei Lawo Classics veröffentlicht wurde (LWC 1355). Begleiter am Flügel ist ihr Landsmann Nils Anders Mortensen, der auch an der Musikhochschule Hannover lehrte und mit deutschem Liedgut sehr vertraut ist. Bei Lawo handelt es sich um ein norwegisches Unternehmen, das vornehmlich Interpreten und Musik aus Vergangenheit und Gegenwart dieses Landes bekannt machen möchte.

Die Winterreise, die sich seit der Interpretation durch Lotte Lehmann im Repertoire vieler Sängerinnen als ganz selbstverständlicher Bestandteil findet, kommt für Marianne Beate Kielland nicht infrage. Sie können beim Singen keine männlichen Emotionen vortäuschen, gibt sie sich kompromisslos – und greift damit eine alte Debatte vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen zum Thema Geschlechterneutralität neu auf. „Aber wenn man ein wenig recherchiert, stellt man fest, dass Schubert in der Tat Texte vertont hat, die eher weiblich als männlich sind.“ Goethes Mignon-Figur ist für sie ein androgynes Kind mit einer komplexen existenziellen und emotionalen Befindlichkeit, ohne dass die Texte weiblich oder männlich seien. Die entsprechenden fünf Titel, die sängerisch sehr gut gelingen, stellen für die Interpretin das „Herzstück der Sammlung“ dar. Bei Suleika trete das Weibliche in den Vordergrund, und tatsächlich seien diese beiden Gedichte von einer Frau, nämlich Marianne von Willemer, geschrieben. Sie habe sich selbst als Suleika gesehen. Goethe, mit dem sie Briefe wechselte, nahm die Verse in seine Gedichtsammlung West-östlicher Divan auf.

Der Einstieg ist mit der „bemerkenswerten und melancholischen Geschichte vom König von Thule“ bewusst gewählt, um „die Stimmung für die folgenden Lieder festzulegen“. Und sie beendet ihr Programm mit dem weniger bekannten Grenzen der Menschheit, über die Beziehung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. „Das Gedicht kommt zu dem Schluss, dass die Menschheit ihren Platz kennen muss und nicht mit den Göttern um die Überlegenheit wetteifern darf. Die Menschheit muss mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben – wo sie hingehört. Und ich kann im selben Atemzug sagen, dass ich auch meinen Platz unter den größten Schubert-Interpreten der Weltgeschichte kenne“, gibt sich die Sängerin demütig und realistisch zugleich. Sie habe versucht, ihre Sicht auf den „größten Liedkomponisten aller Zeiten zu finden und möglicherweise eine etwas andere Seite von ihm zu zeigen – eine, die von Unsicherheit, Melancholie und Ruhelosigkeit geprägt ist“. Dafür wählt sie durchweg einen betont sachlichen Vortragstil. Marianne Beate Kielland ist nicht auf betörend schön klingende Details aus, die dazu verleiten, dieses oder jenes Lied wiederholt anzusteuern, weil man nicht genug davon bekommen kann. Genüssliche Erwartungen werden nicht erfüllt. Wer ihr genau zuhört, lernt aber die oft gehörten Lieder von Franz Schubert noch besser kennen. Rüdiger Winter

Pathos und Heldenverehrung

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Mit Egmont liegen nun die vier großen Schauspielmusiken von Ludwig van Beethoven in neueren Einspielungen vor. Allen ist die zeitliche Nähe zum 250. Geburtstag des Komponisten im Jahr 2020 zu Eigen. Zum Jubiläum selbst wurde der Musikmarkt mit neuen Produktionen und Wiederauflagen überschwemmt. Nachzügler findet womöglich mehr Aufmerksamkeit. Die bei Querstand erschienene EgmontCD (VKJK 2406) setzt sich von der Konkurrenz zusätzlich noch dadurch ab, dass dafür eine neue Textfassung erarbeitet wurde, die nun erstmals auf Tonträger zugänglich ist. Besorgt wurde sie von Fabian Enders, der zugleich die Filharmonie Brno leitet. Es handelt sich um einen drei Jahre alten Mitschnitt in Kooperation mit dem Deutschlandfunk Kultur vom 19. November 2021 in der Potsdamer Friedenkirche von knapp einer Stunde Spieldauer. Solisten sind die Sopranistin Evelin Novak und der Bariton Klaus Mertens. Für die meisten Schauspielmusiken gilt, dass separate Aufführungen oder Einspielungen den genauen Zusammenhang dem jeweiligen literarischen Werk vermissen lassen. Schließlich wurden sie ursprünglich ja zur akustischen Untermalungen der Bühnenstücke geschaffen. Solche kompletten Aufführungen gibt es aber in der Praxis kaum mehr. So haben sich die Schauspielmusiken oder einzelne Teile daraus – Beethoven ist dafür ein treffliches Beispiel – selbstständig gemacht.

Fabian Enders will mit seiner Fassung Goethes Werk inhaltlich wieder stärker in seine Rechte einsetzen. Er habe versucht, eine von der Notwendigkeit des Dialogischen gelöste Textgestalt zu erreichen, die die Szenen gleichsam als Bilder und Bezugsmomente der Musik deutlich … und Motive der Handlung im Hintergrund schlüssig sichtbar werden lässt“, schreibt er im Booklet. Die Texte dienten teils dem Handlungsfortgang, teils fungierten die den Dialogen entnommenen Elemente als Reflexionen. „So wird sowohl die Handlung des Trauerspiels nachvollzogen als auch die jeweilige Situation verdeutlicht, die der musikalische Kommentar Beethovens vertiefen bzw. ankündigen will. Den Worten Goethes wurde in diesem Zuge durch mich kein neuer Text hinzugefügt.“ Eine Zuordnung zu den Figuren findet also nicht statt. Nur wer sich mit dem Original auskennt, weiß, dass die erste längere Textpassage aus dem Munde von Machiavell, der im Dienste der Regentin der Niederlande steht, stammt, die zweite auf den Bürgersohn Brackenburg zurückgeht. Egmont selbst kommt dann erstmals indirekt im Gespräch mit Wilhelm von Oranien zu Wort. Als Einleitung zum Clärchens Lied „Freudvoll und leidvoll“ gibt es wörtliche Anleihen aus dem Dialog mit der Mutter, wobei beide Seite zitiert werden. Und so weiter. Anhand des Booklet können die konzeptionellen Überlegungen von Enders nachgeprüft und nachstudiert werden. Ob sich der Sinnzusammenhang während einer öffentlichen Aufführungen, bei der man nicht den einen oder den anderen Track wiederholen oder in der Vorlage blättern kann, erschließt, ist fraglich. Für die CD aber ist die neue Fassung ist wie gemacht. Mertens ist ein versierter Sänger – kein Schauspieler. Insofern wirken die langen gesprochenen Abschnitte nicht ganz optimal. Ein Profi des Wortes hätte eine stärkere Wirkung erzielen können. Gleiches gilt für die aus Kroatien stammende Evelin Novak, deren Akzent beim Sprechen unüberhörbar ist, die aber dem jugendlichen Gesang Clärchens nichts schuldig bleibt. Enders begleitet einfühlsam und ohne Pathos.

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Musikfreunde, die in die Jahre gekommen sind, dürften sich noch genau an die feierliche Inbesitznahme des wiederaufgebauten Münchner Nationaltheaters am 21. November 1963 erinnern. Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen waren dabei und berichteten ausführlich. Der Tag war auch ein Medienereignis, das bis jetzt im Internet nachhallt. Von den ersten beiden Opernaufführungen – Frau ohne Schatten und Meistersinger von Nürnberg – haben sich offizielle Mitschnitte erhalten. Noch bevor sich der Vorhang hob, erklang als erste Musik bei einem Festakt im prachtvollen Bau die Ouvertüre zum Schauspiel Die Weihe des Hauses von Ludwig van Beethoven, dirigiert von Hans Knappertsbusch. Konservativ gewandet trat er ans Pult, das weise Haupthaar zur hochindividuellen Wasserwelle gelegt, den Blick nach oben gerichtet. Ein Mann, der ganz genau wusste, was es bedeutet, ein solches Haus der Kunst zu weihen. Wird heute eine x-beliebige Einrichtung – und sei es ein Jugendclub oder ein Supermarkt– eröffnet, ist zwar immer noch von Einweihung die Rede. Seinen ursprünglichen feierlich-erhabenen Sinn aber hat der Vorgang verloren. Die Beschäftigung mit dem Werk hat durchaus auch einen etymologischen Aspekt.

