Diese Uhr tickt anders

.

Mythos. In ihrer äußerlichen Aufmachung gibt sich die CD geheimnisvoll wie der Inhalt. Wie in einer Opernszene von Wagner treten der Sänger Konstantin Krimmel und seine Pianist Ammiel Bushakevitz aus dem Nebel hervor. Sie kommen nicht, und sie gehen nicht. Sie sind nur da. Für den Titel der Neuerscheinung bei Alpha-Classics in Zusammenarbeit mit BR Klassik wurde eine treffliche Illustration gefunden (Alpha 1088). Es bestätigt sich die alte Erfahrung, dass das Auge mithört. Und das nicht nur in Bezug auf die Optik des Covers. Auch das musikalische Programm hat starke bildhafte Züge. Geboten werden Lieder und Balladen von Franz Schubert und Carl Loewe als Mythen der Romantik mit den auch im Boooklet aufgezählten typischen Themen Leidenschaft, Einsamkeit, Sehnsucht, Weltschmerz, Eskapismus, Tod. Es kann von Vorteil sein, wenn ein Interpreten-Duo wie der deutsche Bariton und sein israelisch-südafrikanische Liedbegleiter derselben Generation angehören. Beide sind unter vierzig, also vergleichsweise jung. Sie schleppen nicht solche Vorbehalte mit sich herum, die auch dazu führten, dass bei der Bewahrung und Aneignung musikalischen Erbes manches unter den Tisch fiel oder gar vorschnell ausgesondert wurde. Sie sind neugierig und in Entdeckerlaune, wollen sich ganz offensichtlich eigene Urteile bilden, prüfen, was für die Gegenwart taugt und was nicht. Für den Komponisten Loewe ist das ein Glücksfall. In zunehmendem Maße wird er wieder gesungen, aufgeführt und eingespielt. Auch sein oratorisches Werk mit seinen spannenden musikdramatischen Zügen, die den verhinderten Opernkomponisten verraten – dem Kirchenmusiker Loewe war es qua Amt untersagt, entsprechende Werke zu schaffen – kommt mehr und mehr live und im Studios zur Geltung.

Das war nicht immer so. So galt die Ballade Die Uhr, mit der die CD-Auswahl selbstbewusst abgeschlossen und zugleich abgerundet wird, bis in die jüngste Vergangenheit als Inkarnation eines betulichen Musikverständnisses, das sich jeder Veränderung verweigerte. Nicht von ungefähr ist die mit Beginn der zwanzigsten Jahrhunderts einsetzende Liste der Aufnahmen länger als die anderer Balladen Loewes. Richard Tauber hat mit seiner vom Salonorchester verzuckerten Einspielung Generationen nach ihm den Zugang zu dem populären Stück verdorben, dessen Textdichter Johann Gabriel Seidl (1804-1875), der die österreichischen Kaiserhymne von 1854 „Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land!“ dichtete, kein Neuerer gewesen ist. Krimmel entlockt der Uhr ihre faszinierende Melodie und erzählt eine Geschichte, die den im 19. Jahrhundert weit verbreiteten zyklischen Gedanken des menschlichen Lebens von der Wiege bis zur Bahre aufgreift. Er trägt sie so vor, dass die Spannung von Vers zu Vers steigt und man unbedingt das Ende wissen will – egal, ob man es nun längst kennt oder nicht. Wie wenn man sich immer wieder einen Lieblingsfilm anschaut.

Sein Pianist Ammiel Bushakevitz lässt das Uhrwerk betont verfremdet in den Saiten klingen, so dass die gereimten Worte durch die pointierte Begleitung unerwartet modern wirken. Beider Zusammenspiel  bewährt sich auch bei den anderen Loewe-Balladen – darunter Archibald Douglas, Meerfahrt, Totentanz, Süßes Begräbnis – und freilich bei Franz Schubert. Der eröffnet das CD-Programm mit dem König in Thule nach Goethe. Eine Ballade, in der die Interpreten die Spannung ebenfalls bis zum Schluss halten. Dies ist nur deshalb möglich, weil der Sänger in perfektem Deutsch singt. Mit der neuen CD hat sich Krimmel als Liedsänger weiter profiliert (17.01.25). Rüdiger Winter