Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Grandioses Entertainment

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Bei kaum einem anderen musikalischen Werk unterscheiden sich Aufführungen und folglich auch Einspielungen so sehr voneinander wie bei der Vespro della Beata Vergine, der Marienvesper, von Claudio Monteverdi (1567-1643). Die Gründe dafür liegen in dem Stück selbst, dessen Geschichte noch immer nicht zweifelsfrei erforscht ist. Handelt es sich nun um eine in sich geschlossene Komposition oder um eine Sammlung unterschiedlicher Arbeiten? Auch mit der neuesten Aufnahme von Harmonia Mundi bleibt diese Frage letztlich unbeantwortet (HMM 902710.11). Bestritten wird sie vom Ensemble Pygmalion unter der Leitung von Raphaël Pichon. Der 1984 geborene französische Dirigent sang schon als Kind im Chor der Petits Chanteurs von Versailles, ließ sich auf der Violine und am Klavier ausbilden und absolvierte schließlich ein Studium in Alter Musik, Musiktheorie, Chor- und Orchesterleitung am Pariser Konservatorium. Noch als Student hatte er 2006 Pygmalion gründet. Dieses Ensemble mit dem beziehungsreichen Namen besteht aus einem Chor und einer Instrumentalgruppe. Gepflegt wird schwerpunktmäßig barockes Repertoire, wobei es inzwischen auch Öffnungen hin zur Romantik gibt. Zum Einsatz kommen historisch-authentische Instrumente. Das Ensemble ist mit der Opéra national de Bordeaux verbunden. Es machte mit etlichen aufsehenerregende Produktionen – darunter die Matthäuspassion von Bach sowie Castor et Pollux von Rameau – von sich reden. Aufgenommen wurde die Vesper im Januar 2022 im Temple du Saint-Esprit in Paris, einem Sakralbau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Wahl erwies sich als Glücksfall, denn der Klang ist superb, üppig und in sich gestaffelt. Es gibt einen leichten Nachhall, der aber nicht stört, weil er das Raumgefühl für die Hörer, die sich direkt dabei zu sein wähnen, verstärkt. Wenngleich unter studioähnlichen Bedingen produziert, wirkt das Werk viel unmittelbarer und lebendiger. Als Solisten sind Céline Scheen und Perrine Devillers (Sopran), Lucile Richardot (Mezzo-Sopran), Emiliano Gonzales Toro, Zachary Wilder und Antonin Rodespierre (Tenor) sowie Ètienne Bozalo, Nicolaus Brooymans und Renaud Brès (Bass) dabei. Sie gehen sicher und professionell mit den für sie gewiss nicht einfachen akustischen Verhältnissen um und bewahren sich zugleich ihre sängerische Individualität. Sie bleiben auch im Ensemble stets einzeln vernehmbar. Der Chor besteht aus achtunddreißig Sängern. Sechsundzwanzig Musiker bilden das Orchester.

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Wie bei Harmonia Mundi nicht anders zu erwarten, ist die Ausstattung der Box gediegen ausgefallen. Für das Cover bediente sich die Firma bei der namhaften französischen Malerin Fabienne Verdier und ihrem Gemälde „Air atmosphère“, das sich zu Vergleichszwecken im Booklet maßstabgerecht in seiner originalen Ausführung findet. Durch diese Illustration wird mit dem Werk eine Dimension assoziiert, die sich durchaus einstellen kann. Wer sich darauf einlässt, den zieht es – ähnlich der Darstellung – für die nächsten gut anderthalb Stunden tatsächlich wie in einen Wirbel hinein. Die Neuerscheinung hat Sogwirkung. Trotz ihrer Eingängigkeit ist die Marienvesper nichts für nebenbei. Wie formulierte es einmal ein Kritiker? Bei Raphaël Pichon sollte man unbedingt die Augen geschlossen halten. Es kann aber auch nicht verkehrt sein, hin und wieder einen Blick in den Text zu werfen, der im umfangreichen Wortteil auch in deutscher Übersetzung geboten wird, typographisch so angeordnet, dass es ein Leichtes ist, dem Inhalt zu folgen – in seiner Gottesfürchtigkeit, die keinen Widerspruch zu den Wonnen des Lebens darstellen muss. In der Marienvesper wird auch die Liebe gefeiert, nämlich dann, wenn beispielsweise im Concerto „Nigra sum“ die Rede davon ist, dass der König die braune Schönheit liebt und sie mit folgenden Worten in sein Schlafgemach führt: „Steh auf, meine Freundin und komm her!“

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Claudio Monteverdi gemalt von Bernardo Strozzi um 1630 / Wikipedia

Die Werkgeschichte legt im Booklet der Musikwissenschaftler und Monteverdi-Kenner Denis Morrier ausführlich dar. Danach hat im September 1610, also zwanzig Jahre nach Monteverdis Ankunft in Mantua, wo er von 1590 bis 1612 wirkte, der Drucker Ricciardo Amadino in Venedig eine einzige Sammlung veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass der Komponist bei den Gonzagas, der Herrscherfamilie des Herzogtums in der Lombardei, auch im sakralen Bereich tätig war. Diese Edition enthalte zwei Zyklen von liturgischen Werken, die sich stilistisch unterscheiden und auch verschiedenen Zwecken dienten: „Eine polyfone Messe da cappella für sechs Stimmen (die Missa in illo tempore) und vierzehn Kompositionen für die Vesper, deren heute üblicher Titel Vespro della Beata Vergine nur im (einzigen) Stimmbuch des Generalbasses“ erscheine. Während mehrere Aufführungen der Missa dokumentiert seien, gebe es keine entsprechenden Zeugnisse für die Vesper. Einige Forscher würden die Auffassung vertreten, dieses Werk sei für die Hochzeit des Kronprinzen Francesco Gonzaga geschrieben, die im Jahr 1608 stattfand. „Andere verweisen auf die ein Jahr später erfolgte Taufe von dessen Tochter Maria und den Zusammenhang zwischen ihrem Vornamen und der Adressatin der Sammlung.“ Vor etwa vierzig Jahren entwickelten Morrier zufolge die Musikforscher Graham Dixon und Paola Bessuti die Idee, wonach die Stücke nicht für einen der sieben der Seligen Jungfrau Maria gewidmeten Festtage des liturgischen Kalenders bestimmt gewesen sind, sondern vielmehr für die der heiligen Barbara, der christlichen Jungfrau und Märtyrerin. Keine dieser Hypothesen sei jemals bestätigt worden. Eine weitere, die wahrscheinlicher sei, bringt Morrier in seinem (dreisprachigen!) Booklet-Text vor: „Die Uneinheitlichkeit des Vespro bezüglich Stil, Form und Modi lässt bezweifeln, dass seine fünf Psalmen, der Hymnus Ave Maris Stella und die beiden Versionen des Magnificat (einmal mit, einmal ohne konzertante Instrumente) einen kohärenten Zyklus bilden könnten, der für eine bestimmte Vesper gedacht war. Es könnte also eher zutreffen, dass Monteverdi einfach in Gestalt eines ,Werks‘ mit dem Titel Vespro della Beata Vergine eine Anthologie separater, für unterschiedliche Zwecke komponierter Stücke für die Vesper drucken ließ, aus denen die Musiker der ,Kapellen oder fürstlichen Gemächer‘ (wie auf dem Titelblatt zu lesen ist) frei die jeweils passenden Werke auswählen konnten, je nach den Gegebenheiten des liturgischen Kalenders und den Kräften, die für den Einsatz zur Verfügung standen.“

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Und weiter ist zu erfahren, dass Monteverdis Sammlung von 1610 mit ungewöhnlicher Sorgfalt und Detailgenauigkeit gedruckt wurde. Sie besteht aus sieben separaten Bänden, über die sich alle Vokal- und Instrumentalstimmen verteilen. Die Ausarbeitung der Stimmhefte lassen auf eine bestimmte räumliche Aufstellung der ausführenden Musiker schließen – Doppelchor um eine einzelne Orgel herum. Nach Morrier folgt sie genau den architektonischen Charakteristika der Kirche Santa Barbara in Mantua. Auch gehe aus ihnen hervor, dass die Stücke wohl für ein Ensemble aus solistischen Sängern und Instrumentalisten gedacht waren. Dafür spreche die Virtuosität der Gesangs- und Instrumentalpartien, insbesondere im Dixit Dominus, dem Laetatus sum und dem Laudate Pueri, dem Monteverdi übrigens die Überschrift „für acht Solostimmen mit Orgel“ gegeben habe. Die Vokalstimmen seien alle mit einer Widmung an Papst Paul V. geborener Camillo Borghese, (1552-1621) versehen. Auch wenn die Hommage nach Rom ziele und die Edition venezianisch sei, bleibe die Sammlung inhaltlich mit Mantua verbunden, was etwa der Rückgriff auf die berühmte Toccata bestätigt, die L’Orfeo einleitet. Morrier: „Diese Fanfare – ein veritables akustisches Wahrzeichen der Gonzaga – eröffnete Monteverdis erste Oper bei der Uraufführung in Mantua im Jahr 1607.“

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Raphaël Pichon dirigiert die neue Aufnahme / Wikipedia

Der Dirigent Raphaël Pichon selbst kommt im Booklet ebenfalls zu Wort – und zwar in einem Dialog mit Jean-Clement Guez, dem Rektor der Kathedrale Saint-André von Bordeaux, wo Aufführungen der Marienvesper mit – wie es heißt – spezieller Gestaltung von Raum und Licht stattfanden. „Die Partitur ist überaus fein ausgearbeitet, sie ist wie ein Uhrwerk und zeugt von höchster Meisterschaft im Umgang mit Harmonik und Form, aber auch von theologischem Sachverstand“, sagt er. Dabei lasse sie uns Interpreten unbedingt auch Freiräume. „Dank der Vorarbeit der Pioniere der Barockmusik haben wir gelernt, die Partitur, die nach den damaligen Regeln geschrieben wurde, ,geschmeidig‘ zu machen. Aber es bleiben Fragen, die wir aufgrund von maßgeblichen künstlerischen Entscheidungen über die Interpretation beantworten müssen.“ Das Werk könne zum Beispiel mit einfach besetzten Instrumenten gespielt werden oder in einer mehr funkelnden, chormäßigen und wuchtigeren Version. Übrigens gebe Monteverdi eine gewisse Anzahl obligater Instrumente an, doch es fänden sich immer noch sehr viele Stellen, wo nichts vorgeschrieben sei. Wie unterstütze man also die Stimmen und wie gebe man ihnen mit welchen Instrumenten Farbe? In dem Dialog spricht der Dirigent auch von Zweifeln hinsichtlich der Einheitlichkeit des Klangs. Zweifel, die sich beim hören als spannungsgeladenes Erlebnis mitteilen (Abbildung oben: Fresco von Andrea Mantegna im Castello di San Giorgio zu Mantua/Camera degli Sposi/Wikipedia). Rüdiger Winter

Sehnsucht nach Ferne

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Im Werk von Carl Loewe werden auch exotische Themen angeschlagen – vornehmlich in den Balladen, die im Zentrum seines Schaffens stehen. Opus 111 widmete sich einen Papagei. Dieser aus Südamerika stammende Vogel, dessen Haltung einst dem Adel vorbehalten war, zog zu Loewes Zeit als beliebtes Haustier auch in bürgerlichen Kreisen ein. Wer mit den Balladen etwas näher vertraut ist, kennt auch den nach Europa verschleppten Mohrenfürsten aus den vertonten Gedichten von Ferdinand Freiligrath, der als junger Dichter in Amsterdam die einst in ganz Europa beliebten Völkerschauen miterlebte. Inzwischen zu Recht verpönt, befriedigten sie bei guten Einnahmen das wachsende Interesse an unbekannten Erdteilen. Die alte Welt nahm von der neuen Welt Besitz. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln verließen im 19. Jahrhundert etwa 52 Millionen Menschen Europa, 32 Million davon in Richtung USA. Dabei stellten Deutsche zwischen 1850 und 1890 die zahlenmäßig größte Gruppe. Loewe, der gern reiste, dürfte diese Entwicklungen in seiner Wahlheimatstadt Stettin genau verfolgt haben. Schließlich hatte er es nicht weit bis zur Ostsee.