Eine neue Aufnahme von Beethovens Schauspielmusik Die Weihe des Hauses hat Profil Edition Günter Hänssler auf den Markt gebracht (PH22012). Besonderer Wert wird durch einen entsprechenden Hinweis auf dem Cover darauf gelegt, dass es sich um die vollständige Musik handelt. Unterschiede zur bislang einzigen und komplettesten Einspielung von Claudio Abbado, die 1996 bei Deutsche Grammophon entstand, können auch musikalischen Laien nachvollziehen. Mit dem Werk wurde am 3. Oktober 1822 der Neubau des Theaters in der Wiener Josefstadt eröffnet. Das alte Haus war zu klein geworden und hatte den Anforderungen nicht mehr genügt. Schon bald wird auch den Hörern, die nicht sattelfest sind im Umgang mit den weniger bekannten Vokalwerken Beethoven klar, dass es sich bei dieser Schauspielmusik um einen Rückgriff auf die Ruinen von Athen handelt. Letzte Zweifel verfliegen, wenn der Türkische Marsch erklingt. Deren Entstehung ist ebenfalls einer Theatereröffnung zu verdanken, nämlich des neuen Theaters in Pest. Beide Städte trennen an die dreihundert Kilometer. Die Pester Premiere lag zehn Jahre zurück. Solche Zweitverwertungen dürften damals – wenn sie denn überhaupt auffielen – nicht so ins Gewicht gefallen sein wie heute, wo sich durch die weltweit vernetzten Medien alles sofort herumspricht. Carl Meisl (1775-1853), im Hauptberuf hoher Beamter im österreichischen Staatsdienst und nur nebenher als Dramatiker tätig, passte das Original von August von Kotzebue den neuen Bedürfnissen an und fügte auch Verse hinzu. Beethoven lieferte im letzten Moment noch zusätzliche Musik wie die Ouvertüre, die bald ein Eigenleben führte, den Tanz für Sopran und Chor „Wo sich die Pulse jugendlich jagen“ und den Schlusschor „Heil unserem Kaiser! Heil! Heil unserem Öst’reich! Heil!“ Gehuldigt wurde damit Franz I., der 1804 das Kaisertum Österreichs begründete hatte.

Die neue Aufnahme von Beethovens „Weihe des Hauses“ kommt als Mitschnitt aus der Potsdamer Friedenskirche,  vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV., der in der Krypta seine letzte Ruhestätte fand, selber entworfen. Foto/Wikipedia

Im Booklet finden sich lediglich die Texte der Musiknummern. Das vollständige Libretto hat Seltenheitswert. Fabian Enders, der Dirigent der Aufnahme, fasst den Inhalt – versehen mit Zitaten – zusammen. Er ist in seinen Grundzügen schnell erzählt. Thespis, in dem der griechische Gelehrte Aristoteles den entscheidenden Wegbereiter des Dramas gesehen habe, gelangt in eine unwirtliche Gegend, der die Musen zunächst abhold scheinen. Die Göttin Minerva kann den Dichter zum Bleiben überreden. Allegorische Figuren bevölkern die Szene. Begleitet von Beethoven groß instrumentierter Musik, so Enders, böten unterschiedliche Stationen „Gelegenheit zur Betrachtung des werdenden Tempels der Musen und seines schönen Scheins“. Zu Wort kommt im Booklet auch Peter Berg aus Leipzig, dem nach den erhaltenen Quellen „die vollständige Rekonstruktion von Partitur und Aufführungsmaterial“ gelang. Und zwar mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Gestalt“, in der das Werk 1822 unter Beethovens eigener Leistung erklungen ist. Mit der neuen CD schließt sich eine Lücke in der Beethoven-Rezeption. Sie beruht auf einem Konzertmitschnitt in der Potsdamer Friedenkirche vom 19. November 2021. Für ein Werk, in dem die römische Göttin Minerva auftritt, ist der Ort gut gewählt. Die Kirche am Rand des Schlossparks Sanssouci ist von italienischen Vorbildern inspiriert und geht auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zurück. Der hatte schon als Kronprinz 1839 einen ersten Entwurf vorgelegt, der sich an der Basilica San Clemente in Rom orientierte. Der Monarch war von Italien, das er auch selbst bereist hatte, regelrecht besessen und sei – wie er selbst einräumte – von einem „Romfiber“ erfasst gewesen. Gemeinsam mit seiner Gemahlin Elisabeth fand er in der Krypta der Kirche auch seine letzte Ruhestätte.

Die Kirche klingt mit auf dieser CD. Und das macht einen Teil ihrer Wirkung aus. Die Tontechniker haben den Umgang mit den schwierigen akustischen Verhältnissen eindrucksvoll organisiert – und Hall auch Hall sein lassen. Der Chor, der viel zu tun hat, kann sich räumlich gestaffelt entfalten, klingt nicht übersteuert und ist dazu noch sehr gut zu verstehen. Für die Aufführung haben sich Vocalconsort Berlin und Sächsischer Kammerchor zusammengetan. Die Philharmonie Brno spielt unter der Leitung von Fabian Enders. Solistisch eingesetzte Instrumente verleihen der Aufführung bei aller feierlichen Pracht auch intime kammermusikalische Momente. Als Solisten wirken Evelin Novak (Sopran) und Klaus Mertens (Bariton) mit. Sie treten zunächst im Duett „Ohne Verschulden Knechtschaft dulden“ gemeinsam auf. Anstrengende Höhen hat der Sopran in dem bereits erwähnten Tanz mit Chor „Wo sich die Pulse jugendlich jagen“, der im Werkverzeichnis Beethovens auch einzeln als WoO (Werke ohne Opuszahl) 98 geführt wird, zu bestehen. Sie gelingen der Sängerin vorzüglich. Gleich drei schwierige Einsätze warten auf den Bariton – und zwar das pathetische Melodram des Apollo über die Harmonie auf dem Theater, ein Rezitativ und schließlich noch eine große Arie, die ebenfalls melodramatisch gespickt ist. Mertens entledigt sich dieser Aufgaben mit der ihm eigenen Professionalität.

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Für einen genauen Vergleich mit der Schauspielmusik Die Ruinen von Athen bietet sich die jüngste Aufnahme von Naxos an (8.574076) an. Sie unterscheidet sich von anderen Einspielungen durch ihre Vollständigkeit. Zur Musik gibt es auch den gesprochenen Text. Zudem hatte Naxos das musikalische Festspiel König Stephan (8.574042) komplett vorgelegt. Damit war das Eröffnungsprogramm für das neue Theater in Pest, das seinerzeit noch eine selbstständige Stadt war und erst 1873 mit den ebenfalls eigenständigen Buda zu Budapest zusammengelegt wurde, eingeleitet worden. Die für Oktober 1811 in Aussicht genommene Eröffnung musste auf den 9. Februar 1812 verschoben werden. In dem Haus, das über dreitausend Plätze verfügt haben soll, wurde ausschließlich in deutscher Sprache gespielt – neben Schauspielen auch Opern und Operetten. Zwischenzeitlich nahm es bei einem Brand Schaden, wurde aber umgehend wieder aufgebaut. Mit der Revolution 1848/1849 kam der Betrieb zum Erliegen. 1889 brannte das Gebäude vollständig ab. Es existiert also nicht mehr.

Die Initiative zu diesem Theaterneubau – und hier gibt es wieder eine historische Verbindung zur Weihe des Hauses – war 1804 gleichfalls von Franz I. ausgegangen. Damit sollte die Treue Ungarn zur österreichischen Monarchie demonstriert werden. Deshalb wurde bei der Premiere König Stephan als „Vorspiel mit Chören“ gegeben.  Als Textdichter war ebenfalls der in hohem Ansehen stehende Kozebue gewonnen worden. Dem Publikum der Uraufführung waren die Libretti gedruckt gereicht worden. Digitalisiert stehen sie bei der Library of Congress in Washington – der größten Bibliothek der Welt – kostenlos über das Netz zur Verfügung. Nicht in den Booklets, wohl aber auf der eigenen Internetseite bietet Naxos moderne Abschriften an.

