Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Wolfgang Sawallisch

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Wolfgang SawallischComplete Opera Recordings. Eine neue Box bei Warner mit nicht weniger als 31 CDs entpuppt sich als ein spannendes Kapitel Schallplattengeschichte (5054197949463). Schon der Zeitraum des Entstehens der Aufnahmen, nämlich 1956 bis 1993, lässt nur diesen Schluss zu. Was ist in diesen Jahren nicht alles geschehen? Endgültig setzte sich die Stereophonie durch, die Schallplatte wurde durch die CD ersetzt. Die deutsche Teilung, die auch auf Besetzungslisten in Aufnahmestudios Spuren hinterließ, wurde 1990 durch die Wiedervereinigung überwunden. Sawallisch (1923-2013) gehörte also zu jener Dirigentengeneration, die sich gleich mehreren Herausforderungen stellen musste. Die Edition bildet das anschaulich ab, ohne dass die betreffenden Ereignisse, die auch Einschnitte waren, im Booklet alle dokumentiert sind. Das wäre gewiss zu viel verlangt. Musikfreunde und Sammler kennen sich aus, verknüpfen mit Tondokumenten zudem eigene Erlebnisse und Erinnerungen.

Platz eins der Sammlung belegt Mozarts Zauberflöte. Eine gute Wahl, auch wenn sie ganz zufällig getroffen sein dürfte. Ein Ordnungsprinzip für eine Reihgenfolge etwa nach Buchstaben oder Aufnahmejahr ist nicht zu erkennen. Für die Heraushebung spricht vieles. Doch was beim ersten Erscheinen für Aufsehen sorgte, hat mit den Jahren die Exklusivität verloren. Eingespielt wurde die Oper 1972 an acht Tagen im August im geschichtsträchtigen Bürgerbräu-Saal in München, der sieben Jahre Neubauten Platz machen musste. Sawallisch leitete Chor und Orchester der Bayerischen Staatsoper. Als Nachfolger von Joseph Keilberth hatte er das Amt als neuer Generalmusikdirektor seit einem Jahr inne. Produzent im Studio war Helmut Storjohann, dem die Electrola schon zahlreiche prominent besetzte Aufnahmen verdankte. „Quadrophonie“ prangte es wie ein Transparent noch über dem Titel auf dem originalen Plattencover. Damals der neueste Schrei, hat sich diese Technik der Mehrkanal-Aufzeichnung und -wiedergabe längst überholt und ist auch nicht mehr erwähnenswert. Unvergessen bleibt hingegen, dass die Stimme von Edda Moser als König der Nacht seit 1977 für „eine geschätzte Lebensdauer von 500 Millionen Jahren“ durchs Weltall schwebt, wie es auch Booklet-Autor Christoph Vratz vermerkt. „Ich bekam einen Brief aus Kalifornien“, zitiert Vratz die Moser aus einem Gespräch mit dem Musikjournalisten Thomas Voigt, „ob ich einverstanden sei, dass meine Aufnahme auf die Platte der Voyager-Sonden könne. Das habe ich natürlich mit Freuden getan.“ Die Aufzeichnung sei morgens um zehn „in einem Rutsch“ gegangen. „Wollen Sie einen Probelauf, oder nehmen wir gleich auf?“, habe Sawallisch gefragt. Die Antwort: „Von mir aus gleich Aufnahme!“

In anderen Quellen stellt sich die offenkundig mehrfach erzählte Geschichte etwas anders dar. Wikipedia zitiert sie Sängerin aus einem Interview mit dem Forum-Forum von 2013: „An die Entstehung dieser legendären Zauberflöte erinnere ich mich noch sehr gut, die war wie ein Wunder. Mit Kurt Moll, Theo Adam, Walter Berry und Peter Schreier hatten wir damals ein komplett deutschsprachiges Ensemble, das alleine war schon außergewöhnlich. Mich hatte man als Königin der Nacht für diese Aufnahme engagiert. Ich kam dann nach München, da sagte mir der Produzent Helmut Storjohann: ‚Es gibt da ein kleines Problem: Frau Sawallisch möchte Sie nicht als Königin haben.´ Worauf ich fragte, was Frau Sawallisch mit der Aufnahme zu tun hätte? Daraufhin hat der von mir verehrte Helmut Storjohann gesagt: ‚Wenn die Edda die Königin der Nacht nicht singt, fällt die ganze Produktion aus!‘ Sawallisch hat dann in den sauren Apfel gebissen und fragte mich bei der ersten Sitzung etwas kühl, ob ich mit der ersten oder zweiten Arie anfangen möchte. Ich sagte, ich nehme gerne die zweite. Und in dieser Wut, die ich hatte, weil man mich nicht wollte, habe ich den ganzen Zorn in die Arie gelegt und in einem Take durchgesungen.“ Ob in Details so oder so – gut ist die Geschichte allemal.

Gewisse Vorbehalte gegen die Moser dürften sich auch daraus erklären, dass sie als Königin einen ganz neuen Typ verkörperte, nämlich die rasende verletzte Frau, die sich ihrer Tochter und ihres Erbes beraubt sieht, die sich nichts gefallen lässt und sich gegen die ihr feindlich gesinnte Männerwelt zu wehren weiß. Das passte in die frauenbewegte Zeit während der Einspielung, wurde von der Sängerin auch stimmlich überzeugend dargestellt – und verfehlte die Wirkung nicht. München war durch Erika Köth geprägt, die noch immer zum Ensemble der Staatsoper gehörte. Sie hatte die Königin im In- und Ausland mehr als 270 Mal gesungen. Ihre Interpretation war stilistisch mehr oder weniger immer die gleiche geblieben, die Koloraturen wie in Stein gemeißelt. Generationen wollten es so und nicht anders hören. Ich lege sie immer wieder gern auf, staunen, wie man so perfekt singen kann wie sie. Zufall oder nicht. Edda Moser ließ bei der Aufzählung der Mitglieder des von ihr geschätzten deutschsprachigen Ensembles Anneliese Rothenberger weg. Die war als ihre Tochter Pamina fast zwanzig Jahre älter als die Mutter. Und das hört man auch. Nicht, dass sie ihre Partie technisch nicht bewältigte. Sie kann sich aber nicht glaubhaft einbringen, wirkt wie ein Fremdkörper – in den gesprochenen Dialogen noch mehr als im Gesang. Die Betonfrisur ist etwas verrutscht. Für die Rothenberger kommt die Aufnahme eindeutig zu spät.

Was die Einspielung von allen anderen unterscheidet, wäre auch bei der neuen Ausgabe durch Warner eine Bemerkung wert gewesen. Wer die Zauberflöte als solche verinnerlicht hat und diese Aufnahme nicht genau kennt, dürfte bei Track 4 auf CD 2 aufhorchen: „Pamina, wo bist du?“ Mit dieser Frage stimmt Tamino (Peter Schreier) ein unbekanntes Duett mit Papageno (Walter Berry) an. Was hat es damit auf sich? Im Nachtragsband zur Neuen Mozart-Ausgabe würden auch verschiedene unter dem Namen Mozart überlieferte Kompositionen als „Werke zweifelhafter Echtheit“ zur Diskussion gestellt, klärt Ulrich Leisinger, Direktor der Forschungsabteilung der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg, im Bärenreiter-Magazin Takte auf. Zu diesen Werken gehöre besagtes, das singulär in einer Partiturabschrift des frühen 19. Jahrhunderts überliefert sei, die sich in der Lippischen Landesbibliothek Detmold befinde. Nach Angaben des Musikwissenschaftlers wurde es wurde dann auch in Auflagen aus dem frühen 20. Jahrhundert des Zauberflöten-Klavierauszugs des Verlags C. F. Peters gedruckt, allerdings in die bis heute bekannte Ausgabe des Klavierauszugs der Zauberflöte von Kurt Soldan (1932) nicht mehr aufgenommen. In Partitur sei es bislang ungedruckt. Leisinger bezeichnet das Duett über weite Strecken des Vokalstimmensatzes als „mozartisch“. Dies gelte auch für die abwechslungsreiche und recht dichte Orchesterbegleitung im ersten Teil. Der stilistische Befund im weiteren Verlauf des Stücks sei allerdings zwiespältig: Taminos „Monolog“ wirke für ein Duett eher deplatziert, und der zurückhaltend instrumentierte Schluss lasse mozartsche Überraschungsmomente vermissen, die hingegen am Beginn des zweiten Teils in einigen harmonisch ungewöhnlichen Wendungen noch anzutreffen seien. Leisinger, seit 2005 Herausgeber der Neuen Mozart-Ausgabe, spricht von einem „musikalisch interessantes Stück, das zwar früh in der Überlieferung der Oper auftaucht, aber weitgehend unbeachtet geblieben ist“. Aus der Kenntnis von Mozarts Schaffensweise und seines Personalstils sei es aus der Tatsache, in keiner einzigen weiteren Quelle überliefert zu sein, allerdings unwahrscheinlich, dass es in allen Teilen von Mozart stamme. Soweit der Mozart-Experte.

Sawallisch nahm es auf – und das spricht für seine Kenntnis und seinen wissenschaftlichen Spürsinn. Die neue Zauberflöte aus München hatte sich auch in der DDR herumgesprochen. Briefe flogen hin und her. Telefonleitungen glühten. Hast du schon, wie findest du …? Man zapfte alle nur möglichen Bezugsquellen an, bemühte Onkel und Tante, um in ihren Besitz zu gelangen. Obwohl mit Schreier und Theo Adam als Sprecher die beiden namhaftesten Sänger aus dem Osten mitwirken, blieb die Einspielung dem westdeutschen Publikum vorbehalten, denn es handelte sich um keine Koproduktion, wie sie es auch gab. Deshalb wohl auch der ausdrückliche Hinweis in der Plattenausgabe, dass Schreier „mit freundlicher Genehmigung des VEB Deutsche Schallplatten“ mitwirke. Zudem war der kleinere ostdeutsche Markt 1970 mit einer eigenen Produktion gesättigt, an der Schreier ebenfalls als Tamino beteiligt war, während Adam den Sarastro gab. Mit Helen Donath konnte sie sich der überzeugenderen Pamina sicher sein. Und als Königin der Nacht trat die aus Ungarn stammende Sylvia Geszty ins Rampenlicht – mit ihrem betont dramatischen Impetus der Moser nicht unähnlich.

Nach CD-Menge gerechnet, bildet Richard Wagner mit dem Ring des Nibelungen und den Meistersingern von Nürnberg den größten Posten der Edition. Vratz im Booklet: „Wolfgang Sawallisch hat stets hervorgehoben, dass das Orchester der Bayerischen Staatsoper eine besondere Beziehung zu Wagners Musik pflegt.“ Er wisse nicht, zitiert er den Dirigenten, wie es zu erklären sei, aber seit den Uraufführungen scheine sich von Generation zu Generation eine Wagner-Überlieferung erhalten zu haben. Daher habe Sawallisch diese Ring-Aufführung, die von Nikolaus Lehnhoff szenisch realisiert und die in den Folgejahren sukzessive weiterentwickelt worden sei, resümierend für einen bedeutenden Beitrag in der Ring-Rezeption der vergangenen Jahrzehnte gehalten Und doch hatte es dieser Mitschnitt nicht ganz leicht. 1989, im Jahr des Mauerfalls, im Münchner Nationaltheater von NHK Enterprises gemeinsam mit dem Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet, kam er mit einiger Verspätung in den gesamtdeutschen Handel, wo er sich bald starker Konkurrenz ausgesetzt sah. Es sollte nicht sehr lange dauern, bis sich der nächste Ring bei EMI unter Bernard Haitink ankündigte. Von der Metropolitan Opera war unter dem Gelblabel (Deutschen Grammophon) eine Produktion auf DVD und CD mit Hildegard Behrens, die die Brünnhilde auch bei Sawallisch ist, zu erwarten. Und aus Bayreuth drängte Daniel Barenboim ebenfalls in Ton (Teldec) und in Bild (Unitel) in den Handel. Ein Mitbewerber gab mittendrin auf. Christoph von Dohnányi kam bei Decca nur bis zur Walküre. Die Schlacht um das große Buffet war eröffnet. An Nachschub mangelte es nicht. Ein Ring nach dem anderen würde in den kommenden Jahrzehnten folgen. Ungeachtet der Tatsache, dass Georg Solti, dieser Herr der Ringe, mit seiner epochalen Wiener Decca-Produktion in immer neuen Auflagen wie eine unbezwingbare Gebirgswand vor die Konkurrenten geschoben hatte.

Für mich sind die Filetstücke der Edition bei Richard Strauss zu finden. Mit Studioeinspielungen von vier Werken hat sich Sawallisch Meriten vom Feinsten erworben. Obwohl noch in Mono ist Capriccio mit Elisabeth Schwarzkopf als Gräfin Madeleine (1958) bis heute der Standard geblieben. Keine andere Aufnahme kann es mit der musikalischen Delikatesse dieser hochkarätig besetzten Produktion aufnehmen, in der sich der Dirigent auch im Ensemble als einer der Diener verewigt ist. Wie Capriccio war auch Intermezzo (1980) die erste offizielle Aufnahme dieses Stückes und hat nicht zuletzt durch Lucia Popp in der Rolle der Christine die Maßstäbe gesetzt. Die Frau ohne Schatten (1987) ist die erste komplette Aufnahme. Auch wenn sie es mit der Stimmung, die Karl Böhm in seiner allerersten Einspielung bei Decca eingefangen hat, nicht aufnehmen kann, darf sich unter neuesten Stereo-Bedingungen die rauschhafte Breitwandmusik endlich in ihrer überbordenden Dramatik, die sich immer wieder in feinsten Verästelungen selbst auszubremsen scheint, entfalten. Und zwar mit voller Wucht. Was die Akustik in keinem Opernhaus hergibt, wurde im Studio exemplarisch zelebriert. Ute Vinzing ist als Färberfrau in einer ihrer seltenen Auftritte vor dem Mikrophon zu erleben. Alfred Muff gibt ihren Gatten. Das Kaiserpaar singen Cheryl Studer, die damals aus den Studios nicht herausgekommen war und dennoch keine tiefenden Spuren hinterließ, und René Kollo. Hanna Schwarz bleibt der Amme deren Dämonie schuldig. Elektra (1990) ist eine unter vielen geblieben. Ihre Besonderheit, nämlich nach Georg Solti bei Decca mit der Nilsson die wohl einzige offizielle ohne den großen Strich in der Auseinandersetzung auf Leben und Tod mit Klytämnestra (Marjana Lipovsek) zu sein, wird nicht erwähnt. Was noch? Jeweils eine CD nehmen Abu Hassan von Carl Maria von Weber und Die Zwillingsbrüder von Franz Schubert (beide 1975) in Anspruch. Ob ihnen die Mitwirkung von Edda Moser, Helen Donath, Nicolai Gedda, Dietrich Fischer-Dieskau und Kurt Moll gerecht wird, darf mit zeitlichem Abstand hinterfrage werden. 1975 tat ihnen der prominente Einsatz gewiss gut. Plötzlich redete man über diese abseits stehenden singspielartigen Stücke.

Die Edition klingt versöhnlich aus in einer Welt, die zur alten Ordnung zurückgefunden hat. Und zwar mit Kinderstimme und Zitherbegleitung, dass es zu Herzen geht: „Ah, da hängt ja der Mond.“ Wir sind bei Carl Orff, dem bayerischen Landsmann von Sawallisch, für den er sich bereits am Beginn seiner internationalen Karriere von London aus verwendet hat. Dort gelangten kurz hintereinander Die Kluge (1956) der Schwarzkopf und Der Mond (1957) mit Hans Hotter als Petrus auf Schallplatte. Zum Glück hatte sich Produzent Walter Legge diesmal auf Stereo eingelassen, was beiden turbulenten Einaktern sehr zum Vorteil gereicht indem sie deutlicher als kraftvolle Theaterstücke erkennbar werden. Es sollten fast fünfzehn Jahre vergehen, bis sich in München erneut Kurt Eichhorn an beide Stücke für Eurodisc machte. In der DDR nahm sich Herbert Kegel zunächst den Mond vor, um 1978 die Kluge nachzureichen. Seither kam nichts mehr von Belang. Rüdiger Winter

Wer war Bertha Kirchner?

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Lieder von Wilhelm Kienzl, jenem Kienzle, der mit seinem Evangelimann Musikgeschichte geschrieben hat, bei Toccata Classics (TOCC 0736). Mehr musikalisches Singspiel als traditionelle Oper lebt das Werk vor allen durch zwei Melodien auf Tonträgern fort – den zur Arie geformten Choral „Selig sind, die Verfolgung leiden“ und Magdalenas wehmütige Erinnerungen an ihre „schönen Jugendtage“. Kaum ein Tenor, kaum eine Altisten, die sich damit nicht verewigt haben. Bühnenaufführungen sind ehr selten geworden. Umso erfreulicher ist es, dem Komponisten, der einst sehr populär war, wichtige Posten besetzt hielt und mit den Kollegen seiner Zeit sehr gut vernetzt gewesen ist, in Erinnerung zu bringen. Lieder bieten sich an. Sie sind in der Produktion nicht so aufwändig. Der Markt ist schon vergleichsweise gut versorgt. Zumindest aus zweiter Hand ist die CD mit dem amerikanischen Bariton Steven Kimbrough bei Koch/Schwann noch zu haben. Chandos hatte eine Edition mit Christiane Libor, Carsten Süss und Jochen Kupfer gestartet. Dagmar Schellenberger ist bei cpo zu finden, wo vor gut zwanzig Jahren erstmals auch seine Oper Don Quichotte veröffentlicht wurde. Kienzl hat 238 Lieder mit Klavierbegleitung hinterlassen, die fast alle gedruckt vorliegen. Sie „geben Einblick in ein langes Komponistenleben mit einer stetig musikalischen Entwicklung“, vermerkt die österreichische Musikwissenschaftlerin Carmen Ottner im Booklet, wo sich auch die Liedtexte finden. Diesmal sind vier kleine Zyklen im Angebot, die in dieser Geschlossenheit bisher nicht zugänglich waren auf Tonträger. Darauf wird auf dem Cover zurecht verwiesen. Von einfachen „volkstümlichen“ Liedern bis zu an der Grenze der Atonalität harmonisch gestalteten Kunstliedern dokumentierten die „die erstaunliche Bandbreite einer Künstlerpersönlichkeit“.