1854, auf einem Höhepunkt der Auswanderung, entstanden seine Vier Phantasien op. 137 für Klavier. Ihre Themen sind der Abschied des Auswanderers, die Meerfahrt, die Prärie und seine neue Heimat. Loewe versetzt sich musikalisch bildhaft in die Situation. Zu hören ist Aufbruchstimmung, in die sich auch Wehmut, Trennungsschmerz und Zweifel mischen. Am Ende aber, so scheint es, ist der Auswanderer auch deshalb gut an seinem fernen Ziel angekommen, weil er die Lieder aus der alten Heimat, die ihm Vertrauen und Halt geben, mitgenommen hat. Die Komposition prägt mit fast siebenunddreißig Minuten die neue CD seiner kompletten Klaviermusik bei Toccata Classics (TOCC 0690). Außerdem sind die Tondichtung für das Pianoforte Der barmherzige Bruder, die Grande Sonate Èlegique – die so genannte Liebessonate – sowie drei für das Klavier feinsinnig transkribierte Lieder – Sehnsucht, Die schlanke Wasserlilie und Stille Liebe – durch die Pianisten Linda Nicholson, die die gesamte Edition bestreitet, im Angebot. Damit ist die Sammlung bei Vol. 3 angelangt. Bei der Einspielung handelt es sich wiederum um eine Übernahme vom WDR, wo auch die Aufnahme erfolgte. Wie schon bei der Vol. 2 (TOCC 0489) kommt ein Piano Erard, Paris 1839, zum Einsatz, bei Vol. 1 (TOCC 0278) war es ein Instrument der Londoner Klavierbauer-Brüder Collard & Collard von 1850. Die Engländerin Nicolson spielt ihr breit angelegtes Repertoire, das vom Barock bis zu Frühklassik reicht, am liebsten auf Instrumenten aus der jeweiligen Zeit. Sie legt Wert auf Authentizität.

Wenn also eine deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt eigene Aufnahmen einem Label in England zur Verfügung stellt, was ist das? Im besten Fall kulturelle Globalisierung. Im schlimmsten Fall hat sich für Carl Loewes Klaviermusik in seinem Heimatland keine Firma gefunden. Wie dem auch sei, Toccata Classics mit Sitz in London hat ein gutes Werk für den Komponisten getan, der immer noch zu sehr auf seine Balladen festgelegt wird, was sich aber langsam aber sicher ändert. Das Programm der zweiten CD enthält vier Stücke – Der Frühling, Eine Tondichtung in Sonatenform, die Biblischen Bilder, die Grande Sonate Brillante Es-Dur sowie die Abendfantasie. Die erste CD bot die Zigeuner-Sonate, die Tondichtung Mazeppa, die Große Sonate in E-Dur und die Alpenfantasie. Loewes Klaviermusik sprudelt über vor musikalischen Einfällen. Ein Gedanke jagt den anderen, so dass mitunter der Eindruck entsteht, Ausführung und Ausformung der einzelnen Themen kämen zu kurz. Das gilt auch für die großen Sonaten. Es spricht ein starker musikalischer Mitteilungsdrang aus dieser Klaviermusik. Sie prägt sich deshalb rasch ein und kann durchaus auch mal nebenbei gehört werden.

Es stellt sich manche Ähnlichkeit mit den Balladen ein. So würde es einen nicht wundern, wenn bei den Biblischen Bildern plötzlich ein Sänger hinzuträte. Für Mazeppa braucht Loewe keine zehn Minuten. Er wurde durch die literarische Vorlage von Lord Byron inspiriert, die 1819 erschienen war – gut zehn Jahre bevor sich Loewe an seine Komposition machte. Liszt kam mit seiner sinfonischen Dichtung, die auf ein Gedicht von Victor Hugo zurückgeht, mehr als zwanzig Jahre danach. Tschaikowski beschäftigte sich mit dem Stoff noch viel später. Seine Oper, die einem Gedicht von Puschkin folgt, wurde 1884 uraufgeführt. Mazeppa, längst zum Hetman, also zum Führer des Kosakenheeres aufgestiegen, ist in die Jahre gekommen und liebt eine junge Frau, die seine Tochter sein könnte. Im Gegensatz zu Tschaikowski wenden sich Liszt und Loewe der legendenumwobenen, rasanten Vorgeschichte zu, die auch Maler zu dramatischen Gemälden inspirierte. Mazeppa war als Page an den Hof des polnischen Königs Johann Kasimir gekommen, der auch über ukrainische Provinzen gebot. Er genoss das Vertrauen des Königs, wurde mit vielen Missionen betraut, schließlich aber hart bestraft, als er in sehr vertraulichem Umgang mit der Gattin eines einflussreichen Magnaten überrascht wurde. Dieser soll ihn nackt auf den Rücken seines eigenen Pferdes gebunden haben, das fortan durch die Steppe raste. Nach wenigen Tagen stirbt das Pferd, Mazeppa aber wird völlig entkräftet von Kosaken gerettet, zu deren Heerführer er aufstieg. Ähnlich Liszt, der dazu ein großes Orchester zur Verfügung hatte, schildert Loewe ausschließlich den verhängnisvollen Ritt.

Das Klavier rast, dem Pferde gleich. Selbst dann, wenn sich die Musik dem Helden, seinen Gedanken, Nöten und Ängsten zuwendet, ist der Hintergrund von Unrast erfüllt. Es ist ganz erstaunlich, wie viel Dramatik und Bildhaftigkeit Loewe aus seinem Instrument herausholen kann – auch hier ganz der Geschichtenerzähler. Mit der Toccata-Edition ist wieder ein Schritt getan, der Veröffentlichung aller gedruckten Werke Loewes auf Tonträgern näher zu kommen. Rüdiger Winter

Licht und Schatten

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Der Tenor Richard Resch sucht – und findet einen auffällig traditionellen Interpretationsansatz für seine Aufnahme der Winterreise von Franz Schubert. Sie ist bei Da Vinci Classics erschienen (C00763). Begleitet wird er vom brasilianisch-amerikanischen Pianisten Diego Caetano. Der Sänger lässt sich Zeit, er hetzt nicht durch Noten und Text. Es ist ihm wichtig, verstanden zu werden. Und das wird er auch. Resch singt eine leise Winterreise, vermeidet Härten und grelle Ausschweifungen. Sein Wanderer ist von sanfter Natur. Mitunter etwas zu sanft. Er wehrt sich gegen nichts. Kein Wunder, dass die Geschichte endet wie sie endet – in Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Die Details im Vortrag sind diskret und fein ausgearbeitet und entsprechen wohl auch den technischen Möglichkeiten seines lyrischen Tenors. Der Begleiter folgt ihm bei diesem Konzept.

In Regensburg geboren, erhielt Resch seine erste musikalische Ausbildung am humanistischen Musikgymnasium der Domspatzen, wobei er von Anfang an mit einem breiten musikalischen Repertoire in Berührung kam und mit vielen namhaften Künstlern zusammenarbeiten durfte, ist auf seiner Homepage zu lesen. Nach seinem Abitur habe er zunächst Elementare Musikpädagogik, Klavier- und Gesangspädagogik an der Hochschule für Musik Nürnberg-Augsburg studiert. Neben seiner sängerischen Tätigkeit belegte er den eigenen Angaben zufolge noch ein Studium der Musikvermittlung und Konzertpädagogik am Leopold-Mozart-Zentrum und vertiefte anschließend seine Kenntnisse in Alter Musik und Ensemblegesang an der Hochschule für Alte Musik „Schola Cantorum Basiliensis“ der Musikakademie Basel. Eine intensive Beziehung hat sich Resch in seiner bisherigen Laufbahn zur Barockmusik erarbeitet. Davon scheint auch seine Aufnahme der Winterreise zu profitieren, die ganz bewusst als Erzählung des Geschehens angelegt scheint und deshalb auch an die großen Rezitative in den Oratorien von Johann Sebastian Bach erinnert.

Als problematisch erweist sich die Sängerbesetzung bei einer weiteren CD von Da Vinci Classics. Darauf singt Giuseppe Auletta, begleitet von seinem Zwillingsbruder Giovanni Lieder von Wilhelm Kempff (C00772). Kempff wirkte nicht nur als Pianist, er hat auch komponiert. Sein Werk ist ausgesprochen vielfältig und umfasst alle musikalischen Genres, einschließlich Opern. Nur wenige Werke sind je auf Tonträger gelangt. Aus seinem Liedschaffen hatte sich – um seinen bekanntesten Interpreten zu nennen – Dietrich Fischer-Dieskau für eine Schallplatte der Deutschen Grammophon bedient, auf der berühmte Intertreten mit eigenen Kompositionen vorgestellt wurden, darunter auch Ferruccio Busoni, Adolf Busch und Bruno Walter. Es ist also nur zu begrüßen, wenn derartige Ausgrabungen erfolgen. Für die neue CD wurden achtzehn Lieder von Kempff ausgewählt, darunter zwei kleine Zyklen nach Gedichten von Goethe und dem Schweizer Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer. Sie gehörten zu den bevorzugten Autoren des komponierenden Pianisten, der seinem Lebensabend in Positano an der Amalfiküste verbrachte, wo er 1991 starb. Italien war seine Wahlheimat geworden. Folglich wandte er sich auch Verse mit italienischen Themen wie Meyers „Auf dem Canal Grande“ zu. Kempffs Tonsprache ist sehr erfindungsreich. Am ehesten erinnert sie an Hugo Wolf. Durch Auletta wird das aber nicht entfernt so deutlich wie durch Fischer-Dieskau. Er bleibt Kempff alles schuldig, hadert stimmlich mit Höhen, Tiefen und mit der deutschen Sprache, verwechselt die Lieder mit italienischen Schlagern. R.W.

„Eigentlich gar keine Oper“

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Eine knappe Stunde Tristan und Isolde ohne Gesang. Ist das überhaupt möglich? Für das Solistenensemble D’Accord schon. Es hat eine Version mit Streichseptett eingespielt. Die sieben Musiker sind Martina Trumpp, von der die Bearbeitung stammt, und Franziska Bauer (Violine), Daniel Schwartz und Stephan Knies (Viola), Guillaume Artus und Nicola Pfeffer (Cello) sowie Benedikt Büscher (Kontrabass). Erschienen ist die CD in umweltfreundlichem Karton bei Caviello Classics (COV 92311). Die Fassung folgt dem Aufbau des Musikdramas, das Richard Wagner selbst als Handlung in drei Aufzügen hatte verstanden wissen wollen. Auf die jeweiligen drei Vorspiele folgen die konkreten Geschehnisse, die so bezeichnet sind, dass die Hörer auf Anhieb wissen, an welcher Stelle sich die Handlung jeweils befindet. Oft reichen Textzitate wie „Frisch weht der Wind der Heimat zu“ aus dem Lied des jungen Seemanns oder „Einsam wachend in der Nacht“ aus Brangänes Wachgesang. Dann wieder sind einzelne Szenen etwas lakonisch vermerkt. Liebestrank, Ankunft auf der Burg, Jagd, Sehnsucht oder Tristans Tod, heißt es dann. Der Schluss aber, auf den alles hinausläuft in dem Werk, ist in aller Ausführlichkeit beschrieben mit „Mild und leise“ (Isoldes Liebestod). Tristan-Vertraute hätten die Notizen nicht gebraucht. Sie wisse im Schlaf, welche Musik in welcher Situation erklingt. Doch sie sind vielleicht auch nicht die ersten Adressaten für die Neuerscheinung. Sie wollen das Werk wohl auch gesungen und auf der Bühne aufgeführt erleben. Wer aber auf Gesang keinen sonderlichen Wert legt – dafür gibt es schließlich auch gute Gründe – und Wagner dennoch liebt, der ist bestens bedient mit dieser Version. Sie betont den sinfonischen Charakter der Musik.

Das Ensemble hat im Booklet Cosima Wagner als Zeugin aufgerufen. Sie habe in ihren Tagebüchern geschrieben, dass Tristan und Isolde „eigentlich gar keine Oper sei“ – jedenfalls „keine für Singstimmen mit Handlung und Orchesterbegleitung“. Wagner habe sich in diesem Werk „einmal ganz symphonisch geben“ wollen, ein Geflecht aus Harmonien undunendlicher Melodie“ erschaffen, in dem Gesang nicht unbedingt die Hauptrolle spiele. Das Experiment finde ich sehr gelungen. Ich habe die Stimmen nicht vermisst. Das Septett gleicht sie durch seinen feinsinnigen und hochsensiblen Vortrag aus. R.W.