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Revolutionäre Theaterstücke, die dem Freiheitsgedanken huldigen wie Fidelio oder die 9. Sinfonie, sind nicht zu erwarten. Im Gegenteil. Dem Anlass gemäß werden Pathos und Heldenverehrung historisch verbrämt und mit antiker Garnierung gereicht. Auch das ist Beethoven. Er lebte von Aufträgen. In den Ruinen von Athen erwacht die Göttin Athene – hier ebenfalls als Minerva auftretend – nach tausenden von Jahren. Getrieben von der Sehnsucht, die ihr geweihte Stadt mit dem Parthenon wiederzusehen, findet sie sich in Ruinen wieder. Athen steht unter osmanischer Herrschaft, der legendäre Turm der Winde ist eine Moschee. Derwische huldigen ihrem großen Propheten und der Kaaba, was Minerva ihrerseits als „barbarisches Geschrei“ wahrnimmt. Ein türkischer Marsch, der wie in der Weihe des Hauses zu den Zugnummern des Werkes gehört, verbreitet mehr eingängig-flotte Folklore als Schrecken. Nachdem die Göttin ein in Musik gesetztes Gespräch eines griechischen Mädchen und eines Griechen mit angehört hatte, bei dem diese Menschen aus dem Volke beklagen „ohne Verschulden Knechtschaft dulden“ zu müssen, entschließt sie sich zur Flucht. Sie begibt sich auf die Suche nach einer neuen Heimat, wo „Wissenschaft und Künste blühen“. Denn wo man die holden Musen feiere, da „steht gewiss auch mein Altar“. Von Merkur geleitet, gelangt sie nicht ganz zufällig nach Pest. Von einem Greis erfährt das mythologische Paar, bei einem Volk angelangt zu sein, dem „die alte Treue für seinen König nie erstarb“. Dieses Volk nun schickt sich an, das Theater, diesen neuen Tempel der Musen, in Besitz zu nehmen. Und Merkur ruft Minerva zu: „Vergiss dein Griechenland, es ist gewesen, das Alte schwand, das Neue begann.“ Die Musik- und Theatermusen Thalia und Melpomene werden enthusiastisch gefeiert. Und so schließt das Festspiel damit, dass sich Zeus, der Vater Minervas, dazu herablässt, ein Bildnis des Kaisers Franz auf dem Altar der Kunst zwischen die beiden Musen zu stellen. Mit dem Chor „Heil unserm König! Heil! Vernimm uns Gott. Dankend schwören wir aufs Neue alte ungarische Treue bis in den Tod!“ endet dieses Spiel.

Zu danken sind die Ausgrabungen bei Naxos dem finnischen Dirigenten Leif Sergerstam, dem Chorus Cathedralis Aboesis und dem Turku Philharmonic Orchestra. Es war eine glückliche Wahl, deutschsprachige Schauspieler zu verpflichten. Sie garantieren die Textverständlichkeit. Angela Eberlein spricht die Minerva, Claus Obalski den Merkur, Roland Astor unter anderen den Greis. Die drei Gesangspartien in den Ruinen voin Athen, das griechische Mädchen und der Grieche sowie der Hohepriester, der am Schluss in Erscheinung tritt, sind mit Reetta Haavisto und Juha Kotilainen besetzt. Insgesamt vier Sprechrollen – wieder sind es Claus Obalski, Roland Astor, Ernst Oder und Angela Eberlein – sieht der Komponist für König Stephan vor. Gewiss können die ambitionierten Einspielungen die Werke als Ganzen nicht retten.  Wer sich aber tiefer hineinhört, findet einen Einfallsreichtum, wie ihn nur ein Beethoven hervorbringen kann. Als ob sich die Musik über den abstrusen Inhalt erhebt. Dreimal gehört, und bestimmte Passagen gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. So ist es vielleicht auch Richard Strauss ergangen, der eine tiefe Neigung zu antiken Stoffen hatte. Der benutze nämlich Beethovens Musik für seine neue Bearbeitung nach einem Schauspiel von Hugo von Hofmannsthal, das genauso in der Versenkung verschwunden ist wie das Original.

Ohne die Einbettung in das Gesamtwerk bleiben die musikalischen Nummern aller drei Schauspiele unverständlich. Andererseits ist es kaum vorstellbar, Schöpfungen wie diese einem heutigen Publikum bei einer öffentlichen Aufführung komplett zuzumuten. Das Wissen um die Mythologie und ihre Gestalten sowie sehr spezielle historische Ereignisse sind nicht mehr so verbreitet wie einst. Aspekte, die als islamfeindlich wahrgenommen werden könnten, ließen sich auch mit Mitteln des zeitgenössischen Theaters schwerlich relativieren. Umso verdienstvoller ist es, die Stück wenigstens in dieser Form zugänglich zu machen, wie das Naxos und nun auch Hänssler ermöglichten. Rüdiger Winter

Sueños de verano españoles

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Noch ein Sommernachtstraum? Die neueste Einspielung der Schauspielmusik von Felix Mendelssohn Bartholdy ist in ihrer Art so ungewöhnlich und aufwändig, dass sich die Frage erübrigt. Sammler können ohnehin nie genug bekommen. Alia Vox brachte die Aufnahme gelegentlich des 25jährigen Bestehens heraus (AVSA 9960). Das Label wurde vom katalanischen Musikwissenschaftler, Gitarrist und Dirigent Jordi Savall begründet und ist in der Gemeinde Bellaterra bei Barcelona ansässig. Vom Mittelalter bis in die Gegenwart reicht das Repertoire. Das Unternehmen, welches der historischen Aufführungspraxis verpflichtet ist, nimmt für sich in Anspruch, dass „es folgerichtig und notwendig war, in einer Zeit, in der Klassikeinspielungen vor so großen Problemen stehen, eine Firmenpolitik einzuschlagen, die sich durch die absolute Priorität für die kreative und musikalische Dimension auszeichnet“. Savall leitet den Chor La Capella Nacional de Catalunya und das Orchester Le Concert des Nations mit Schwung und Hingabe. Beide Ensembles wurden von ihm und seiner verstorbene Ehefrau, der Sopranistin Montserrat Figueras, ins Leben gerufenen. Die Aufnahmesitzungen unter Studiobedingungen im August, September und Oktober 2023 waren von zehn Liveaufführungen – darunter in Hamburg und Bremen – begleitet.

Geboten wird der Sommernachtstraum in vier Varianten, die gleich viele CDs in Anspruch nehmen. Zu hören sind die komplette Bühnenmusik aus Chören, Zwischenaktmusiken,  Soli und Melodramen, in denen die Schauspieler ihre Texte auf die untergelegte Musik rezitieren sowie die konzertante  Fassung, in der solistisch lediglich die Elfen auftreten – jeweils in Deutsch und in Englisch. Äußerlich sprengt die üppig illustrierte Ausgabe das herkömmliche Format. Passend zum Inhalt des Werkes scheinen sich die CDs im Innern in ihren dekorative Hüllen wie in einem Wald zu verbergen. Dazwischen auf 307 Seiten Informationen und Bilder satt. Neben erklärende Wortbeiträge in mehreren europäischen Sprachen zum Stück mit der Musik Mendelssohns, seiner Entstehungsgeschichte, die ausgewählten Texte von William Shakespeare im Original und in der deutschen Übersetzung durch August Wilhelm Schlegel, auf die Mendelssohn bei seiner Komposition zurückgriff. Die Musik setzt erst mit dem zweiten Akt ein, der im Wald vor den Toren Athens spielt, wo die über Kreuz liegenden menschlichen Figuren auf das königliche Elfenpaar Titania und Oberon mit ihrem Gefolge treffen – und, wie es der komödiantische Zufall will, robuste Handwerker ein Theaterstück für die bevorstehende Hochzeit von Theseus und Hippolyta proben. Die belgische Sopranistin Flore Van Meerssche (Sopran) und kroatische Mezzosopranistin Diana Haller übernehmen in sämtlichen Fassungen mit viel lyrischem Einfühlungsvermögen die kleinen solistischen Aufgaben der Elfen, während die muttersprachlichen Schauspieler in beiden Bühnenfassungen mit Ausnahme des Puck (Thomas Höft/Maia Jemmett) in mehrere Rollen schlüpfen. Der Bariton Dietrich Henschel – um bei der deutschsprachigen Aufnahme zu bleiben – gibt Oberon und Theseus, Reiki von Carlowitz Titania, Hippolyta und Elfe, Georg Kroneis spricht Demetrius und Zettel sowie im Theater auf dem Theater den Pryamus sowie Leonhard Srajer Lysander, Flaut und im Theaterstück die Thisbe. Schließlich treten mit Johanna Rose Falkinger (Herminia und Elfe) und Anna Manske Helena, Sequez und Elfe) noch zwei Sängerinnen in Erscheinung.

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Der Mendelssohn-Forscher R. Larry Todd ist Professor für Kunst und Wissenschaft an der Duke University (USA) / Screenshot YouTube

Im Boooklet kommt auch R. Larry Todd, Professor für Kunst und Wissenschaft an der Duke University (USA) mit einem großen Beitrag zu Wort, den wir um einige musiktheoretische Details gekürzt widergeben. Todd gilt als Mendelssohn-Kapazität und hat auch eine umfangreiche Biographie mit dem Titel „Sein leben und seine Zeit“ verfasst, die in deutscher Übersetzung bei Carus / Reclam erschien (ISBN 978-3-89948-098-6).

