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„Die reine Schönheit ihres Tons und Perfektion ihrer Technik hoben sie turmhoch über die restliche Besetzung hinaus.„ Dieses Lob gilt Elisabeth Schumann. Es stammt von Walter Legge, der es nach einer Rosenkavalier-Vorstellung im Mai 1927 in Covent Garden zu Papier brachte. Die Schumann sang die Sophie, die eine ihrer wichtigsten Opernrollen bleiben sollte. Bevor Legge zum mächtigen EMI-Produzenten aufstieg, verdingte er sich in London als Musikkritiker. Das Zitat findet sich im Buch Gehörtes, Ungehörtes, Memoiren von Legge und seiner späteren Ehefrau Elisabeth Schwarzkopf (Noack-Hübner Verlag München, S. 20). Für Sammler ist der akustische Nachlass der Schumann ein weites Feld. Akribische Suche verspricht eine reiche Ernte. Es lohnt sich also, die weit verstreuten Dokumente, die ihr musikalisches Können und auch ihre Grenzen belegen, zusammenzutragen.
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Geboren wurde Elisabeth Schumann 1888 im damals noch sächsischen Merseburg an der Saale. Ihr Vater war Lehrer und Organist. Am sanierten Geburtshaus in der Gotthardstraße 27 erinnert eine Tafel an die berühmte Tochter der Stadt, die 1909 in Hamburg erstmals auf einer Opernbühne stand. Sie sang den jungen Hirt im Tannhäuser. In den folgenden zehn Jahren erarbeitete sie sich mit Cherubino, Susanna und Zerlina ihren stimmlichen Möglichkeiten entsprechende Mozart-Partien. Sie avancierte zu einem Liebling des Publikums, das auch ihrer aparte Erscheinung und ihr schauspielerisches Talent zu schätzen wusste. Bereits 1914 wurde die Metropolitan Opera auf die Sechsundzwanzigjährige aufmerksam und engagierte sie für ihr Debut als Sophie im Rosenkavalier. Nach der ersten von fünf Vorstellungen war der Kritiker Max Smith, der auf der Archivseite der Met ausführlich zitiert wird, des Lobes voll: „Mit bemerkenswerter Leichtigkeit bewältigte sie Strauss‘ lang ausgehaltene Phrasen und spann ihre süßen, ansprechenden und ausdrucksstarken Töne selbst in den erhabensten Höhen auf eine Weise, die Gesangsschülern durchaus als Anschauungsunterricht hätte dienen können. Miss Schumanns lyrischer Sopran ist nicht groß. Aber er ist bewundernswert platziert, fein konzentriert und wird von einer ausgezeichneten Atemkontrolle unterstützt. Gestern Abend hat die Sängerin ihre Stimme zu keinem Zeitpunkt überanstrengt und nicht ein einziges Mal ist sie von der richtigen Tonhöhe abgewichen.“ Die neue Sopranistin habe sich aber nicht nur „durch ihren Gesang als wahre Künstlerin“ entpuppt. „Ihre Darstellung der Sophie war in theatralischer Hinsicht ebenso beeindruckend wie stimmlich.“ Insgesamt stand sie in dieser Spielzeit für zehn Partien unter Vertrag, darunter die Musette in La Boheme, Humperdincks Gretel und die Fidelio-Marzelline. Ungeachtet des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges konnte sie im Mai 1915 aus den USA nach Hamburg zurückkehren. Bis 1938 war sie einer der Stars der Wiener Staatsoper, wo sie als ewige Sophie und mit ihren Mozart-Rollen genau richtig gewesen ist. 1938 wanderte sie nach New York aus, wo sie bis zu ihrem Tod am 23. April 1952 lebte. Sie wurde 64 Jahre alt. Während des Krieges beschränkte sie sich vornehmlich auf Konzerte und wirkte auch als Lehrerin privat und am Curtis Institute of Music in Philadelphia. Als Liedsängerin klang ihre erfolgreiche Karriere aus.