Eine Wiener Geschichte

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„Aber die Liebe …“ So der Titel einer Johannes-Brahms-CD, die bei Prospero erschienen ist (Prosp 0058). Marie-Claude Chappuis (Foto oben aus dem Booklet) singt zehn Lieder aus unterschiedlichen Werkgruppen, bei denen sie von Christian Chamorel begleitet wird, der seinerseits als Solist drei Klavierstücke aus den Sieben Fantasien Op. 116 beisteuert. Diese kleinen Zwischenspiele sind gut platziert. Eine Praxis, die so auch bei klassischen Liederabenden im Konzert vorstellbar ist. Auf diese Weise könnten sich Pianisten auch jenseits ihrer Rolle als Begleiter profilieren. Bei den Vier ernsten Gesängen ersetzt das Quartett Sine Nomine mit Patrick Genet (Violine 1), Francois Gottraux (Violine 2), Hans Egidi (Viola) und Mare Jaermann (Violoncello) das originale Pianoforte. Eine Bearbeitung mit Seltenheitswert. Sie stammt vom Schweizer Violinisten und Arrangeur Jean-Pierre Moeckli, der sie sehr feinsinnig und diskret angelegt hat – als wolle er sich vor Brahms verneigen. Eine Version also, die dem Original den nötigen Respekt zollt.

Die weit verbreitete Neigung zu Bearbeitungen ist fast so alt wie das letzte Liederwerk des Komponisten selbst. Max Reger, der mit Brahms in dessen Todesjahr in brieflichen Austausch trat, setzte die Gesänge „Für Klavier allein“, der Kirchenmusiker Helmut Bornefeld lässt wie andere vor ihm den Sänger von der Orgel begleitet. Ähnlich Reger verzichtet auch der zeitgenössische Posaunisten Barnaby Kerekes in seiner Fassung für Tenor- oder Bassposaune und Klavier auf einen Gesangssolisten. Die Vier ernsten Gesänge wurden ursprünglich für Bassstimme und Klavier komponiert und dem Maler, Grafiker und Bildhauer Max Klinger gewidmet. Damit stattete er seinen Dank für den graphischen Zyklus „Die Brahms-Phantasie“ ab. Dabei handelt es sich um Radierungen und Steinzeichnungen zur Illustration diverser Vokalkompositionen. Das Brahms-Denkmal für dessen Geburtsstadt Hamburg vollendete Klinger 1909. Es steht in der heutigen Laiszhalle.

Konzertszene im alten Bösendorfer-Saal im Palais Liechtenstein in Wien / Wikipedia

Textgrundlage der ersten drei Lieder („Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh“, „Ich wandte mich, und sahe an“, „O Tod, wie bitter bist du“) sind Themen über Vergänglichkeit aus dem Alten Testament. Für das vierte („Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete“) griff Brahms auf das Neue Testament zurück, indem er Glaube, Hoffnung und Liebe beschwor. Der Zyklus entstand ein Jahr vor seinem Tod unter dem Eindruck des schweren Schlaganfalls, den die verehrte Freundin Clara Schumann erlitten hatte. Neben der originären Version existieren Ausgaben für Sopran und Tenor sowie für Alt und Bariton, deren Drucklegung Brahms noch selbst überwacht haben soll. Wann erstmals eine Frau den vierteiligen Zyklus öffentlich vortrug, ließ sich nicht herausfinden. Die Altistin Sigrid Onégin dürfte eine der ersten, wenn nicht die erste gewesen sein, die 1922 eine Schallplattenaufnahme mit damals üblicher Studio-Orchesterbegleitung vorlegte. Für 1939 ist Emmi Leisner in Begleitung von Michael Raucheisen dokumentiert. Von der Altistin Kathleen Ferrier gibt es gleich drei Aufnahmen und zwar von 1947, 1949 und 1950, eine davon in englischer Übersetzung mit einem eigenwilligen Orchesterarrangement, das von Malcolm Sargent, dem Dirigenten dieses Mitschnitt aus der Londoner Royal Albert Hall besorgt wurde. In traditioneller Klavierfassung haben auch Kirsten Flagstad, Nell Rankin, Rose Bampton, Gertrude Pitzinger, Janet Baker, Barbara Manford, Martha Kessler, Aafje Heynis, Maureen Forrester, Jadwiga Rappé, und Brigitte Fassbaender Aufnahmen gemacht. Zudem sind Marie-Nicole Lemieux, Madeleine Jalbert, Ruth-Maria Nicolay, Linda Finnie, Cornelia Wulkopf und Tamara Takács für das Werk ins Studio gegangen. Bei der Recherche war ich selbst überrascht, wie viele Dokumente mit Sängerinnen zusammen kamen.

Mit dieser Anzeige wurde die Uraufführung der Vier ernsten Gesänge angekündigt/Wikipedia

Marie-Claude Chappuis, vom Haus aus Mezzosopranistin mit Erfahrungen in Barockmusik, Bachs Oratorien und Mozarts Opern, findet in der aktuellsten Einspielung einen betont lyrischen Ansatz und erweitert damit das Ausdrucksspektrum für die Interpretation dieses Zyklus auch jenseits der männlichen Interpreten, die in der Aufnahmestatistik nach einem groben Überblick in der Mehrzahl sind. Obwohl es auch die Tenor-Einrichtung gibt, dominieren die tiefen Stimmlagen: Alexander Kipnis, Paul Gümmer, Hermann Schey, Hans Hotter, Kim Borg, Harald Stamm, Hermann Prey, Georg London, José van Dam, Thomas Quasthoff, Theo Adam, Siegfried Lorenz, Sherril Milnes, Andreas Schmidt, Nathan Berg, Norman Foster, Robert Holl, Kurt Moll, Christian Immler, Arttu Kataja, Gerald Finley, Christian Gerhaher, Matthias Goerne, Günther Groissböck und Georg Zeppenfeld. Dietrich Fischer-Dieskau hatte gar 1949 bei der Deutschen Grammophon mit den Vier ernsten Gesängen seine erfolgreiche Schallplattenkarriere begonnen. Noch keine fünfundzwanzig, gelang ihm ein ungewöhnlicher Kontrast zwischen seiner Jugend und dem „bitteren Tod“ des dritten Liedes. Es sollte nicht bei einer Aufnahme bleiben.

Der Holländer Anton Sistermans war Sänger  der Urauffühung / Sammlung Manskopf

Die Uraufführung hatte am 9. November 1896 im Wiener Bösendorfer-Saal durch den holländischen Heldenbariton Bariton Anton Sistermans stattgefunden, der 1899 bei den Bayreuther Festspielen als Gurnemanz und Pogner mitwirkte. Dieser Saal, der mehr als fünfhundert Besuchern Platz bot und in dieser Form bis 1913 existierte, befand sich im später abgerissenen Palais Liechtenstein in der Herrengasse und war wegen seiner Akustik bei einem erlesenen Publikum überaus geschätzt. Der gebürtige Wiener Schriftsteller Stefan Zweig setzte ihm in seinem Erinnerungsbuch „Die Welt von gestern“ ein literarisches Denkmal indem er das letzte Konzert mit Kammermusik von Beethoven beschrieb: „Wir lärmten und applaudierten, einige Frauen schluchzten vor Erregung, niemand wollte es wahrhaben, dass es ein Abschied war. Man verlöschte im Saal die Lichter, um uns zu verjagen. Keiner von den vier- oder fünfhundert Fanatikern wich von seinem Platz.“ Der Name des Saals geht auf den Klavierbauer Ludwig Bösendorfer zurück, dessen Instrumente auch bei den Konzerten zum Einsatz kamen. Von Sistermans haben sich einige akustische Aufnahmen, darunter zwei Brahms-Lieder, erhalten. Bei aller technischen Unzulänglichkeit vermitteln sie einen Eindruck davon, wie es gelungen haben könnte bei Uraufführung. Sistermans hatte eine elegante, ruhige Stimme. Sein Legato war vorbildlich, der Ausdruck durch ein gewisses Pathos sehr der Zeit verhaftet.

Die Altistin Julia Culp und der Pianist Coenraad V. Bos, der bei der Uraufführung die Sänger begleitet haben will. / Wikipedia

Und wer saß am Klavier? Darum ranken sich Legenden. Organisiert hatte das Konzert, für das auch Lieder aus Schuberts Müllerin, zwei Balladen von Loewe sowie „Lieder neuerer Componisten“ angekündigt waren, der namhafte Wiener Musikalienhändler und Konzertagent Albert Gutmann, der ein eigenes Geschäft in der Hofoper betrieb. Er hatte zahlreiche in- und ausländische Künstler und Ensembles unter Vertrag und unterhielt Büros in London, Paris und Berlin. In einer von ihm geschalteten Zeitungsanzeige wird Anton Rückauf (1855-1903) genannt, der „die Clavierbegleitung freundlichst übernommen“ habe. Rückauf war Komponist, Musikpädagoge und Pianist in einem. Seine Lieder mit einem extrem schwierigen Klaviersatz wurden seinerzeit oft aufgeführt. Für seine Bedeutung spricht auch, dass er in Wien auf dem Zentralfriedhof in einem Ehrengrab beigesetzt wurde. Nach Angaben der Mahler Foundation im Internet soll sich Anton Sistermans Brahms selbst als Begleiter gewünscht haben, der aber ablehnte. Stattdessen sei diese Aufgabe vom Pianisten Coenraad V. Bos übernommen worden. Er war ein Landsmann von Sistermans und zum Zeitpunkt der Uraufführung einundzwanzig Jahre alt. Auch Wikipedia folgt dieser Darstellung und gibt als Quelle Bos selbst an. Der hatte in dem 1949 in Philadelphia erschienen Buch „The Weel-Tempered Accompanist“, das von Ashley Pettis herausgegeben wurde, von seiner Mitwirkung an der Uraufführung berichtet. Nach dem Konzert, so Bos, „kam Brahms ins Künstlerzimmer und bedankte sich herzlich bei [Anton] Sistermans und mir für unsere Darbietung, die, wie er sagte, seine Absichten perfekt in die Tat umsetzte“.

Ein Blatt aus dem Zyklus Brahmsphantasie von Max Klinger. Dafür widmete ihm der Komponist seine „Vier ernsten Gesänge“. / Wikipedia

In seiner umfangreichen achtbändigen Biographie des Komponisten geht der Musikschriftsteller und Kritiker Max Kalbeck (1850-1921) ausführlich auf die Uraufführung ein. Sie ist zwischen 1904 und 1914 als Fortsetzung erschienen und gilt trotz zeitgebundener Unkorrektheiten immer noch als eine wesentliche musikhistorische Quelle. Kalbeck hatte Brahms 1874 kennengelernt und war ihm fortan eng verbunden. „Bis kurz vor seinem Tode besuchte Brahms noch Konzert und Theater“, heißt es darin. Nur sei er „absolut nicht dazu zu bewegen“ gewesen, sich seine Vier ernsten Gesänge anzuhören. „Weder kam er in den Tonkünstlerverein, als sie dort von Felix Kraus am 30. Oktober gesungen wurden, noch erschien er im Künstlerzimmer oder bezog seinen Horcherposten bei Bösendorfer, wo Anton Sistermans das Werk am 9. November in die Öffentlichkeit einführte.“ Kalbeck zitiert eine Bemerkung des Sängers, mit der auch die Angaben der Mahler Foundation bestätigt wird, wonach er am liebsten mit Brahms gemeinsam aufgetreten wäre. „Nach früheren Begegnungen mit Brahms glaubte Sistermans, eine solche Bitte wagen zu dürfen“, so Kalbeck. Mehr nicht. Folglich ist nach derzeitigem Stand der Dinge davon auszugehen, dass Anton Rückauf am Flügel saß.