Hier nun Auszüge aus seinem Text: Zu Beginn des Jahres 1845 erhielt Felix Mendelssohn Bartholdy, damals auf dem Höhepunkt seines in Deutschland und England gleichermaßen gefeierten Ruhms, einen Brief des Londoner Musikverlags Beale & Chappell mit der dringenden Bitte, ein neues großes Musikprojekt zu Shakespeare in Angriff zu nehmen: „Bedenken Sie doch, welch ungeheures Aufsehen es in der Musikwelt erregen würde, wenn Sie die Musik zum ganzen ,Sturm‘ von Shakespeare komponieren würden, zumal keine Originalmusik zu dieser wunderbaren Schöpfung des unsterblichen Dichters erhalten ist, und gäbe es sie, wäre sie der Erwähnung nicht wert.“ Mendelssohn war von dem Vorschlag angetan und antwortete aus Frankfurt, dass er hoffe, bald einige dieser Gedanken umsetzen und sie in guten Achtel- und Sechzehntelnoten über den Kanal schicken zu können. In der Tat war man optimistisch, dass er eine neue Bühnenkomposition vollenden und mit der Partitur an den Erfolg seiner Schauspielmusik zu Shakespeares Komödie Ein Sommernachtstraum, op. 61 anknüpfen oder ihn gar noch übertreffen würde. … Der französische Schriftsteller Eugene Scribe hatte eingewilligt, für eine Opernfassung von Der Sturm das Libretto zu schreiben, außerdem bestand die Aussicht, dass die gepriesene schwedische Sopranistin Jenny Lind eine der Rollen singen würde. In einem Brief an Lind sinnierte Mendelssohn: „Einstweilen habe ich leeres Notenpapier und gespitzte Federn auf dem Tisch liegen, und warte.“ Doch dann gerieten die Pläne ins Wanken. Nachdem er im Januar 1847 das Libretto von Scribe erhalten hatte, lehnte Mendelssohn die Vertonung mit der Begründung ab, es fehle die Zeit und das Libretto sei „zu französisch“. Die englische Presse ließ sich noch eine Weile über die Angelegenheit aus, die Mendelssohn nun als „langweilige Operngeschichte“ abtat, so dass er seinem Freund Karl Klingemann schrieb: „Ist das nicht statt des Tempest ,much ado about nothing‘?“ Eine flüchtige Durchsicht der erhaltenen Korrespondenz Mendelssohns (fast 6.000 Briefe) bestätigt, dass er mit den Werken des englischen Dichters mehr als vertraut war. Insgesamt bezieht er sich wiederholt auf ungefähr zwanzig Werke. … Als Hector Berlioz mit Mendelssohn 1831 in Rom zusammentraf, war das gemeinsame Interesse für Shakespeare ein Gesprächsthema. Beide hielten es für möglich, sich die Szene mit der Fee Queen Mab in Romeo und Julia in Form eines Scherzo vorzustellen. Als Berlioz einige Jahre später in seiner dramatischen Symphonie Romeo et Juliette (1839) ein Vokal-Scherzetto und ein Orchester-Scherzo einfügte, um die Fee als Hebamme der Träume darzustellen – eine verführerische Musik, die sich Mendelssohns Markenzeichen, dem Elfenstil, annäherte -, konnte der Franzose die Befürchtung nicht unterdrücken, dass der Komponist der Sommernachtstraum-Ouvertüre dasselbe Thema bereits vertont hatte.

Die Mendelssohn-Biographie von R. Larry Todd gilt als Standartwerk. In deutscher Übersetzung ist sie bei Carus/Reclam erschienen.

Er hatte es nicht getan, doch zweifellos ist Shakespeares Einfluss auch für die Ausbildung und Entwicklung des reifen Musikstils von Mendelssohn entscheidend gewesen. Insbesondere der flüchtige, quecksilbrige Elfenton, den wir mit vielen Werken Mendelssohns assoziieren … verdankt sicher einen großen Teil seiner magischen Wirkung dem Sommernachtstraum. Dieses Theaterstück war schon die Lieblingslektüre des Jungen gewesen, als er noch mit seiner älteren Schwester Fanny die Szenen auf dem Puppentheater darstellte. Dasselbe Stück hatte den frühreifen Heranwachsenden angeregt, mit siebzehn Jahren die außergewöhnliche Orchesterouvertüre op. 21 zu komponieren, und schließlich hat es den künstlerisch gereiften preußischen Kapellmeister bewegt, zu seiner jugendlich-romantischen Inspiration zurückzukehren und deren phantasievolle Verlockungen in der Schauspielmusik op. 61 wieder aufleben zu lassen, die nun das ganze Theaterstück musikalisch interpretiert…

Worauf beruhte die Faszination, die der englische Dichter in Deutschland ausübte? In den 1790er Jahren hatte sich A. W. Schlegel anlässlich einer Reihe von Wiener Vorlesungen, in denen er systematisch alle Stücke besprach, unter anderem mit dieser Frage beschäftigt. Schlegel verteidigte energisch Shakespeares Verletzung der aristotelischen Einheit von Zeit, Ort und Handlung, die jahrhundertelang die neo-klassische Auffassung von einem guten Bühnenstück beherrschte. Obwohl Shakespeare die Einheiten flexibel handhabte – nicht immer findet in seinen Stücken eine einzige Handlung an einem Ort und an einem Tag statt – beobachtete Schlegel eine übergreifende organische Einheit, ein harmonisches Ganzes, das sich auf den ersten Blick hinter dem Nebeneinander von gegensätzlichen Einzelrollen und Personengruppen verbirgt. Vielleicht dachte Schlegel hier an den Sommernachtstraum, das erste von ihm übersetzte Stück, und die Eingebung, die Mendelssohn in einem Brief an Fanny vom Juli 1826 eine „gränzenlose Kühnheit“ nannte, nämlich, den „midsummrnightsdream zu träumen anfangen“.

Im Neuen Palais in Potsdam wurde die Schauspielmusik erstmals am 14. Oktober 1843 im Beisein des Königs Friedrich Wilhelm IV. vor geladenen geladenen Gästen aufgeführt / Winter

Die daraus hervorgegangene Ouvertüre, die Bernhard Shaw Jahrzehnte später pries, weil sie einen faszinierenden, originellen und zugleich vollkommen neuen Musikstil einführte, hätte vermutlich auch den Beifall von Shakespeares Übersetzer gefunden. Der generelle Aufbau der Komposition besteht aus einer erweiterten dreiteiligen Sonatenform mit einer Exposition, in der die dramatis personae in klar definierten thematischen Gruppen vorgestellt werden: zuerst ein zartes Stakkato der Streicher für die vorbeihuschenden Elfen, dann königliche Fanfaren für die Herrscher Athens, leuchtende lyrische Melodien für die beiden Paare der verwechselten Liebenden, rüpelhafte Musik für die Handwerker, unter denen der brüllende Weber Nick Bottom (Zettel) hervorsticht. Die zentrale Entwicklung entspricht den Verwicklungen der mittleren Akte, die im Wald stattfinden, wo die menschliche und die übernatürliche Welt aufeinanderstoßen, sodass Titania, die Elfenkönigin, sich in Zettel verliebt, der einen Eselskopf bekommt. Die Reprise und die Coda führten uns nach Athen zurück, wo Mendelssohn, Shakespeare folgend, den Handlungsknoten auflöst. Die subtil komponierte Coda, die frühere Motive in veränderter Form wieder aufgreift, bereitet die Bühne für Pucks Epilog, in dem er Abbitte leistet und versichert, dass die ganze Angelegenheit „nicht mehr als ein Traum“ gewesen sei.