Solist der neuen CD ist der Tenor Malte Müller. Er wird von Werner Heinrich Schmitt am Klavier begleitet. Müller begann seine Ausbildung bei den Regensburger Domspatzen, studierte zunächst Jura und anschließend Gesang an der Musikhochschule Mannheim. Zum Liedgesang fühlt er sich besonders hingezogen. Er könnte etwas freier singen. In den vielen von Leidenschaft getragenen Liedern entfalten sich die Gefühle, mit denen es rauf und runter geht, nicht immer überzeugend. Sie werden gedeckelt und ausgebremst. Der Vortrag wirkt auf mich zu introvertiert, um noch als so gewollt und beabsichtigt verstanden zu werden. Müller singt für meinen Geschmack oft zu groß. Sein Ansatz hat gelegentlich schon heldisch Züge, die sich mit den poetischen Botschaften oft nicht gut vertragen. Dafür ist er, was für einen Liedsänger ein großer Vorteil ist, ziemlich gut zu verstehen. Sein Timbre hat Wiedererkennungswert. Ottner: „Prinzipiell dominieren Liebesgedichte Kienzls Lieschaffen, oftmals in Verbindung mit Naturbildern, eine Usance, die von zeitgenössischen Musikwissenschaftlern als Schwäche angeprangert wurde.“ Hinsichtlich der textlichen Vorlagen lasse sich Kienzls Oeuvre in zwei Gruppen einteilen: „Volkstümliche“ – und „Kunstlieder“. Der überwiegende Teil der Gedichte stamme von zeitgenössischen, eher wenige von bedeutenden romantischen Dichtern. „Wollte Kienzl einen Vergleich mit Liedkomponisten wie Schubert, Schumann, Brahms, Wolf vermeiden“, fragt sich die Autorin. „Man könnte aber auch das Bildungsideal der damaligen Zeit, in seinem Elternhaus gepflegt, als Erklärung heranziehen.“

Seine literarischen Vorlagen haben oft einen direkten Bezug zu persönlichen Beziehungen mit den Autoren. Den Angaben im Booklet zufolge war Kienzl gut bekannt mit Robert Hamerling (1830-1889), Hermann Lingg (1820-1905) und Peter Rosegger (1843-1918). Linggs Gedicht „Immer leiser wird mein Schlumme“ haben auch Johannes Brahms und Hans Pfitzner vertont. Besonders eng war die Freundschaft mit Rosegger, der in vielen Städten mit Straßennamen und Denkmälern geehrt wurde. Ihr reger Briefwechsel wurde in Buchform veröffentlicht. Als Dichter des Liedes „Wie ist doch die Erde so schön“ taucht Robert Reinick (1805-1852) auf, der Italien bereist hatte und auch als Kunstmaler wirkte. Er war mit Richard Wagner, Ferdinand Hiller und Robert Schumann bekannt, für dessen Oper Genoveva er das Libretto beisteuerte. Solcherart waren damals die segensreichen Verknüpfungen. Nach Angaben der Booklet-Autorin wurden zur Lebenszeit des Komponisten Wilhelm Kienzl Lieder stets von bedeutenden Sängerinnen und Sängern interpretiert, wie es auch durch die Widmungen der auf der CD interpretierten Werke deutlich wird. Der Zyklus Liebesfrühling, der auf Gedichten von Friedrich Rückert beruht, ist Paul Bulss, in anderen Quellen Bulß geschrieben (1847-1902), zugeeignet. Er trat erfolgreiche in Dresden, Berlin und Wien als Holländer, Don Giovanni und Hans Heiling auf. Eine direkte Verbindung zu Kienzl ergibt sich auch daher, dass er in den Uraufführungen seiner Opern Evangelimann (Johannes Freudhofer) und Don Quichotte (Carrasco) mitwirkte. Und wer war Fräulein Bertha Kirchner? Kienzl hat der Königlich Preußischen Hofopernsängerin sein Opus 24 in Form von Drei Albumblättern gewidmet. Mehr ist auch aus dem Booklet nicht zu erfahren. In der siebenbändigen Ausgabe des Großen Sängerlexikons von K.J. Kutsch und Leo Riemens wird sie nicht genannt. In Besetzungslisten der infrage kommenden Berliner Premieren taucht sie auch nicht auf. Rüdiger Winter

„Die Schönheit ihres Tons“

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„Die reine Schönheit ihres Tons und Perfektion ihrer Technik hoben sie turmhoch über die restliche Besetzung hinaus. Dieses Lob gilt Elisabeth Schumann. Es stammt von Walter Legge, der es nach einer Rosenkavalier-Vorstellung im Mai 1927 in Covent Garden zu Papier brachte. Die Schumann sang die Sophie, die eine ihrer wichtigsten Opernrollen bleiben sollte. Bevor Legge zum mächtigen EMI-Produzenten aufstieg, verdingte er sich in London als Musikkritiker. Das Zitat findet sich im Buch Gehörtes, Ungehörtes, Memoiren von Legge und seiner späteren Ehefrau Elisabeth Schwarzkopf (Noack-Hübner Verlag München, S. 20). Für Sammler ist der akustische Nachlass der Schumann ein weites Feld. Akribische Suche verspricht eine reiche Ernte. Es lohnt sich also, die weit verstreuten Dokumente, die ihr musikalisches Können und auch ihre Grenzen belegen, zusammenzutragen.

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Geboren wurde Elisabeth Schumann 1888 im damals noch sächsischen Merseburg an der Saale. Ihr Vater war Lehrer und Organist. Am sanierten Geburtshaus in der Gotthardstraße 27 erinnert eine Tafel an die berühmte Tochter der Stadt, die 1909 in Hamburg erstmals auf einer Opernbühne stand. Sie sang den jungen Hirt im Tannhäuser. In den folgenden zehn Jahren erarbeitete sie sich mit Cherubino, Susanna und Zerlina ihren stimmlichen Möglichkeiten entsprechende Mozart-Partien. Sie avancierte zu einem Liebling des Publikums, das auch ihrer aparte Erscheinung und ihr schauspielerisches Talent zu schätzen wusste. Bereits 1914 wurde die Metropolitan Opera auf die Sechsundzwanzigjährige aufmerksam und engagierte sie für ihr Debut als Sophie im Rosenkavalier. Nach der ersten von fünf Vorstellungen war der Kritiker Max Smith, der auf der Archivseite der Met ausführlich zitiert wird, des Lobes voll: „Mit bemerkenswerter Leichtigkeit bewältigte sie Strauss‘ lang ausgehaltene Phrasen und spann ihre süßen, ansprechenden und ausdrucksstarken Töne selbst in den erhabensten Höhen auf eine Weise, die Gesangsschülern durchaus als Anschauungsunterricht hätte dienen können. Miss Schumanns lyrischer Sopran ist nicht groß. Aber er ist bewundernswert platziert, fein konzentriert und wird von einer ausgezeichneten Atemkontrolle unterstützt. Gestern Abend hat die Sängerin ihre Stimme zu keinem Zeitpunkt überanstrengt und nicht ein einziges Mal ist sie von der richtigen Tonhöhe abgewichen.“ Die neue Sopranistin habe sich aber nicht nur „durch ihren Gesang als wahre Künstlerin“ entpuppt. „Ihre Darstellung der Sophie war in theatralischer Hinsicht ebenso beeindruckend wie stimmlich.“ Insgesamt stand sie in dieser Spielzeit für zehn Partien unter Vertrag, darunter die Musette in La Boheme, Humperdincks Gretel und die Fidelio-Marzelline. Ungeachtet des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges konnte sie im Mai 1915 aus den USA nach Hamburg zurückkehren. Bis 1938 war sie einer der Stars der Wiener Staatsoper, wo sie als ewige Sophie und mit ihren Mozart-Rollen genau richtig gewesen ist. 1938 wanderte sie nach New York aus, wo sie bis zu ihrem Tod am 23. April 1952 lebte. Sie wurde 64 Jahre alt. Während des Krieges beschränkte sie sich vornehmlich auf Konzerte und wirkte auch als Lehrerin privat und am Curtis Institute of Music in Philadelphia. Als Liedsängerin klang ihre erfolgreiche Karriere aus.

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Mit Schwanengesang ist eine CD getitelt, die jetzt von der Firma Panassus Records veröffentlicht wurde (PACD 96088). Sie enthält dreißig Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Franz und Hugo Wolf. Das Programm klingt mit Morgen von Richard Strauss aus, sowohl mit als auch ohne Orchester geboten. Letzter Aufnahme, bei der die Sängerin nach dem Vortrag des kompletten Lieds auch erklärend und beispielgebend das Wort ergreift, entstand bei einer Master Class. Mit Abstand die meisten Titel stammen von Wolf, der auch für alternde Sängerinnen, deren stimmliche Ressourcen zunehmend begrenzter werden, enorme Gestaltungsmöglichkeiten bereithält. So auch für Elisabeth Schumann. Es dauert immer ein wenig, bis sie in die Struktur eines Liedes hinein findet. Je weiter sie vordringt, umso sicherer wird der Umgang mit dem poetischen Instrumentarium. Ein treffliches Beispiel für die enorme Beherrschung der tief verinnerlichten Gestaltungsmittel ist das Lied „Wie glänzt der helle Mond“ nach Gottfried Keller. Langsam aufsteigende Linien gelingen besser als kokette Figuren und Einsprengsel, wie sie im Italienischen Liederbuch, dem gleich mehrere Nummern, darunter „Ihr jungen Leute“, „O wär´ dein Haus durchsichtig wie ein Glas“ und „Ein Ständchen euch zu bringen“ – entnommen sind. „Schumanns umfangreiche Diskographie begann mit Akustikaufnahmen im Jahr 1915 und endete mit den vorliegenden Aufnahmen, die 1950 in New York gemacht wurden“, ist aus dem Booklet zu erfahren. Und weiter: „Allegro Records, das sie aufnehmen wollte, erhielt die Genehmigung von HMV, wo sie noch immer unter Vertrag stand. Die Aufnahmen wurden in ihrer Wohnung in Manhattan gemacht, bei Mendelssohn und Franz im Februar und April, bei Wolf im Dezember.“ Trotz ihrer schillernden Opernkarriere blieb sie dem Liedgesang bis zum Schluss innigst verbunden, reicherte das eine Genre mit den Erfahrungen aus dem anderen an. Nicht selten klangen Arien wie Lieder und Lieder wie Arien. Lotte Lehmann soll von der Kollegin gesagt haben, dass sie den vielleicht reinsten Gesangsstil des deutschen Liedgesangs besessen habe.

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In ihrer 28 Jahre dauernden Karriere sang Schumann in etwa neunzig Rollen, die von der englischen Wikipedia aufgelistet werden. Am Beginn stand der schon erwähnte Tannhäuser-Hirt, am Ende das Erste Blumenmädchen im Parsifal in einer Vorstellung vom 1. November 1937 an der Wiener Staatsoper. Die auch von kleineren Aufgaben durchzogene Liste lässt den Schluss zu, dass es im Verständnis von Elisabeth Schumann von Opern keine eigentlichen Nebenrollen gab. Sie überschritt nie Fachgrenzen, bewegte sich streng im Rahmen ihrer Möglichkeiten und bewahrte sich nicht zuletzt dadurch bis ins Alter einen hervorragenden Sitz ihrer Stimme. Von Wagner und Strauss hielt sie sich bis auf wenige Ausnahmen fern. Stattdessen gehörten die Marie in der Verkauften Braut, Antonia in Hoffmans Erzählungen, Marguerite in Gounods Faust und Ännchen im Freischütz, die Micaëla in Carmen zu ihrem Repertoire. Erfolge feierte sie auch in Opern, die so gut wie nicht mehr auf den Spielplänen stehen, lyrischen Stimmen aber reichhaltige Einsatzmöglichkeiten boten wie die Margiana (Barbier von Bagdad) von Cornelius, die Marie in Zar und Zimmermann, die Nanette im Wildschütz, die Nuri in Tiefland. Gelegentlich trat sie auch in Operetten auf.

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Ihr vielseitiges Wirken auf Opernbühnen findet sich auch auf Tonträgern nur bruchstückartig abgebildet. Schließlich waren in ihrer großen Zeit die dafür notwendigen technischen Voraussetzungen begrenzt. Es lassen sich keine Gesamtaufnahmen nachweisen. Lediglich große Ausschnitte aus dem Rosenkavalier, die der Dramaturgie des Werkes folgen, wurden im September 1933 unter Studiobedingungen in Wien von der Londoner EMI produziert. Bis auf den großen Monolog des Ochs (Richard Mayr) im zweiten Akt sind die entscheidenden Szenen berücksichtigt. Als Marschallin ist Lotte Lehmann, als Octavian Maria Olszewska zu hören. Der renommierte englische Musikkritiker Alan Blyth spricht im Booklet der ersten CD-Ausgabe von einen mädchenhaften stürmischen Portrait der Schumann als Sophie. „Zwar können wir die warmherzige Persönlichkeit und die blitzenden braunen Augen nicht sehen — doch es scheint, als wurden sie sogar von der Aufnahme übertragen.“ Wie schon Legge in seinem Erinnerungsbuch-Buch erwähnt auch Blyth eine Besonderheit der Einspielung. Sie betrifft die beiden letzten Worte der Marschallin: „Ja, ja.“ Nachdem die Lehmann bereits abgereist war, wurde festgestellt, dass sie noch nicht aufgenommen worden waren. Kurzerhand sprang die Schumann ein. Und zwar so, dass es kaum zu merken ist. Sie war in der Lage, sie Situation der Marschallin in diesem Moment der Handlung und das Timbre der Kollegin genau nachzuempfinden. Auch das ist Kunst. Der Nachruhm von Elisabeth Schumann beruht zu einem Großteil auf diesem Dokument mit legendärem Status, das nie vom Markt verschwunden gewesen ist. Naxos hat sich seiner angenommen und gleich zwei Editionen herausgegeben. Nicht nur das. Die Firma gab auch die frühen Arien-Einspielungen der Jahre 1915 bis 1923 und 1926 bis 1938 in vorzüglichem Klang neu heraus. Auf beiden CDs sind jene Komponisten mit Mozart im Mittelpunkt versammelt, in deren Opern sie auch auftrat. Liegt aber die Arie der Baronin aus Lortzings Wildschütz auf oder stimmt das Freischütz-Ännchen ihre Ariette vom Schlanken Burschen an, dann ist zumindest für diese Momente Mozart vergessen. Wer sich am Schalllack-Knistern nicht stört, wird Zeuge ihres Ruhms, kann also nachvollziehen, warum die Sängerin in ihrer Zeit so gefeiert wurde.

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Vergleichen mit solchen Dokumenten schneiden die Liedaufnahmen rein rechnerisch deutlich besser ab. Ihre Exklusivfirma hat im Laufe der Jahre etliche Platten veröffentlicht, die bei später bei Seraphim zu günstigen Preisen neu aufgelegt wurden. 2011 ist noch bei EMI eine Edition mit sechs CDs herausgekommen, die nach der Übernahme durch Warner nochmals kurzeitig im Handel war – inzwischen aber nur noch antiquarisch zu finden ist. Nach wie vor in Sammlerkreisen geschätzt ist die aus vierundzwanzig Boxen bestehende Edition mit Live-Aufnahmen aus der Wiener Staatsoper der dreißiger und vierziger Jahre, die 1993 bei Koch/Schwann erschien. Darin in ist die Schumann gleich zweifach als Waldvogel in Siegfried mit Max Lorenz in der Titelrolle zu hören – und nochmals als Sophie an der Seite von Lotte Lehmann und Anny Konetzni als Marschallinnen.

Auf Spurensuche nach der Sängerin stößt man auch auf eine Biographie in englischer Sprache, erschienen 1996 bei Grant & Cutler in London (978-0729303941). Autor ist Gerd Puritz (1914-2007), der Sohn von Elisabeth Schumann, der 1948 nach England gezogen war, wo er für den deutschsprachigen Dienst der BBC arbeitete. Rüdiger Winter

Mozart, Schikaneder & Co.

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Der Stein der Weisen oder Die Zauberinsel: Es ist keine zwei Jahre her, dass der Bariton Konstantin Krimmel mit seiner CD Zauberoper bei Alpha und BR Klassik dieses Singspiel wieder in Erinnerung rief. Ein zweiteiliges Werk von nicht weniger als vier Komponisten. 1790 uraufgeführt, wurde es erst 1996 vom amerikanischen Musikwissenschaftler David J. Buch als historische Kopie in der Musikabteilung der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek „Carl von Ossietzky“ entdeckt.

Zwei Jahre später legte der Dirigent Martin Pearlman mit dem von ihm gegründeten Boston-Baroque-Ensemble eine Aufnahme vor, die bei Telarc erschien und zumindest noch antiquarisch zu finden ist. Aufführungen gab es danach unter anderen in Augsburg, beim englischen Festival Garsington Opera und in Innsbruck. Die Ausgrabung des Werkes wurde seinerzeit schon deshalb als Sensation gefeiert, weil sich eine Verbindung zur Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart zeigt, die ein Jahr nach dem zweiteiligen Singspiel ebenfalls im Theater auf der Wieden uraufgeführt wurde.

Nicht genug. Emanuel Schikaneder (1751-1812) verfasste für beide Stücke die Texte. An der Kompositionen des Singspiels waren neben Mozart drei Männer beteiligt, die – wie Schikaneder in der Rolle des Papageno – an der ersten Aufführung der Zauberflöte beteiligt gewesen sind: Benedikt Schack (1758-1826) als Tamino, Franz Xaver Gerl (1764-1827) als Sarastro sowie Johann Baptist Henneberg (1768-1822), der die musikalische Einstudierung besorgte und die Oper von der dritten Aufführung an dirigierte. Drei junge Musiker also, die offenkundig sehr vielseitig ausgebildet waren, nicht nur singen oder dirigieren, sondern auch komponieren konnten. Vier weitere Künstler wirken in den Uraufführungen beider Werke mit, darunter Anna Gottlieb, die erste Pamina, die im Stein der Weisen die Nadine gab.

Jetzt hat Harmonia Mundi eine neue Einspielung vorgelegt (19802802922). Sie entstand im Rahmen einer Liveaufführung zwischen dem 12. und 15. Dezember 2022 in der Himmelfahrtkirche Sending in München. Es spielt die Hofkapelle München, die sich der historischen Aufführungspraxis widmet, unter der Leitung ihres künstlerischen Chefs Rüdiger Lotter, der von Haus aus Geiger ist. Er formt die die orchestralen Passagen zu den Höhepunkten, die Overture zum zweiten Akt womöglich noch mehr als die zum ersten Akt.

Auch der böhmische Komponist Wenzel Lachnith hatte sich der „Zauberflöte“ bemächtigt und mit seiner französisch-sprachigen Folge-Oper „Les mystères d´Isis“ 1801 in Paris Aufsehen erregt. Anläßlich der Aufnahme bei Glossa gab es einen Beitrag in der Reihe „Die vergessene Oper“ bei operalounge.de

Es singt der Chor der Klangverwaltung, der – wie aus dem Booklet hervorgeht – im Jahre 2000 von Enoch zu Guttenberg als professioneller Projektchor für das Bachfest auf Schloss Herrenchiemsee gründet wurde. Beide Ensembles kennen sich von einer Produktion von Bachs Johannes-Passion. Sie sind wie füreinander geschaffen. Die klangvolle Einheit des Zusammenspiels bildet das Fundament und die Stärke der Aufnahme. Der Sound ist vorzüglich und lässt in seiner Durchsichtigkeit und Akkuratesse ehr an eine Studioaufnahme denken. Verglichen mit der Telarc-Einspielung wirkt sie etwas heller und leichter. Es gibt noch mehr Unterschiede. In Kenntnis der Erst-Edition durch David Buch von 1998 entschloss sich die Münchner Hofkapelle nach Auskunft ihres Dirigenten für eine eigene Edition, die sich in vielerlei Hinsicht von jener unterscheide. Wie sich inzwischen herausstellte, existieren nämlich mehrere Abschriften der Partitur. Die Hamburger Quelle sei aber „die einzige mit Namensnennung der Komponisten“, bemerkt Lotter im Booklet.

In der Ankündigung der Uraufführung werden nur Emanuel Schikaneder und die Mitwirkenden genannt – nicht aber die Komponisten / Wienbibliothek im Rathaus

In einem gesonderten Booklet-Text kommt Sabine Radermacher zu dem Schluss, dass sich Schikaneder „irgendwann zwischen Sommer 1789 und Sommer 1790“ an das Libretto eines Singspiels gemacht haben muss, das Stoffe und Motive aus der gerade veröffentlichten Märchensammlung Dschinnistan von Christoph Martin Wieland schöpfe. Alle Erzählungen darin seien in der mythischen Welt Arkadiens angesiedelt. Schikaneder habe sich die Erzählung Nadir und Nadine als Vorlage genommen und mit dem Märchen Der Stein der Weisen angereichert. Ort der Handlung sei eine Zauberinsel, die von Astromonte (Michael Schade), Sohn eines mächtigen Zauberers beschützt werde. „Diese Figur scheint ambivalent: Denn einerseits ist Astromonte Beschützer der Insel, als Gegenleistung müssen deren Bewohner allerdings regelmäßig Jungfrauen an ihn abführen.“ Eine davon sei Nadine (Leonor Amaral). So wie später in der Zauberflöte Pamina von Sarastro geraubt, werde hier Nadine von Astromonte verschleppt. Nadir (Kai Kluge) versuche, seine Geliebte zurückzugewinnen und finde Hilfe nicht nur bei Lubano (Jonas Müller) und seiner Gattin Lubanara (Elena Harsányi/Katja Maderer) sondern auch beim Bruder von Astromonte, dem bösen Eutifronte (Martin Summer), der danach trachte, Astromonte zu töten und Nadir als Werkzeug seiner Rache nutzen zu wollen. Komplettiert wird das Ensemble von Theresa Pilsl als Genius und Joachim Höchbauer als Sadlik.

