„Leuchtende Liebe, lachender Tod“

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Das Nachkriegs-Bayreuth lässt an einen Weinberg denken. Es gab sehr gute und weniger gute Jahrgänge. 1955 war ein vorzüglicher. Und das gleich aus mehreren Gründen. Nach Lohengrin stellte Wolfgang Wagner mit dem Holländer seine zweite Inszenierung vor. Damit war der so genannte Bayreuther Kanon wieder komplett. Neben Tannhäuser und Parsifal stand der Ring des Nibelungen in zwei Durchläufen auf dem Spielplan. Wieland Wagner hatte weiter an seinem Regiekonzept gefeilt. Decca war mit der neuesten Aufnahmetechnik angereist, um erstmals seit Beginn von Tonaufnahmen den kompletten Ring in Stereo mitzuschneiden, während es die Schwestergesellschaft Teldec auf den neuen Holländer abgesehen hatte. Der kam aber nur bei der Decca in Stereo heraus, bei der Teldec in Mono.

Allein die Anwesenheit des Teams mit den eigenen Mikrophonen dürfte für zusätzlichen Wirbel im Festspielhaus gesorgt haben. Als Präferenz für die Vermarktung hatte sich die englische Plattenfirma für den ersten Zyklus dieser Saison mit der Astrid-Varnay-Brünnhilde entschieden. Veröffentlicht wurde das einzigartige Dokument (von Testament) aber erst 2006, nachdem es um den von Georg Solti geleiteten spektakulären Decca-Studio-Ring etwas ruhiger geworden war und der Bayreuther Mitschnitt nicht mehr als Konkurrenz im eigenen Unternehmen wahrgenommen wurde.

Drei Jahre später schob Testament ebenfalls in Stereo, doch nicht so konsequent remastert Walküre und Götterdämmerung aus dem zweiten Ring-Zyklus mit Martha Mödl als Brünnhilde nach. Es wurden mehr Bühnengeräusche zugelassen, was die Live-Atmosphäre eher betonte als ihr abträglich schien. Dieser Mitschnitt war zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Er sollte bei der Herstellung des Masterbandes (für den oben erwähnten Varnay-Ring) offenbar als Korrekturmaterial in Reserve gehalten werden. Schade, dass nicht auch noch Rheingold und Siegfried folgten. Dadurch wurde die einmalige Chance vertan, aus einer Saison mit einem fast idealen Ensemble beide Ring-Aufführungen für die Nachwelt in Stereo dokumentiert zu haben.

Glück für Hänssler Profil. Die Firma konnte nun mit dem Siegfried die Brünnhilde der Mödl von 1955 komplettieren (PH23003).

Für die Mödl war die Siegfried-Brünnhilde die wohl heikelste Rolle im Ring: „Die Partie ist zwar kurz, bewegt sich aber immer um eine Terz über meiner Lage. Da musste ich besonders Obacht geben“, wird sie im Booklet aus ihrer vorgeblichen Autobiographie „So war mein Weg“ zitiert. Diese Autobiographie gibt es nicht. Wohl aber ist unter selbigem Titel 1998 bei Parthas ein Buch mit Texten und Protokollen von Gesprächen erschienen, die der Musikschriftsteller Thomas Voigt mit Martha Mödl geführt hat (ISBN 4-932529-08-1). Voigt war wie kein anderer mit ihren künstlerischen Fähigkeiten vertraut. Das versetzte ihn in die Lage, die Frage so zu stellen, dass sich die Mödl in ihren Antworten mitunter erst selbst über bestimmte Einsichten, Fähigkeiten, Vorzüge und Grenzen klar zu werden schien. Lesend ist sie so zu hören. Wer ihr noch persönlich begegnet ist, hat sie in ihrer Unverwechselbarkeit und Schlagfertigkeit plötzlich wieder vor sich. Sie kann wichtige Sachverhalte in klarer und einfacher Sprache abhandeln. Immer auf dem Punkt. Mit den Gesprächs-Matineen, die dem Buch folgten, verhalf Voigt der Mödl in vorgerücktem Alter zu einer dritten Karriere.

Vorangegangen war bei Hänssler Profil bereits ein Album mit dem dritten Aufzug und dem Mittelakt des Parsifal aus demselben Jahr, in dem die Mödl mit der Kundry eine ihrer wesentlichsten Rollen verkörperte (PH21055). Als Herausgeber beider Veröffentlichungen wird Helmut Vetter aus Stuttgart genannt, der 2012 zum hundertsten Geburtstag der Sängerin eine Ausstellung mit Kostümen, Fotos und anderen Dokumenten aus ihrem Nachlass organisiert hatte, die in Bayreuth und in Berlin zu sehen war.

Bernd Zegowitz tritt abermals als Autor des Booklet-Textes in Erscheinung, geht aber auf die besonderen Umstände in dieser Saison nicht ein. Seines Themen unter der Überschrift „Griechische Germanen“ sind die Inszenierung sowie das Wirken Wielands auch außerhalb der Festspiele, die Vorzüge des Dirigenten Joseph Keilberth und des Ensembles, das bis auf die Brünnhilde in beiden Zyklen fast identisch ist.

Die Mödl ist bestens disponiert. Stimmlich hatte sie für mich ihren Höhepunkt erreicht. Sie würde nie mehr besser klingen. Die Bänder stammen nicht von der Decca, sondern wurden vom Bayerischen Rundfunk in Lizenz zur Verfügung gestellt – allerdings im damals üblichen Mono. Mastering und Sounddesign besorgte das Tonstudio von Holger Siedler in Dormagen, das in seiner Internetpräsentation darauf verweist, „Kundenwünsche nach einem authentischen und dynamischen analogen Klang“ erfüllen zu können.

Die Stimmen sind sehr deutlich und präsent. Sie rücken mehr als vielleicht nötig in den Vordergrund. Vor allem in der Erda-Szene. Es ist, als ob Maria von Ilosvay nach dem mächtigen Weckruf durch den Wanderer (Hans Hotter) plötzlich im Raum steht. So nahe kommt sie. Wer selbst schon im Festspielhaus saß, weiß, dass es dort anders, nämlich entfernter klingt. Mythische Distanz ist gewollt und Teil des noch von Richard Wagner erdachten Theaterzaubers. Bei diesem akustisch relativ vordergründigen Konzept bleibt es bis zum strahlenden Schluss, wenn sich Brünnhilde und Siegfried (Wolfgang Windgassen) in den „leuchtenden Liebe lachenden Tod“ stürzen. Bayreuther Akustik hin oder her, faszinierend klingt es unter guten Kopfhörern letztlich schon. Zumal die Mödl noch etwas mehr als ihr Partner mit buchstabengetreuem Ausdruck singt. Eine Fähigkeit, die immer seitdem mehr verloren geht. Die übrige Besetzung dieses Siegfried ist dieselbe wie im Decca-Mitschnitt. Das heißt: Gustav Neidlinger (Alberich), Paul Kuen (Mime), Josef Greindl (Fafner) und Ilse Hollweg (Waldvogel). Rüdiger Winter