Doch wie kann der Traum musikalisch heraufbeschworen werden? Hier gelang dem jungen Mendelssohn ein Geniestreich, indem er die konventionelle Sonatenform dadurch modifizierte, dass er die Komposition mit einer Reihe von vier mottoartigen Akkorden beginnen und enden lässt, die auch in den formalen Ablauf eingreifen, um die Reprise anzukündigen. Diese Akkorde werden durch hinzugefugte Fermaten über ihre natürliche metrische Dauer hinaus gehalten und erhalten dadurch eine dramaturgische Funktion; sie sind das Tor, durch das wir die Zeit der realen Welt verlassen, um in einen verzerrten Traumzustand zu fallen. Am Ende der Ouvertüre machen dieselben Akkorde den Zauber wieder rückgängig und erlauben uns, aus dem Traum in die Realität zurückzukehren. …

Die Uraufführung der Sommernachtstraum-Ouvertüre leitete 1827 Carl Loewe in Stettin. Das dem Komponisten, Dirigenten und Organisten gewidmete Denkmal vor der Jakobikirche der Stadt existiert nicht mehr / Wikipedia

Die ersten Aufführungen der Ouvertüre fanden 1826 im privaten Kreis (als Klavierduo mit Fanny) im Berliner Wohnsitz der Familie in der Leipzigerstraße statt; es folgte 1827 die öffentliche Uraufführung der Orchesterfassung in Stettin, wo die Elfen beeindruckten und mit „Insektenschwärmen, die in den untergehenden Sonnenstrahlen einen angenehmen, lebhaften Tumult erregen“, verglichen wurden. Passenderweise fand die englische Premiere am Mittsommertag statt. Am 24. Juni 1829 wurde die Komposition in den Londoner Argyle Rooms gespielt. Eine im Harmonicon erschienene Rezension fand die Musik „sprühend vor Genie und effektvoll; einige Teile spielerisch und sylphidenhaft, andere erhaben und solide; das Ganze zeigt, dass der Musiker den Dichter studiert hat, in seine Gedanken eingedrungen ist und sogar etwas von seiner Phantasie aufgefasst hat“. In Paris war die Ouvertüre erstmalig 1832 im Conservatoire unter der Leitung von F.-A. Habeneck zu hören, allerdings erst nach vier sorgfältigen Proben. Bei einer übernahm Mendelssohn selbst den Paukenpart. Die Aufführung war ein Erfolg, was aber Ferdinand Hillers Bericht zufolge zwei Musikliebhaber nicht davon abhielt, zu murmeln: „C’est très-bien, très-bien, mais nous savons le reste“ [Das ist ja alles schön und gut, aber wir kennen den Rest], und das, obwohl sie in der Nähe des Komponisten saßen. Als Mendelssohn 1835 endlich die vollständige Partitur der Ouvertüre bei Breitkopf & Härtel als op. 21 veröffentlichte, schien sein Shakespeare-Projekt ganz offiziell abgeschlossen zu sein.

Der katalanische Dirigent Jordi Savall während einer Probe für die Aufnahme / Toni Penarroya (Booklet)

Doch es kam anders. 1843 gab Friedrich Wilhelm IV., der Mendelssohn 1841 als Kapellmeister und Generalmusikdirektor für geistliche Musik nach Berlin berufen hatte, dem Komponisten den Auftrag, Shakespeares Komödie komplett mit Schauspielmusik aufzuführen. Der Bühnenschriftsteller und Erzähler Ludwig Tieck sollte auf Grundlage von A. W. Schlegels Übersetzung Regie führen, während Mendelssohn für die Schauspielmusik zu den Szenen und zwischen den Akten verantwortlich war. Karl Klingemann, ein enger Freund des Komponisten, meinte zwar, dass die Zeit für Märchenopern vorbei sei, doch Mendelssohn erwiderte, dass die Feen viel besser zur Geltung kämen, wenn man ihrem phantastischen Leben ein wirkliches irdisches Leben entgegensetzen würde. Unerwartet hatte der Komponist auf der Höhe seines Ruhms die Gelegenheit erhalten, die „Lieblingslektüre“ seiner Jugend noch einmal zu bearbeiten. … Das vielleicht markanteste Merkmal der neuen Schauspielmusik ist die kunstvolle Art und Weise, in der Mendelssohn Materialien aus der ursprünglichen Ouvertüre op. 21 nahtlos in die Musik für op. 61 einfließen ließ. Wenn man sich die Komposition anhört, kann man keinen Bruch zwischen der textlosen Ouvertüre (1826) aus der Jugendzeit und der nach einer langen Pause von siebzehn Jahren entstandenen Fassung mit Text für den König (1843) feststellen. Mit einem Wort, alles ist wie aus einem Guss. Die Musik zum kompletten Bühnenwerk durchziehen zahlreiche Anklänge an die Ouvertüre, zu viele, um sie hier alle zu erwähnen. …

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Bleibt noch, einen Blick auf das bemerkenswerte Nachleben von Mendelssohns Shakespeare-Experiment zu werfen. Zum einen könnte die viktorianische Mode der Feenbilder, die sich ab den 1840er Jahren in den Gemälden von Richard Dadd, Joseph Noel Paton und anderen durchsetzte, zum Teil eine Reaktion auf Mendelssohns Überhöhung des Phantastischen gewesen sein. Leigh Hunt bezeichnete diese Art der Phantasie 1844 als „die jüngste Schwester der Imagination ohne das Gewicht der Gedanken und Gefühle der anderen“. Wohl am bekanntesten wurde der berühmte Entr’acte-Hochzeitsmarsch für die Hochzeit von Theseus und Hippolyta. Er erklang bei der Hochzeit der königlichen Prinzessin Vicky mit dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm im St. James’s Palace in London. So begann eine Tradition, die das Leben von Millionen von Menschen veränderte.

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Preußen-König Friedrich Wilhelm IV. gab den Auftrag für die Komposition. Franz Krüger malte ihn 1846 in seinem Arbeitszimmer / Wikipedia

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Mendelssohns op. 61 so verbreitet, dass man kaum noch an Shakespeares Stück ohne seine Musik denken konnte. Doch es sollte noch eine weitere, wesentlich unheilvollere Wendung geben. Mit dem Aufstieg des Dritten Reichs in den 1930er Jahren wurde Mendelssohns Musik in Deutschland verboten, und man bemühte sich, eine neue Komposition für Shakespeares Ein Sommernachtstraum in Auftrag zu geben. Richard Strauss lehnte das Ansinnen mit der Begründung ab, dass er Mendelssohns Musik nicht verbessern könne. Schließlich schuf Carl Orff eine neue Partitur, deren geplante Uraufführung in Frankfurt im Jahr 1944 jedoch wegen eines alliierten Bombenangriffs abgesagt werden musste. Währenddessen bereitete cm anderer Komponist, Erich Korngold, der 1934 in die USA emigriert war, eine neue Filmmusik für Max Reinhardts gefeierten Film von 1935 vor. Zur Besetzung gehörten der junge Mickey Rooney als Puck, Olivia de Havilland als Hermia und James Cagney als Bottom, der Weber (Zettel). Es überrascht nicht, dass Korngold ohne zu zögern auf Mendelssohns Schauspielmusik zurückgriff, doch er baute auch Anspielungen auf andere Werke des Komponisten ein. In einer für die damalige Zeit bemerkenswert optimistischen Einschätzung sagte Korngold voraus, dass Mendelssohn Hitler überleben würde. (Dank an den Autor/ Übersetzung Claudia Kálasz/Red. Rüdiger Winter/ Abbildung oben: Gemälde des schottischen Malers Joseph Noel Paton (1821-1901 / Wikipedia)

Die Sängerin begleitet sich selbst

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Die Sängerin Rachel Fenlon begleitet sich bei ihren Auftritten selbst. Das ist noch kein Alleinstellungsmerkmal. Wenn aber Schubert auf dem Programm steht, dazu noch dessen Winterreise – der Liederzyklus schlechthin, Gipfelpunkt kompositorischen Schaffens und mancher Sängerkarriere, dann stellt sich die Frage ein, ob es das je gegen hat. Bei Hauskonzerten gewiss, doch auf CD? Ich habe kein zweites Beispiel gefunden. Kaum ein Werk ist so häufig eingespielt worden wie die Winterreise. Immer und immer wieder haben sich Interpreten den vierundzwanzig Liedern nach Texten von Wilhelm Müller auf Podien und in Studios hingegeben, um letzte Geheimnisse zu entschlüsseln, neue Ansätze zu finden, die Geschichte in das jeweils aktuelle gesellschaftliche Umfeld zu stellen. Komponisten haben sich mit unterschiedlichem Erfolg an Bearbeitungen versucht. Statt eines Flügels mussten alternative Instrumente zur Begleitung herhalten. Selbst Akkordeons wurden bemühet. Die Winterreise blieb keine Domäne der Männer. Sängerinnen aller Lagen haben sie nach mutigen Anfängen der Altistin Therese Behr-Schnabel 1910 in Berlin ganz selbstverständlich im Repertoire. Sogar Chöre sind zum Einsatz gelangt. Ist die eigene Begleitung lediglich der neueste Schrei?