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Mit Schwanengesang ist eine CD getitelt, die jetzt von der Firma Panassus Records veröffentlicht wurde (PACD 96088). Sie enthält dreißig Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Franz und Hugo Wolf. Das Programm klingt mit Morgen von Richard Strauss aus, sowohl mit als auch ohne Orchester geboten. Letzter Aufnahme, bei der die Sängerin nach dem Vortrag des kompletten Lieds auch erklärend und beispielgebend das Wort ergreift, entstand bei einer Master Class. Mit Abstand die meisten Titel stammen von Wolf, der auch für alternde Sängerinnen, deren stimmliche Ressourcen zunehmend begrenzter werden, enorme Gestaltungsmöglichkeiten bereithält. So auch für Elisabeth Schumann. Es dauert immer ein wenig, bis sie in die Struktur eines Liedes hinein findet. Je weiter sie vordringt, umso sicherer wird der Umgang mit dem poetischen Instrumentarium. Ein treffliches Beispiel für die enorme Beherrschung der tief verinnerlichten Gestaltungsmittel ist das Lied „Wie glänzt der helle Mond“ nach Gottfried Keller. Langsam aufsteigende Linien gelingen besser als kokette Figuren und Einsprengsel, wie sie im Italienischen Liederbuch, dem gleich mehrere Nummern, darunter „Ihr jungen Leute“, „O wär´ dein Haus durchsichtig wie ein Glas“ und „Ein Ständchen euch zu bringen“ – entnommen sind. „Schumanns umfangreiche Diskographie begann mit Akustikaufnahmen im Jahr 1915 und endete mit den vorliegenden Aufnahmen, die 1950 in New York gemacht wurden“, ist aus dem Booklet zu erfahren. Und weiter: „Allegro Records, das sie aufnehmen wollte, erhielt die Genehmigung von HMV, wo sie noch immer unter Vertrag stand. Die Aufnahmen wurden in ihrer Wohnung in Manhattan gemacht, bei Mendelssohn und Franz im Februar und April, bei Wolf im Dezember.“ Trotz ihrer schillernden Opernkarriere blieb sie dem Liedgesang bis zum Schluss innigst verbunden, reicherte das eine Genre mit den Erfahrungen aus dem anderen an. Nicht selten klangen Arien wie Lieder und Lieder wie Arien. Lotte Lehmann soll von der Kollegin gesagt haben, dass sie den vielleicht reinsten Gesangsstil des deutschen Liedgesangs besessen habe.
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In ihrer 28 Jahre dauernden Karriere sang Schumann in etwa neunzig Rollen, die von der englischen Wikipedia aufgelistet werden. Am Beginn stand der schon erwähnte Tannhäuser-Hirt, am Ende das Erste Blumenmädchen im Parsifal in einer Vorstellung vom 1. November 1937 an der Wiener Staatsoper. Die auch von kleineren Aufgaben durchzogene Liste lässt den Schluss zu, dass es im Verständnis von Elisabeth Schumann von Opern keine eigentlichen Nebenrollen gab. Sie überschritt nie Fachgrenzen, bewegte sich streng im Rahmen ihrer Möglichkeiten und bewahrte sich nicht zuletzt dadurch bis ins Alter einen hervorragenden Sitz ihrer Stimme. Von Wagner und Strauss hielt sie sich bis auf wenige Ausnahmen fern. Stattdessen gehörten die Marie in der Verkauften Braut, Antonia in Hoffmans Erzählungen, Marguerite in Gounods Faust und Ännchen im Freischütz, die Micaëla in Carmen zu ihrem Repertoire. Erfolge feierte sie auch in Opern, die so gut wie nicht mehr auf den Spielplänen stehen, lyrischen Stimmen aber reichhaltige Einsatzmöglichkeiten boten wie die Margiana (Barbier von Bagdad) von Cornelius, die Marie in Zar und Zimmermann, die Nanette im Wildschütz, die Nuri in Tiefland. Gelegentlich trat sie auch in Operetten auf.