Den Darstellungen von Kalbeck zufolge war der eigentlichen Uraufführung eine offenbar nicht öffentliche Vorstellung der Vier ernsten Gesänge im kleineren Kreis vorausgegangen. Solist war der 1870 geborene Felix von Kraus. Obwohl sein Hauptbetätigungsfeld der Konzertsaal gewesen ist, trat auch er in Bayreuth auf und alternierte 1899 sogar mit Sistermans als Gurnemanz. Kraus hat Erinnerungen an Brahms, Bruckner und Cosima Wagner hinterlassen, die 1961 im Kommissionsverlag bei Franz Hain in Wien herausgegeben wurden. Auf seinem Begleiter geht er nicht ein. War es der nur fünf Jahre jüngere Coenraad V. Bos? Bos, der 1955 starb, erlebte noch den Beginn der Langspielplattenära. Bei der schon erwähnte Einspielung der Vier ernsten Gesänge durch die amerikanische Altistin Nell Rankin für Capitol Records spielt er den Flügel. Für die vom englischen Produzenten Walter Legge initiierte Hugo Wolf Society begleitete Bos Elisabeth Rethberg, Elena Gerhardt, Herbert Janssen, Gerhard Hüsch und Alexander Kipnis.  Rüdiger Winter

„Was gehen mich die Lieder an?“

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Es ist guter Brauch geworden, dass junge Sänger ihre Aufnahmen von Liedern mit ganz persönlichen Gedanken versehen. Nicht selten lassen sie dabei in ihr Innerstes blicken. Samuel Hasselhorn, Jahrgang 1990, ist so einer. Er hat kein Problem damit, über seine Gefühle zu sprechen, wenn er den literarischen Figuren, die er darzustellen hat, ihren Handlungen, Sehnsüchten, Nöten, Ängsten und Glückmomenten, die nur selten von Dauer sind, nachzudenken. Das fiktive lyrische Ich der Dichtungen wird sozusagen wörtlich genommen und konkret ausgefüllt. Das unterscheidet diese Generation von den meisten berühmten Großeltern-Kollegen. Fischer-Dieskau – um dieses Beispiel zu nennen, das noch immer oft genannt wird, wenn es um Liedinterpretationen geht – hätte den Jahren nach der Urgroßvater von Hasselhorn sein können. Es liegt also in der Natur der Sache, dass die Jungen anders zu Werke gehen. Es ist ihr gutes Recht. Samuel Hasselhorn hat bei Harmonia Mundi Die schöne Müllerin von Franz Schubert vorgelegt (HMM 902720). Begleitet wird er am Klavier von Ammiel Bushakevitz. Im Booklet verweist der Sänger auf die lange Zeitspanne zwischen der Entstehung der Lieder und unserer Gegenwart und stellt die berechtigte Frage: „Was hat das mit mir, mit uns zu tun?“ Ihm persönlich sei der Zugang zu der Geschichte von dem Müllerburschen, der sich Hals über Kopf in die Tochter des Müllers verliebe, die aber seine Liebe nicht erwidere, stets relativ schwer gefallen. „Irgendetwas kam mir immer ein wenig seltsam vor, nicht wirklich greifbar. Über die weibliche Figur erfährt man kaum etwas: Wir wissen nur, dass sie blonde Haare und blaue Augen hat.“ Mehr nicht. Lasse man die recht konventionelle Dreiecksgeschichte vom Jüngling, der ein Mädchen liebe, das aber einen andern erwählt habe, beiseite, erscheine zwischen den Zeilen eine ganz andere Lesart. Die männliche Figur bleibe allein zurück, der erhofften Liebe und Anerkennung beraubt. „Jenseits der ein wenig simplen Geschichte von einer verschmähten Liebe geht es indirekt nämlich um gesellschaftliche Ausgrenzung. Wer nicht den geltenden Normen entspricht, wird wegen seiner Individualität und damit seinem ,Anderssein‘ ausgeschlossen, und an dieser sozialen Isolierung verzweifelt er schließlich. Vielleicht haben gerade deshalb diese vor 200 Jahren entstandenen Lieder für uns im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Aktualität eingebüßt“, so Hasselhorn. Das mag ein wenig offiziell klingen, aber es ist nun mal so.

Hasselhorn singt wie von sich. Mit Empathie und sehr viel Einfühlungsvermögen dringt er regelrecht in die Lieder ein, lässt keinen noch so verborgenen Winkel aus. Nichts entgeht ihm. Wenngleich manches auch spontan daher kommt, dürfte jedes Detail genau kalkuliert und vorher erprobt worden sein. Er spielt gekonnt mit dem Tempo, zieht es an, wenn es ihm angezeigt scheint, um dann wieder wie auf der Stelle zu treten, weil es ein bestimmtes masochistisch angehauchtes Detail so verlangt. Sein Vortrag wirkt schlüssig und sicher. Und doch bewegt er sich auf dieser Wanderung in den Tod in einer Art Trance. Von Beginn an steht fest, dass es kein gutes Ende nehmen wird mit diesem Wandergesell. Sein betont männlich wirkender Bariton, der ihn älter erscheinen lässt als er in Wirklichkeit ist, zeichnet sich durch eine hohe Flexibilität aus. Stimmliche Grenzen werden nicht berührt. Er ist sehr gut zu verstehen. Nicht, dass Hasselhorn in seiner Interpretation den Faden verlöre. Nein, das nicht. Es fällt aber auf, dass manche Lieder durch zu viele interpretatorische Zutaten und Nuancen zur Vereinzelung neigen, sich zu sehr aus dem Großen und Ganzen dieses Zyklus herauszulösen drohen. Gewisse opernhafte Züge greifen im Ausdruck, in Spiel mit den Worten Platz. Die Lieder werden nicht mehr nur gesungen – sie werden aufgeführt.

Wer das Cover genau betrachtet, findet einen Hinweis auf „Schubert 200“. Soll heißen: 2028 wird der 200. Todestag von Franz Schubert begangen. Im Hinblick auf dieses Ereignis soll die Neuerscheinung verstanden werden. Sie ist Teil eines größer anlegten Projektes mit Samuel Hasselhorn und seinem Pianisten Ammiel Bushakevitz auf Konzertpodien und im Studio. Der Schönen Müllerin sollen bei Harmonia Mundi vier weitere CDs mit Liedern aus den letzten Lebensjahren Schuberts, darunter Winterreise und Schwanengesang. Das Projekt richtet sich nach Angaben des Labels an eine neue Generation des Lied-Publikums und widmet sich der Frage, inwieweit Schuberts Lieder für unser Leben im 21. Jahrhundert relevant sind und wie diese Verbindung hör- und erfahrbar gemacht werden kann“. Es bleibt also spannend. Rüdiger Winter

424 Verse in Musik

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„Festgemauert in der Erden steht die Form aus Lehm gebrannt“: Kaum ein anderer Gedichtanfang hat sich einst Generationen so eingebrannt wie dieser. Zu meiner Zeit in der DDR stand Friedrich Schillers Lied von der Glocke nicht mehr auf dem Lehrplan. Hüben wie drüben hatte es als Bestandteil des Kanons der deutschen Literatur ausgedient, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. In Osten wurde sich vor allem an Schillers harscher Kritik an der Französischen Revolution gestoßen. „Wehe, wenn sie losgelassen, wachsend, ohne Widerstand, durch die volkbelebten Gassen wälzt den ungeheuern Brand!“ Im Land der Aufmärsche und Umzüge war die Furcht vor dem eigenen Volk allgegenwärtig. Ich lernte das Lied dennoch auswendig, weil es meine Mutter – mit zunehmenden Lücken – auch immer noch aufsagen konnte. Es machte mir Spaß, es war meine sportliche Betätigung. Mein Gefühl für die Muttersprache und deren Reime hat es dauerhaft befördert. Die Glocke ist eines der am häufigsten zitierten und parodierten Gedichte. Viele Sprüche haben sich im Volksmund verselbständigt. Es gab viele Übersetzungen, Inszenierungen – und auch Vertonungen. Eine davon hat Hänssler Classic neu aufgelegt (HC23061). Der Komponist ist Andreas Romberg, der 1767 in Vechta geboren wurde und 1821 in Gotha starb. Als er sich 1815 an seinem letzten Wirkungsort als Konzertmeister der Hofkapelle niederließ, war der Dichter seit zehn Jahren tot.

Da Schiller sein Werk als Lied verstanden wissen wollte, bot sich eine Vertonung regelrecht an. Noch zu seinen Lebzeiten wurde in Dresden bei einer entsprechenden Aufführung Musik aus unterschiedlichen Kompositionen untergelegt. Wie Bernd Edelman im Booklet schreibt, habe sein Freund Christian Gottfried Körner eine selbständige Vertonung angeregt, in die Schiller mit eigenen konkreten Vorstellungen einstimmte. In einem Brief zwei Monate vor seinem Tod äußerte er: „Dem Meister Glockengießer muss ein kräftiger biederer Charakter gegeben werden, der das ganze trägt und zusammenhält.“ Nach dem Worten von Edelmann hat Romberg, der Schillers Wunsch gewiss nicht kannte, genau diese Idee verwirklicht. Das ganze lange Gedicht von 424 Versen sei in einem großen Zug vertont. Wie der Meister den Glockenguss leitet, so führe er von Station zu Station des Gedichts. Obwohl es eigentlich betrachtend episch sei, ließen sich dessen einzelne Episoden durchaus szenisch auffassen, so Edelmann. Mit verteilten Rollen. Dadurch wird es sehr kurzweilig. Es gibt Soloszenen, Duette, Quartette und Chöre. Karl Ridderbusch erweist sich mit seinem voluminösen Bass als Meister ganz im Sinne von Schiller. Ihm zur Seite stehen mit Maria Friesenhausen (Sopran) und Heiner Hopfer (Tenor) zwei Sänger mit großer Kantatenerfahrung. Die Altistin Renate Naber tritt nur in den beiden Quartetten in Erscheinung. Aus Rombergs Vertonung spricht ein großer Respekt vor Friedrich Schiller. Er lädt die wie in Stein gemeißelten Botschaften nicht noch zusätzlich auf. Vielmehr wendet er sie in menschliche Aussagen, die nicht selten sehr mild, sanft und lyrisch daherkommen.

Der weitgereiste Romberg hinterließ ein umfangreiches Werk in allen Genres, das so gut wie noch nicht erschlossen ist. Mit Ausnahme seiner Glocke, die bereits zweimal aufgenommen wurde, sind nur ganz wenige Werke auf Tonträger gelangt. Von Aufführungen ganz zu schweigen. Bei der jüngsten Hänssler-Veröffentlichung handelt es sich um die erste Einspielung, die 1982 in Essen entstand und zunächst bei der Wünschelburger Edition, einem Label, das sich Chorwerken und Liedern widmete, als Langspielplatte erschien. Zwischenzeitlich brachte sie Calig 1995 schon einmal auf CD heraus. Nun also folgte Hänssler. 1992 wurde beim WDR in Köln eine Aufnahme mit dem Chorus Musicus und dem Neuen Orchester unter der Leitung Christoph Spering produziert, die von Opus 111 als CD herausgegeben wurde. LiederNet, die umfangreichste Onlinedatenbank für Lieder, weiß von insgesamt vier Vertonungen. Der Organist, Kantor und Komponist Johann Georg Adam (1806-1867) legte eine Fassung für Solostimme mit Klavierbegleitung vor. Einem Sprecher stellt Georg Wilhelm Rauchenecker (1844-1906), der auch als Geiger tätig war, wahlweise einen Frauen- oder einen gemischten Chor sowie ein Klavier zur Seite. Max Bruch (1838-1920) gestaltete die Glocke zu einem großen spätromantischen Oratorium für Chor, vier Solostimmen, Orchester und Orgel. Der schweizer Komponist deutsch-russischer Herkunft Wladimir Vogel (1896-1984 setzte einen Solosprecher und einen Doppelchor mit eigenem Sprecher ein. Romberg ist bei LiederNet nicht erwähnt. Rüdiger Winter

Rätselhaft

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Das Cover gibt nichts preis von dem, was diese Aufnahme von anderen erheblich unterscheidet: Konstatin Krimmel singt Die schöne Müllerin von Franz Schubert, erschienen bei Alpha-Classics. Begleitet wird er von Daniel Heide (Alpha 929). Betont umweltschonend fällt die Verpackung aus. Bis auf den eigentlichen Tonträger aus dem hochwertigen Kunstsoff Polycarbonat nur noch Pappe und Papier. Die feine Druckqualität macht etwas her – der photogene Sänger im Halbprofil auch. Heide schlägt ein rasantes Tempo an. Es lässt keinen Zweifel aufkommen, dass gewandert wird. Krimmel muss sich nicht dreinfinden. Er marschiert sofort los. Es wird kein fröhlicher Ausflug. Das ist mit dem ersten Ton klar. Dieser Müllerbursche ist auf dem Weg in den Tod. Der sichere Umgang mit dem Text, der schon immer eine seiner Stärken war, macht den Liedsänger Krimmel aus. Die ruhig geführte Stimme sitzt fest im Körper. Er kommt nie an Grenzen seines Baritons. Mir scheint, er ist im Vergleich mit früheren Einspielungen noch reifer geworden. So kann er alle Ressourcen auf die Gestaltung verwenden. Es dauert nicht lange, bis es anders klingt als man es gewohnt ist und verinnerlicht hat. Darauf soll es wohl auch hinaus.