Und schließlich ist da noch, neben vielen anderen Vertonungen zum Thema, die Zauberposse mit Gesang „Der Barometermacher auf der Zauberinsel“ von Ferdinand Raimund, 1823 im Wiener Theater in der Leopoldstadt uraufgeführt/
Szenenbild, gestochen nach einem Aquarell von Johann Christian Schoeller/Wikipedia

Als „eine ganze neue heroisch-komische Oper in zwei Aufzügen“ sei das Stück in der Ankündigung der Uraufführung am 11. September 1790 im Freihaustheater auf der Wieden bezeichnet worden, so die Autorin. Vermerkt fänden sich darauf lediglich Schikaneder und die Darsteller. „Kein Wort zu(m) Schöpfer(n) der Musik. Es folgen Reprisen an einer ganzen Reihe von Theatern im deutschen Sprachraum bis in die 1810-er Jahre. Verschiedene Partitur-Abschriften kursieren, die ebenfalls nichts über Autoren preisgeben. Bis der Musikwissenschaftler David J. Buch in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg eine komplette Partitur-Kopie (ohne gesprochene Dialoge, diese werden später gefunden) entdeckt, in der über nahezu jeder Musiknummer ihr Schöpfer vermerkt ist.“ Diese Liste wurde in tabellarischer Form nur Telarc-Booklet abgedruckt, Harmonia Mundi verzichtet darauf. „Von Mozart“ stehe über zwei Teilen des Finales und über dem Duett „Nun liebes Weibchen“ (KV 625/592a) – auch bekannt als Katzenduett -, bei dem die in eine Katze verwandelte Lubanara ihre Melodien auf die Worte „Miau, miau“ singe. Radermacher: „Natürlich ist zu hinterfragen, ob Mozart wirklich der Komponist der ihm zugeschriebenen drei Abschnitte und inwieweit seine Musik in dieser Oper ein Originalbeitrag ist, oder ob er lediglich fremde Musik überarbeitet hat. Vor allem aber: ob seine (informelle) Beteiligung an der Partitur vielleicht sogar darüber hinausgeht. Möglicherweise hat er seinen Freunden ausgeholfen, ohne zu erwarten, dass sein Name auf der Partitur steht.“  Auffällig seien auch die vielen musikalisch-stilistischen Parallelen zwischen Teilen, die nicht Mozart zugeschrieben würden, und bemerkenswert ähnlichen Momenten der Zauberflöte.

Die Neuerscheinung ist also vielmehr als die zweite Aufnahme des Singspiels Der Stein des Weisen oder Die Zauberinsel. Sie hat einen bemerkenswerten musikwissenschaftlichen Mehrwert, der auf neuen Forschungserbnissen beruht. Als gesondertes Heft ist das Libretto beigelegt. Es erweist auch deshalb als unverzichtbar, weil die Solisten nicht immer ganz genau zu verstehen sind (Abbildung oben/Ausschnitt:Miranda von John William Waterhouse, 1916/Wikipedia). Rüdiger Winter

„Leuchtende Liebe, lachender Tod“

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Das Nachkriegs-Bayreuth lässt an einen Weinberg denken. Es gab sehr gute und weniger gute Jahrgänge. 1955 war ein vorzüglicher. Und das gleich aus mehreren Gründen. Nach Lohengrin stellte Wolfgang Wagner mit dem Holländer seine zweite Inszenierung vor. Damit war der so genannte Bayreuther Kanon wieder komplett. Neben Tannhäuser und Parsifal stand der Ring des Nibelungen in zwei Durchläufen auf dem Spielplan. Wieland Wagner hatte weiter an seinem Regiekonzept gefeilt. Decca war mit der neuesten Aufnahmetechnik angereist, um erstmals seit Beginn von Tonaufnahmen den kompletten Ring in Stereo mitzuschneiden, während es die Schwestergesellschaft Teldec auf den neuen Holländer abgesehen hatte. Der kam aber nur bei der Decca in Stereo heraus, bei der Teldec in Mono.

Allein die Anwesenheit des Teams mit den eigenen Mikrophonen dürfte für zusätzlichen Wirbel im Festspielhaus gesorgt haben. Als Präferenz für die Vermarktung hatte sich die englische Plattenfirma für den ersten Zyklus dieser Saison mit der Astrid-Varnay-Brünnhilde entschieden. Veröffentlicht wurde das einzigartige Dokument (von Testament) aber erst 2006, nachdem es um den von Georg Solti geleiteten spektakulären Decca-Studio-Ring etwas ruhiger geworden war und der Bayreuther Mitschnitt nicht mehr als Konkurrenz im eigenen Unternehmen wahrgenommen wurde.

Drei Jahre später schob Testament ebenfalls in Stereo, doch nicht so konsequent remastert Walküre und Götterdämmerung aus dem zweiten Ring-Zyklus mit Martha Mödl als Brünnhilde nach. Es wurden mehr Bühnengeräusche zugelassen, was die Live-Atmosphäre eher betonte als ihr abträglich schien. Dieser Mitschnitt war zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Er sollte bei der Herstellung des Masterbandes (für den oben erwähnten Varnay-Ring) offenbar als Korrekturmaterial in Reserve gehalten werden. Schade, dass nicht auch noch Rheingold und Siegfried folgten. Dadurch wurde die einmalige Chance vertan, aus einer Saison mit einem fast idealen Ensemble beide Ring-Aufführungen für die Nachwelt in Stereo dokumentiert zu haben.

Glück für Hänssler Profil. Die Firma konnte nun mit dem Siegfried die Brünnhilde der Mödl von 1955 komplettieren (PH23003).

Für die Mödl war die Siegfried-Brünnhilde die wohl heikelste Rolle im Ring: „Die Partie ist zwar kurz, bewegt sich aber immer um eine Terz über meiner Lage. Da musste ich besonders Obacht geben“, wird sie im Booklet aus ihrer vorgeblichen Autobiographie „So war mein Weg“ zitiert. Diese Autobiographie gibt es nicht. Wohl aber ist unter selbigem Titel 1998 bei Parthas ein Buch mit Texten und Protokollen von Gesprächen erschienen, die der Musikschriftsteller Thomas Voigt mit Martha Mödl geführt hat (ISBN 4-932529-08-1). Voigt war wie kein anderer mit ihren künstlerischen Fähigkeiten vertraut. Das versetzte ihn in die Lage, die Frage so zu stellen, dass sich die Mödl in ihren Antworten mitunter erst selbst über bestimmte Einsichten, Fähigkeiten, Vorzüge und Grenzen klar zu werden schien. Lesend ist sie so zu hören. Wer ihr noch persönlich begegnet ist, hat sie in ihrer Unverwechselbarkeit und Schlagfertigkeit plötzlich wieder vor sich. Sie kann wichtige Sachverhalte in klarer und einfacher Sprache abhandeln. Immer auf dem Punkt. Mit den Gesprächs-Matineen, die dem Buch folgten, verhalf Voigt der Mödl in vorgerücktem Alter zu einer dritten Karriere.

Vorangegangen war bei Hänssler Profil bereits ein Album mit dem dritten Aufzug und dem Mittelakt des Parsifal aus demselben Jahr, in dem die Mödl mit der Kundry eine ihrer wesentlichsten Rollen verkörperte (PH21055). Als Herausgeber beider Veröffentlichungen wird Helmut Vetter aus Stuttgart genannt, der 2012 zum hundertsten Geburtstag der Sängerin eine Ausstellung mit Kostümen, Fotos und anderen Dokumenten aus ihrem Nachlass organisiert hatte, die in Bayreuth und in Berlin zu sehen war.

Bernd Zegowitz tritt abermals als Autor des Booklet-Textes in Erscheinung, geht aber auf die besonderen Umstände in dieser Saison nicht ein. Seines Themen unter der Überschrift „Griechische Germanen“ sind die Inszenierung sowie das Wirken Wielands auch außerhalb der Festspiele, die Vorzüge des Dirigenten Joseph Keilberth und des Ensembles, das bis auf die Brünnhilde in beiden Zyklen fast identisch ist.

Die Mödl ist bestens disponiert. Stimmlich hatte sie für mich ihren Höhepunkt erreicht. Sie würde nie mehr besser klingen. Die Bänder stammen nicht von der Decca, sondern wurden vom Bayerischen Rundfunk in Lizenz zur Verfügung gestellt – allerdings im damals üblichen Mono. Mastering und Sounddesign besorgte das Tonstudio von Holger Siedler in Dormagen, das in seiner Internetpräsentation darauf verweist, „Kundenwünsche nach einem authentischen und dynamischen analogen Klang“ erfüllen zu können.

Die Stimmen sind sehr deutlich und präsent. Sie rücken mehr als vielleicht nötig in den Vordergrund. Vor allem in der Erda-Szene. Es ist, als ob Maria von Ilosvay nach dem mächtigen Weckruf durch den Wanderer (Hans Hotter) plötzlich im Raum steht. So nahe kommt sie. Wer selbst schon im Festspielhaus saß, weiß, dass es dort anders, nämlich entfernter klingt. Mythische Distanz ist gewollt und Teil des noch von Richard Wagner erdachten Theaterzaubers. Bei diesem akustisch relativ vordergründigen Konzept bleibt es bis zum strahlenden Schluss, wenn sich Brünnhilde und Siegfried (Wolfgang Windgassen) in den „leuchtenden Liebe lachenden Tod“ stürzen. Bayreuther Akustik hin oder her, faszinierend klingt es unter guten Kopfhörern letztlich schon. Zumal die Mödl noch etwas mehr als ihr Partner mit buchstabengetreuem Ausdruck singt. Eine Fähigkeit, die immer seitdem mehr verloren geht. Die übrige Besetzung dieses Siegfried ist dieselbe wie im Decca-Mitschnitt. Das heißt: Gustav Neidlinger (Alberich), Paul Kuen (Mime), Josef Greindl (Fafner) und Ilse Hollweg (Waldvogel). Rüdiger Winter

Auf dem Flügel nach Walhall

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Es dauert ungefähr zehn Sekunden, bis auch die mit dem Werk Richard Wagners vertrauten Hörer schwören können, was ihnen geboten wird. Mit Macht tönt es aus dem Innern des Flügeln: Einzug der Götter in Walhall, das pompöse Rheingold-Finale. Für mich eine der imposantesten Eingebungen des Komponisten, die auch noch mit Blockflöte oder Akkordeon Eindruck machen dürfte. Das Klavier aber hat neben dem Orchester immer noch die größeren, die differenzierteren Ausdrucksmöglichkeiten. Bearbeitungen von Wagners Musikdramen für dieses Instrument sind so alt wie die Werke selbst. Sie sind aus der Not geboren. Schließlich waren seinerzeit die Möglichkeiten beschränkt, Wagner nach Laune und Bedürfnis hören zu können. Wir aber greifen in die Fülle der Regale und Festplatten mit einschlägigen Aufnahmen oder gehen ins Netz. Wagner für Klavier ist längst keine Lösung mehr – eine Möglichkeit schon. Mir gefällt daran am meisten, dass ich mich nicht über sängerische Defizite ärgern muss. Gerade in besagter Rheingold-Szene wird in Opernhäuser der Froh, der die Regenbogenbrücke zur Burg festlich besingt, vernachlässigt. Was hat man nicht alles gehört. Die „Bricke“, die zur Burg „fiehrt“ war noch harmlos. Solches Kauderwelsch bringt der Flügel nicht hervor.

Den neuerlichen Beweis liefert eine CD, die bei harmonia mundi erschienen ist (HMM 902393). Der russische Pianist Nikolai Lugansky hat die Musik aus dem Ring des Nibelungen sowie aus Parsifal und Tristan und Isolde weitestgehend selbst arrangiert, bedient sich also nicht nur aus dem großen Vorrat einschlägiger Bearbeitungen. Er folgt damit einem eigenen Bedürfnis, das er im Booklet eindrucksvoll und mit eigenen Erinnerungen versehen schildert. Er ist sich dessen bewusst, dass es selbstverständlich „verschiedene Methoden der Bearbeitung“ gibt. „Entweder man bleibt dem Original treu mit dem Ziel, das Werk bekanntzumachen und damit ein möglichst großes Publikum zu erreichen, was der Fall war, als es noch keine Plattenaufnahmen und kein Radio“ existierten. Und dann gebe es die „mehr frei, offene Art, bei der man das Klavier mit dessen eigenen Mitteln diese großartigen Erzählungen schildern lässt“. Für ihn, Lugansky, sei die „ideale Klavierbearbeitung ein Werk, dass für sich allein steht“. Wagner betreffend „bedeute dies, dass man die Orchesterstimmen der Originalpartitur nicht alle strikt beibehält, sondern idealerweise eine Auswahl trifft und ein Gleichgewicht findet, dass die emotionale Wirkung aufrechterhält“. Insofern ist seine Arbeit Ausdruck einer ganz persönlichen Auseinandersetzung mit dem verehrten Wagner, dessen Musik er als Achtzehnjähriger erstmals ganz bewusst vernahm. Wer die Einspielung genau hört, findet schnell heraus, was ihm wichtig ist. Er stellt seine Empfindungen zur Diskussion, lädt das Publikum dazu ein, herauszufinden, wo die eigenen Berührungspunkte mit Wagner jenseits der oft schwärmerischen Verehrung für Sänger, Chöre, Orchester und Dirigenten liegen.

Mit gut vierzig Minuten ist Musik aus dem Ring der größte Posten der CD. Zweimal, nämlich beim schon erwähnten Einzug der Götter in Walhall und beim Feuerzauber in der Walküre greift Lugansky auf Translationen des 1884 in St. Petersburg gestorbenen belgischen Pianisten Louis Bassin zurück und verknüpft sie teils mit eigener Bearbeitung. Die Verwandlungsmusik aus dem ersten Parsifal-Aufzug stammt von Felix Mottl und die Schluss-Szene aus Parsifal ist ein Mix von ihm selbst mit der Arbeit seines 2016 verstorbenen ungarischen Kollegen Zoltán Kocsis. Mit Isoldes Liebestod wird eine Reminiszenz an Franz Liszt gewählt, der sich mit seinen feinsinnigen Klavierbearbeitungen unermüdlich für die Verbreitung des Werkes seines Freundes Richard Wagner einsetzte.

Eine knappe Stunde Tristan und Isolde ohne Gesang. Ist das überhaupt möglich? Für das Solistenensemble D’Accord schon. Es hat eine Version mit Streichseptett eingespielt. Die sieben Musiker sind Martina Trumpp, von der die Bearbeitung stammt, und Franziska Bauer (Violine), Daniel Schwartz und Stephan Knies (Viola), Guillaume Artus und Nicola Pfeffer (Cello) sowie Benedikt Büscher (Kontrabass). Erschienen ist die CD in umweltfreundlichem Karton bei Caviello Classics (COV 92311). Die Fassung folgt dem Aufbau des Musikdramas, das Richard Wagner selbst als Handlung in drei Aufzügen hatte verstanden wissen wollen. Auf die jeweiligen drei Vorspiele folgen die konkreten Geschehnisse, die so bezeichnend sind, dass die Hörer auf Anhieb wissen, an welcher Stelle sich die Handlung befindet. Oft reichen Textzitate wie „Frisch weht der Wind der Heimat zu“ aus dem Lied des jungen Seemanns oder „Einsam wachend in der Nacht“ aus Brangänes Wachgesang. Dann wieder sind einzelne Szenen etwas lakonisch beschreibend markiert. Liebestrank, Ankunft auf der Burg, Jagd, Sehnsucht oder Tristans Tod, heißt es dann. Der Schluss aber, auf den alles hinausläuft in dem Werk, ist in aller Ausführlichkeit beschrieben mit „Mild und leise“ (Isoldes Liebestod. Tristan-Vertraute hätten die Notizen nicht gebraucht. Sie wisse im Schlaf, welche Musik in welcher Situation erklingt. Doch sie sind vielleicht auch nicht die ersten Adressaten für die Neuerscheinung. Sie wollen das Werk wohl am liebsten auch gesungen und auf der Bühne aufgeführt. Wer aber auf Gesang keinen sonderlichen Wert liege – dafür gibt es schließlich auch gute Gründe – und Wagner dennoch liebt, der ist bestens bedient mit dieser Version. Sie betont den sinfonischen Charakter der Musik.

Das Ensemble hat im Booklet Cosima Wagner als Zeugin aufgerufen. Sie habe in ihren Tagebüchern geschrieben, dass Tristan und Isolde „eigentlich gar keine Oper sei“ – jedenfalls „keine für Singstimmen mit Handlung und Orchesterbegleitung“. Wagner habe sich in diesem Werk „einmal ganz symphonisch geben“ wollen, ein Geflecht aus Harmonien und „unendlicher Melodie“ erschaffen, in dem Gesang nicht unbedingt die Hauptrolle spiele. Das Experiment finde ich sehr gelungen. Ich habe die Stimmen nicht vermisst. Das Septett gleicht sie durch seinen fein sinnigen und hochsensiblen Vortrag aus. Rüdiger Winter

Bereit für Überraschungen

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Nach der Schönen Müllerin und dem Schwanengesang hat André Schuen nun die Winterreise von Franz Schubert vorgelegt. Wie die beiden vorangegangenen Aufnahmen wurde sie bei Deutsche Grammphon veröffentlicht (486 1288). Begleiter am Flügel ist abermals Daniel Heide. Er hat einen erklecklichen Anteil am künstlerischen Wert dieser Produktionen, die einen hohen Standard setzen. Derzeit ist viel Bewegung am einschlägigen Markt. Schuberts Lieder kommen in immer neuen Bearbeitungen und Besetzungen daher, die auf ihre Weise durchaus dazu beitragen können, der Beschäftigung mit Liedgesang neue Impulse zu geben und ein Publikum zu erreichen, das diesem Genre ehr reserviert gegenüber steht. Für Schuen und Heide verbieten sich Zutaten oder Fisimatenten. Sie halten sich ans Original, lassen Schubert Schubert sein indem sie einen Zeitbezug einzig und allein durch Interpretation herstellen und nicht durch gefällige Anpassungen. Einzig bei der Gestaltung des Covers, auf dem das Gesicht des aus Südtirol stammenden Baritons wie gefroren aus dem Dunkel tritt, wird ein außermusikalischer Bezug bemüht. Der liegt im Falle von Schuen sogar nahe. In seiner Freizeit steigt er nämlich selbst in die Berge seiner Heimat und dürfte wohl nicht nur einmal auf engste Tuchfühlung mit der Einsamkeit im Schnee gekommen sein: „Ei Tränen, meine Tränen, / und seid ihr gar so lau, / dass ihr erstarrt zu Eise / wie kühler Morgentau?“ Schuen kann Situationen singen. Sie entstehen in seinem exzellenten Vortrag, für den Heide stets ein angemessenes Tempo findet. Ein Tempo, welches es dem Sänger gestattet, die Lieder so darzubieten, dass inhaltlich nichts verloren geht – kein Wort, keine Silbe, kein Interpunktionszeichen.