Mit dieser Vermutung täte man der in Großbritannien geborenen, an der Westküste Kanadas aufgewachsenen und jetzt in Berlin lebenden Sopranistin unrecht. Rachel Fenlon erklärt sich ihrem Publikum mit einen eigenen Text im Booklet der Neuerscheinung bei Orchid Classics (ORC 100343). Im vierten Lebensjahr begann der Klavierunterreicht. Mit Beginn der Gesangsausbildung habe sie sich schon als Siebzehnjährige gefragt, warum sie sich nicht selbst begleiten sollte, zumal in ihrer musikalischen Identität Stimme und Instrument gleichwertig ausgeprägt seien. Dieser Gedanke hat sie ihren eigenen Schilderungen zufolge nicht wieder losgelassen. Schließlich habe sie den Mut gefasst, bei ihrem ersten öffentlichen Konzert in Toronto, das ausschließlich aus Schubert-Liedern bestand, ihre eigene Begleiterin zu sein. Damit habe sie ihren eigenen Weg gefunden – ungeachtet warnender Stimmen, die diese Kombination nicht für machbar hielten. Als sie anfing, über den Inhalt ihre erste Platte nachzudenken, „war es keine Frage, dass es Schubert sein würde“. Während der isolierten Jahre der Pandemie, vertiefte sie sich in die Winterreise. Sie sei in Schubert auf jemanden getroffen, den tiefe Einsamkeit, leidenschaftliche Liebe und Trauer erfüllten. „Ich fand viel von mir selbst in dem Werk wieder“, das sie sich in zwei Jahren langsam und systematisch aneignete – auch während stundenlanger Spaziergänge im Wald, „um mir die Musik vorzustellen und sie in meiner Seele zu finden“. Im Sommer 2022 gab es dann die allererste Aufführung in Berlin, der eine Tournee folgte.

Auf mich wirkt die Vortragsweise von Rachel Fenlon zu unentschieden. Als ob sie sich stilistisch nicht zwischen Lied und Oper entscheiden kann. Sie verliert sich in Details, die ausgeschmückt werden wie kleine musikdramatische Szenen. Registerwechsel in die Tiefe klingen unerwartet derb und sind nicht als bewusst eingesetztes Ausdrucksmittel erkennbar. Meist ist sie gut zu verstehen, was für sie als Liedsängerin spricht. Spannungsreiches Widerspiel zwischen Stimme und Instrument, das die meisten guten Aufnahmen der Winterreise auszeichnet, kann sich nicht aufbauen, da Sängerin und Begleiterin Ein und Dieselbe sind. Rüdiger Winter

Sigrid Kehl

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Welches Weihnachtsoratorium für die Feier in den eigenen vier Wänden? Es soll schon etwas Besonderes sein. In meinen Beständen findet sich der Videomitschnitt aus der Leipziger Universitätskirche vom 15. Dezember 1963. Der dürfte besonders genug sein. Die Kirche im Zentrum der Stadt gibt es nicht mehr. Obwohl sie die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstanden hatte, wurde sie 1968 abgerissen. Proteste hatten nichts genützt. Das Gotteshaus war den hochfliegenden Neubauplänen der sozialistischen Machthaber im Wege. Leipziger Bürger haben das bis heute nie verwunden. Die Formen sind im 2017 fertiggestellten Neubau der Paulinerkirche an alter Stelle bewahrt – der Klang des Raumes in eben dieser seltenen Aufnahme. Sie kann getrost als musikalisches Denkmal gelten. Die Kameras fingen nicht nur das musikalische Geschehen ein, sie dokumentierten auch das Kirchenschiff fünf Jahre vor seiner Zerstörung. Entdeckt hatte die Fernsehaufzeichnung, die auch im Folgejahr nochmals gesendet wurde, der Leipziger Paulinerverein im Deutschen Rundfunkarchiv.

„Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn!“ Die Altpartie sang damals Sigrid Kehl. Mit einer gewissen Kühle und Distanz gelang ihr eine Wirkung der besonderen Art. Ein inniges Gefühl des Moments stellte sich nicht bei der Künstlerin, sondern beim Publikum. Nicht sie waren ergriffen, ihre Zuhörer waren es. Als mir der bewegende Mitschnitt wieder in die Hände fiel, erreichte mich die Nachricht von ihrem Tod. Neben der Kehl sind Elisabeth Breuel (Sopran), Peter Schreier (Tenor) und Günther Leib (Bariton) zu hören. Als Verkündigungsengel hat der spätere Schlagersänger und Entertainer Hans-Jürgen Beyer, einen seiner ersten öffentlichen Auftritte. Thomaskantor Erhard Mauersberger leitet den Thomanerchor, dem Bayer angehörte, und das Gewandhausorchester Leipzig.

Die Sängerin wurde am 23. November 1929 in Berlin geboren. Nach dem Studium an der Berliner Musikhochschule wurde sie in das Nachwuchsensemble der Lindenoper aufgenommen, wo besondere Begabungen zusätzliche Förderung erfuhren. Zuerst ist sie 1957 an diesem Haus als eines der Polowetzer Mädchen im zweiten Akt von Borodins Fürst Igor aufgetreten. Noch im selben Jahr wurde sie ans Opernhaus Leipzig verpflichtet, dem sie bis zum Bühnenabschied verbunden blieb. Keine Rolle ihres Fachs, die sie nicht gesungen hätte. Höhepunkt der Leipziger Karriere war die Brünnhilde in Wagners Ring in der Inszenierung von Joachim Herz, die in vielen Punkten die spektakuläre Deutung von Patrice Chéreau 1976 in Bayreuth vorwegnahm. Die Tetralogie wurde szenisch in der Entstehungszeit angesiedelt. Damit hatte sich die Sängerin nach einem allmählichen Übergang als Hochdramatische etabliert. Ihre Wirkung auf der Bühne war enorm und konnte durch Mikrophone nur bedingt eingefangen werden. Man musste die Kehl auch sehen. Sie war eine hoheitsvolle Erscheinung. Ihre Brünnhilde ist mir als kontrolliert und kühl in Erinnerung geblieben. Sie war eine stolze Wotans-Tochter, ließ sich niemals gehen – auch stimmlich nicht. Bleibenden Eindruck hinterließ sie als Amme in der damals noch selten gespielten Frau ohne Schatten von Strauss, mit der sie auch an die Berliner Staatsoper zurückkehrte. Die jeweiligen Aufführungen hatten umjubeltes Festspielniveau. Eng mit ihrer Karriere ist die Ortrud in Lohengrin verbunden gewesen, die sie auch an die Wiener Staatsoper führte.

Sigrid Kehl hat in ihrer langen und überaus erfolgreichen Karriere relativ wenige Tondokumente hinterlassen, die nicht einmal alle auf CD gelangt sind. Ihre herbe, schnörkellose Stimme mit fabelhaftem Sitz und hohem Wiedererkennungwert ist um 1970 auf einer LP aus der Reihe „Opernabend mit …“ des DDR-Labels Eterna umfassend eingefangen. Paul Schmitz, der Dirigent, wirkte damals als Generalmusikdirektor am Opernhaus Leipzig. Höhepunkt des Programms ist der Schlussgesang der Brünnhilde als Vorgriff auf die szenische Gestaltung der kompletten Partie. In einer deutsch gesungenen Gesamtaufnahme von Händels Radamisto ist sie die Zenobia. Als Mercedes wirkt die in der Leipziger Carmen-Plattenproduktion mit. In einer Szenen-Folge aus Don Carlos steuert sie die Eboli bei. Völlig in der Versenkung verschwunden ist ein Querschnitt durch Die Macht des Schicksals von Verdi mit ihrer Preziosilla, der auch bei Philips erschien.

Zwei Aufnahmen in der Diskographie verdienen besondere Erwähnung: Mitschnitte von Salome und Tannhäuser aus dem La Fenice. Sie sind in der CD-Reihe von Mondo Musica herausgekommen, deren Erlös in den Wiederaufbau des abgebrannten Opernhauses der Lagunenstadt geflossen ist. Der Klang ist nicht berauschend. Die Kehl ist als Herodias und als Venus zu hören, Rollen, die sie auch an ihrem Stammhaus in Leipzig gesungen hat. Beide Dokumente sind aber auch aus anderen Gründen interessant. Ernst Kozub gibt den Tannhäuser, während René Kollo, der sich die Partie ebenfalls erarbeiten sollte, den Walther singt. Da die so genannte Dresdener Fassung gespielt wird, bleibt Walthers schönes Solo im Sängerkrieg erhalten. Am 17. Dezember 2024 ist Sigrid Kehl gestorben. (Foto Wikipedia) Rüdiger Winter

Anspruchsvolles CD-Debut

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Contemplation! Der Titel gibt sich grüblerisch. Gemeint ist die erste CD, die ausschließlich dem Bariton Huw Montague Rendall gewidmet ist – erschienen bei Erato, wo er neuerdings unter Vertrag steht (2173236378). Diesen Namen muss man sich nicht erst merken, Freundinnen und Freunde der Oper kennen ihn. Auch wenn mancher noch rätseln mag, wie man den Vornamen richtig ausspricht. Er ist walischer Herkunft. Seine englische Form lautet Hugh, die deutsche schlicht Hugo. Onomatologisch gesehen bedeutet Huw „der Geistvolle“, der „mit großem Verstand Ausgestattete“. Seine Eltern sind die Mezzosopranistin Diana Montague und der Tenor David Rendall. Sie singt u. a. die Tauridische Iphigénie in Gardiners Aufnahme der Gluck-Oper bei Philips, er den Ferrando in Cosi fan tutte unter Alain Lombard bei Erato. Damit wäre auch die Zusammensetzung des Sohnes Nachname geklärt. Neigung und Talent zur Oper scheinen also vererbt.