Zunächst unmerklich, dann immer stärker und auffälliger werden einzelne Wörter mit Koloraturen verziert und fast schon in die Nähe der Oper gerückt. Gleich im ersten Lied gibt es zum Schluss hin auch noch ein zusätzliches „Ja“, das da nicht hingehört und auch dem Text, der sich im Booklet findet, nicht zugeteilt wurde. Der Sänger experimentiert auf subtile Weise mit dem Tempo und dehnt Figuren wie im Lied Am Feierabend bis zum Gehtnichtmehr, um gleichzeitig vorzuführen, wie man noch deutlicher singen kann als er es ohnehin die ganze Zeit über tut. In der Regel bleiben die Lieder im Einstieg unangetastet. Erst im Verlauf bauen sich die teils überraschenden Zutaten auf. Sie wirken nicht spontan sondern sehr ausgeklügelt. Auch wenn nicht alles Sinn macht, so ist die Absicht meist klar. Einen deutlichen Mehrwert in Inhalt und Aussage kann ich aber nicht erkennen, auch wenn der Sänger in einem sehr persönlichen Text im Booklet in düsteres Nachdenken gerät. Er verweist darauf, dass sich in Deutschland nach Angaben des statistischen Bundesamtes im Jahre 2021 über 9000 Menschen das Leben nahmen. Dreiviertel davon seien Männer gewesen. Fiele diese Zahl geringer aus, wenn das stereotypische „Rollenbild nicht darauf bestehen würde, dass der Mann Stärke zeigen müsse“, fragt er. Es sei leichter gesagt als getan, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Müllerbursche hat sie nicht gesucht, „sondern macht die Last der Emotionen mit sich selbst aus und teilt sie letztlich mit dem Bach, der ihm seinen Todeswunsch erfüllt“. Es sei eine „Achterbahn der Gefühle, eine Berg- und Talfahrt durch die Leidenschaft“. Krimmel schließt mit einem Hinweis auf das Fünf-Phasen-Modell der schweizerisch-amerikanischen Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004). Danach wäre der Müllerbursche am Ende seines Wegs bei der 5. Phase angelegt, in der Sterbende den Tod akzeptieren.

Wenn sich also ein Dreißigjähriger bei seiner Sicht auf den Liederzyklus an knallharte Fakten der Gegenwart hält und die Romantik Romantik sein lässt, ist das nur verständlich. Sein Vortrag aber ist durch und durch rückwärtsgewandt und nur aus der Zeit Schuberts heraus zu verstehen. Damals war es übliche Praxis, Lieder verziert darzubieten. Nach Schuberts Tod hatte sich der Komponist, Pianist und Verleger Anton Diabelli die Rechte an der Schönen Müllerin gesichert und besorgte eine repräsentative Druckausgabe. Er bat den „berühmten, mit Schubert befreundeten Sänger Johann Michael Vogl, die Singstimme so einzurichten, dass sie möglichst großes Echo beim Publikum finde. Das tat dieser denn auch. Er fügte – sparsam – einige Verzierungen hinzu, … die er selbst gesungen hatte, wenn Schubert ihn begleitete“. Nachzulesen beim Musikwissenschaftler Walther Dürr in einem Beitrag für die Einspielung von Christoph Prégardien und seines Begleiters Michael Gees 2008 bei Challenge Classics. Die Ornamente, die Prégardien singt, „orientierten sich zwar vom Typus her an den in Diabellis Druck (und einigen Handschriften) überlieferten Verzierungen – wo der Sänger sie aber einsetzt und wie er sie im Einzelfall gestaltet, ist ganz seine eigene Erfindung“, so Dürr. Was Krimmel und Heide versuchen, ist im Prinzip also nicht neu. Ihre Herangehensweise unterscheidet sich im Detail aber deutlich von der des Tenor-Kollegen Prégardien. Woran orientieren sie sich? In der Neuerscheinung gibt es nicht einen Hinweis darauf. Es bleibt rätselhaft. Vielmehr wird auf dem Cover und im Booklet der Eindruck vermittelt, als handele es sich um eine „ganz normale“ Müllerin (03.09.23). Rüdiger Winter

An der Grenze zur Oper

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Lieder von Franz Schubert mit Orchester singt der Bariton Benjamin Appl auf seiner neuesten CD, die bei BR-Klassik herausgekommen ist (900346). Begleitet wird er vom Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Oscar Jockel. Dirigent wie Sänger stammen aus Regensburg und haben bei den Domspatzen ihre musikalische Grundausbildung erhalten. Das ist eine solide Grundlage für ihre Zusammenarbeit. Jockel ist etwa dreizehn Jahre jünger als Appel – ein Unterschied, der in dieser Generation kaum eine Rolle spielt. Aufnahmetermine gab es 2022 an sechs Tagen innerhalb von drei Monaten. Das ist für eine CD mit einer Spielzeit von knapp vierundsiebzig Minuten relativ viel, spricht aber für die Intensität der Produktion. Eingespielt wurden neunzehn Lieder, unterbrochen von instrumentalen Nummern aus Deutsche Tänze, die von Johann von Herbeck (1831-1877) bearbeitet wurden. In seiner Zeit war er vornehmlich als Dirigent eine Berühmtheit. Ihm ist die Entdeckung der „Unvollendeten“ von Schubert zu verdanken, die er 1865 in Wien zur Uraufführung brachte. Die Tänze versah er mit einem auffälligen Wiener Charme. Zeitgenössisch aber ist der Einstieg in das CD-Programm gewählt mit Abendstern in der Orchestrierung des international sehr aktiven Pianisten und Liedbegleiters Alexander Schmalcz, der auch noch mit An Sylvia vertreten ist. Wie Appl und Jockel begann er seine künstlerische Laufbahn in einem Knabenchor – nämlich dem Dresdner Kreuzchor. Alle anderen Bearbeiter haben das Zeitliche gesegnet.

Mit sieben Titeln ist Max Reger vertreten. Das ist der größte Posten. Ihm folgt in der Menge der Bearbeitungen sein österreichischer Zeitgenosse Anton Weber mit fünf. Die Literatur über nachträgliche Lieder-Orchestrierungen von fremder Hand will gesucht sein. Sie fliegt einem nicht zu. Appl geht in seinem Booklet-Text auf eigene Spurensuche. Grundsätzlich hat er mit Arrangements kein Problem, viel mehr bewundere er die „Formung einer eigenständigen Kunstgattung“ und staunt „über die grenzenlosen Phantasie, verschiedene Klavierklänge in orchestrale Farben vieler individueller Instrumente umzusetzen“. Über Regers Intentionen ist viel bekannt. Nach Darstellung von Appl „konnte er nichts damit anfangen, als zwischen symphonischen Kompositionen plötzlich eine Auswahl von Klavierliedern mit dem Dirigenten als Pianisten dargebracht wurden“. Er zitiert Reger mit den Worten: „Für mein Ohr ist es oftmals direkt eine Beleidigung in einem Riesensaal nach einer Orchesternummer eine Sängerin hören zu müssen, die zu der spindeldürren Klavierbegleitung Lieder singt.“ Es war damals übliche Praxis, Konzertprogramme durch Lieder aufzulockern. Die Musikwissenschaftlerin Susanne Popp nennt in ihrer großen Biographie „Max Reger – Werk statt Leben“ (Breitkopf & Härtel 2016) unter Bezugnahme auf den Komponisten noch einen ganz praktischen Grund, dass nämlich nicht extra ein Flügel aufs Podium geschleppt werden“ musste. Reger hat insgesamt fünfzehn Lieder mit Orchesterstimmen in einer Besetzung versehen – und zwar so, dass die Sänger nie zugedeckt werden. Es ist kein Mangel an einschlägigen Aufnahmen. Eine Gesamteinspielung legten 1998 Camilla Nylund und Klaus Mertens bei cpo vor. An weiteren Bearbeitungen ist Reger durch seinen frühen Tod gehindert worden. Gut beobachtet hat Appl, dass sein Arrangements „an Szenen aus musikdramatischen Werken“ grenzen. Davon lässt er sich auch in seinem Vortrag leiten, führt die Prometheus-Ballade nach Goethe mit ihren fünfeinhalb Minuten am auffälligsten in diese Richtung. Das Resultat kann sich hören lassen.

Appls Stimme tut ein Orchester gut. Es gibt ihm Halt – nicht nur in dramatischen sondern auch in ausgesprochen lyrischen Stücken wie „Die bist die Ruh“  in der Bearbeitung von Webern oder Ständchen aus dem Schwanengesang, dessen sich Offenbach selbstbewusst annahm. Gern überrascht der Sänger auch mit Arbeiten von Komponisten, die nicht im Mittelpunkt stehen. Kurt Gillmann (1889-1975) ist so einer. Der namhafte Harfenist, der erblindet starb, hat auch komponiert. Ein Großteil seiner Werke ist im Zweiten Weltkrieg verbrannt. Von ihm stammt die betonte gefällige Orchesterversion von Ganymed, die Appl auch so vorträgt. Johannes Brahms und Benjamin Britten komplettierten die Liste der bearbeitenden Komponisten (6.10.2023). Rüdiger Winter

Oper in der Kirche

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Carl Loewe, der für seine Balladen und Lieder berühmt geworden ist, hat auch siebzehn Oratorien hinterlassen. Nach dem Tod des Komponisten im Jahre 1869 mehr und mehr dem Vergessen anheimgefallen, werden sie nun peu à peu neu entdeckt. Innerhalb weniger Jahre hat Oehms gleich zwei Titel auf den Markt gebracht hat. Auf Das Sühneoper des neuen Bundes 2019 folgte jetzt Jan Hus (2 CD OC 1720). Loewe wirkte von 1820 bis 1866 sechsundvierzig Jahre in Stettin als Kantor und Organist an der Jakobikirche. Zudem hatte er den Posten des städtischen Musikdirektors inne, gab Gymnasialunterricht und bildete am zuständigen Seminar Lehrer aus. Kurz nach Amtsantritt wurde er auf 22 Paragraphen mit seinen dienstlichen Aufgaben verpflichtet, „von denen einer ihm untersagte, Opern für die Stettiner Bühne zu schreiben“, so der Musikwissenschaftlers Klaus-Peter Koch in einem Vortrag bei einer Konferenz zum 200. Geburtstag des Komponisten 1996 in Halle, der in Band 13 der Schriften des Händel-Hauses veröffentlicht wurde (ISBN 3-910019-11-0).

Dieses Verbot erklärt die Hinwendung zum Oratorium. Dennoch stellt sich die Frage, warum Loewe, der auf dem Gebiet der Oper bereits Erfahrungen gesammelt hatte, nicht andere Bühnen zu bedienen versuchte? Dafür blieb ihm angesichts der starken Beanspruchung in Stettin einfach keine Zeit. Eine Erklärung, die auch Koch im Gespräch mit operalounge.de  teilte. In den Sommerferien – seiner einzigen Freizeit – begab sich Loewe auf Reisen, um als Sänger neue Balladen zu Gehör zu bringen und über Deutschland hinaus bekannt zu machen. Er soll eine sehr gute Tenorstimme gehabt haben. Dabei begleitete er sich selbst am Klavier. Sein Ruhm beruht nicht zuletzt auf diesen Auftritten. In der Neuzeit fanden Sänger wie Hermann Prey, Dietrich Fischer-Dieskau, Roland Hermann, Kurt Moll, Theo Adam oder Werner Hollweg einen neuen Interpretationsansatz, indem sie sich wieder dem Original zuwandten und diverse Zerrbilder in Gestalt gefälliger Bearbeitungen hinter sich ließen. Eine Entwicklung, die durch das segensreiche Wirken der Internationalen Carl Loewe Gesellschaft, die ihren Sitz in Löbejün, dem Geburtsort des Komponisten, hat, befördert und vorangetrieben wird. Zum bisherigen Höhepunkt der modernen Annäherung an Loewe wurde die Einspielung sämtlicher Lieder und Balladen, die cpo in Zusammenarbeit mit dem RBB, dem Südwestrundfunk und Deutschlandradio zwischen 1994 und 2003 stemmte. Sie wurde künstlerisch vom Pianisten Cord Garben betreut und kam 2009 auf den Markt. Die aus einundzwanzig CDs bestehende Edition ist nach wie vor greifbar (777 366-2).

Jahre vor Oehms war – versehen mit einem entsprechenden Hinweis auf dem Cover – die erste Aufnahme des Oratoriums Jan Hus an die Öffentlichkeit gelangt. Sie erschien als Mitschnitt von Konzerten im März 2009 in St. Gallen und Arbon auf CD bei dem schweizerischen Label Kuma. Die Leitung hatte der 1949 im Kanton Graubünden geborene Dirigent und Musikforscher Mario Schwarz, der durch zahlreiche musikalische Ausgrabungen von sich Reden gemacht hat. Er leitet den Kammerchor Oberthurgau und das Collegium Musicum St. Gallen. Den Hus singt der Tenor Simon Witzig. In beiden schweizerischen Orten gab es eine starke Hinwendung zur Reformation.