Es wird niemals gehetzt. Vielmehr ist eine große Ruhe und Selbstsicherheit um und in dieser Darbietung, die keinem Sänger in den Schoß fällt, auch Schuen nicht. Sie ist das Resultat jahrelanger intensiver Beschäftigung mit der Winterreise, die ihn übrigens durch sein ganzes Studium begleitete, wie aus dem Booklet-Text von Joachim Reiber zu erfahren ist. Und sie habe schon beim allerersten Liederbend auf dem Programm gestanden. Schuen kommt auch selbst zu Wort: „Das Gefühl, bei diesem Werk immer am Anfang zu stehen, bleibt. Aber was sich für mich verändert hat, das ist, dass ich ergebnisoffener geworden bin. In früheren Jahren, „mit noch weniger Erfahrung“, habe er wohl auch versucht, „die Route vorher festzulegen und genau zu planen“, wie diese oder jene Stelle gestaltet werden solle. „Heute erlebe ich diesen Zyklus viel stärker aus dem Moment: bereit für all das Überraschende und Ungeahnte, das sich auf dieser Reise auftun kann.“ In der Tat wirkt in seine Interpretation nichts kalkuliert, weshalb sich plötzlich auch stimmliche Klippen auftun können, die den Sänger durchaus an Grenzen bringen. Schuen scheint nicht auf Schönheit aus – vielmehr auf Wahrhaftigkeit. Er singt so, als würden sich die dramatischen Geschehnisse in diesen Liedern just in dem Moment ereignen, indem wir sie zu hören bekommen. Das ist die Kunst, seine und die seines Begleiters. Es grenzt schon an Hohn, dass die unverwüstlichen Texte von Wilhelm Müller in Begleitheft abgedruckt worden sind. Das wäre nicht nötig gewesen, denn selten gab sich eine Darbietung so wortverständlich wie diese. Rüdiger Winter

Der Star ist das Orchester

.Der Star ist und bleibt das Orchester.

Ursprünglich hatte sich Richard Strauss gewünscht, dass sein letztes Bühnenwerk, das Konversationsstück für Musik Capriccio, in Salzburg erstmals gegeben werden sollte. Es kam anders. Die Uraufführung fand am 28. Oktober 1942 im Münchner Nationaltheater statt. Große Szenen wurden aufgenommen und später auf einer BASF-Schallplatte veröffentlicht. Viorica Ursuleac sang die Gräfin. Sie war die Frau des Dirigenten und Librettisten Clemens Krauss, der bei seiner Arbeit auf Vorstudien zurückgreifen konnte, die bis auf Stefan Zweig zurückgingen, der schon das Textbuch für Die schweigsame Frau geliefert hatte. Mit Capriccio sollte die künstlerische Zusammenarbeit mit Strauss fortgeführt werden. Dazu kam es nicht, weil der Schriftsteller 1934 vor den Nationalsozialisten ins Ausland flüchten musste, wo er noch vor der Premiere gemeinsam mit seiner Frau Lotte den Freitod wählte.

Strauss hatte Salzburg vor allen deshalb favorisiert, weil es das im Vergleich mit München intimere alte Festspielhaus für geeigneter hielt. Doch Salzburg kam erst 1950 zum Zuge als Karl Böhm eine Produktion von Rudolf Hartmann mit Lisa Della Casa in der Rolle der Gräfin und Paul Schöffler als Theaterdirektor La Roche leitete, die bisher nicht offiziell auf Tonträger gelangte. Dies war erst der nachfolgenden Inszenierung vergönnt, die Johannes Schaaf 1985 im einstigen Kleinen Festspielhaus besorgte. Sie blieb drei Sommer im Programm, kam bei der Wiederaufnahme 1990 auch ins Fernsehen – nun mit Theo Adam als Morosus – und ist auf YouTube zu finden. Bis auf das Jahr 1987, in dem Anna Tomowa-Sintow als Donna Anna im Don Giovanni unter Herbert von Karajan in Anspruch genommen gewesen war, sang sie durchgehend Gräfin besetzt. Lucia Popp übernahm nur vorrübergehend.

Die Premiere vom 7. August 1985 hat Orfeo nun im Rahmen seiner Festspieledition neu aufgelegt (C239152). Der Star ist und bleibt das Orchester. Horst Stein dirigiert die Wiener Philharmoniker und schafft nicht nur mit den großen orchestralen Passagen – Einleitung, Zwischenspiel und Mondscheinmusik – die Höhepunkte der Aufführung, hinter denen die sängerischen Leistungen etwas zurückstehen. Im bewegten Bühnengeschehen geht manches musikalische Detail unter. Der handlungstragende Streit über den Vorrang von Wort oder Musik in der Oper wird teils heftig ausgetragen. Warum hatte doch Strauss auf Salzburg als Ort der ersten Aufführung gepocht? „Weil ihm das gegenüber München intimere Salzburger Festspielhaus die besserer Wortverständlichkeit zu garantieren schien“, bringt der österreichische Musikjournalist Gottfried Kraus im Booklet in Erinnerung. Gut vierzig Jahre nach Fertigstellung des Werkes sollte dieser Rahmen keine Garantie für die Erwartungen des Komponisten, die sich im Studio am besten würden realisierten lassen, mehr sein. Auch die Gräfin von Anna Tomowa-Sintow, die in dem künstlerischen Wettbewerb entscheiden soll, ist bei ihrem ersten Erscheinen mit keinem Wort zu verstehen. Erst im großen Schlussmonolog, auf den alles hinaus läuft, und der zugleich alles offen lässt, gelangt sie zu großer Form und wurde, wie aus dem Booklet zu erfahren ist, auch von der Kritik einhellig gefeiert. Personifiziert ist die ästhetische Grundsatzdebatte des Werkes durch den Musiker Flamand (Eberhard Büchner) und den Dichter Olivier (Franz Grundheber), die beide die Gräfin auf ihre Weise umwerben. Sie, die „Streiter in Apoll“, müssen sich von Theaterdirektor La Roche die Leviten lesen lassen, der mit seinen kritischen Anmerkungen über das Theater als solches noch immer auffällig modern in Erscheinung tritt. „Ich will meine Bühne mit Menschen bevölkern, lässt er sich vernehmen. Leider ist Manfred Jungwirth, damals Mitte sechzig, über seinen Zenit weit hinaus. Er hält in seiner berühmten Ansprache die Musik zu kurz, indem er sich zu oft in den Sprechgesang flüchtet. Der Bruder der Gräfin (Wolfgang Schöne), die von ihm favorisierte Schauspielerin Clairon (Trudeliese Schmidt), die italienischen Sänger (Adelina Scarabelli und Pietro Ballo) sowie der Souffleur Taupe (Anton de Ridder) verhelfen dem Theater auf dem Theater, das in diesem Konversationsstück für Musik eine zusätzliche Ebenen eröffnet, zu seiner Wirkung.

Mit dem Booklet scheint Orfeo umweltschonende Wege einzuschlagen. Im Vergleich mit der ersten Ausgabe von 1999 ist der Fotozuschnitt teils ein anderer. Leichter und schlichter wirkt das Papier. Der Satz ist auf einigen Seiten derart verrutscht, dass der Textrand wie angeschnitten wirkt. Ohnehin hat man den Eindruck, als sei der Druck unter sehr einfachen Bedingungen erfolgt. Rüdiger Winter

„Von ewiger Liebe“

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Startet eine Firma eine neue Gesamtaufnahme aller Lieder von Johanne Brahms, ist dies immer noch ein besonderes Ereignis auf dem Musikmarkt. Zuletzt hatte Hyperion aus London so eine Edition mit insgesamt 249 Titeln einschließlich der Volksliedbearbeitungen vorlegt. Diese abgezogen beläuft sich die einschlägige Abteilung im Schaffen von Brahms auf etwa 200 originäre Lieder. Nun hat Naxos eine eigene Produktion in die Wege geleitet und ist inzwischen bei Vol. 5 angelangt. Begleiter ist stets Ulrich Eisenlohr. Der Auftakt mit Vol. 1 war von Christoph Prégardien bestritten worden (8.57428). Er und der Pianist sind auf dem weiten Feld des Liedgesangs ausgewiesene Fachleute und bringen die für das Vorhaben notwendige Kompetenz – und Prominenz mit. Die Diskographie des 1956 geborenen Tenors Prégardien ist lang und umfasst neben Liedern auch Oratorien und Opern.

Eisenlohr, Jahrgang 1950, saß für Naxos schon bei den Schubert-Lieder-Einspielungen am Klavier und wirkt als Professor für Liedgestaltung an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz. Er beschäftigt sich auch in theoretischen Schriften mit Musik. Seine Analysen in den Booklets sind auch für den musikalischen Laien gut verständlich. Gebührende Erwähnung finden die Verfasser der literarischen Vorlagen, wenngleich die von Brahms gewählten Gedichte „selten von höchster künstlerischer Qualität“ seien. Eisenlohr: „Oft sind die einzelnen Lieder eines Opus zu verschiedenen Zeiten komponiert und erst nachträglich zusammengefasst worden – dies aber niemals zufällig, es sind immer inhaltliche und kompositorische Querverbindungen vorhanden.“ Aufgenommen wurden alle bisher veröffentlichten Teile zwischen September 2020 und Oktober 2022 im nach dem Dirigenten Hans Rosbaud benannten Studio des SWR in Baden-Baden.

Der Spiritus Rector der Edition Ulrich Eisenlohr begleitet die Sänger am Klavier / Naxos

Mit der Programmauswahl auf der ersten CD wird viel Pulver verschossen. Das Beste nicht zuletzt, sondern zuerst. Berücksichtigt wurden die Werkgruppen Opus 32, 43, 86 und 105, in denen sich mehrere der bekanntesten Lieder von Brahms finden. Gleich an erste Stelle steht – einem Programm gleich – aus den Vier Gesängen Op. 43 Von ewiger Liebe, für mich ein Gipfel der hochromantischen Liedkunst. Eisenlohr gelingt es, diese – wie er schreibt – „abendlich ruhige Landschaft“ noch vor dem Einsatz des Sängers musikalisch so eindrücklich darzustellen als sei er Maler und nicht Pianist. Prégardien wählt eine ehr schlichte Vortragsweise, stets bemüht, einen volksliedhaften Ton zu finden. Es folgt die ähnlich angelegte Mainacht. Zu hören sind des weiteren Feldeinsamkeit, Wie Melodien zieht es mir, Immer leiser wird mein Schlummer, Auf dem Kirchhofe, Wie bist du, meine Königin. Der Liedsänger Christoph Prégardien legt größten Wert darauf, auch mit dem Wort verständlich zu sein. Wer die Texte näher besehen oder beim Hören mitlesen möchte, findet unter Naxos.com. Sie können in der Originalsprache sowie in englischer Übersetzung heruntergeladen werden. Die genaue Seite ist auf den CD-Hüllen angegeben. Ein – wie ich finde – Papier sparender und praktischer Service, an dem man sich bei dieser Firma inzwischen gewöhnt hat. Der Auftakt für die neue Edition war gelungen.

Vol. 2 enthält die ersten fünf Hefte der Deutschen Volkslieder, bei denen es sich um Bearbeitungen überlieferter Vorlagen handelt (8.574345). Mit den Quellen beschäftigt sich Eisenlohr im Booklet. Brahms habe sich vor allem aus der Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen“ der Volksliedforscher Andreas Kretzschmer (1775-1839) und Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1803-1869) bedient, die etwas siebenhundert Titel aus dem deutschsprachigen Raum umfasst. Zuccalmaglio, der dreißig Jahre nach Kretzschmer starb, sei es in seiner Forschung „nicht um eine wissenschaftliche Rekonstruktion akribisch gesammelter und konservierter Volksweisen, unabhängig von jeder künstlerischen Qualität gegangen“. Vielmehr habe er Wert auf den „Geist“ des Volksliedes gelegt, wozu Eisenlohr „Ursprünglichkeit, Einfachheit, Klarheit, Tiefe, Wahrhaftigkeit im Inhaltlichen wie im Musikalischen“ zählt. Diese Herangehensweise sei von Brahms mit ganzem Herzen unterstützt worden. Zuccalmaglio veröffentlichte Texte und Melodie. „Brahms‘ künstlerischer Beitrag besteht im Hinzufügen einer Klavierbegleitung. Er begnügte sich dabei keineswegs mit dem Unterlegen simpler Begleitfiguren und akkordischer Grundierungen. Es herrscht große Vielfalt an Ausarbeitungen des Klavierparts“, so der Pianist. Alle Lieder, die Brahms bearbeitet habe, handelten von Geschichten, die das Leben schreibe. Auch wenn die äußerlichen Situationen, die Berufe der handelnden Personen und die Sprache „uns heute antiquiert klingen“ seien Inhalte, die sich um Liebeserklärungen und -abweisungen, Treueschwüre und -brüche, zu Herzen gehende und vergiftete Komplimente, Verführungsversuche, Sex ohne Einverständnis oder Tod in der Blüte des Lebens drehten, immer aktuell.

Insofern macht es Sinn, dass sich junge Sänger, die noch am Beginn ihrer Karriere stehen, diesen Liedern zuwenden und dabei ihren eigenen Erfahrungen und Empfindungen einbringen. Teilen sich in den meisten Aufnahmen zwei Solisten in die Sammlung, wartet Naxos gleich mit vier in unterschiedlichen Stimmlagen auf: Alina Wunderlin (Sopran), Esther Valentin-Fieguth (Mezzosopran), Kieran Carrel (Tenor) und Konstantin Ingenpaß (Bariton). Dadurch kommt eine gewisse singspielartige Atmosphäre auf, die ihren ganz besonderen Reiz hat. Wer wird das nächste Lied singen? Und wie im Flug ist die CD auch schon an ihr Ende gekommen. Musikalisch gelingt schon der Einstieg effektvoll. Eisenlohr betont ihn so, als würde an eine Tür geklopft, hinter der sich diese ganz eigene Welt wie eine große poetische Erzählung auftut: „Sag mir, o schönste Schäf’rin mein“, lässt sich der Tenor vernehmen. Alle Solisten sind sehr gut zu verstehen, was für Lieder wie diese mit ihren gelegentlichen mundartigen Einlassungen unabdingbar ist. Mit Vol. 3 liegen die Die Deutschen Volkslieder nun komplett bei Naxos vor (8.574346). Diese CD enthält die restlichen zwei Hefte. Und noch etwas unterscheidet diese Volkslieder-Einspielung von ihren Vorgängern: Sie ist komplett, enthält auch das siebte Heft, dessen Titel für Vorsänger und kleinen Chor – hier die vier Solisten – angelegt sind. Dadurch kommt noch zusätzlich eine gewisse Theatralik ins Spiel, die ihren ganz besonderen Reiz entfaltet. Nach Auffassung des Pianisten Eisenlohr öffnen sich durch die Wechselgesänge neue Ebenen des Musizierens. Komplettiert wird das Programm der CD mit den Volkskinderliedern. Brahms hatte sie den Kindern von Robert und Clara Schumann gewidmet. Hierbei sei die musikalische Faktur und Ausführbarkeit des Klaviersatzes einfach und „kindgerecht“, so Eisenlohr. Für die Liedauswahl gelte das nicht immer. So gehöre das Heidenröslein mit seiner sexuell konnotierten Symbolik trotz „vordergründig naiver Erzählweise nicht in den Bereich des Kindlichen“.

Alina Wunderlin und Kieran Carrel bestreiten Vol. 4 (8.574489) und Vol. 5 (8.574489). Realisiert wurden neun Werkgruppen mit den Opuszahlen 6, 14, 19, 48 und 70, 71, 95, 97, 107 sowie mit den fünf Ophelia-Liedern ein kleiner Zyklus ohne Opuszahl. „Ein bis heute gängiges Klischee ortet Johannes Brahms mit seinen Klangwelten als Inbegriff norddeutscher Melancholie und Schwerblütigkeit. Wendet man sich mit dieser Erwartung seinen frühen Kompositionen zu, so erlebt man einige Überraschungen.“ Mit diesen Worten leitet Pianist Eisenlohr seinen Text für die vierte CD ein. Mehrere Titel – darunter gleich das erste Lied aus den Sechs Gesängen op. 8 des zwanzigjährigen Komponisten belegen diese Feststellung sehr anschaulich. Es lässt auch deshalb aufhorchen, weil es durch Hugo Wolf vierzig Jahre später in seinem Spanisches Liederbuch populärer wurde als durch Brahms. „In den Schatten meiner Locken schlief mir mein Geliebter ein.“ Der Text stammt von Paul Heyse, dem ersten deutschen Nobelpreisträger. Alina Wunderlin kitzelt die erotische Stimmung geschickt, doch unaufdringlich heraus, so dass man auf Anhieb eben nicht auf Brahms käme. In derselben Werkgruppe vier Lieder weiter gibt er sich schon ehr als derjenige zu erkennen, der sich – wie Eisenlohr treffend anmerkt – als „schwärmerisch, sich vollkommen der Sehnsucht nach der Geliebten und dem Glanz ihrer Augen“ ausliefert. Und damit in einen Seelenzustand versetzt, der als typisch für Brahms gilt. Textdichter des Liedes „Wie die Wolke nach der Sonne“ ist August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Vortragender der Tenor Kieran Carrel, dem zu wünschen ist, dass er mit seinem wohlgebildeten lyrischen Tenor noch klarer in die mit einem Konsonanten beginnenden Wörter hineinfindet – nicht aspiriert. Also „wie“ statt „whie“!

In seinem Textbeitrag für Vol. 5 kommt Ulrich Eisenlohr anhand Programms dieser CD darauf zurück, dass es sicher nicht die Absicht von Brahms gewesen sei, Liederzyklen wie Schubert und Schumann als „eine in sich geschlossene Einheit“ zu schaffen. Nach seinen eigenen Worten habe er einzelne zu unterschiedlichen Zeiten geschaffene Titel später wie ein „Bouquet“ von Blumen zusammengefügt. Für Eisenlohr meint der Begriff „auch eine Zusammengehörigkeit“. Diese könne aus „thematischen Bezugnahmen, Ähnlichkeiten im formalen Bereich oder auch wirkungsvollen Kontrasten im Musikalischen wie im Poetischen entstehen“. Einzelne Gruppen unter diesen Gesichtspunkten, die auch Anregungen für die Beschäftigung mit dem Liedschaffen von Brahms sein wollen, näher besehen – und gehört – kommt einem der Komponisten sehr nahe. Die fünf Ophelia-Lieder, die fast ineinander übergehen, stehen am Schluss. Und sie stehen dort gut. Alina Wunderlin singt sie denn auch wie ein Finale, in dem unnötiger Ballast abgeworfen wird, Text und Musik zu großer Schlichtheit finden. Sie seien als Gelegenheitsarbeit für eine „Schauspielerin ohne Gesangsausbildung“ anzusehen und im Rahmen einer Hamlet-Aufführung als Bestandteil der berühmten Wahnsinns-Szene im Dezember 1873 aufgeführt worden, so Eisenlohr. Brahms benutzt die Übersetzung von August Wilhelm Schlegel. Laut Regieanweisung von William Shakespeare sollten sie auch gesungen vorgetragen werden.  Rüdiger Winter

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Abbildung oben:  Ophelias tragisches Ende durch Ertrinken/Selbstmord, Gemälde von  John Everett Millais (Ausschnitt). / Tate Gallerie London Wikipedia

Beherzter Griff ins Archiv

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.Es gibt viele Gründe, die Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy zu lieben. Als ich so alt war wie er auf seinem schöpferischen Höhepunkt – er starb achtunddreißigjährig – konnte ich noch nicht viel anfangen mit seiner Musik. Wagnerbesessen wie ich war, empfand ich sie als zu sanft, um nicht zu sagen zu seicht. In meiner Vorstellungen drückte sich Romantik anders aus – vornehmlich in großer Form und noch größerer Besetzung. Mit den Jahren änderte sich das. Ich war weit verbreiteten Klischees aufgesessen. Peu a peu lehrte mich Mendelsohn, dass der große musikalische Gedanke nicht zwangsläufig Pauken, Posaunen und ganze Heerscharen von Streichern braucht, um sich auszudrücken. Nicht, dass es nur kammermusikalisch zugehen würde bei Mendelssohn. In den großen Chorwerken spart er nicht an der Besetzung. Doch wenn es zum Wesentlichen kommt, dann geht er meist in sich, reduziert die Mittel – und wird auch leiser.