Verschiedenen Biographien im Netz zufolge studierte Montague Rendall am Royal College of Music London und absolvierte das Internationale Opernstudio Zürich. Auftritte gab es in Covent Garden London, an der Lyric Opera von Chicago, am Théâtre des Champs-Élysées in Paris und bei den Festspielen in Glyndebourne, Salzburg und Aix-en-Provence. Im Repertoire hat er Almaviva und Figaro, Papageno, Pelléas, Aeneas von Purcell. Als Konzertsänger tritt er mit Liedern und Sakralwerken von Brahms, Händel, Fauré und Vaughan Williams auf. In jüngster Zeit hatte er eine Reihe bemerkenswerter Debüts, so in Ambroise Thomas’ Hamlet in einer Neuinszenierung an der Komischen Oper Berlin, seinen Einstand an der Opéra National de Paris in den Partien des Papageno und des Mercutio (Roméo et Juliette), an der Opéra National du Rhin, an der Staatsoper Hamburg sowie an der Santa Fe Opera. Geboren wurde er 1993. Wer ihn auf Bühnen oder in Filmclips gesehen hat, wird kaum nach seinem Alter fragen. Der Sänger verströmt Jugend, Charme, Weltläufigkeit und gute Manieren. Ein Sympathieträger durch und durch. Er weiß sich zu bewegen und kann – wenn es denn sein muss – auch still stehen.

Für das mehrsprachige Booklet hat er einen eigenen Text beigesteuert. Bei vielen Firmen hat sich das so eingebürgert, wenngleich es nicht immer nötig ist. Sein Text nun – kontemplativ wie es der Titel der Neuerscheinung selbst verlangt – hat es in sich. Ein junger Sänger will es nicht beim möglichst perfekten Gebrauch der menschlichen Stimme belassen. Und sich auf keinen Fall Szenen, Arien oder Lieder in einer x-beliebigen Sprache phonetisch einpauken. Er will verstehen, was er singt, ist durch vertiefte Betrachtung auf eigenen Erkenntnisgewinn aus, den er auch noch weitergeben möchte an sein Publikum. Ein Sänger mit philosophischen Ambitionen also, was mich an Fischer-Dieskau erinnert. Hört man es auch? Auf jeden Fall gefällt es. Und vielleicht gerade deshalb, weil sich Montague Rendall Gedanken macht. Der Text beginnt so: „Wer sind wir, was ist unser Zweck und was bleibt von uns nach unserem Tod? Wir sind nichts als Sternenstaub, Wesen kosmischen Ursprungs, schwebend in der Weite des Universums. Unsere flüchtige, vergängliche Existenz ist ein Rätsel, welches das kollektive menschliche Bewusstsein fesselt und unsere Geschichte formt wie die unablässigen Gezeiten die Küste formen.“ Künstler, die Visionäre unserer Welt, würden diesen existentiellen Konflikten auf den Grund gehen wollen, wobei sie ihre Kunst als Leuchtfeuer einsetzten, um diese Mysterien zu durchmessen und ständig zu erforschen, gibt sich Huw Montague Rendall, der allerdings nur für sich sprechen kann, überzeugt. Kontemplation habe ihm wie ein Spiegel Einblick in die vielfältige Art dieser Rätsel ermöglicht. Genau dieses Konzept sei der Kompass bei der Musikauswahl für dieses Programm gewesen. „Musik hat sich in meinem Leben immer wieder als beherrschende Kraft erwiesen, die mir in den heftigen Lebensstürmen Orientierung gibt.“ Sie sei eine unschätzbare Gefährtin und biete tiefe Einsichten in die labyrinthische Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche. Die „sorgfältig ausgewählten Kompositionen wirken wie ein Spiegel, indem sie die Vielfalt der Lebenswirklichkeit wiedergeben und zu besinnlichen Reisen in mein Unterbewusstsein anregen. Ohne diesen harmonischen Leitfaden und die dadurch gebotenen nachdenklichen Offenbarungen wäre mein Leben völlig anders verlaufen“. Diese Offenheit dürfte sein Publikum für ihn einnehmen.

Huw Montague Rendall (Papageno) und Elisabeth Boudreault (Papagena) bei der CD-Aufnahme im Studio / Warner Classics (YouTube Screenshot)

Die Auswahl will also mehr sein eine Auswahl an Vielseitigkeit und Können, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Sie folgt einem intellektuell ausgeklügelten Konzept. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Auch die Abfolge der Nummern nicht. Wenn beispielsweise auf die Szene des Fritz „Mein Sehnen, mein Wähnen“ aus Korngolds Die Tote Stadt Mahlers Lieder eines Jahrenden Gesellen folgen, geschieht dies mit hintersinnigem Bedacht, der – wenn alles gut geht – auch dem Publikum an den Lausprechern oder unter Kopfhörern aufgehen soll. Ein prüfender Blick in die im Booklet abgedruckten Texte erübrigt sich, weil jedes Wort zu verstehen ist, womit eine der Stärken des Interpreten herausgestellt sei. Noch mehr gewinnen die Stücke, wenn sie aus dem schwerfälligen konzeptionellen Überbau gelöst werden. So jedenfalls meine eigene Hörerfahrung mit dieser CD. In Anbetracht ihres träumerischen Ansatzes, eingebettet in raffinierte Tempi, könnte man schwören, die Gesellen-Lieder selten melancholischer vernommen zu haben. Damit dieser Eindruck nicht zu rasch wieder verfliegt, hilft nur der entschlossene Gebrauch der Pausentaste. Denn die sich unmittelbar anschließende Szene des Billy Budd „Look Through the Port“ aus der Britten-Oper wäre nach Mahler wohl des Guten zu viel. Bis auf den Liederzyklus nehmen die Nummern keinen Schaden, wenn sie in loser Abfolge und auch einzeln konsumiert werden. So ein Fall ist der herzzerreißend vorgetragene Monolog des arbeitslosten leichtfüßigen Billy Bigelow aus Carousel von Richard Rodgers, dem Broadway-Musical vom Feinsten. Eine dramatische Story teilt sich in einer eingängigen musikalischen Form mit, wie sie nur amerikanische Komponisten zuwege bringen. Bigelow sinnt über seine prekäre Lebenslage und das ungeborene Kind, dessen Vater er ist, nach. Er wird ein schlimmes Ende mit ihm nehmen. Wer am Vortrag von Montague Rendall Gefallen findet, wird zuletzt danach fragen, warum dieser Monolog eine kontemplative Reaktion in Gang setzen soll. Und selbst die Szene Papagenos mit Papagena (Elisabeth Boudreault) und den drei Knaben (Oliver Barlow, Sam Jackman und Benjamin Gilbert) aus dem zweiten Akt der Zauberflöte – genügt sie sich nicht in ihrer singspielartigen Klarheit und betörenden musikalischen Eingebung? Der Interpret sieht es etwas anders, wenn er schreibt: „Diese musikalischen Meisterwerke führen gelegentlich zu Betrachtungen über so vielseitige Themen wie Sterblichkeit, einen berauschenden Liebestrank und die ungeheure Kraft einer persönlichen Entscheidung. Sie dienen als zeitlose Anleitung für das Überwinden von Zeiten aufgewühlten Leids und sich auftürmenden, bedrängenden Unglücks. Die Macht der Musik lässt sich mit den unvorhersehbaren Strömungen eines mächtigen Flusses vergleichen: manchmal muss man die Stärke aufbringen, um gegen den reißenden Strom anzuschwimmen, während man sich andererseits der Strömung überlässt und sich von ihr stromabwärts treiben lässt. Musik zeugt, wie dieser Fluss, von der ehrwürdigen Schönheit der Natur und der Widerstandskraft des menschlichen Geistes.“

Mercutio (Huw Montague Rendall) kommt Roméo (Benjamin Bernheim) nahe. Eine Szene aus Gounods „Roméo et Juliette“ 2023 in der Pariser Oper / YouTube Screenshot