Sie liegen eine Autostunde von Konstanz entfernt, wo Jan Hus, der in Böhmen bereits mehr als hundert Jahre vor Martin Luther für eine Erneuerung der Kirche gestritten hatte, während des Konzils 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Er war nicht zu bewegen, seine Lehren, die er eigentlich hatte erläutern wollen, zu widerrufen. Obwohl ihm vom deutschen König Sigismund (im Oratorium Siegmund) freies Geleit für die Hin- und Rückreise zugesichert worden war, musste er als Ketzer sterben. Vor seiner Hinrichtung soll Hus gemeinsam mit dem inzwischen abgesetzte Gegenpapst Johannes XXIII., der ursprünglich das Konzil einberufen und den böhmischen Reformator eingeladen hatte, auf Schloss Gottlieben eingesperrt gewesen sein – in jenem Schloss, das 1950 von der Sopranistin Lisa della Casa erworben wurde. Sie bewohnte es mit Ehemann und Tochter fast bis zu ihrem Tod 2012. Laut Wikipedia steht es seit 2023 zum Verkauf. Es gibt also viele Gründe, warum das 1841 in der Berliner Singakademie uraufgeführte Oratorium, in der Schweiz zu neuem Leben erweckt wurde. Gedruckt lag es nicht vor. Deshalb musste auch in St. Gallen und Arbon auf Behelfsmaterial zurückgegriffen werden. Vor eine ähnliche schwierige Situation sah man sich 2013 in Tübingen gestellt. Im Rahmen der Lutherdekade, einer Veranstaltungsreihe, die am 21. September 2008 begann und 2017 mit dem 500. Jahrestags des Thesenanschlags zu Wittenberg endete, erarbeitete Musikdirektor Hans-Peter Braun mit dem Chor des Evangelischen Stifts Tübingen eine Aufführung in der Klavierfassung des Komponisten. Sie fand in der Tübinger Stiftskirche statt. Der Chor sang zur Orgel, die Solisten wurden auf einem Blüthner-Flügel und einem erst kurz zuvor auf dem Kirchendachboden aufgefundenen Pedalharmonium begleitet. Es stammt aus der 1880 von Ernst Hinkel in Ulm gegründeten Harmoniumfabrik. Als Solisten wirkten acht Studenten der Gesangsklasse von Andreas Reibenspies an der Musikhochschule Trossingen mit. Sie waren mit großem Einsatz bei der Sache, wie es dem Rundfunkmitschnitt dieses ambitionierten Projekts zu entnehmen ist.

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Georg Poplutz, der bereits im „Sühneopfer“-Oratorium mitgewirkt hatte, singt den Jan Hus / Kratschmer

Nicht nur die Uraufführung, auch der Librettist des Oratoriums August Zeune (1778-1853) weist nach Berlin. Zeune war ein bedeutender Pädagoge, Germanist und Gründer der ersten deutschen Blindenanstalt im Stadtteil Steglitz, die immer noch existiert. Er wurde in Wittenberg als Sohn eines Griechisch-Professors geboren, wo 1517 die Reformation durch Luther ihren Anfang genommen hatte. Denkbar ist, dass Zeune sein Interesse für Hus aus Wittenberg in die preußische Hauptstadt mitbrachte. Sein Ehrengrab befindet sich auf dem Alten Georgenfriedhof in der Greifswalder Straße nahe dem Alexanderplatz. Mit dem Werk Loewes wurde Zeune auch als Dichter wieder in Erinnerung gerufen. Robert Schumann schätzte ihn. Im Booklet greift Thomas Gropper, der Dirigent der Aufnahme, ein Zitat zum Libretto auf, das so auch im Internet kursiert: „Es ist (ein Text), der auch ohne Musik sich des Lesens lohnte, seines Gedankengehaltes, der edlen echt deutschen Sprache, der natürlichen Anordnung des Ganzen halber. Wer an Einzelnem mäkelt, an einzelnen Worten Anstoß findet, der mag sich seine Texte bei den Göttern holen. Wir würden die Komponisten glücklich schätzen, die immer solche Text zu componieren hätten.“ Eine Quelle wird nicht genannt. Sie findet sich im vierten Band der Gesammelten Schriften über Musik und Musiker von Schuman, die 1854 im Verlag von Georg Wigand in Leipzig erschienen sind und bisher lediglich als Reprint nachgedruckt wurden. Schumann verfasste seinen Text über Jan Hus anhand des Klavierauszugs. Er gelangt zu dem Schluss, dass sich Loewes neues Oratorium „in seiner Tendenz den früheren derartigen“ Kompositionen anreihe. Es sei schon vom Dichter nicht für die Kirche gedacht und halte sich für den Konzertsaal „passend oder auch bei musikalischer Gelegenheit wohl anzubringen zwischen Oper und Oratorium“.

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Carl-Loewe-Denkmal an der Jakobikirche in Stettin um 1904. Es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. / Wikipedia

Wer sich also mit dem Werk beschäftigt, wozu die Neuerscheinung von Oehms beste Gelegenheit bietet, wird Schumanns Urteil bestätigt finden. Schon der Prolog, der nur fünf Minuten in Anspruch nimmt, offenbart starke musikdramatische Neigungen. In die knappe orchestrale Einleitung, die nichts Gutes ahnen lässt, mischt sich ein Chor, der das Ende mit den Worten vorwegnimmt, dass „ohne Liebe man verbrannt den Frommen, darob die Nachwelt zwiefach steht verwundert“. Im Booklet ist der Text, der bislang nur schwer zugänglich gewesen ist – versehen mit Erklärungen des Dirigenten – komplett abgedruckt. Das ist umso begrüßenswerter, als die Literatur, die sich mit dem Schaffen Loewes und seinem Leben befasst, rar und sehr übersichtlich ist. Bis jetzt gibt es keine Biographie, die diese Bezeichnung verdient. Das Oratorium setzt sich aus drei Teilen zusammen, die auch als Akte verstanden werden können. Der erste spielt in Prag vor der Abreise von Hus zum Konzil. Schüler und Studenten bittet ihn in Chor inständig, „hier am sichern Ort zu bleiben“. Hieronymus (Dominik Wörner), ein Weggefährte, findet deutliche Worte: „Rom liebt den Brand, doch liebt es nicht das Licht.“ Hus (Georg Poplutz) aber ist frohen Mutes: „Was mein Gott will, das g’scheh allezeit.“ Loewe greift hier auf ein altes Lied zurück, das zum Kernbestand des lutherischen Kirchengesangs gehört. Der Text (um 1550) wird dem preußischen Prinzen Albrecht zugeschrieben, die Melodie stammt von dem Franzosen Claudin de Sermisy. Mit dem Lied eröffnet Bach seine gleichnamige Kantate BWV 111.

Das Grab des Textdichters August Zeune auf dem dem Alten Georgenfriedhof in Berlin ähnelt einem Mausoleum / Winter

Der zweite Teil schildert die Reise nach Konstanz. Mit seinem Gefolge trifft Hus im Böhmerwald auf eine Gruppe Zigeuner, die mit Gottvertrauen ihr Leben in Freiheit preisen: „Das weite Feld ist unser Zelt, des Waldes Graus ist unser Haus. Wie’s uns gefällt, so zieh’n wir aus, wie’s uns gefällt, zieh’n wir herein, da Groß und Klein zusammenhält. Frei ist die Welt.“ In die durch Hörnerklänge verstärkte romantische Stimmung mischen sich dunkle Ahnungen. Eine Zigeunerin (Ulrike Malotta) setzt zu einer Arie an, die auch aus einer Oper stammen könnte. Sie prophezeit Hus, dass sein Weg von nun an mit Trauerweiden gesäumt sein werde. Schließlich gerät eine Begegnung mit Hirten auf der Grenze nach Bayern zu einem Höhepunkt des Werkes. Hus bittet in einer biblisch anmutenden Szene um einen Glas Milch, für das er mit Worten aus dem berühmten Psalm 23 dankt: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Auf dem Schloss zu Konstanz beginnt der dritte Teil mit einer kontroversen Auseinandersetzung zwischen Siegmund (wieder Dominik Wörner) und Barbara (Monika Mauch). Während der König darauf besteht, Hus als Ketzer zu verurteilen und zu verbrennen, wenn er denn nicht abschwöre, zeigt sich seine Gattin von dessen festem Blick und den „milden, klaren Worten“ beeindruckt. Sie gemahnt Siegmund an sein Versprechen, Hus freies Geleit zugesagt zu haben. Der aber antwortet: „Die Kirche lehrt, dass man dem Ketzer nicht braucht Wort zu halten.“ Vor dem Konzil bittet Hus darum, die Klagepunkte gegen ihn widerlegen zu dürfen, was abgelehnt wird. Das Urteil steht schon vorher fest, seine Widersacher zeigen sich im Chor unerbittlich: „Was aus der Hölle stammt, muss wieder in die Hölle hinab in des Feuers Grab.“ Hus aber spricht sich in der größten Soloszene des Oratoriums mit den Worten des 73. Psalms Kraft zu: „Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“ Er geht auf seinen letzten Weg zum Richtplatz vor den Toren der Stadt. Ein Chor begleitet ihn: „Seht den edlen Denker schreiten.“ Flammengeister schlagen vielstimmig auf. „Non confundar in acternum!“ („In Ewigkeit werde ich nicht zuschanden“), sind die letzten Worte von Hus. Mit einer feierlichen Chorfuge schließt das Werk: „Ungetrübt rein leichtet der Menschheit ewig sein Schein.“

Der Dirigent Thomas Gropper hat mit den von ihm geleiteten Arcis-Vocalsolisten München, dem Barockorchester L`arpa festante und namhaften Solisten ein Ensemble um sich geschart, das sich mit hörbarer Hingabe an die Arbeit machte. Es realisierte auch das bereits erwähnte Sühneopfer-Oratorium für Oehms, bringt also einschlägige Erfahrung mit. In beiden Produktionen sind Georg Poplutz, Monika Mauch und Ulrike Malotta dabei. 1983 gegründet, hat sich das Orchester, das mit fünfunddreißig Musikerinnen und Musikern spielt, mit klassischer und romantischer Chor-Orchester-Literatur einen Namen gemacht. Von Anfang ist es darauf aus gewesen, vergessene Werke dem Musikbetrieb zurückzugeben. Die Diskographie ist setzt sich aus mehr als dreißig Veröffentlichungen zusammen. In der jüngsten Einspielung tritt die Mischung aus Oratorium und Oper, die schon Schumann aufgefallen war, deutlich hervor. Sie äußert sich auch durch räumliche Wirkung, die mit dem Ort der Produktion, der evangelisch-lutherischen Himmelfahrtskirche in München-Sendling zu tun haben dürfte. Dort wurde an fünf Tagen im Oktober 2022 unter Studiobedingungen aufgenommen. Wegen ihrer Akustik wurde die Kirche schon mehrfach für Einspielungen von Werken in mittlerer Besetzung genutzt. So auch die Aufnahme des Sühneopfer-Oratoriums. Rüdiger Winter

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Das große Foto oben zeigt einen Ausschnitt aus dem Gemälde „Jan Hus zu Konstanz“ von Carl Friedrich Lessing. Es entstand 1842, ein Jahr nach der Uraufführung des Oratoriums / Wikipedia