Warner hat jetzt sein Werk in einer großen Edition versammelt (40 CD 5054197774133). Einen Anlass wie ein rundes Jubiläum gibt es dafür nicht. Es braucht ihn auch nicht. Bei Mendelssohn Bartholdy schon gar nicht. Er ist allgegenwärtig, Allgemeingut geworden, auf Spielplänen und in der Musikindustrie eine feste Größe. Aufnahmen seiner Werke sind Legende. Einspielungen, die nach 2000 entstanden, sind die absolute Ausnahme. Nicht selten stammen sie sogar aus den 1970er Jahren. Warner hat für die Edition also beherzt ins Archiv gegriffen (weitgehend des der EMI, Teldec und Erato).

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Die vierzig CDs stecken in einer schönen Box. Bei der Gestaltung der Hüllen wird sich nicht zufällig bei solchen Gemälden bedient, die den Zeitbezug des Komponisten illustrieren. Caspar David Friedrich ist darunter und der Berliner Holbein mit Vornamen Eduard, der an der Ausmalung des Neuen Museums in Berlin beteiligt gewesen ist. Tischbeins Goethe in der Campagna Romana erinnert daran, dass der Komponist im Jünglingsalter 1821 vor dem alten Dichterfürsten in Weimar gespielt hat. Und es finden sich auch Zeichnungen von Mendelssohn fein geführtem Stift. Malerei war einen seiner vielen Begabungen. Insofern gibt die Sammlung Anregungen, nach Verbindungen zwischen Musik und bildnerischer Kunst zu suchen. „Die vielseitige Persönlichkeit Mendelssohns offenbart mehr und mehr Überraschungen, je weiter man zu ihrem Kern vordringt“, schreibt René Jacobs im Vorwort des Booklets. „Neben den bekanntesten Schöpfungen gibt es unzählige Werke, die bis zur Wiedervereinigung in den Bibliotheken im Osten und Westen getrennt voneinander aufbewahrt wurden.“ Daraus erklärt sich wohl auch, dass ein neues wissenschaftliches Werkverzeichnis (MWV) mit 750 Kompositionen in 26 Gruppen erst im August 2009 von der Mendelssohn-Forschungsstelle der Sächsischen Akademie der Wissenschaften veröffentlicht wurde. Es bereitet Freude und Verdruss zugleich herauszufinden, welche Werke genau nun in die Edition aufgenommen wurden, zumal sowohl die traditionellen Opuszahlen alter Zählung meist neben den MWV-Ziffern stehen. Das geht nicht ohne eigene Vergleichslisten. Die Edition setzt sich im Index aus sechs Gruppen zusammen: Instrumental, Chamber Music, Concertante Music, Orchestral, Vocal, Sacred Music aus. Vocal beispielsweise ist nochmals in die Untergruppen Choral, Lieder, Opera gegliedert. Schnell wird deutlich, was alles fehlt. Mendelssohn hat unendlich viele Chorwerke mit und ohne Begleitung hinterlassen. Immerhin wirkte er auch als Chorleiter. Davon finden sich kaum fünfundzwanzig einzelne Stücke. Sein Liedschaffen ist zwar auch reduziert, wird aber repräsentativer dargeboten. Ohnehin hatten sich die deutschen Plattenfirmen auf diesem Gebiet kein Bein ausgerissen. Wieder kommt Dietrich Fischer-Dieskau das herausragende Verdienst zu, dem Liederwerk zu großer Verbreitung verholfen zu haben. Seine gemeinsam mit Wolfgang Sawallisch einst für EMI – jetzt Warner – produzierten Aufnahmen gehören zu den Glanzstücken der Edition. Neben ihm geben auch Janet Baker, Victoria de los Angeles, Felicitas Lott, Barbara Bonney, Ann Murray, Karita Mattila und Natalie Stutzmann sowie Thomas Hampson Mendelssohn die Ehre. Die Baker wirkt zudem im Psalm 42 Wie der Hirsch schreit mit, der zu den populärsten Schöpfungen des Komponisten gehört.

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Gemälde von Caspar David Friedrich sind gleich auf mehreren CD-Hüllen zu finden.

Einen deutlichen Akzent in der Sammlung setzt der schweizerische Dirigent Michel Corboz, dem mindestens zwei Generationen ihren Zugang zu Monteverdi verdanken. Seine entsprechenden Einspielungen sind maßstäblich geblieben und letztlich nie vom Markt verdrängt worden. Er galt als glänzender Chorerzieher und hatte dieses Fach an die dreißig Jahre am Genfer Konservatorium gelehrt. Mit dem Ensemble Vocal et Instrumental de Lausanne und dem Choeur Symphonique de la Fondation Gulbenkian de Lisbonne bestreitet er gleich fünf CDs der Abteilungen Sacred Works und Vocal & Choral Works – darunter Die erste Walpurgisnacht. Durch seine Interpretation wird einmal mehr deutlich, warum diese Kantate nach Goethe im Kanon der Werke einen vorderen Platz behauptet. Ausladende Sinfonik, großer Chorsatz und lyrischer Liedgesang gehen eine perfekte Mischung ein, wie sie so nur bei Mendelssohn Bartholdy zu finden ist. Die Solisten – hier die Altistin Brigitte Balleys, der Tenor Frieder Lang und der Bassbariton Gilles Cachemaille – tragen zur packenden Realisierung dieser Mischform bei. Ein Sommernachtstraum steht beispielhaft für die Schauspielmusiken in der Edition. Wenngleich sie eher selten bei Bühnenaufführungen der Shakespeare-Komödie erklingt, hat sie dank ihrer Genialität ein unverwüstliches Eigenleben auf Konzertpodien und im Studio entwickelt. Die Zahl der Einspielungen ist Legende. Warner entschied sich für die Aufnahme mit dem Rundfunkchor Leipzig und dem Gewandhausorchester unter der Leitung von Kurt Masur aus dem Jahr der deutschen Wiedervereinigung 1990. Es singen Edith Wiens und Christiane Oertel. Sprecher ist der in Leipzig wirkende Schauspieler Friedhelm Eberle. Opern bzw. Singspiele sind im Schaffen von Mendelssohn nur eine Randerscheinung. Insofern muss eine Edition, die nicht auf das Gesamtwerk aus ist, mit zwei Einaktern auskommen: Die Heimkehr aus der Fremde von 1977 – der Komponist bezeichnete das Werk als Liederspiel – und Die beiden Pädagogen von 1978. An der Besetzung wurde nicht gespart. Beide Male kommen der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Münchner Rundfunkorchester unter seinem damaligen Chefdirigenten Heinz Wallberg zum Einsatz. Das gilt auch für Fischer-Dieskau als Kauz und Kinderschreck. In der Heimkehr steht auch Peter Schreier, der bei der DDR-Firma Eterna ebenfalls vorzügliche Mendelssohn-Lieder einspielte, als Hermann auf der Besetzungsliste. Mit dem Tenorpart des Carl bringt sich Adolf Dallapozza in schönste Erinnerung. Die jeweils ersten Soprane sind Helen Donath (Lisbeth) und Krisztina Laki (Elise).

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Felix Mendelssohn Bartholdy war auch malerisch begabt und hat diese Bild von der Amalfiküste hinterlassen.

Wie ein gewaltiges Gebirge ragen die beiden großen abendfüllenden Oratorien nach Bibel-Worten aus dem Gesamtwerk – und damit auch aus der Sammlung hervor. Paulus wurde 1976 und 1977 mit Rafael Frühbeck de Burgos am Pult der Düsseldorfer Symphoniker eingespielt. Die Sängerbesetzung ist mit Helen Donath, Hanna Schwarz, Werner Hollweg und Dietrich Fischer-Dieskau exklusiv. Alle drei bringen Opernerfahrungen ein, was der Umsetzung zu Gute kommt. Obwohl Frühbeck bei EMI auch einen Elias vorgelegt hatte, fiel die Wahl bei diesem Werk, das sich ohne lange Einleitung wie aus dem Nichts erhebt, auf den US-amerikanischen Dirigenten James Conlon. Er war von 1990 bis 2003 Chefdirigent der Kölner Oper und des Gürzenich-Orchesters. In diese Zeit fällt auch die Aufnahme mit dem Kölner Klangkörper, Mitgliedern des Windsbacher Knabenchores und dem Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf. Sie entstand 1996 in der Düsseldorfer Thomaskirche, einem Neubau aus den späten 1950er Jahren, der der Klangentfaltung gewisse Grenzen zu setzen scheint. Deutlich wird das bei den Chören, die auch im Elias eine ganz entscheidende Rolle spielen und eng mit den Partien der Gesangssolisten verflochten sind. Dieses feine Geflecht, das sich erst mit der Erfindung der Stereophonie auf Tonträgern perfekt einfangen ließ, entfaltet sich unter den gegebenen akustischen Umständen exzellent, während gewaltige Steigerungen etwas auf der Strecke zu bleiben drohen. Der Komponist selbst sprach in einem Brief an den Jugendfreund Karl Klingemann von „recht dicken, starken, vollen Chören“. Der Bassbariton Andreas Schmidt ist mit damals Mitte dreißig ein noch junger Prophet Elias, der seinen starken Kampfesgeist und auch seine Verzweiflung mit einer Portion Milde, die seinen damaligen stimmlichen Fähigkeiten entspricht, versieht. Des Weiteren wirken mit Andrea Rost (Witwe), Cornelia Kallisch (Königin), Deon van der Walt (Ahab/Obadiah). Noch am Anfang ihrer erfolgreichen Karriere steht Anne Schwanewilms, damals noch vor dem Fachwechsel als Contralto II.

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Tischbeins Gemälde Goethe in der Campagna Romana erinnert daran, dass der junge Felix 1821 vor dem alten Dichter in Weimar spielte.

Was noch? Die Sinfonien natürlich, mit denen sich mein Kollege Daniel Hauser beschäftigt hat:
In Sachen Mendelssohn in der ehemaligen DDR kommt dem Dirigenten Kurt Masur das unbestreitbare Verdienst zu, sich für dessen Werke besonders eingesetzt zu haben. Obwohl der jüdisch geborene Komponist unter dem NS-Regime faktisch (wenn auch nicht offiziell) von den deutschen Spielplänen verschwand – man denke an den Versuch der Nazis, Mendelssohns Violinkonzert durch das seinerzeit in diesem Zusammenhang uraufgeführte Schwesterwerk Schumanns zu ersetzen –, fand seine Musik nach Kriegsende keineswegs sofort in die Konzertsäle zurück. Eine anhaltende Abwertung, durchaus antisemitisch konnotiert, hielt sich noch einige Jahrzehnte nach 1945. So nimmt es nicht wunder, dass von bedeutenden deutschen Dirigenten dieser Generation so gut wie kein Mendelssohn aufgeführt wurde. Interessanterweise setzte die wiederauflebende Mendelssohn-Pflege auch im sozialistischen Ostdeutschland nicht bereits in den 1950er Jahren ein. Hier nun kommt Masurs Einsatz zum Tragen. Zwar spielte bereits Franz Konwitschny mit dem Gewandhausorchester Leipzig im Juni 1962 die Schottische Sinfonie für Eterna in der Heilandskirche Leipzig ein – die erste DDR-Einspielung einer Mendelssohn-Sinfonie überhaupt –, doch machte sein im Monat danach erfolgtes unerwartetes Ableben einer etwaigen Fortsetzung einen Strich durch die Rechnung. Erst sein Nachnachfolger als Gewandhauskapellmeister, eben Kurt Masur, wurde 1971/72 mit der Ersteinspielung eines kompletten Zyklus der fünf Sinfonien von Mendelssohn beauftragt. Es ist wohl kein Zufall, dass die Leipziger zum Zuge kamen, war Mendelssohn selbst ja in den Jahren 1835 bis 1847 ebenfalls an der Spitze des altehrwürdigen Orchesters gestanden.

Als Aufnahmestätte für diesen ersten Zyklus unter Masur diente die Versöhnungskirche Leipzig. Er erschien bereits 1972 auf vier Langspielplatten auch bei Eurodisc und kam 1990 beim selben Label erstmals als CD-Set heraus, 1994 noch einmal als Neuauflage bei RCA. Seit 30 Jahren scheinen diese Aufnahmen indes nicht mehr ohne weiteres greifbar zu sein. Eine zweite, nun digitale Gesamteinspielung der fünf Sinfonien entstand als Koproduktion der Eterna mit Teldec zwischen August 1987 und Juni 1989 wiederum mit dem Gewandhausorchester unter Masur. Diesmal wählte man das Neue Gewandhaus als Aufnahmeort. Diese neueren Einspielungen wurden um 1990 bei Teldec erstmals einzeln auf CD aufgelegt und erlebten 2016 bei Warner eine Neuauflage als Gesamtbox (ergänzt um die 13 Streichersinfonien). So verständlich der Wunsch nach einer zeitgemäßen Neueinspielung unter Ausnutzung der modernsten Tontechnik Ende der 1980er Jahre auch gewesen sein mag, so relativierte die schließlich massenhaft erfolgte CD-Übernahme älterer Analogaufnahmen diese Entwicklung doch aus heutiger Sicht. Die beiden Masur-Zyklen unterscheiden sich rein interpretatorisch nur geringfügig. Die Spielzeiten sind nahezu identisch, im Falle der 1. Sinfonie ließ Masur in der Digitalaufnahme die Wiederholung im Kopfsatz spielen. Was allerdings verwundert, ist der detailreichere und letztlich idealere Klang der älteren Produktion. Die Neueinspielung hat im direkten Vergleich ein etwas verwascheneres Klangbild und bietet in dieser Hinsicht trotz der häufig als ausgezeichnet beschriebenen Gewandhaus-Akustik keinen Vorteil. Dass sich Warner gleichwohl in seiner Neuerscheinung für den digitalen Zyklus entschied, ist labeltechnisch bedingt. Die Rechte am analogen Vorgängerzyklus liegen bei RCA und somit bei Sony.

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Mit zwölf Jahren wurde Felix Mendelssohn Bartholdy von Carl Joseph Begas gemalt.

Künstlerisch gibt es da wie dort wenig an Masurs Mendelssohn auszusetzen, doch fehlt andererseits auch ein gewisser Aha-Effekt. Sein Ansatz vermeidet die Extreme und bietet gewiss einen adäquaten Einstieg in die sinfonische Welt des Komponisten. Freilich ließe sich für jede der fünf Sinfonien eine noch referenzträchtigere Alternative benennen. Bei der Schottischen träte gewiss neben dem bereits genannten Konwitschny der hier überragende Otto Klemperer (EMI/Warner) hinzu (obwohl dieser die Coda des Finalsatzes nicht sonderlich mochte und in einer Live-Aufnahme beim BR auch eine eigens komponierte Alternative zu Gehör brachte). Was die Italienische angeht, darf der Verweis auf den heißblütigen jungen Lorin Maazel (DG) nicht fehlen. Erstaunlich gehaltvoll die Reformationssinfonie in der monumentalen Einspielung unter Riccardo Muti (EMI/Warner), gleichsam als Gegenpol zu den ungemein feurigen Darbietungen von Charles Munch (RCA) und Paul Paray (Mercury). Was den Lobgesang betrifft, sei der Hinweis auf die zunächst unscheinbare Einspielung Karl-Friedrich Beringers mit dem exzellenten Windsbacher Knabenchor erlaubt (Hänssler). Die Erste als Cinderella wurde selten außerhalb von Gesamtaufnahmen bedacht. Louis Lane spielte sie mustergültig nebst alternativem Scherzo ein (CBS/Sony).

Hinsichtlich alternativer kompletter Gesamtaufnahmen sei an dieser Stelle auf Peter Maag (Arts), Herbert von Karajan (DG), Claudio Abbado (DG) und Wolfgang Sawallisch (Philips) verwiesen. Rüdiger Winter/Daniel Hauser

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ORCHESTERWERKE – Symphonien Nr. 1-5; Streichersymphonien Nr. 1-12; Sinfoniesatz c-moll (Streichersymphonie Nr. 13); Ein Sommernachtstraum-Ouvertüre op. 21; Die Hebriden-Ouvertüre op. 26; Meeresstille und glückliche Fahrt op. 27; Märchen von der schönen Melusine-Ouvertüre op. 32; Athalie-Ouvertüre op. 74; Heimkehr aus der Fremde-Ouvertüre op. 89; Ruy Blas-Ouvertüre op. 95
KONZERTE – Klavierkonzerte Nr. 1 & 2; Klavierkonzert a-moll; Capriccio brillant op. 22 für Klavier & Orchester; Rondo brillant op. 29 für Klavier & Orchester; Violinkonzert op. 64; Violinkonzert d-moll; Konzert d-moll für Violine, Klavier, Streicher; Konzertstücke Nr. 1 F-Dur op. 113 & Nr. 2 d-moll op. 114 für Klarinette, Bassetthorn, Orchester
KAMMERMUSIK – Violinsonate F-Dur; Flötensonate F-Dur (nach der Violinsonate); Cellosonaten Nr. 1 & 2; Klaviertrios Nr. 1 d-moll op. 49 & Nr. 2 c-moll op. 66; Klavierquartette Nr. 1-3; Klaviersextett D-Dur op. 110; Streichquartette Nr. 1-6; 4 Stücke für Streichquartett op. 81; Streichquintette Nr. 1 A-Dur op. 18 & Nr. 2 B-Dur op. 87; Streichoktett Es-Dur op. 20
KLAVIERWERKE – Lieder ohne Worte Hefte 1-8 (op. 19b, 30, 38, 53, 62, 67, 85, 102); Albumblatt e-moll op. 117; Gondellied A-Dur WoO 10; Rondo capriccioso E-Dur op. 14; Variations serieuses op. 54; Fantasie fis-moll op. 28 „Sonate ecossaise“; Fantaisies (Capricen) op. 16; Kinderstücke op. 72; Andante con variazioni op. 82; Capriccio fis-moll op. 5 (in zwei Einspielungen); Preldues op. 104a Nr. 1-3; Etüden op. 104b Nr. 1-3 (in zwei Einspielungen); Caprices op. 33 Nr. 1-3; Klaviersonate Nr. 1; 6 Präludien & Fugen op. 35; Ouvertüre & Scherzo für 2 Klaviere aus Ein Sommernachtstraum
ORGELWERKE – 3 Präludien & Fugen op. 37; Orgelsonaten op. 65 Nr. 1-6; Fugen A-Dur, e-moll, F-Dur, g-moll, d-moll, d-moll; Andante con variationi D-Dur; Präludien c-moll & d-moll; Allegro B-Dur; Fantasie & Fuge g-moll; Minuetto G-Dur; Ostinato c-moll; Andante D-Dur; Choralvariationen über „Wie groß ist des Almmächt’gen Güte“; Marsch der Priester aus Athalia op. 74; Variations serieuses op. 54; Hochzeitsmarsch aus Ein Sommernachtstraum op. 61
LIEDER – Lieder im Freien zu singen op. 41 Nr. 1-6; op. 48 Nr. 1-6; op. 59 Nr. 1-6; Lieder op. 100 Nr. 1-4; Neue Liebe; Gruß; Auf Flügeln des Gesangs; Morgengruß; Allnächtlich im Traume; Frühlingslied (op. 47 Nr. 3; op. 19a Nr. 1; op. 34 Nr. 3; op. 71 Nr. 2); An die Entfernte; Schilflied; Auf der Wanderschaft; Minnelied (op. 34 Nr. 1 & op. 47 Nr. 1); Das erste Veilchen; Winterlied; Reiselied (op. 34 Nr. 6 & op. 19a Nr. 6); Winterlied; O Jugend, o schöne Rosenzeit; Da lieg ich unter Bäumen; Erntelied; Volkslied; Wanderlied; Nachtlied; Das Waldschloss; Pagenlied; Bei der Wiege; Das Fenster; Tröstung; Jagdlied; Wenn sich zwei Herzen scheiden; Der Mond; Venezianisches Gondellied; The Harland; Erster Verlust; Andres Mailied; Warnung von dem Rhein; Altdeutsches Lied; Hirtenlied; Schlafloser Auge Leuchte; Scheidend; Gruß; Ich wollt, meine Liebe ergösse sich; Lied aus Ruy Blas; Abendlied; Wasserfahrt; Abschiedslied der Zugvögel; Wie kann ich froh und lustig sein; Herbstlied (op. 63 Nr. 4 & op. 84 Nr. 2); Die Sterne schaun in stiller Nacht; Ich hör ein Vöglein; Frage; Es weiß und räth es dich keiner; Im Grünen; Frühlingsglaube; Des Mädchens Klage; Volkslied; Maiglöckchen und die Blümelein; Infelice; Die Liebende schreibt; Suleika (op. 34 Nr. 4 & op. 57 Nr. 3); Ferne; Verlust; die Nonne; Sehnsucht; Der Blumenstrauss; Im Herbst; Sonntagslied; Romanze; Altdeutsches Frühlingslied; Hark! the Herald Angels sing (nach der Gutenberg-Kantate WoO 9)
VOKALWERKE – Ein Sommernachtstraum-Ouvertüre op. 21 & Bühnenmusik op. 61; Singspiel „Die beiden Pädagogen“; Oper „Die Heimkehr aus der Fremde“ op. 89; Weltliche Kantate „Die erste Walpurgisnacht“ op. 60
GEISTLICHE Werke – Oratorium op. 36 „Paulus“; Oratorium op. 70 „Elias“; Choralkantate „O Haupt voll Blut und Wunden“; Kantaten „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“, „Jesu, meine Freude“, „Wer nur den lieben Gott läss walten“; Psalm 42 „Wie der Hirsch schreit“ op. 42; Psalm 115 „Nicht unserm Namen, Herr“ op. 31; Psalm 98 „Singet dem Herrn ein neues Lied“ op. 91; Psalm 114 „Da Israel aus Aegypten zog“ op. 51; Psalm 55 „Hör mein Bitten, Herr“ WoO 15; Psalm 95 „Kommt, lasst uns anbeten“ op. 46; Lauda Sion op. 73; Kantate WoO 5 „Verleih uns Frieden“; 3 Geistliche Stücke op. 23 „Kirchenmusik“; Lass, o Herr mich Hülfe finden op. 96; Te Deum A-Dur WoO 29; Kyrie d-moll; Denn er hat seinen Engeln befohlen; 3 Psalmen op. posth. (Psalm 2 „Warum toben die Heiden“, Psalm 43 „Richte mich, Gott“, Psalm 22 „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“)

