Augenzeuge Johannes

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Als Schriftsteller ist Friedrich Rochlitz (1769-1842) in der berühmten Inselbücherei verewigt. Mit dem Titel „Tage der Gefahr“ wurde 1913 sein Tagebuch der Leipziger Völkerschlacht als Bändchen Nr. 17 veröffentlicht. 1988 kam eine neue Auflage heraus. Seine anderen Schriften gerieten in Vergessenheit. Da er mit vielen seiner berühmten Zeitgenossen wie Goethe, Schiller, Wieland oder Hoffmann in Kontakt stand, taucht sein Name ehr in gedruckten Briefwechseln und in der Literaturwissenschaft häufiger als auf Buchdeckeln auf. Bekannt war er auch mit dem Komponisten Louis Spohr. Der Text seines Passionsoratorium Des Heilands letzte Stunden stammt von Rochlitz. Um das zu erfahren muss man in der neuen Aufnahme, die bei Carus (83.540) herausgekommen ist, bis zum Text im Booklet vordringen. Auf den Aufschlagseiten bleibt der Librettist, der in Wien auch Beethoven und Schubert begegnete, unerwähnt. Mit dem goldfarbenen Aufkleber „Welt-Ersteinspielung“ schmückte sich ein Plattenalbum des Werkes, das 1984 von der Internationalen Spohr-Gesellschaft als Mitschnitt aus Wiesbaden veröffentlicht  wurde und noch immer antiquarisch zu finden ist. Auch die neue Aufnahme beruht auf einem Konzert vom 31. Oktober 2023 im Bremer Konzerthaus „Die Glocke“, das vom Deutschlandfunk Kultur übertragen wurde. Anlass war die Gründung der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen vor dreißig Jahren. Mit dabei der Kammerchor Stuttgart, der von Frieder Bernius, dem Dirigenten des Oratoriums, gegründet wurde. Alles in allem ist der Live-Klang gut. Hin und wieder treten die Pauken zu stark hervor. Kommen Orchester und Chor in dramatischen Passagen gleichzeitig zum Einsatz, verlieren die Strukturen an Klarheit. Es machen greifen Dumpfheit und Gräue um sich, was nicht gewollt sein kann.

Textdichter Friedrich Rochlitz (1769-1842) auf einem Aquarell von Veit Hans Friedrich Schnorr von Carolsfeld / Wikipedia

„Das Passionsoratorium ist mit Blick auf seine textliche wie musikalische Gestaltung in mehrerer Hinsicht besonders“, vermerken Dominik Höink und Regina Werbick in ihren ausführlichen und faktenreichen Beitrag für das Booklet, in dem alle beteiligten in Wort und Bild vorgestellt werden und auch das Libretto abgedruckt ist. Obschon Rochlitz verschiedene Figuren vorsehe, die gleichsam als Beteiligte das Passionsgeschehen miterlebbar machten, handele es sich nicht um ein dramatisches Oratorium. Emotionale Interaktionen zwischen den Figuren fehlten weitestgehend. Vielmehr werde die Komposition zu Recht als „lyrisch-dramatischer Mischtyp“ bezeichnet. „Die Funktion eines Erzählers übernimmt Johannes, jedoch nicht als auktorialer Erzähler, sondern als Beteiligter, als Augenzeuge. Ungewöhnlich ist sodann der Beginn des Werkes. Zu erwarten wäre, wie in zahlreichen anderen Passionsvertonungen, ein Einbezug der Abendmahlserzählung“, so die Autoren.

Indes beginne das Werk mit dem Chor der Freunde und Freundinnen Jesu, der auf die Gethsemaneszene Bezug nehme. Mit einem Rezitativ des Johannes werde der Ortswechsel hin zum Palast des Hohepriesters vollzogen. „In der nachfolgenden Gerichtsszene erscheint Pilatus nicht, was gravierende Auswirkungen auf die Rolle der jüdischen Protagonisten hat. Dadurch ergibt sich zunächst eine Zuspitzung des dramatischen Geschehens, jedoch wird das Gericht über Jesus zugleich zu einer rein jüdischen Angelegenheit.“ Kaiphas allein trage die Verantwortung für den Tod Jesu. An dieser Figurenkonstellation sowie weiteren Stellen im Libretto zeigten sich, wie auch bei anderen Oratorien des 19. Jahrhunderts, antijüdische Elemente, heißt es in dem Text. Und weiter: „Gelegentlich wurde die in das Oratorium aufgenommene, nicht-biblische Figur des Philo mit Pilatus gleichgesetzt, was nicht plausibel ist. Vielleicht ist hier ein Rekurs auf Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias-Dichtung zu erkennen, in dem ebenfalls eine Philo-Figur erscheint.“ Mit Blick auf die Musik sei zunächst bemerkenswert, dass Spohr gänzlich auf den Einsatz von Chorälen verzichte und damit nicht, wie etwa Mendelssohn in seinem Paulus, der Tradition Bachscher Passionen folge. Darüber hinaus sei auf die Verwendung von regelrechten Auftrittsarien verwiesen. „Obschon vielfach kontrapunktische Gestaltung die Nummern prägt und bisweilen Einflüsse barocker Vorbilder, etwa die Oratorien Georg Friedrich Händels oder die Bachschen Passionen, ausgemacht worden sind, so ist der persönliche Stil Spohrs jedoch unverkennbar, weshalb Des Heilands letzte Stunden mit einiger Berechtigung als herausragendes Passionsoratorium des 19. Jahrhunderts gelten kann“, vermerken beide Autoren.

Das Oratorium verlangt acht Solisten, denen die handelnden Figuren zugeordnet sind. Als Maria ist Johanna Winkel mit innigem Sopran als einzige Sängerin im Männerensemble zu hören. Florian Sievers (Tenor) bringt die zahlreichen Rezitative des Johannes mit großer Klarheit und Deutlichkeit zum Vortrag. Maximilian Vogler (Tenor) ist Jesus, Arttu Kataja (Bass) Petrus, Thomas E. Bauer (Bariton) Judas, Felix Rathgeber (Bariton) Kaiphas und Magnus Piontek (Bass) Philo. Rüdiger Winter