Völlerei und Frömmigkeit

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Dem Booklet mit dem Libretto ist ein Glossar vorangestellt. Denn wer sollte außerhalb der Schweiz wissen, dass „fidlätaub“ zornig, „karisiert“ lieben und „frinä“ zufrieden bedeutet. Im Singspiel Eine Engelberger Talhochzeit gibt fast jedes Wort dem ungeübten Ohr Rätsel auf. Es wurde von Franz Joseph Leonti Meyer von Schauensee (1720-1789) in Engelberger-Dialekt komponiert. Die Gemeinde mit derzeit weniger als viertausend Einwohnern liegt im Kanton Obwalden in der Zentralschweiz und ist ein gesuchtes Urlaubsziel. Talhochzeit leitet sich von Talschaft her, worunter die Gesamtheit von Land und Leuten eines Tales zu verstehen ist. In einer historischen Rundfunkproduktion aus dem Jahr 1958 ist das Werk bei Relief auf CD herausgekommen (CR 1927). Das Libretto, das der Komponist offenbar selbst verfasste, schwankt „zwischen Farce und Frömmigkeit, zwischen Völlerei, Respekt vor der geistlichen und weltlichen Autorität, sowie starken Gefühlen tiefer Gläubigkeit munter hin und her“, heißt es im Booklet-Text von François Lilienfeld. Die Sprache sei oft sehr derb. Der Komponist gehöre zu den schillerndsten Persönlichkeiten der schweizerischen Musikgeschichte. „Unter seinen diversen Beschäftigungen nahmen Musik und Religion eine führende Position ein, doch wusste er seine vielfältigen Talente auch in anderen Bereichen geltend zu machen.“ Seine wechselvolle Biographie liest sich so: „Meyer von Schauensee stammte aus einer Luzerner Patrizierfamilie. Schon früh lernte er Orgel und Cello. 1738 trat er in ein Zisterzienser-Kloster ein, das er allerdings bereits nach einem Jahr wieder verliess. Von 1740 bis 1742 erhielt er Geigenunterricht bei Ferdinando Galimberti in Mailand.1742 bis 1744 nahm er als Söldner im Dienste des Königs Emanuel III. am österreichischen Erbfolgekrieg teil. Nach seiner Rückkehr war er in der öffentlichen Verwaltung in Luzern tätig, doch nahmen Musik und geistliche Berufung eine immer zentralere Rolle in seinem Leben ein. 1752 wurde er Priester.“ Nach Angaben von Lilienfeld hinterließ er ein umfangreiches Oeuvre mit geistlicher Musik, instrumentale Kompositionen und Bühnenwerke. Leider sei vieles davon verschollen, die meisten der erhaltenen Werke nur als Manuskript zugänglich. 1939 wären die damals bekannten Akte eins und zwei der Engelberger Talhochzeit anlässlich der Schweizerischen Landesausstellung nach der Rekonstruktion von Hans Vogt und Hans Visscher von Gaasbeck in Zürich zur Aufführung gelangt. Nachdem man auch das Manuskript des dritten Aktes aufgefunden habe, wurde die Oper im Dezember 1958 vom Radio-Studio Basel aufgenommen und im April 1959 erstmals gesendet. Die vorliegende CD-Ausgabe entstand auf der Grundlage der Aufnahmebänder von Radio Basel. Im Fernsehstudio Zürich war 1974 eine gekürzte Fassung unter Armin Brunner produziert worden.

Die „Talhochzeit“ ist die erste Tonaufnahme mit Edith Mathis / Relief (Privatarchiv der Sängerin)

Nach den Worten von Lilienfeld kann guten Wissens behauptet werden, dass Die Engelbergische Talhochzeit – ein seltenes Dokument innerschweizerischen Musiklebens aus dem XVIII. Jahrhundert – zu den Raritäten, ja Kuriositäten, der Operngeschichte gehöre. Das beginne schon beim Text: Es gebe wohl nicht viele Opern mit „schweizerdeutschem“ Libretto, noch dazu in einer eher „abgelegenen“ Mundart. „Diese stand natürlich einer internationalen Verbreitung im Weg. Dazu kommt, dass keine Helden auftreten und die Liebesgeschichte alles andere als romantisch ist. Es wird den einfachen Landleuten – buchstäblich – auf’s Maul geschaut.“ Die Handlung sei ungewöhnlich. Sie beginne mit einer trotzig durchgesetzten Eheschliessung. Es folge ein horrend teures Hochzeitsmahl, zu dem allerdings die Eingeladenen nicht erscheinen. Die Familie esse und trinke bis zu Überfluss und Übelkeit. Doch kaum sei das Brautpaar getraut, fingen die Streitereien an. „Und das Ende ist für eine opera buffa, wie der Komponist seine Schöpfung einordnete, vollends unerwartet: In einem traurigen, resignierten Trio-Finale bereuen die Protagonisten ihre Beschäftigung mit weltlichen Dingen und besingen Frieden, Zucht, Ehrbarkeit.“ Die Musik sei ansprechend, eingängig und enthalte zahlreiche italienische Einflüsse. Das Orchester bestehe ausschliesslich aus Streichern, der Satz sehr sorgfältig konstruiert, so Lilienfeld.

Bereits auf dem Cover schmückt sich die Neuerscheinung mit dem Hinweis, dass es sich bei dieser Produktion um die erste Tonaufnahme der damals erst zwanzigjährigen Edith Mathis handelt. Sie singt die selbstbewusste Braut, das Gretli – singt die Rolle mit einer Stimme, wie sie ihr die Natur hat zukommen lassen. Noch ist alles Talent. Doch wer genau hinhört, wird bei der Anfängerin bereits den unverwechselbaren lyrischen Ton der Reifezeit angelegt finden. Zudem lässt sie die Fähigkeiten erkennen, sich diszipliniert ins Ensemble einzufügen, was ihr später vornehmlich in den Opern von Mozart zu Gute kommen wird. Mit der Aufnahme werden zudem Sängerinnen und Sänger in Erinnerung gerufen und mit Kurzbiographien vorgestellt, die heute weitgehend vergessen sind, darunter die Sopranistin Rosmari Thali, die Altistin Adele Räber, die Tenöre Peter Remund und Robert Boog sowie der Bassist Eduard Stocker. Eine Herausforderung des besondere Art watet auf den mit Remund besetzten Gastwirt Felix, der das Hochzeitsmahl in einer virtuosen Erzählung anpreist, die an Leporellos Registerarie in Mozart Don Giovanni denken lässt, der 1787 und damit fünf Jahre nach der Talhochzeit uraufgeführt wurde. Die Arie des Wirts „kann als wahrscheinlich einzige vertonte Speisenkarte der Theatergeschichte gelten“, wird im Booklet ausdrücklich vermerkt. R.W.

Akkordeon statt Klavier

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Wird ein Liederzyklus so oft aufgeführt und eingespielt wie Franz Schuberts Winterreise, nehmen die Begehrlichkeit zu, es mal ganz anders zu machen. Der neueste Schrei ist eine Version für Bariton, Chor und zwei Akkordeons, erschienen bei Genuin (GEN 23847). Erarbeitet hat sie Gregor Meyer, der Leiter des Leipziger Gewandhaus-Chores, der – wie könnte es auch anders sein – an der Einspielung beteiligt ist. Nach der Sinnhaftigkeit fragt die Autorin des Booklet-Textes Katharina Rosenkranz, die nach Angaben der Herausgeber auch das Cover gestaltet hat. Sie leitet das Chor-Büro. „Das Sololied wird hier zur Chorliteratur und tritt aus dem vollkommen kammermusikalischen Raum heraus auf ein größeres Konzertpodium.“ Es würden neue Aufführungsmöglichkeiten und ein weiterer Publikumskreis erschlossen, so die Autorin, die auf ein begeistertes Publikum bei Live-Vorstellungen der Bearbeitung verweist. Die Akkordeon-Begleitung – ursprünglich war nur ein Instrument vorgesehen – dränge sich geradezu auf. Als Beispiel führt die Autorin „die froststarren, etwas windschiefen Töne des Leiermanns“ an, die mit dem Akkordeon, das sich auf der Wanderung auch leichter schultern lasse, „natürlich deutlich authentischer“ klängen als mit dem „kultivierten Klavier“.

Solist ist der Bariton Tobias Berndt, der bei Hermann Christian Polster, einem namhaften Leipziger Sänger mit Schwerpunkt Bach, studierte. Zudem kann er auf Dietrich Fischer-Dieskau, der sich während seiner langen Kariere immer wieder intensiv mit der Winterreise auseinandergesetzt hat, als Lehrer verweisen. Er bestreitet den Einstieg mit seinem wohlklingenden Bariton und bester Wortverständlichkeit zunächst allein. Beide Akkordeons, die von Heidi und Uwe Steger sehr virtuos gespielt werden, geben den Marschrhythmus vor. Ist der Sänger an der Stelle angelangt, wo „ein Mondesschatten als mein Gefährte“ mitzieht, stimmt der Chor vokalisiert ein unheimliches Echo an, um schließlich selbst die Worte zeitlich etwas versetzt zu wiederholen. Musikalisch ist das wirkungsvoll gemacht. Eine inhaltliche Vertiefung findet nicht statt. Allenfalls wird die Winterreise illustriert und aufgehübscht. Es ist also nachvollziehbar, dass diese Bearbeitung bei einem mit dem klassischen Liedgesang weniger vertrauten Publikum besonders gut ankommt. Für das folgende Lied simuliert der Chor den Wind, der mit der Wetterfahne „auf meines schönen Liebchens Haus“ spielt und singt auch gleich die erste, die Situation beschreibende Gedichtzeile, um in dem Moment vom Solisten abgelöst zu werden, wenn dieser als lyrisches Ich in Erscheinung tritt. Eine sinnvolle formale Lösung, die sich aber nicht konsequent durchsetzt. Vieles bleibt im Fortschreiten des Werkes ehr zufällig und damit mehr der Wirkung als der Aussage verpflichtet. Der Sänger ist bis auf Ausnahmen – wozu Rückblick und breits erwähnte Der Leiermann gehören – weitgehend ohne Chance, den Zyklus selbst zu einem Ganzen zu formen. Er wird als eine Art Vorsänger Teil des höchst professionell agierenden Chores, dem eigentlichen Star dieser Produktion.

Dem Liedgesang ist eine weitere Neuerscheinung bei Genuin gewidmet, die sich im Vergleich mit der Winterreise ausgesprochen konventionell ausnimmt: Die schöne Magelone von Johannes Brahms (GEN 23844). Gesungen werden diese fünfzehn Romanzen aus der Erzählung Ludwig Tiecks von Tomas Kildišius, einem noch jungen aus Litauen stammenden Bariton, der sowohl auf Konzertpodien als auch auf Opernbühnen anzutreffen ist. Begleitet wird er am Klavier von der gebürtigen Armenierin Ani Ter-Martirosyan. Die Schauspielerin Jannike Liebwert umrahmt die Lieder mit Tieck-Texten, die die notwendigen inhaltlichen Zusammenhänge schaffen. Dadurch ist ein größeres Verständnis gewährleistet. Ursprünglich war das vom Komponisten so nicht gedacht. Doch schon bei der ersten Aufführung durch den Sänger Julius Stockhausen, dem der Liederzyklus gewidmet ist, stellte sich heraus, dass das Publikum den aus dem Zusammenhang gerissenen Romanzen, die immer wieder Bezug zur Prosa-Erzählung nehmen, nicht gut folgen konnte. Kildišius ist gut beraten, sich als Liedersänger weiter zu profilieren – eine erfreuliche Tendenz, die auch bei anderen Solisten seiner Generation auffällt. Im Booklet ist zu lesen, dass er „besondere Aufmerksamkeit auf die Artikulation und Klarheit des Textes“ lege. Damit sind wichtige Voraussetzungen angesprochen, um in diesem Genre dauerhaften Erfolg zu haben. Auf der CD ist das entsprechende Bemühen deutlich zu spüren, bleibt aber noch ausbaufähig. Rüdiger Winter

Hören statt sehen

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Orfeo hat Columbus von Werner Egk neu aufgelegt (C240032). BR – das Logo des Bayerischen Rundfunks findet sich nun auf dem Cover deutlicher herausgestellt. Bei dem Werk handelt es sich um kein herkömmliches Musikdrama. Es ist eine Funkoper, die gehört und nicht gesehen werden soll. Insofern ist sie bei einem Radiosender genau richtig. Es gibt noch einen sehr viel direkteren Bezug. Columbus war ein Auftrag des Bayerischen Rundfunks und wurde am 13. Juli 1933 erstmals gesendet. Der Sender hat seinen Namen bis heute behalten. Egk, der auch den Text verfasste, bezeichnete seinen Columbus als „Bericht und Bildnis“. Er griff auf historische Quellen über den Seefahrer zurück, der immer noch als Entdecker Amerikas gepriesen wird, obwohl das historische widerlegt ist. Gegliedert in neun Bilder ist die Handlung die nämliche. Wurden Funkopern auf der Schwelle von den zwanziger zu den dreißiger Jahren zunächst als Bearbeitungen von herkömmlichen Werken mit Erzähler für das neue Medium verstanden, bildete sie sich schließlich als eigene Gattung heraus. Ein solches Werk sollte wie ein Hörspiel also ganz bewusst ohne die Darstellung auf einer Bühne auskommen.