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Künstler: Victoria de los Angeles, Barbara Bonney, Edith Wiens, Helen Donath, Janet Baker, Peter Schreier, Dietrich Fischer-Dieskau, Philippe Huttenlocher, Daniel Adni, Martha Argerich, Khatia Buniatishvili, Cyprien Katsaris, Wolfgang Sawallisch, Andreas Staier, Jean-Jacques Kantorow, Rainer Kussmaul, Maxim Vengerov, Frederic Lodeon, Samson Francois, Sylvia Kersenbaum, Marie-Claire Alain, Wayne Marshall, Olivier Latry, Noel Rawsthorne, Gerard Causse, Emmanuel Pahud, Eric Le Sage, Sabine Meyer, Wolfgang Meyer, Nathalie Stutzmann, Thomas Hampson, Rundfunkchor Leipzig, Choir Of New College Oxford, Kammerchor Stuttgart, Alban Berg Quartett, Artemis Quartett, Cherubini Quartett, Domus, Eder Quartet, Kreuzberger Streichquartett, Quatuor Arod, Viotti String Quartet, Trio Fontenay, Gewandhausorchester Leipzig, London Symphony Orchestra, Concerto Köln, Franz Liszt Chamber Orchestra, Academy of St. Martin in the Fields, Orchestre d’Auvergne, Berliner Philharmoniker, New Philharmonia Orchestra, Ensemble Orchestral de Paris, Münchner Rundfunkorchester, Staatskapelle Dresden, Gulbenkian Orchestra, Düsseldorfer Symphoniker, Gürzenich-Orchester Köln, City of London Sinfonia, Sergiu Celibidache, James Conlon, Michel Corboz, Rafael Frühbeck de Burgos, Kurt Masur, Riccardo Muti, Heinz Wallberg, Aldo Ceccato, Janos Rolla, Nikolaus Harnoncourt, Moshe Atzmon, John Nelson, Colin Davis, Edward Higginbottom; Label: Warner, ADD/DDD, 1961-2016; / jpc

Wie „Salome“ ohne Schlussgesang

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„Wie schön ist doch die Musik – aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!“ Eine Aufnahme der komischen Oper Die schweigsame Frau von Richard Strauss – und sei es als Querschnitt – ohne den finalen Monolog des Sir Morosus wäre wie Salome ohne Schlussgesang. Noch vor wenigen Tagen hätte ich darauf geschworen, dass es so ein Tondokument nicht gibt. Ich sollte eines anderen belehrt werden. Doch der Reihe nach. Der Bayerische Rundfunk hat sein Archiv geöffnet und genau so eine Produktion ohne Schluss, auf den schließlich alles hinausläuft, bei BR-Klassik auf den Markt gebracht (900219). Dabei handelt es sich um ein ganz klassisches Opernende, in dem sich die Konflikte wie in Luft auflösen. Es ist geklärt, was zu klären war. Niemand hat Schaden genommen. Alle sind glücklich. Die Welt dreht sich fort. Morosus lehnt sich „strahlend beglückt“ – wie es in der Szenenbeschreibung des Librettos von Stefan Zweig heißt – in seinem Sessel zurück: „Ach, ich fühle mich unbeschreiblich wohl. Nur Ruhe!“

Für Strauss und seinen jüdischen Textdichter sollte dieser Zustand im wirklichen Leben nicht eintreten. 1935, im Jahr der Uraufführung in Dresden unter der Leitung von Karl Böhm, war Zweig bereits emigriert. Die Nationalsozialisten bestanden darauf, dass er auf den Plakaten und Programmzetteln nicht genannt wird. Strauss, der damals bedeutendste lebende Komponist Deutschlands, widersetzte sich. Nach nur drei Wiederholungen verschwand die Oper vom Spielplan und wurde nur noch vereinzelt im Ausland gespielt. Zweig sollte sie nie auf einer Bühne sehen. Er wählte 1942 im brasilianischen Exil gemeinsam mit seiner Frau Lotte den Freitod. Nach dem Krieg versuchte sich gleich 1946 Dresden an einer Erweckung der Oper, die zunächst ohne Folgen blieb. Kurt Böhme, der in der Uraufführung noch als der Komödiant Vanuzzi mitwirkte, sang nun den Morosus. München, Wiesbaden und etliche kleinere Häuser folgten. In Berlin nahm sich 1954 Walter Felsenstein an der Komischen Oper des Stückes an und wählte für den alten Seemann mit dem auf Verdi spezialisierten Bariton Hans Reinmar eine vom bisherigen Rollenbild abweichende Besetzung. Er dürfte dabei eher an Reinmars schauspielerischen Fähigkeiten interessiert gewesen denn seinen schwindenden stimmlichen Qualitäten, die der Bariton mit intellektueller Substanz kompensierte. Wie überraschend gut das ging, anerkannte auch der österreichische Radiomoderator und Opernexperte Gottfried Cervenka, der das Finale in einer Aufnahme des DDR-Rundfunks im April 2005 ins Programm einer seiner legendären Apropos-Oper-Sendungen aufnahm.

Der Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 1959 kam erst 1994 offiziell bei Deutsche Grammophon auf CD heraus.

Ihren internationalen Durchbruch erlebte die Schweigsame Frau 1959 mit einer neuen Inszenierung von Günther Rennert bei den Salzburger Festspielen. Uraufführungsdirigent Böhm stand wieder am Pult. Wohl, um das Publikum nicht zu überfordern, wurde die Spieldauer auf ein seinerzeit erträgliches Maß gestutzt. Es fehlen gut vierzig Minuten, was angesichts der turbulenten Handlung kaum aufgefallen sein dürfte. Hans Hotter war als Sir Morosus besetzt. Er habe eine „köstliche, fein abschattierte Charakterstudie“ geboten, der er ebenso erheiternde wie ergreifende Züge verlieh, heißt es in dem Sängerporträt von Penelope Turing, das 1983 in Buchform im Paul-Neff-Verlag Wien erschien. Der Mono-Premierenmittschnitt fand rasch seinen Weg in Sammlerkreis. Noch als Schallplatten kam er zuerst bei der auf Liveaufführungen spezialisierten Firma Melodram heraus. Laut Archiv der Salzburger Festsiele und anderer Quellen fand die Premiere am 8. August 1959 statt. Als Deutsche Grammophon 1994 die Aufnahme mit dem Segen der Festspielleitung von den Bändern des Österreichischen Rundfunks offiziell auf CD veröffentlichte, wurde im Booklet – offenkundig aus Versehen – als Sendetermin der 6. August genannt. Wiederholungen in Folgejahren gab es nicht. Etwas zu reif für die junge Aminta, die vorgebliche schweigsame Frau, war Hilde Güden, die mit unverkennbarem glitzerndem Timbre die Partie in der Nähe der Sophie aus dem Rosenkavalier zu rücken verstand und damit auch musikalische Ähnlichkeiten zwischen beiden Opern betonte. Als das Ereignis der Produktion blieben bis heute zwei junge Sänger im Gedächtnis, die von Salzburg aus zu höchstem Ruhm aufstiegen: Fritz Wunderlich (Henry) und Hermann Prey (Barbier). Einem Ruhm, der sich noch an Weihnachten desselben Jahres mit Rossinis Barbier von Sevilla im Münchner Cuvilliéstheater steigerte. Als Graf Almaviva und Barbier schrieben der Tenor und der Bariton Operngeschichte Made in Germany. Da diese Aufführung im Fernsehen übertragen wurde, drangen ihre Stimmen und Gesichter in jedes Wohnzimmer, wo ein Empfangsgerät stand. Die DVD der unverwüstlichen Produktion ist noch immer im Handel, ungeachtet der Tatsache, dass musikalisch und szenisch inzwischen ganz andere Maßstäbe gelten.

Programmzettel der Uraufführung  1935 in Dresden. Strauss setzte durch, dass der jüdische Schriftsteller Stefan Zweig als Textdichter genannt wurde / Wikipedia

Doch zurück zur Schweigsamen Frau und der neuen CD von BR-Klassik. Die Umstände ihres Entstehens sind nach mehr als sechzig Jahren nicht lückenlos zu klären. Laut Booklet handelt es sich um eine „Studio-Produktion“ aus der der Bayernhalle im Ausstellungspark in München vom 4. und 5. November 1960, während in der Wunderlich-Biographie von Werner Pfister bei Schott der 3. und 4. November genannt werden. Im erklärenden Text verweist Renate Ulm vom Bayerischen Rundfunk auf den Mitschnitt der Salzburger Aufführung, dessen Wermutstropfen „die deutlich zu hörenden Bühnengeräusche dieser turbulent-komischen Oper“ gewesen seien. „Möglicherweise hat dies Heinz Wallberg 1960 dazu veranlasst, die hier veröffentlichten Ausschnitte als Studioproduktion mit fast der identischen Sänger-Besetzung und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks noch einmal aufzunehmen.“ Hierfür habe der Dirigent „die gleichen Szenen in der Partitur gestrichen“, wie vor ihm Karl Böhm in Salzburg. „Ohne die Nebengeräusche kommt die herausragende Besetzung zu größerer Wirkung.“ Statt der Güden war diesmal die erst vierundzwanzigjährige Ingeborg Hallstein die Aminta. Sie agierte weniger glamourös, dafür viel natürlicher und frecher. Eine Antwort auf die Frage, warum nun ausgerechnet das Finale fehlt, bleibt die Autorin schuldig.

Um eine Studioaufnahme im herkömmlichen Sinne dürfte es sich dann doch nicht gehandelt haben, denn im Booklet findet sich zudem eine faksimilierte kostenlose Eintrittskarte für den 6. November zu einem Richard-Strauss-Konzert in der Bayernhalle, das im Fernsehen übertragen wurde. Dafür sollte das Publikum wohl nur Staffage sein. Unser Leser, der Düsseldorfer Opernexperte Carl Meffert, erinnert sich auch unter Hinweis auf die Zeitschrift „Hör zu“: Die Sendung habe von 20.05 bis 21.50 Uhr gedauert. Am Beginn hätten Ausschnitte aus Die Liebe der Danae mit Hildegard Hillebrecht (Danae), Fritz Uhl (Midas) und Josef Metternich (Jupiter) gestanden, gefolgt von der Burleske für Klavier und Orchester, gespielt von der Pianistin Käbi Laretei, der Ehefrau von Ingmar Bergman. Seinen Informationen zufolge gab es abschließend Szenen aus dem ersten und zweiten Akt der Schweigsamen Frau, was auch ein zusätzlicher Hinweis darauf ist, dass der Schluss der dreiaktigen Oper überhaupt nicht eingespielt wurde. „Der Regisseur wird in der TV-Zeitung nicht genannt; vermutlich war es Wilm ten Haaf“, so Carl Meffert.

Sollte es wirklich Absicht von Wallberg gewesen sein, dem technisch mangelhaften Salzburger Mitschnitt, der damals noch gar nicht auf dem Markt war, bereits im Folgejahr ein klanglich aufgehübschtes lückenhaftes Pendant entgegensetzen zu wollen? Vielmehr deutet die Faktenlage darauf hin, dass an zwei Tage dieselben Szenen unter Studiobedingungen geprobt und akustisch festgehalten wurden, die kurz darauf das Fernsehpublikum in Kostümen und Kulissen live geboten bekam. Dass es die bewegten Bilder gab, ist unstrittig. Auf YouTube sind sie zu sehen. Dort allerdings in einer Präsentation durch den Pianisten, Moderator und Musikschriftsteller Ludwig Kusche, der sich zu den Umständen der Entstehung allerdings nicht äußert. Auch die neue CD gibt äußerlich einen Hinweis auf die szenische Situation. Vorder- und Rückseite des Covers bestehen laut Booklet aus Fotos vom Richard-Strauss-Konzert aus der Bayernhalle. Dass dabei Wunderlich und Prey optisch im Mittelpunkt stehen, ist mehr als angemessen. Sie überragen das gesamte Ensemble. Deutsche Künstler mit solchen frischen süffigen Stimmen hatte man bis dahin noch nicht gehört. Beide verkörpern auch durch ein gewisses Draufgängertum und Selbstbewusstsein ihrer dreißig Jahre Aufbruch und Zukunft auf der Opernbühne. Schade, dass es keine Gesamtaufnahme geworden ist. So einen Schub wie in der Bayernhalle hätte es gebraucht, dem Werk doch noch seinen ebenbürtigen Platz neben den anderen Meisterwerken von Richard Strauss zu sichern. Was danach auf Tonträger gelangte, reicht nicht heran an dieses Münchner Feuerwerk.

Die erste komplette Aufnahme der Oper war eine deutsch-deutsche Electrola-Eterna-Gemeinschaftsproduktion von 1976 bis 1977 in Dresden.

Übrigens sind Wunderlich als Henry, die Hallstein als seine Frau Aminta und Wallberg als Dirigent 1962 bis ans Teatro Colon in Buenos Aires gekommen. Der Mitschnitt hat aber mehr dokumentarischen denn künstlerischen Wert und klingt technisch bescheiden. Die erste komplette Einspielung entstand 1976/77 am Ort der Uraufführung mit der Dresdener Staatskapelle unter Marek Janowski als deutsch-deutsches Projekt für Eterna und EMI. Sie ist nun im Katalog von Warner zu finden. Klanglich schneidet sie mit Abstand am besten ab, wenngleich das turbulente Geschehen unter Studiobedingungen gebremst und etwas steril wirkt. Mit Theo Adam (Morosus), Eberhard Büchner (Henry) und Annelies Burmeister (Haushälterin) steuerte die DDR drei ihrer namhaftesten Sänger bei. Dass auch Werner Haseleu als Vanuzzi dabei ist, dürfte noch immer jene Opernbesucher freuen, die ihm als begnadeten Sängerdarsteller in Weimar, Dresden und an der Berliner Staatsoper in Erinnerung haben. Aus dem Westen kamen in die als Aufnahmeraum genutzte Lukaskirche die Amerikanerin Jeanette Scovotti (Aminta) die sich mit der deutschen Sprache schwer tut, doch für die extremen Höhen bestens disponiert ist, Wolfgang Schöne (Barbier), Trudeliese Schmidt (Carlotta), Klaus Hirte (Morbio) und Helmut Berger-Tuna (Farfallo). Die CD von BR-Klassik erweckt Hoffnungen auf mehr. Sollte sie der Auftakt einer neuen Serie sein? Folgen gar die Danae-Szenen aus der Bayernhalle? Schön wär’s. Das Archiv ist bekanntlich gut gefüllt. Rüdiger Winter

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.Das Foto oben zeigt einen Cover-Ausschnitt der neuen CD: Fritz Wunderlich (links) und Hermann Prey in einer Szene aus der Produktion in der Bayernhalle / Sessner (BR) 

Peitschenhiebe auf dem Felsen

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Sie sang so gut wie alles. Von der Königin der Nacht in der Zauberflöte bis hin zur Elektra, Salome, Brünnhilde und Ortrud. Dazwischen Lulu, Marschallin im Rosenkavalier, Butterfly, Tosca, Lady Macbeth und die Maria in Wozzeck. Die Rede ist von der Schwedin Laila Andersson-Palme, Jahrgang 1941. Palme im Doppelnamen rührt von ihrer Ehe mit dem renommierten Schauspieler Ulf Palme (1920 bis 1993) her. In allen Sopranlagen unterwegs, gilt sie als eine der vielseitigsten Sängerinnen ihrer Generation. Sterling, das 1980 in Stockholm gegründete Label, zeichnet ihre erfolgreiche Karriere mit immer neuen Tondokumenten nach. Das ist außerordentlich verdienstvoll. Offizielle Aufnahmen sind nämlich rar. Es wird auf Mitschnitte aus verschiedenen Ländern zurückgegriffen. Sie vermitteln von dieser temperamentvollen und spontanen Künstlerin den vielleicht besseren Eindruck. Es fällt schwer, sie sich vor einem Studiomikrophon vorzustellen. Sie brauchte die Bühne, um ihre hochdramatisches Talent zur Geltung zu bringen.

Laila Andersson-Palme / Wikipedia

Eine komplette Walküre aus dem Opernhaus der dänischen Stadt Aarhus von 1987 präsentiert die neuesten Box (CDA 1870, 1871, 1872). Am Klang in bestem Stereo ist nicht zu deuteln. Francesco Cristofoli entfesselt am Pult des Aarhus Symphony Orchestra Wagners Musikdrama in voller Pracht zwischen feinsten lyrischen Verästelungen und tosendem Sturm. Die Streicher sind sein Fundament. Es stellt sich die Frage, warum dieser dänische Dirigent, der bei Sergiu Celibidache studiert hatte und 2004 gestorben ist, außerhalb seines Heimatlandes weitgehend unbekannt blieb und so gut wie keine Platten einspielte. Er führt die Sänger sicher durch das anspruchsvolle Werk, lässt ihnen stets den Vortritt, deckt sie nie zu und dreht nur dann gehörig auf, wenn die Stimmen schweigen.