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Ihr vielseitiges Wirken auf Opernbühnen findet sich auch auf Tonträgern nur bruchstückartig abgebildet. Schließlich waren in ihrer großen Zeit die dafür notwendigen technischen Voraussetzungen begrenzt. Es lassen sich keine Gesamtaufnahmen nachweisen. Lediglich große Ausschnitte aus dem Rosenkavalier, die der Dramaturgie des Werkes folgen, wurden im September 1933 unter Studiobedingungen in Wien von der Londoner EMI produziert. Bis auf den großen Monolog des Ochs (Richard Mayr) im zweiten Akt sind die entscheidenden Szenen berücksichtigt. Als Marschallin ist Lotte Lehmann, als Octavian Maria Olszewska zu hören. Der renommierte englische Musikkritiker Alan Blyth spricht im Booklet der ersten CD-Ausgabe von einen mädchenhaften stürmischen Portrait der Schumann als Sophie. „Zwar können wir die warmherzige Persönlichkeit und die blitzenden braunen Augen nicht sehen — doch es scheint, als wurden sie sogar von der Aufnahme übertragen.“ Wie schon Legge in seinem Erinnerungsbuch-Buch erwähnt auch Blyth eine Besonderheit der Einspielung. Sie betrifft die beiden letzten Worte der Marschallin: „Ja, ja.“ Nachdem die Lehmann bereits abgereist war, wurde festgestellt, dass sie noch nicht aufgenommen worden waren. Kurzerhand sprang die Schumann ein. Und zwar so, dass es kaum zu merken ist. Sie war in der Lage, sie Situation der Marschallin in diesem Moment der Handlung und das Timbre der Kollegin genau nachzuempfinden. Auch das ist Kunst. Der Nachruhm von Elisabeth Schumann beruht zu einem Großteil auf diesem Dokument mit legendärem Status, das nie vom Markt verschwunden gewesen ist. Naxos hat sich seiner angenommen und gleich zwei Editionen herausgegeben. Nicht nur das. Die Firma gab auch die frühen Arien-Einspielungen der Jahre 1915 bis 1923 und 1926 bis 1938 in vorzüglichem Klang neu heraus. Auf beiden CDs sind jene Komponisten mit Mozart im Mittelpunkt versammelt, in deren Opern sie auch auftrat. Liegt aber die Arie der Baronin aus Lortzings Wildschütz auf oder stimmt das Freischütz-Ännchen ihre Ariette vom Schlanken Burschen an, dann ist zumindest für diese Momente Mozart vergessen. Wer sich am Schalllack-Knistern nicht stört, wird Zeuge ihres Ruhms, kann also nachvollziehen, warum die Sängerin in ihrer Zeit so gefeiert wurde.
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Vergleichen mit solchen Dokumenten schneiden die Liedaufnahmen rein rechnerisch deutlich besser ab. Ihre Exklusivfirma hat im Laufe der Jahre etliche Platten veröffentlicht, die bei später bei Seraphim zu günstigen Preisen neu aufgelegt wurden. 2011 ist noch bei EMI eine Edition mit sechs CDs herausgekommen, die nach der Übernahme durch Warner nochmals kurzeitig im Handel war – inzwischen aber nur noch antiquarisch zu finden ist. Nach wie vor in Sammlerkreisen geschätzt ist die aus vierundzwanzig Boxen bestehende Edition mit Live-Aufnahmen aus der Wiener Staatsoper der dreißiger und vierziger Jahre, die 1993 bei Koch/Schwann erschien. Darin in ist die Schumann gleich zweifach als Waldvogel in Siegfried mit Max Lorenz in der Titelrolle zu hören – und nochmals als Sophie an der Seite von Lotte Lehmann und Anny Konetzni als Marschallinnen.
Auf Spurensuche nach der Sängerin stößt man auch auf eine Biographie in englischer Sprache, erschienen 1996 bei Grant & Cutler in London (978-0729303941). Autor ist Gerd Puritz (1914-2007), der Sohn von Elisabeth Schumann, der 1948 nach England gezogen war, wo er für den deutschsprachigen Dienst der BBC arbeitete. Rüdiger Winter