Im Booklet findet sich ein sehr informativer Text der Musikwissenschaftlerin Helga-Maria Palm. Darin wird auch die Geschichte der Funkoper umrissen. Der aus Bayern stammende Egk empfing seine ersten Eindrücke für die neue musikalische Form im Berlin, wo er auch 1928 die Uraufführung der Dreigroschenoper von Brecht und Weill miterlebte. Sein großes Vorbild aber sei Oedipus Rex von Stravinsky gewesen, heißt es. Führe dort ein Sprecher durch das Stück, so dramatisiere Egk die Idee des Kommentators. „Die musikalische Konzeption basiert auf dem Wechsel von chorischen, solistischen und instrumentalen Episoden.“ Neun Jahre nach der Erstsendung sei Columbus 1942 ein echter Opernheld geworden. „Hans Konwitschny dirigierte in Frankfurt die Bühnenfassung; ein legitimer, aber zweifelhafter Versuch.“ Denn auf der Bühne müsse der experimentelle Charakter des Werkes, die szenisch-dramatischen Vorgänge allein durch das Hören glaubhaft zu machen, verloren gehen, so die Autorin, der ein kleiner Irrtum unterlief. Konwitschny, damals Musikdirektor und musikalischer Leiter des Frankfurter Opernhauses, hieß Franz. Er und der Komponist sollten sich nicht mehr aus den Augen verlieren. 1957 kam Egk auch nach Ostberlin, wo an der Staatsoper Unter den Linden, Konwitschny – inzwischen deren Generalmusikdirektor – seinen Revisor dirigierte. Peer Gynt folgte 1961 kurz vor dem Bau der Mauer.

Eine rätselhafte Unbekannte: Die argentinische Sopranisten Lia Montoya singt als Königin Isabella. Foto / Discogs

Mit den Worten der Musikwissenschaftlerin zurück zur Funkoper: „Der Hörer sollte mit den modernen technischen Mitteln zu einem aufregenden Hörerlebnis gelangen. Die technisch-akustischen Möglichkeiten eröffneten zusätzliche Aktionsebenen. Textverständlichkeit war am wichtigsten.“ Als Egk im Januar 1963 im Herkulessaal der Münchner Residenz das Werk unter Studiobedingungen aufnahm und dabei selbst dirigierte, fand er ein erlesenes Ensemble vor, das diese Bedingungen zu erfüllen in der Lage war. In der Titelrolle der österreichische Bariton Ernst Gutstein, mit der Interpretation zeitgenössischen Werke genauso erfahren wie Fritz Wunderlich als König Ferdinand. Sie hinterlassen die stärksten Eindrücke, so dass man sich vornimmt, wieder mehr solche Musik zu hören. Wolfgang Anheisser (Dritter Rat), Max Pröbstl (Mönch) und Friedrich Lenz (Vorsänger) gehören mit dem Schauspieler Rolf Boysen ebenfalls zum Ensemble. Was die beschworene Textverständlichkeit angeht, ist die argentinische Sopranisten Lia Montoya als Königin Isabella nicht perfekt besetzt. Es scheint ihre einzige offizielle Aufnahme zu sein. Lediglich auf einem der Sopranistin Liane Synek gewidmeten LP-Album von Melodram ist sie 1962 in Köln noch als Sophie im Schlussterzett des Rosenkavalier neben Hanna Ludwig als Octavian zu hören. Rar wie ihre Dokumente sind die biographischen Angaben. Die einschlägige Literatur und das Netz geben sich so zugeknöpft wie das Booklet, in dem auch darauf verzichtet wurde, die abgebildeten Sänger zu benennen, die bei einer szenischen Columbus-Aufführung am 3. Mai 1960 im Prinzregententheater mitwirkten. Rüdiger Winter

Gemischtes Obst

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Es ist angerichtet. Der Bariton Benjamin Appl bittet zu Tisch. Gereicht werden verbotene Früchte. Die schmecken bekanntlich besonders gut. Wenngleich streng vegan, können sie durchaus der Fleischeslust förderlich sein. Diese Erfahrung machten schon die ersten Menschen im Garten Eden. Dort ließ sich Eva von der Schlange dazu überreden, den verlockenden Apfel vom Baum der Erkenntnis zu probieren. Die Unschuld war hin. „Wir streben immer zum Verbotenen und begehren das, was uns versagt wird.“ Dieses Zitat des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) aus dessen Amores-Gedichten stellt Appl einem eigenen Text im Booklet seiner neuen CD mit dem verheißungsvollen Titel „Forbidden Fruit“ voran. Sie ist bei Alpha Records erschienen (ALPHA 912). Für die stimmungsvolle Begleitung am Klavier sorgt James Baillieu. Die Ausstattung gelang betont verschwenderisch. Auf theatralisch inszenierten Fotos stechen stilistische Anleihen bei der Renaissance ins Auge. Als seien Caravaccios Obstkörbe geplündert worden. „Auch wir stehen immer in diesem Spannungsfeld, wollen Erfahrungen sammeln, essen ,verbotene Früchte‘, die uns etwas Unbekanntes versprechen“, so Appl. Aber selbst nach dem „Kosten“ keimten Unzufriedenheit und der Wunsch auf, neu auftretende Grenzen zu durchbrechen. Werde das Leben dadurch besser? Erlange man wirklich mehr Freiheit, mehr Glück? „Musik und Poesie zeigen oft einen Weg jenseits dieser ständig sich verschiebenden Grenzlinien.“ Mit Faurés „In paradisum“ beginnend, soll das Album nach den Vorstellungen des Sängers der biblischen Erzählung folgend, einen Bogen spannen, der den Zuhörer zu Beginn ins Paradies hinein“ und am Ende, wenn der Garten Eden verschlossen wird, „wieder herausführt“. Einzelne Bibelzitate würden musikalisch wie mit einem Kaleidoskop beleuchtet. Dabei reiche die Spannweite vom Volkslied über das deutsche Kunstlied hin zum französischen Impressionismus, zu Vertonungen neuer Sachlichkeit und Melodien aus Tonfilmen sowie zeitgenössischen Kompositionen.

Das sollte reichen. Mit einundvierzig Nummern – fünfzehn davon sind kurze gesprochene Einwürfe des Interpreten – gelangt die CD zwar nicht an ihre physischen, dafür aber an ihre intellektuellen Grenzen. Im Booklet braucht es siebzehn Seiten, um die literarischen Vorlagen im Original und in Übersetzungen – darunter auch ins Deutsche – abzubilden. Mitlesen ist Pflicht. Der Wechsel zwischen den Sprachen und Stilen will auch für den Sänger bewältigt sein, was ihm nicht durchgehend gelingt. Immerhin wird sein unverwechselbares einnehmendes Timbre zur Konstante der Interpretation. Viele Titel haben es inhaltlich und musikalisch in sich wie Hanns Eislers Ballade vom Paragraphen 218. Oder Goethes Ganymed in der Vertonung durch Hugo Wolf, der nach gut fünf Minuten mit hartem Schnitt von Kurt Weills Sehnsuchtslied Youkali abgelöst wird. Wolf wird noch mehrfach vorkommen, Robert Schumann auch. Von Franz Schubert sind das Heideröslein und – das ist jetzt kein Tippfehler – Gretchen am Spinnrade im Angebot, jenes Lied also, vor dem selbst Dietrich Fischer-Dieskau in seinem Streben nach enzyklopädischer Vollständigkeit zurückschreckte. Appl, sein letzter Schüler, singt es – womöglich gar als erster Mann in der Aufnahmegeschichte. Es ist ihm vor allem wegen des Schicksals von Gretchen wichtig, die sich Faust in Liebe hingibt und als Kindsmörderin endet.

„Kann denn Liebe Sünde sein?“ Wer auf das Lied, welches Zarah Leander im Ufa-Film Der Blaufuchs zum besten gab und das danach ein unverwüstliches Eigenleben entwickelte, nicht gefasst gewesen ist, soll nur genau hinhören. Es gibt nämlich noch eine Geschichte hinter dem Lied. Dessen Text stammt von Bruno Balz, der dem eigenen Geschlecht zuneigt gewesen ist und deshalb von den Nationalsozialisten verfolgt wurde. Vor diesem Hintergrund kann das Lied auch als sein Outing verstanden werden – als spreche er, Balz, der von der schwulen Community als Aktivist verehrt wird, für seinesgleichen und für sich selbst. Die einzelnen Begründungen des Sängers für seinen Kanon sind zwar plausibel, teilen sich aber nur selten von selbst mit. Zu oft fragt man sich, warum nun dieses oder jenes Lied eine verbotene Frucht sein soll? Über die meisten Verbote ist nämlich die Zeit hinweggegangen. So wird aus verbotenen Früchten schnell gemischtes Obst (16. 08. 23). Rüdiger Winter

Judas eine Stimme geben

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„Als ich meine erste Matthäus-Passion gesungen habe, fiel es mir schwer, das Rezitativ über den Tod des Judas zu gestalten“, räumt der aus Island stammende Tenor Benedikt Kristjánsson im Booklet seiner neuen CD ein. Nicht, weil es gesangstechnisch größere Schwierigkeiten bereite als die anderen Rezitative. Er habe die Interpretation von vielen anderen Evangelisten im Ohr gehabt und sei ohne darüber nachzudenken in deren Fußstapfen getreten, nämlich den „Judas als Verräter, Feigling, Bösewicht und einen Mann, der einen grässlichen Tod verdient hat, darzustellen“. Kristjánsson weiter: „Das wolle ich aber nicht tun.“ Er spricht von seinen Versuchen, für dieses Rezitativ eine andere Interpretation anzubieten und den daraus folgenden Auseinandersetzungen mit Dirigenten. „Das Thema hat mich immer weiter beschäftigt, schicksalhaft kam es auf mich zu.“ Als eine Quelle der Inspirationen erwies sich für den jungen Sänger der Roman Judas von Amos Oz – in Deutschland bei Suhrkamp erschienen. „Weil Judas in der Passionsgeschichte eben keine eigene Stimme hat und man den Ablauf nie aus seiner Perspektive hört“, interessierte es Kristjánsson, eine solche Geschichte zu entwickeln. Sie ist auf der bei Coviello herausgekommenen CD mit dem Titel Judas zu hören (COV 92307). Es begleiten das Ensemble Continuum und Sergey Malov mit der Violine.

Es ist nur konsequent, dass bewusste Rezitativ „Und er warf die Silberlinge in den Tempel, hub sich davon, ging hin und erhängete sich selbst“ aus dem zweiten Teil der Passion wegzulassen. Stattdessen kommt Jesus beim letzten Abendmahl zu Wort und eröffnet seine Perspektive. Der Tenor muss in die tiefe Bass-Lage wechseln, was seine emotionale Wirkung nicht verfehlt und einen Höhepunkt der Interpretation beschert: „Trinket alle daraus, das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden. Ich sage euch, ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken, bis an den Tag, da ich’s neu trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.“ Mich euch! Also auch mit Judas, der seine dreißig Silberlingen – den Lohn für den Verrat von Jesus – bereits in der Tasche hat, als mit den anderen am Tisch Platz nahm. Ich hole mir den Essay Der Fall Judas des Literaturhistorikers und Schriftsteller Walter Jens (1923-2013) aus dem Regel und lese nach, was ich mir vor vielen Jahren in der Ausgabe von Reclams Universalbibliothek Band 1300 auf Seite 144 angestrichen: … hätte er (Judas) sich seiner Bestimmung entzogen und die Tat verschmäht, die um unser aller Erlösung willen getan werden musste, er wäre an Gott zum Verräter geworden. Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans.“ Jens gelangt zu dem Schluss, dass es „ohne diesen Mann“ keine Kirche gegeben habe.

Kristjánsson kennt sich aus bei Johann Sebastian Bach. Zu der bereits erwähnten Stelle aus der Matthäus-Passion hat er Rezitative und Arien aus insgesamt zehn Kantaten (BWV 3, 12, 55, 76, 97, 131, 154, 157, 179 und 183) ausgewählt, die der Autor Thomas Jakobi in einen inhaltlichen Bezug zur anderen, zur tragischen Seite von Judas stellt, der den undankbarsten Part in der Passionsgeschichte auf sich nahm. Sie finden sich im Booklet abgedruckt, was auch unbedingt nötig ist. Am Sänger ist es, die musikalische Ausdeutung vorzunehmen, indem er Judas mit seiner Auswahl die Stimme gibt, der er immer vermisst hat. Das funktioniert verblüffend gut und überzeugen.

„Es mag mir Leib und Geist verschmachten“ oder „Ich fürchte nicht des Todes Schrecken“. Bei welchem Zitat man immer auch innehält, es könnte auch von Judas sein. Was Kristjánsson vorschwebt, teilt sich aber nicht automatisch mit. Es will entdeckt und erfahren werden, stellt die Hörer vor besondere Herausforderungen. Die CD ist nichts für nebenbei. Man wird sie wieder und wieder spielen müssen. Dabei erweist es sich als ungemein hilfreich, dass der Sänger mit großer emotionaler Bandbreite so deutlich und genau singt. Rüdiger Winter