Laila Andersson-Palme ist die Brünnhilde, Lisbeth Balslev die Sieglinde. Seit sie 1978 in Bayreuth als Senta in der Harry-Kupfer-Inszenierung des Fliegenden Holländer auch international bekannt wurde, gehörte Wagner zu ihren zentralen Komponisten, den sie mit herber Stimme eindrucksvoll zu gestalten wusste. Bis auf die groß besetzte Ballade Elverskud von Niels Gade wurde sie für Studioaufnahmen nicht herangezogen. Nach Aarhus kehrte Lisbeth Balslev in den 1990er Jahren zurück, um im Ring diesmal die Brünnhilde zu singen, wovon sich ebenfalls ein Mitschnitt erhalten hat. Mit Sven-Olof Eliasson war ihr als Siegmund ein Tenor zur Seite, der vor allem durch seine Mitwirkung im Studio-Monteverdi-Zyklus von Nikolaus Harnoncourt (Ulisse und L’Humana fragilità) für Telefunken aus dem Jahr 1971 in Erinnerung geblieben ist. Vielseitigkeit war sein Markenzeichen. Er versieht Wagner mit leichten lyrischen Facetten und verkörpert so ehr das Gegenteil eines klassischen schweren Heldentenors. Was bei ihm auffällt, gilt so auch für alle Mitwirkenden – sie singen außerordentlich wortdeutlich. Und nicht nur das. Sie bringen auch das Wissen um die Rollen und die jeweiligen dramatischen Situationen des Handlungsverkaufs ein. In Arhus wird Wagner vom feinsten geboten.

Das Finale auf dem Walküren-Felsen mit Leif Roar als Wotan ist bereits aus einem anderen Sterling-Album (CDA 1837/1838-2) bekannt. Im Zusammenhang wiedergehört, bleibt es der Höhepunkt der spannungsgeladenen Aufführung, dem alles zuzustreben scheint. Laila Andersson-Palme gibt eine außerordentlich entschlossene Brünnhilde, die ihre stählerne Höhe heftig  gegen den zornigen Göttervater einsetzt wie Peitschen. „Was hast Du erdacht, das ich erdulde?“ Atemlos und gehetzt wirft sie die Frage hin und kommt damit der Wahrheit des Moments allein durch Ausdruck nahe – und nicht durch Schöngesang. Rüdiger Winter

 

Nach Müllerin-Art

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Es ist mehr als dreißig Jahre her, dass Hans Zender (1936-2019) „Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester“ von Schuberts Winterreise vorlegte. Sie sorgte international für Furore, einige Kritiker und Stimmen aus dem Publikum warfen aber auch die Frage auf, ob man sich denn am berühmtesten Liederzyklus nachschöpferisch vergreifen dürfe. Die Zeit gab Zender Recht. Man darf. Seither ist seine Version oft aufgeführt und mehrfach eingespielt worden. Es blieb nicht dabei. Bearbeitungen mehren sich. Nicht nur zu ihrem Vorteil dieses Werkes. Von der Schöner Müllerin gibt „keine Bearbeitungen im Sinne einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem gesamten Liederzyklus, so wie es mit der Winterreise seit Zenders Fassung in unterschiedlichster Art und Weise passiert ist“, lässt der Komponist und Arrangeur Andreas N. Tarkmann im Booklet einer Aufnahme seiner Bearbeitung mit Klaus Florin Vogt wissen. Sie ist bei cpo erschienen (555 549-2).

Vogt hatte den Auftrag dazu selbst gegeben und das Ergebnis 2019 in Hamburg uraufgeführt. Begleitet wird er vom Ensemble Acht, das sich – seinem Namen folgend – aus acht Musikern mit ebenso vielen Instrumenten zusammensetzt: Klarinette, Fagott, Horn, 1. Violine, 2. Violine, Viola, Violoncello und Kontrabass. Diese Besetzung geht nach den Worten von Tarkmann auf Schuberts großes Oktett F-Dur D 803 aus dem Jahre 1824 zurück. Sie sei ihm für seine Bearbeitung, die den Klavierpart instrumentier, die Gesangsstimme aber unangetastet lasse, besonders geeignet erschienen. Für Tarkmann ist sie zum einen durch die Instrumentenauswahl „die romantische Besetzung, die am besten Atmosphäre und Geist Schubertscher Musik auch noch in einer Bearbeitung zu transportieren vermag“, zum anderen behalte sie „trotz klanglicher Opulenz einen kammermusikalischen Charakter“. Er habe den ursprünglichen Klavierpart „erheblich aufgewertet und als Instrumentalensemble zu einem nahezu gleichberechtigten Partner der Singstimme werden lassen“. Und weiter: „Die große Entwicklung innerhalb der Dichtung, ihre enorme Fallhöhe, öffnet einen Raum, den ich in der Bearbeitung nutzen konnte: die verschiedenen Instrumente gaben mir beispielweise die Möglichkeit, frühzeitig anzudeuten, welches Unheil kommen mag, und ich fand es durchaus reizvoll, durch die Bearbeitung an der ein oder anderen Stelle mehr zu erzählen als der Handelnde selbst weiß.“ Tarkmann zufolge stellen die häufigen Strophenlieder mit ihren Wiederholungen eine besondere Herausforderung dar. „Zwar sind sie inhaltlich sehr wichtig, doch bergen sie die Gefahr einer musikalischen Redundanz. Durch eine Oktettbesetzung war es mir nun möglich, jede Strophe unterschiedlich zu instrumentieren, um dadurch immer neue Farben ins Spiel zu bringen.“ Gelegentlich habe er sich die formale Freiheit erlaubt, bei manchen Liedern Vor- und Nachspiele hinzuzufügen. Gleich das erste Lied – Das Wandern – beginne mit einem Instrumentalvorspiel, das es in der Klavierfassung so nicht gebe, dem neu dimensionierten Liederzyklus aber „einen angemesseneren Anfang verleiht“.

Vogt, der – der seine künstlerische Laufbahn als Hornist in Hamburg begann – trägt den Zyklus mit instrumental geführter Stimme vor. Die deutlich erweiterte Begleitung kommt ihm entgegen. Sie gibt ihm Halt und lässt Defizite an stimmlicher Farbe weniger hervortreten. Vogt singt vollkommen wortverständlich und erfüllt damit eine entscheidende Voraussetzung für den Liedgesang. Dadurch fällt aber umso mehr auf, wie wenig er letztlich aus den Text von Wilhelm Müller herauszuholen vermag. Da klingt vieles gleich. Ich vermisse echte dramatische Steigerungen, dunkle Ahnungen, jähe Wendungen und falsche Hoffnungen, von denen es in diesem romantischen Liederwerk nur so wimmelt. Erst zum Schluss hin, wohl auch, weil man sich an die ungewohnte Bearbeitung gewöhnt hat, stellt sich auch mehr Wirkung ein. Man darf gespannt sein, ob sich auch andere Sänger an dieser Version, die Vogt auf den Leib geschrieben ist, versuchen.#

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War zu Begann dieses Texten noch ein Mangel an Bearbeitungen der Schönen Müllerin festgestellt worden, findet sich inzwischen der nächste einschlägige Versuch auf einer CD, die bei Rubicon erschienen ist (RCD1086). Der umtriebige britische Regisseur und Musiker Thomas Guthrie hat sich eine eigene Version geschaffen, in der er auch als Sänger in Erscheinung tritt. Begleitet wird er von der Barokksolistene-Band, die der Geiger Bjarte Eike leitet, der dafür bekannt ist, musikalische Grenzen mit dem Ziel zu verschieben, neue Ausdrucksformen zu finden. Der historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet, verbindet er sein künstlerisches Wirken mit Elementen der bildenden Kunst sowie des Sprech- und Tanztheaters. Gemeinsam mit Guthrie bleibt er mit der Müllerin aber ganz bei Franz Schubert, verlässt sich auf dessen Meisterschaft und verzichtet auf außermusikalische Beigaben. Zustande gekommen ist eine packende Performance, die die Chiffren der Romantik mit den Erfahrungen der Gegenwart zu entschlüsseln versucht. Dabei spielt die Gitarre eine wichtige Rolle. Jenes Instrument, das wie kaum ein anderes durch die Jahrhunderte tönt. Und das auch Schubert liebte. In der Band kommen gleich zwei Gitarren aus dem neunzehnten Jahrhundert zum Einsatz. Ist die musikalische Ausstattung zu Beginn auch im Rhythmus noch vergleichsweise üppig, wird es von Lied zu Lied schlichter und stiller. Auch das Tempo ebbt ab. Guthrie lässt sich nicht auf den Versuch ein, mit einem klassischen Liedersänger in Konkurrenz treten zu wollen, obwohl er stimmliche durchaus das Zeug dazu hätte. Er nimmt sich seine Freiheiten heraus und hält sich nicht lange bei Schwierigkeiten mit sprachlichen Details auf. Das macht die Einspielung interessant und hörenswert.

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Das Cover gibt nichts preis von dem, was eine weitere Aufnahme aus jüngster Zeit von anderen erheblich unterscheidet: Konstatin Krimmel singt Die schöne Müllerin von Franz Schubert, erschienen bei Alpha-Classics. Begleitet wird er von Daniel Heide (Alpha 929). Der schlägt ein rasantes Tempo an. Es lässt keinen Zweifel aufkommen, dass gewandert wird. Krimmel muss sich nicht dreinfinden. Er marschiert sofort los. Es wird kein fröhlicher Ausflug. Das ist mit dem ersten Ton klar. Dieser Müllerbursche befindet auf dem Weg in den Tod. Der sichere Umgang mit dem Text, der schon immer eine seiner Stärken war, macht den Liedsänger Krimmel aus. Die ruhig geführte Stimme sitzt fest im Körper. Er kommt nie an Grenzen seines Baritons. Mir scheint, er ist im Vergleich mit früheren Einspielungen noch reifer geworden. So kann er alle Ressourcen auf die Gestaltung verwenden. Es dauert nicht lange, bis es anders klingt als man es gewohnt ist und verinnerlicht hat. Darauf soll es wohl auch hinaus.

Zunächst unmerklich, dann immer stärker und auffälliger werden einzelne Wörter mit Koloraturen verziert und fast schon in die Nähe der Oper gerückt. Gleich im ersten Lied gibt es zum Schluss hin auch noch ein zusätzliches „Ja“, das da nicht hingehört und auch dem Text, der im Booklet mitzulesen ist, nicht zugeteilt wurde. Der Sänger experimentiert auf subtile Weise mit dem Tempo und dehnt Figuren wie im Lied Am Feierabend bis zum Gehtnichtmehr, um gleichzeitig vorzuführen, wie man noch deutlicher singen kann als er es ohnehin die ganze Zeit über tut. In der Regel bleiben die Lieder im Einstieg unangetastet. Erst im Verlauf bauen sich die teils überraschenden Zutaten auf. Sie wirken nicht spontan sondern sehr ausgeklügelt. Auch wenn nicht alles Sinn macht, so ist die Absicht meist klar. Einen deutlichen Mehrwert in Inhalt und Aussage kann ich aber nicht erkennen, auch wenn der Sänger in einem sehr persönlichen Text im Booklet in düsteres Nachdenken gerät. Er verweist darauf, dass sich in Deutschland nach Angaben des statistischen Bundesamtes im Jahre 2021 über 9000 Menschen das Leben nahmen. Dreiviertel davon seien Männer gewesen. Fiele diese Zahl geringer aus, wenn das stereotypische „Rollenbild nicht darauf bestehen würde, dass der Mann Stärke zeigen müsse“, fragt er. Es sei leichter gesagt als getan, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Müllerbursche hat sie nicht gesucht, „sondern macht die Last der Emotionen mit sich selbst aus und teilt sie letztlich mit dem Bach, der ihm seinen Todeswunsch erfüllt“. Es sei eine „Achterbahn der Gefühle, eine Berg- und Talfahrt durch die Leidenschaft“. Krimmel schließt mit einem Hinweis auf das Fünf-Phasen-Modell der schweizerisch-amerikanischen Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004). Danach wäre der Müllerbursche am Ende seines Wegs bei der 5. Phase angelegt, in der Sterbende den Tod akzeptieren.

Wenn sich also ein Dreißigjähriger bei seiner Sicht auf den Liederzyklus an knallharte Fakten der Gegenwart hält und die Romantik Romantik sein lässt, ist das nur verständlich. Sein Vortrag aber ist durch und durch rückwärtsgewandt und nur aus der Zeit Schuberts heraus zu verstehen. Damals war es übliche Praxis, Lieder verziert darzubieten. Nach Schuberts Tod hatte sich der Komponist, Pianist und Verleger Anton Diabelli die Rechte an der Schönen Müllerin gesichert und bereitete einen repräsentativen Druck vor. Er bat den „berühmten, mit Schubert befreundeten Sänger Johann Michael Vogl, die Singstimme so einzurichten, dass sie möglichst großes Echo beim Publikum finde. Das tat dieser denn auch. Er fügte – sparsam – einige Verzierungen hinzu, … die er selbst gesungen hatte, wenn Schubert ihn begleitete“. Nachzulesen beim Musikwissenschaftler Walther Dürr in einem Beitrag für die Einspielung von Christoph Prégardien und seines Begleiters Michael Gees 2008 bei Challenge Classics. Die Ornamente, die Prégardien singt, „orientierten sich zwar vom Typus her an den in Diabellis Druck (und einigen Handschriften) überlieferten Verzierungen – wo der Sänger sie aber einsetzt und wie er sie im Einzelfall gestaltet, ist ganz seine eigene Erfindung“, so Dürr. Was Krimmel und Heide versuchen, ist also nicht neu. Ihre Herangehensweise unterscheidet sich im Detail deutlich von der des Tenor-Kollegen Prégardien. Woran orientieren sie sich? Es gibt im Booklet nicht einen Hinweis darauf. Vielmehr wird der Eindruck vermittelt, als würde eine „ganz normale“ Müllerin dargeboten. Streng genommen handelt es sich auch hier um eine Bearbeitung (Foto Pixabay). Rüdiger Winter

Winter in Frankreich

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Wer heutzutage mit einer neuen Einspielung der Winterreise wahrgenommen werden will, unterliegt gern der Versuchung, etwas Ausgefallenes bieten zu müssen. Der letzte Schrei war eine Version für Bariton (Tobias Berndt), Chor und zwei Akkordeons, erschienen bei Genuin (GEN 23847). Erarbeitet hatte sie Gregor Meyer, der Leiter des Leipziger Gewandhaus-Chores. Mit Frauenpower warfen sich gleich fünf Solistinnen, nämlich Wendeline van Houten, Merlijn Runia, Jannelieke Schmidt, Nikki Treurniet und Ellen Valkenburg, die sich am Königlichen Konservatorium Den Haag kennenlernten und zum Ensemble Coco Collektief zusammenschlossen, für Et’Cetera (KTC 1592) auf den Zyklus. Ihr Pianist Maurice Lammerts van Bueren hatte die Bearbeitung für diese ungewöhnliche Besetzung geschaffen. hat. Er war sich über das Risiko im Klaren. Wenn man die Winterreise, die „für viele Musikliebhaber mehr oder weniger heilig ist, arrangiert“, habe man das Gefühl sich aufs Glatteis zu begeben, vermerkte er im Booklet. „Doch es geht beim Arrangieren selten um ein Verbessern des Originals. Vielmehr geht es um neue Ansätze, um eine Fassung, die neben dem Original bestehen kann.“ Nicht jedes Experiment kann überzeugen. Die US-amerikanische Sängerin Joyce DiDonato ging in ihrer Erato-Einspielung der Frage nach, was denn eigentlich mit ihr ist? Mit dem Mädchen also, welches gleich im ersten Lied der Winterreise von Liebe, während die Mutter gar von Eh‘ und damit wohl auch für ehrbare gesellschaftliche Verhältnisse spricht. Seine Spur verliert sich im Voranschreiten des Liederzyklus. Dichter Wilhelm Müller lässt das Schicksal des Mädchens offen. In der Interpretation ließ sich dieser Ansatz allerdings nicht verdeutlichen.

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Der französische Tenor Cyrille Dubois verzichtet auf alle Experimente und Zutaten, versucht es ganz schlicht, sich nur mit seiner Stimme Gehör zu verschaffen. Und das ist ihm in seiner Aufnahme, die beim französischen Label NoMadMusic herausgekommen ist, nach meinem Eindruck vorzüglich gelungen (NMM 117). Begleitet wird er am Flügel von seiner Landsfrau Anne Le Bozec, die seit 2005 als Professorin für Lied- und Vokalbegleitung am Konservatorium Paris lehrt. Der von ihr entscheidend mitbestimmte Vortrag ist flott, doch nicht gehetzt. Sie lässt sich selbstbewusst durch eigene Lösungen vernehmen, die aber nie in Widerspruch mit der Gesangslinie geraten. Vielmehr hat es den Eindruck, als wandere da am Flügel noch jemand mit. Zwischen Forte und Piano bewegt sich das Ausdrucksspektrum beider Künstler auf verschlungenen Wegen. In diesem Spannungsfeld wird das Geschehen ausgebreitreit. „Nur nicht so laut“, heißt es gleich im ersten Lied. Dieser Einwurf könnte auch ein Motto der Interpretation sein. Nie wirkte die Stimme von Dubois auf mich empfindsamer und feiner als in dieser Aufnahme. Einem Seismograph gleich, reagiert sie gleichermaßen auf äußere und innere Ereignisse. Zwischen den Liedern werden oft auffällig lange Pausen von bis zu acht Sekunden eingelegt, die sich auch als hörerfreundlich erweisen. Dadurch ist der gelegentlich schroffe Wechsel zwischen Schauplätzen und Gemütszuständen gut nachzuvollziehen, ohne dass der Zusammenhalt gefährdet wird. Was aber inhaltlich zusammengehört, rückt auch in der Abfolge, dann nur durch kürzere Pausen getrennt, eng zusammen. Schließlich soll das Publikum an den Lautsprechern oder unter den Kopfhörern auch folgen können. Ich bevorzuge Kopfhörer, weil sie einen die Darbietung noch viel näher bringen kann.

Nicht selten lässt Dubois einzelne Worte trillerhaft erzittern. Was ein Trick sein könnte, um der Dramatik dieses Liederzyklus Herr zu werden, schafft zugleich auch eine stilistische Nähe zum Operngesang, die mich selbst nicht stört, ihm aber auch als grenzwertiges Manko ausgelegt werden könnte. Lyrische Passagen, mit denen die Winterreise in reichem Maße gesegnet ist, gelingen am eindrucksvollsten. Wasserflut, das sechste Lied, das in seiner Darbietung nicht enden will, dürfte nicht nur von mir als eine der mit Abstand besten Leistungen wahrgenommen worden sein. Nicht nur dieses Lied versieht Dubois mit einem impressionistischen Touch, der dem Zyklus sehr gut steht. In solchen Momenten ist er als Sänger ganz Franzose, der ein fabelhaftes Deutsch beherrscht. Sein ganz leichter Akzent stört überhaupt nicht. Im Gegenteil. Wir Deutsche hören es schließlich ganz gern, wenn sich Franzosen unserer Sprache bedienen. In Schlagern, Filmen oder im Theater wurde ein exotischer Kult daraus. Dubois spielt aber nicht damit. Er kann und will nur seine Herkunft nicht verleugnen. Und das ist gut so. Das Cover der Neuerscheinung ist auffällig: Ganz in Weiß die beiden Akteure vor ebensolchem Hintergrund. Mehr als Schnee und Eis assoziiert diese Wahl eine steril-klinische Atmosphäre, wie man sie vom Regietheater kennt. In der Tat verbreitet die Aufnahme eine gewisse Distanz und Kühle. Gefühle werden nur in kleinen Dosen zugelassen. Dubois gibt sich in seiner Interpretation mehr als Erzähler denn als Betroffener.