Noch mehr Mozart gibt es mit der großen Conte-Arie aus dem dritten Figaro-Akt „Hai già vinta la causa! … Vedrò, mentr’io sospiro“ und Don Giovannis Canzonetta „Deh, vieni alla finestra“ aus dem zweiten Akt. Szenen, die im Vergleich mit dem übrigen Angebot, etwas abfallen. Was noch? Mercutios Mab-Ballade aus Gounods Roméo et Juliette sowie Rezitativ und Arie des Valentin „O sainte médaille – Avant de quitter ces lieux“ aus Faust vom selben Komponisten – ein Fach, mit dem er seine eigentliche Domäne gefunden zu haben scheint. Montague Rendall passt die Stimmfarbe den Figuren an, haucht Töne aus und unterdrückt die Ängste nicht, mit denen der Bruder Marguerites in den Krieg zieht. Von der existentiellen Introspektion Hamlets, verewigt in Ambroise Thomas’ monumentaler Oper nach Shakespeares Meisterwerk, bis zu den skurrilen romantischen Eskapaden von Monsieur Beaucaire in der Sicht von André Messager (beide Werke werden vom Sänger als einzige direkt genannt) sei diese aufreizende Vorstellung von „vielleicht“ immer gegenwärtig. Dieser einzelne Begriff, gleichbedeutend mit möglich und ungewiss, beschäftige ihn ständig. „Kann sein“, „was wär wenn“. Derartige Betrachtungen führten zu einer geheimen Türschwelle; ein kurzer Blick durch das Schlüsselloch sei eine entmutigende Aussicht. „Wie steuert man durch das vertrackte Labyrinth grenzenloser Möglichkeiten?“ Diese Musikzusammenstellung zeuge von der unbeugsamen Natur der menschlichen Seele und ergründe „unsere angeborene Fähigkeit“ zu gesunden und durch Introspektion zu wachsen.

Montague Rendall, der vom Opéra Orchestre Rouen unter Ben Glassberg begleitet wird, lässt nicht locker: „Wir haben das außerordentliche Glück, in einer Zeit zu leben, in der der Diskurs über mentale Gesundheit stark zugenommen hat und die Hilfsmöglichkeiten sich vermehrt haben. Dieses günstige Umfeld hat zahllose Einzelpersonen dazu angeregt, mit ihren persönlichen Geschichten ins Rampenlicht zu treten, um Beziehungen zu Menschen mit gleicher Erfahrung aufzubauen. Dieses Album will Selbstbetrachtung fördern und bietet denjenigen Trost, die sich auf den Weg zur Selbstfindung machen.“ Und weiter: „Kontemplation hat mich zu einer beeindruckenden Introspektion befähigt, die mir den Weg zu meinem tiefsten Selbst bereitet hat. Voller Erwartung zeige ich nun diesen Weg auf und hoffe, mit Ihnen eine tiefempfundene Verbindung herzustellen. Voller aufrichtiger Gefühle biete ich Ihnen dieses Album an und lade Sie ein, mich auf diesem Weg zu begleiten.“ (Foto oben: Huw Montague Rendall in einem Ausschnitt aus dem Booklet seiner neuen CD / © Simon Fowler). Rüdiger Winter

Schubert „modern“

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Nicht Die sondern Eine schöne Müllerin verspricht der Titel der Neuerscheinung bei ET’CETERA (KTC 1827). Der Name Schuberts, der sich dem Betrachter des Covers zwangsläufig einstellt, findet keine Erwähnung. Es gibt auch keinen Hinweis drauf, ob jemand singt. In auffälligen Lettern treten das Ensemble Spectra hervor – und Daan Janssens, beim dem es sich um den 1983 in Brügge geborenen belgischen Komponisten handelt, der auch Opern schuf. Mehr nicht. Dabei hätte es der ebenfalls aus Belgien stammende Tenor Thomas Blondelle, dem auch in dieser Müllerin eine gewichtige Rolle zukommt, durchaus verdient gehabt, nicht erst auf der Rückseite genannt zu werden. Er ist auch in Deutschland sehr gut bekannt – und geschätzt. Mit Berlin fühlt er sich besonders verbunden. Dafür spricht, dass er bereits in mehr als zwanzig Produktionen an der Deutschen Oper mitwirkte. Seinen Einstand gab er 2009 mit dem Ersten Geharnischten in der Zauberflöte. Es folgten Loge, Tambourmajor, Erik, Eisenstein und etliches mehr. Und da er noch nicht sehr viele Einspielungen vorweisen kann, wäre sein Name für die neue CD gewiss verkaufsfördernd. Nach wie vor lassen sich Musikfreunde bei Neuerwerbungen oder beim Streamen auf diversen Plattformen im Netz von der Bekanntschaft mit Sängerinnen und Sängern auf Bühnen und Konzertpodien leiten. Sie sind und bleiben Zugpferde, schaffen Verbindungen zwischen gewohnten Werken und neuen Schöpfungen. Blondelle jedenfalls lässt sich unvoreingenommen und mit großem Enthusiasmus auf die Produktion ein und hinterlässt mit schönem, sensiblem und flexiblem Tenor sein individuelles Gütesigel. Gern würde man ihn auch mit dem Schubertschen Original hören. Er wäre – auch wegen seines perfekten Deutsch genau richtig. Nicht nur, dass er die Texte exakt vorträgt. Er findet den Sinn heraus, weiß also, worum es geht

Der Tenor Thomas Blondelle auf einem Foto im Booklet / © Simon Payly

Bei dieser Müllerin handelt es sich um ein Auftragswerk des Festivals 20/21 im belgischen Leuven, das – wie es der Name schon in seinem Bezug auf zwei Jahrhunderte sagt, eine Brücke zwischen morgen, heute und gestern schlagen, die unglaublich vielen Facetten der jüngeren Musikgeschichte hörbar machen und am Puls der Zeit bleiben will. Ein Festival, das das Repertoire der letzten 118 Jahre in Ehren hält und zugleich furchtlos nach vorne blickt, was die musikalische Zukunft bereithält, ist aus erster Hand auf der eignen Website zu erfahren. Die Müllerin-Adaption entstand 2018. Der Wunsch sei es gewesen, eine Neuinterpretation dieses Meisterwerks zu schaffen, bei der das Original erkennbar bleibe, kann im Booklet nachgelesen werden. Es gehe aber um mehr, als um einer bloße „moderne Instrumentierung“. Den Angaben zufolge entschied sich Janssens dafür, seinem Werk zusätzliche textliche und musikalische Elemente hinzuzufügen. So würden zwei klangvolle und zwei poetische Welten in unterschiedlichem Maße miteinander verwoben. Die Rede ist von einem „Doppelzyklus“. Obwohl die Grundstruktur erhalten bleibt, wurden einige Titel mit neuen Versen oder instrumentalen Zwischenspielen – wie es heißt „überschrieben“. Dabei verwendet Janssens Texte des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa (1888-1935), der in seiner Heimat hochverehrt wird. Sie stammen aus seinem Buch der Unruhe. „Wie ein böser Geist / hat mich mein Schicksal damit gequält, / nur haben zu wollen, / was ich wohlweislich nicht haben kann“, beginnt – um ein Beispiel anzuführen – der Vers, der auf das Lied Der Neugierige im Original folgt. Romantischer könne ein Gedanke nicht sein. Diese Eingriffe erzeugten eine ständige Konfrontation zwischen zwei literarischen Welten (Müller / Pessoa) und zwei Musikstilen (Schubert / Janssens), wird im Booklet weiter erklärt. Die Absicht bestehe aber nicht so sehr darin, Gegensätze zu erzeugen, sondern vielmehr die eigentliche zeitgenössische Bedeutung des Stücks noch stärker hervorzuheben. Der Sänger geht mit den teils schroffen Übergänge dergestalt um, als sei es schon immer so gewesen.

Janssens hat sich hier dafür entschieden, Pessoas Texte in deutscher Übersetzung zu verwenden, um die Einheit von Schuberts Werk nicht zu stören, erfahren die Leser des Booklets weiter. Der Gesangspart bleibe erhalten und Janssens respektiere auch die formalen Strukturen der Lieder. „Der Hauptunterschied liegt also in den Begleitstimmen: Der ursprüngliche Klavierpart wird zu einem Ensemble aus neun Musikern (Violine, Viola, Cello, Flöte/Altflöte/Bassflöte, Klarinette/Bassklarinette, Horn, Akkordeon, Klavier und Schlagzeug) erweitert.“ Oft – insbesondere zu Beginn des Zyklus – bleibe Janssens den Noten von Schuberts Begleitung treu, reichere sie jedoch mit moderneren Elementen wie Geräuschen, Perkussionseffekten und speziellen Streichertechniken an. Dem aufmerksamen Publikum entgeht nicht, dass die Bearbeitung auch Deutung sein will. Im instrumental gehaltenen Einstieg klingt schon das Ende an. Nicht versöhnlich wie im Original sondern alsbald hart und brutal. Janssens schenkt seinem Publikum nichts. R.W.