Im Beiheft der Winterreise in der Bearbeitung von Hans Zender mit dem deutschen Tenor Julian Prégardien (Alpha-Classics), wirft der Musikwissenschaftler Thomas Seedorf gleich mehrere Fragen grundsätzlicher Natur auf, die sich für alle Darbietungen des Werks stellen – auch durch Dubois: „Wie soll man sich die Gestalt des Wanderers vorstellen? Ist er ein junger Mann oder durchläuft er eine Midlife-Krise? Erlebt er das, was er besingt, in der Realität oder nur in seiner Phantasie? Und wie ist mit Schuberts Musik umzugehen? Muss sie vor allem schön gesungen werden? Oder darf sich der Sänger auch erlauben, die Schönheit aufzurauen, Brüche und Risse hörbar werden lassen?“ Auch Dubois versucht sich in künstlerischen Antworten und schlägt sich dabei vortrefflich. Bei dieser Winterreise kann es von Vorteil sein, wenn der Sänger noch relativ jung ist. Denn die transportierten Gefühle und Assoziationen legen sich mit den Lebensjahren. Bei der Aufnahme war er gerade mal sechsunddreißig.

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Im Internet gibt es eine mit Cover-Fotos bebilderte Diskographie von Schuberts Winterreise. Wer geglaubt hatte, alle oder fast alle Aufnahmen zu kennen, wird hier eine Besseren belehrt. Es kommen etwa fünfhundert nachweisbare Dokumente auf diversen Tonträgern zusammen. Einzelne Lieder oder Querschnitte durch das Werk werden mit Quelle gesondert ausgewiesen. In der Frühzeit der Schallplatte und des Konzertbetriebes war es durchaus üblich, dass sich Sängerinnen und Sänger nach Gutdünken bei der Winterreise bedienten. Sogar Kirsten Flagstad – um ein Beispiel zu nennen – hat Die Krähe gesungen. Französische Interpreten sind in dieser Diskographie die Ausnahme. Ein Name aber steht für eine der besten Leistungen in der Aufnahmegeschichte dieses Liederzyklus: Gérard Souzay (1918-2004). Mit seinem ständigen Begleiter, dem amerikanischen Pianisten Dalton Baldwin (1931-2019), verewigte er sich gleich mehrfach – bei Philips 1962 auch in astreinem Stereo. Souzay hatte in Paris neben Musik auch Philosophie studiert, malte und verfasste kunstwissenschaftliche Schriften. Obwohl er auch auf Opernbühnen in Erscheinung trat, blieb der Liedgesang Mittelpunkt seines Wirkens. Er wurde in seiner Zeit gern mit dem sieben Jahre jüngeren Dietrich Fischer-Dieskau verglichen, der künstlerisch ähnlich vielseitig unterwegs war wie Souzay. Es sollte lange dauern, bis sich die Französin Nathalie Stutzmann mit ihrer 2008 bei Calliope (Harmonia Mundi) veröffentlichten Winterreise Gehör verschaffte. Und nun Cyrille Dubois. Es kann nur spekuliert werden, warum deutsches Liedgut – anders als im angelsächsischen Kulturkreis – in Frankreich auf Distanz gehalten wurde. Waren es lediglich sprachliche Hürden? Oder sollte hierbei gar die so genannte deutsch-französische Erbfeindschaft nachgewirkt haben, die erst 1963 mit dem Élysée-Vertrag zwischen beiden Nachbarländern offiziell beigelegt wurde?

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Nicht zuletzt durch die Übermacht des schon erwähnten Fischer-Dieskau auf dem Musikmarkt, der im Laufe seiner langen Karriere an die zehn Winterreisen eingespielt hat, ist der Eindruck entstanden, als seien Baritone und Bässe mit dem Zyklus häufiger dokumentiert als Tenöre. Da ist durchaus etwas dran. Für eine genaue Aussage müssten alle Aufnahmen durchgezählt werden, auch jene in Rundfunkarchiven, die nie veröffentlicht wurden. Ich kann mich nicht entscheiden, welcher Stimmlage ich den Vorzug gebe. Kennengelernt habe ich die Winterreise mit einem Tenor – nämlich mit Peter Anders in der von Michael Raucheisen begleiteten Einspielung des Reichsrundfunks Berlin von 1945, die oft auf Platte, später auch als CD aufgelegt wurde. Ich war sofort angesteckt von der fiebrigen und extrovertierten Darbietung, die keinen Zweifel daran ließ, dass hier einer den Zyklus so singt, als sei ihm die Geschichte des jungen Mannes, der im Dunkeln fremd auszog, und am Ende das Schicksal des einsamen Leiermanns „drüben hinter’m Dorfe“ bauf dem Eis teilt, selbst geschehen. Mit Hans Hotter eröffnete mir ein Heldenbariton eine andere Perspektive, indem er das dramatische Geschehen bis in alle Einzelheiten auslotete, ergründete und deutete – also nicht betont nacherlebend zu Gehör brachte. Dafür ließ er sich viel mehr Zeit als der fast gleichaltrige Kollege. Hotter beförderte Details zutage, über die Anders hinwegsauste. Deshalb ist seine Aufnahme von 1955 mit Gerald Moore am Flügel (EMI) für mich immer maßstäblich geblieben – auch wenn er ziemlich alt und behäbig wirkt. Anders nahm seine Winterreise mit siebenunddreißig Jahren auf, Hotter mit sechsundvierzig.

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Zurück zu den Tenören. Mit dem frühen Tod von Fritz Wunderlich im Jahr 1966 war die Hoffnung dahin, auch von ihm dereinst eine Winterreise hören zu können. Mit seiner berühmten Müllerin – Studio und live – waren Versprechen gegeben. Ein Vakuum entstand nicht. Peter Schreier, der einige Lücken ausfüllte, die der fünf Jahre ältere Wunderlich hinterließ, tat sich schwer mit der Winterreise. Erst Mitte der 1980er Jahre näherte er sich dem Werk an. In dem russischen Pianisten Swjatoslaw Richter hatte er einen passenden Begleiter gefunden. Beide führten den Zyklus 1985 im Moskauer Puschkin-Museum auf. Das Konzert wurde im ZDF übertragen und hat sich in bescheidener Bildqualität bei YouTube erhalten. Hingegen ist ein gemeinsamer Auftritt in der Dresdener Semperoper bei der DDR-Firma Eterna und auch bei Philips herausgekommen. Knapp zehn Jahre später wurde eine Studioeinspielung von Schreier mit András Schiff bei Decca veröffentlicht. Wirkt er in den Mitschnitten noch ziemlich angestrengt, hat er gegen Ende seiner Karriere im Studio schließlich seine Form für dieses Schubert-Werk gefunden. Noch immer klingt Schreier sehr jung. Die Stimme alterte nicht. Mit seinen lyrischen Mitteln zelebrierte er eine stilistisch vorbildlich Winterreise nach den Maßstäben der Hohen Schule des Liedgesangs. Er lässt nur Schubert gelten und tritt bescheiden in den Hintergrund, indem er auf persönliche Akzente verzichtet. Ein Tenor, den man in der Diskographie vergeblich sucht, der aber eine spannende Studioproduktion hinterlassen hat, ist Werner Hollweg. Sie stammt von 1982 und ist beim WDR entstanden, wo sie mit einigen Mühen auch für streng private Verwendung zu beschaffen sein dürfte. Zum Einsatz kommt ein von Roman Ortner gespieltes Hammerklavier mit starkem Nachhall, das die Interpretation dynamisch auflädt. Selten empfand ich das begleitende Instrument so dominant und eigenwillig wie hier. Hollweg hält mit seinem klaren und verschwenderischen Vortrag gut dagegen, dass am Ende ein aufregendes Ergebnis zustande kommt, das seinesgleichen sucht.

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Die Auswahl an verfügbaren Aufnahmen von Tenören ist also durchaus üppig – und auch superb. Aus der historischen Abteilung sind unbedingt Julis Patzak (Preiser), Anton Dermota (Telefunken und Preiser), Ernst Haefliger (Deutsche Grammophon und Claves), Peter Pears (Decca) und Rudolf Schock (Eurodisc) zu nennen. In die Jahre gekommen ist die immer noch frisch wirkende Deutung durch den DDR-Tenor Eberhard Büchner (Eterna). Mit dem Kanadier Jon Vickers (EMI und VAI), dem Schweden Set Svanholm (Andromeda) und René Kollo (Oehms) haben sich auch drei Heldentenöre dem Werk zugewandt ohne allerding herausragende Maßstäbe setzen zu können. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn legte 2013 Jonas Kaufmann seine stimmlich unverkennbare Version bei Sony, mit der er vor allem seinen vielen Fans gefallen haben dürfte. Schließlich wären da noch aus jünger Zeit Pavol Breslik (Orfeo), Markus Schäfer (Cavi Music), Jan Kobow (ATMA), Werner Güra (Harmonia Mundi) und Daniel Behle (Sony), der mit einem interessanten Album punkten konnte, das gleich zwei Fassungen enthielt, einmal das Original und zum anderen den ganzen Zyklus mit Trio-Begleitung. Es ist also viel Bewegung auf dem Markt. Nun ist auch Dubois dazu gekommen. Rüdiger Winter

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Das große Bild oben zeigt einen Ausschnitt aus einer Winterlandschaft von Caspar David Friedrich, dessen 250. Geburtstag 2024 begangen wird. Das Gemälde von 1811 ist in Schwerin zu sehen. / Staatliches Museum Schwerin/ Wikipedia

Grandioses Entertainment

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Bei kaum einem anderen musikalischen Werk unterscheiden sich Aufführungen und folglich auch Einspielungen so sehr voneinander wie bei der Vespro della Beata Vergine, der Marienvesper, von Claudio Monteverdi (1567-1643). Die Gründe dafür liegen in dem Stück selbst, dessen Geschichte noch immer nicht zweifelsfrei erforscht ist. Handelt es sich nun um eine in sich geschlossene Komposition oder um eine Sammlung unterschiedlicher Arbeiten? Auch mit der neuesten Aufnahme von Harmonia Mundi bleibt diese Frage letztlich unbeantwortet (HMM 902710.11). Bestritten wird sie vom Ensemble Pygmalion unter der Leitung von Raphaël Pichon. Der 1984 geborene französische Dirigent sang schon als Kind im Chor der Petits Chanteurs von Versailles, ließ sich auf der Violine und am Klavier ausbilden und absolvierte schließlich ein Studium in Alter Musik, Musiktheorie, Chor- und Orchesterleitung am Pariser Konservatorium. Noch als Student hatte er 2006 Pygmalion gründet. Dieses Ensemble mit dem beziehungsreichen Namen besteht aus einem Chor und einer Instrumentalgruppe. Gepflegt wird schwerpunktmäßig barockes Repertoire, wobei es inzwischen auch Öffnungen hin zur Romantik gibt. Zum Einsatz kommen historisch-authentische Instrumente. Das Ensemble ist mit der Opéra national de Bordeaux verbunden. Es machte mit etlichen aufsehenerregende Produktionen – darunter die Matthäuspassion von Bach sowie Castor et Pollux von Rameau – von sich reden. Aufgenommen wurde die Vesper im Januar 2022 im Temple du Saint-Esprit in Paris, einem Sakralbau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Wahl erwies sich als Glücksfall, denn der Klang ist superb, üppig und in sich gestaffelt. Es gibt einen leichten Nachhall, der aber nicht stört, weil er das Raumgefühl für die Hörer, die sich direkt dabei zu sein wähnen, verstärkt. Wenngleich unter studioähnlichen Bedingen produziert, wirkt das Werk viel unmittelbarer und lebendiger. Als Solisten sind Céline Scheen und Perrine Devillers (Sopran), Lucile Richardot (Mezzo-Sopran), Emiliano Gonzales Toro, Zachary Wilder und Antonin Rodespierre (Tenor) sowie Ètienne Bozalo, Nicolaus Brooymans und Renaud Brès (Bass) dabei. Sie gehen sicher und professionell mit den für sie gewiss nicht einfachen akustischen Verhältnissen um und bewahren sich zugleich ihre sängerische Individualität. Sie bleiben auch im Ensemble stets einzeln vernehmbar. Der Chor besteht aus achtunddreißig Sängern. Sechsundzwanzig Musiker bilden das Orchester.

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Wie bei Harmonia Mundi nicht anders zu erwarten, ist die Ausstattung der Box gediegen ausgefallen. Für das Cover bediente sich die Firma bei der namhaften französischen Malerin Fabienne Verdier und ihrem Gemälde „Air atmosphère“, das sich zu Vergleichszwecken im Booklet maßstabgerecht in seiner originalen Ausführung findet. Durch diese Illustration wird mit dem Werk eine Dimension assoziiert, die sich durchaus einstellen kann. Wer sich darauf einlässt, den zieht es – ähnlich der Darstellung – für die nächsten gut anderthalb Stunden tatsächlich wie in einen Wirbel hinein. Die Neuerscheinung hat Sogwirkung. Trotz ihrer Eingängigkeit ist die Marienvesper nichts für nebenbei. Wie formulierte es einmal ein Kritiker? Bei Raphaël Pichon sollte man unbedingt die Augen geschlossen halten. Es kann aber auch nicht verkehrt sein, hin und wieder einen Blick in den Text zu werfen, der im umfangreichen Wortteil auch in deutscher Übersetzung geboten wird, typographisch so angeordnet, dass es ein Leichtes ist, dem Inhalt zu folgen – in seiner Gottesfürchtigkeit, die keinen Widerspruch zu den Wonnen des Lebens darstellen muss. In der Marienvesper wird auch die Liebe gefeiert, nämlich dann, wenn beispielsweise im Concerto „Nigra sum“ die Rede davon ist, dass der König die braune Schönheit liebt und sie mit folgenden Worten in sein Schlafgemach führt: „Steh auf, meine Freundin und komm her!“

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Claudio Monteverdi gemalt von Bernardo Strozzi um 1630 / Wikipedia

Die Werkgeschichte legt im Booklet der Musikwissenschaftler und Monteverdi-Kenner Denis Morrier ausführlich dar. Danach hat im September 1610, also zwanzig Jahre nach Monteverdis Ankunft in Mantua, wo er von 1590 bis 1612 wirkte, der Drucker Ricciardo Amadino in Venedig eine einzige Sammlung veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass der Komponist bei den Gonzagas, der Herrscherfamilie des Herzogtums in der Lombardei, auch im sakralen Bereich tätig war. Diese Edition enthalte zwei Zyklen von liturgischen Werken, die sich stilistisch unterscheiden und auch verschiedenen Zwecken dienten: „Eine polyfone Messe da cappella für sechs Stimmen (die Missa in illo tempore) und vierzehn Kompositionen für die Vesper, deren heute üblicher Titel Vespro della Beata Vergine nur im (einzigen) Stimmbuch des Generalbasses“ erscheine. Während mehrere Aufführungen der Missa dokumentiert seien, gebe es keine entsprechenden Zeugnisse für die Vesper. Einige Forscher würden die Auffassung vertreten, dieses Werk sei für die Hochzeit des Kronprinzen Francesco Gonzaga geschrieben, die im Jahr 1608 stattfand. „Andere verweisen auf die ein Jahr später erfolgte Taufe von dessen Tochter Maria und den Zusammenhang zwischen ihrem Vornamen und der Adressatin der Sammlung.“ Vor etwa vierzig Jahren entwickelten Morrier zufolge die Musikforscher Graham Dixon und Paola Bessuti die Idee, wonach die Stücke nicht für einen der sieben der Seligen Jungfrau Maria gewidmeten Festtage des liturgischen Kalenders bestimmt gewesen sind, sondern vielmehr für die der heiligen Barbara, der christlichen Jungfrau und Märtyrerin. Keine dieser Hypothesen sei jemals bestätigt worden. Eine weitere, die wahrscheinlicher sei, bringt Morrier in seinem (dreisprachigen!) Booklet-Text vor: „Die Uneinheitlichkeit des Vespro bezüglich Stil, Form und Modi lässt bezweifeln, dass seine fünf Psalmen, der Hymnus Ave Maris Stella und die beiden Versionen des Magnificat (einmal mit, einmal ohne konzertante Instrumente) einen kohärenten Zyklus bilden könnten, der für eine bestimmte Vesper gedacht war. Es könnte also eher zutreffen, dass Monteverdi einfach in Gestalt eines ,Werks‘ mit dem Titel Vespro della Beata Vergine eine Anthologie separater, für unterschiedliche Zwecke komponierter Stücke für die Vesper drucken ließ, aus denen die Musiker der ,Kapellen oder fürstlichen Gemächer‘ (wie auf dem Titelblatt zu lesen ist) frei die jeweils passenden Werke auswählen konnten, je nach den Gegebenheiten des liturgischen Kalenders und den Kräften, die für den Einsatz zur Verfügung standen.“

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Und weiter ist zu erfahren, dass Monteverdis Sammlung von 1610 mit ungewöhnlicher Sorgfalt und Detailgenauigkeit gedruckt wurde. Sie besteht aus sieben separaten Bänden, über die sich alle Vokal- und Instrumentalstimmen verteilen. Die Ausarbeitung der Stimmhefte lassen auf eine bestimmte räumliche Aufstellung der ausführenden Musiker schließen – Doppelchor um eine einzelne Orgel herum. Nach Morrier folgt sie genau den architektonischen Charakteristika der Kirche Santa Barbara in Mantua. Auch gehe aus ihnen hervor, dass die Stücke wohl für ein Ensemble aus solistischen Sängern und Instrumentalisten gedacht waren. Dafür spreche die Virtuosität der Gesangs- und Instrumentalpartien, insbesondere im Dixit Dominus, dem Laetatus sum und dem Laudate Pueri, dem Monteverdi übrigens die Überschrift „für acht Solostimmen mit Orgel“ gegeben habe. Die Vokalstimmen seien alle mit einer Widmung an Papst Paul V. geborener Camillo Borghese, (1552-1621) versehen. Auch wenn die Hommage nach Rom ziele und die Edition venezianisch sei, bleibe die Sammlung inhaltlich mit Mantua verbunden, was etwa der Rückgriff auf die berühmte Toccata bestätigt, die L’Orfeo einleitet. Morrier: „Diese Fanfare – ein veritables akustisches Wahrzeichen der Gonzaga – eröffnete Monteverdis erste Oper bei der Uraufführung in Mantua im Jahr 1607.“

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Raphaël Pichon dirigiert die neue Aufnahme / Wikipedia

Der Dirigent Raphaël Pichon selbst kommt im Booklet ebenfalls zu Wort – und zwar in einem Dialog mit Jean-Clement Guez, dem Rektor der Kathedrale Saint-André von Bordeaux, wo Aufführungen der Marienvesper mit – wie es heißt – spezieller Gestaltung von Raum und Licht stattfanden. „Die Partitur ist überaus fein ausgearbeitet, sie ist wie ein Uhrwerk und zeugt von höchster Meisterschaft im Umgang mit Harmonik und Form, aber auch von theologischem Sachverstand“, sagt er. Dabei lasse sie uns Interpreten unbedingt auch Freiräume. „Dank der Vorarbeit der Pioniere der Barockmusik haben wir gelernt, die Partitur, die nach den damaligen Regeln geschrieben wurde, ,geschmeidig‘ zu machen. Aber es bleiben Fragen, die wir aufgrund von maßgeblichen künstlerischen Entscheidungen über die Interpretation beantworten müssen.“ Das Werk könne zum Beispiel mit einfach besetzten Instrumenten gespielt werden oder in einer mehr funkelnden, chormäßigen und wuchtigeren Version. Übrigens gebe Monteverdi eine gewisse Anzahl obligater Instrumente an, doch es fänden sich immer noch sehr viele Stellen, wo nichts vorgeschrieben sei. Wie unterstütze man also die Stimmen und wie gebe man ihnen mit welchen Instrumenten Farbe? In dem Dialog spricht der Dirigent auch von Zweifeln hinsichtlich der Einheitlichkeit des Klangs. Zweifel, die sich beim hören als spannungsgeladenes Erlebnis mitteilen (Abbildung oben: Fresco von Andrea Mantegna im Castello di San Giorgio zu Mantua/Camera degli Sposi/Wikipedia). Rüdiger Winter