„Von ewiger Liebe“

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Startet eine Firma eine neue Gesamtaufnahme aller Lieder von Johanne Brahms, ist dies immer noch ein besonderes Ereignis auf dem Musikmarkt. Zuletzt hatte Hyperion aus London so eine Edition mit insgesamt 249 Titeln einschließlich der Volksliedbearbeitungen vorlegt. Diese abgezogen beläuft sich die einschlägige Abteilung im Schaffen von Brahms auf etwa 200 originäre Lieder. Nun hat Naxos eine eigene Produktion in die Wege geleitet und ist inzwischen bei Vol. 5 angelangt. Begleiter ist stets Ulrich Eisenlohr. Der Auftakt mit Vol. 1 war von Christoph Prégardien bestritten worden (8.57428). Er und der Pianist sind auf dem weiten Feld des Liedgesangs ausgewiesene Fachleute und bringen die für das Vorhaben notwendige Kompetenz – und Prominenz mit. Die Diskographie des 1956 geborenen Tenors Prégardien ist lang und umfasst neben Liedern auch Oratorien und Opern.

Eisenlohr, Jahrgang 1950, saß für Naxos schon bei den Schubert-Lieder-Einspielungen am Klavier und wirkt als Professor für Liedgestaltung an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz. Er beschäftigt sich auch in theoretischen Schriften mit Musik. Seine Analysen in den Booklets sind auch für den musikalischen Laien gut verständlich. Gebührende Erwähnung finden die Verfasser der literarischen Vorlagen, wenngleich die von Brahms gewählten Gedichte „selten von höchster künstlerischer Qualität“ seien. Eisenlohr: „Oft sind die einzelnen Lieder eines Opus zu verschiedenen Zeiten komponiert und erst nachträglich zusammengefasst worden – dies aber niemals zufällig, es sind immer inhaltliche und kompositorische Querverbindungen vorhanden.“ Aufgenommen wurden alle bisher veröffentlichten Teile zwischen September 2020 und Oktober 2022 im nach dem Dirigenten Hans Rosbaud benannten Studio des SWR in Baden-Baden.

Der Spiritus Rector der Edition Ulrich Eisenlohr begleitet die Sänger am Klavier / Naxos

Mit der Programmauswahl auf der ersten CD wird viel Pulver verschossen. Das Beste nicht zuletzt, sondern zuerst. Berücksichtigt wurden die Werkgruppen Opus 32, 43, 86 und 105, in denen sich mehrere der bekanntesten Lieder von Brahms finden. Gleich an erste Stelle steht – einem Programm gleich – aus den Vier Gesängen Op. 43 Von ewiger Liebe, für mich ein Gipfel der hochromantischen Liedkunst. Eisenlohr gelingt es, diese – wie er schreibt – „abendlich ruhige Landschaft“ noch vor dem Einsatz des Sängers musikalisch so eindrücklich darzustellen als sei er Maler und nicht Pianist. Prégardien wählt eine ehr schlichte Vortragsweise, stets bemüht, einen volksliedhaften Ton zu finden. Es folgt die ähnlich angelegte Mainacht. Zu hören sind des weiteren Feldeinsamkeit, Wie Melodien zieht es mir, Immer leiser wird mein Schlummer, Auf dem Kirchhofe, Wie bist du, meine Königin. Der Liedsänger Christoph Prégardien legt größten Wert darauf, auch mit dem Wort verständlich zu sein. Wer die Texte näher besehen oder beim Hören mitlesen möchte, findet unter Naxos.com. Sie können in der Originalsprache sowie in englischer Übersetzung heruntergeladen werden. Die genaue Seite ist auf den CD-Hüllen angegeben. Ein – wie ich finde – Papier sparender und praktischer Service, an dem man sich bei dieser Firma inzwischen gewöhnt hat. Der Auftakt für die neue Edition war gelungen.

Vol. 2 enthält die ersten fünf Hefte der Deutschen Volkslieder, bei denen es sich um Bearbeitungen überlieferter Vorlagen handelt (8.574345). Mit den Quellen beschäftigt sich Eisenlohr im Booklet. Brahms habe sich vor allem aus der Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen“ der Volksliedforscher Andreas Kretzschmer (1775-1839) und Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1803-1869) bedient, die etwas siebenhundert Titel aus dem deutschsprachigen Raum umfasst. Zuccalmaglio, der dreißig Jahre nach Kretzschmer starb, sei es in seiner Forschung „nicht um eine wissenschaftliche Rekonstruktion akribisch gesammelter und konservierter Volksweisen, unabhängig von jeder künstlerischen Qualität gegangen“. Vielmehr habe er Wert auf den „Geist“ des Volksliedes gelegt, wozu Eisenlohr „Ursprünglichkeit, Einfachheit, Klarheit, Tiefe, Wahrhaftigkeit im Inhaltlichen wie im Musikalischen“ zählt. Diese Herangehensweise sei von Brahms mit ganzem Herzen unterstützt worden. Zuccalmaglio veröffentlichte Texte und Melodie. „Brahms‘ künstlerischer Beitrag besteht im Hinzufügen einer Klavierbegleitung. Er begnügte sich dabei keineswegs mit dem Unterlegen simpler Begleitfiguren und akkordischer Grundierungen. Es herrscht große Vielfalt an Ausarbeitungen des Klavierparts“, so der Pianist. Alle Lieder, die Brahms bearbeitet habe, handelten von Geschichten, die das Leben schreibe. Auch wenn die äußerlichen Situationen, die Berufe der handelnden Personen und die Sprache „uns heute antiquiert klingen“ seien Inhalte, die sich um Liebeserklärungen und -abweisungen, Treueschwüre und -brüche, zu Herzen gehende und vergiftete Komplimente, Verführungsversuche, Sex ohne Einverständnis oder Tod in der Blüte des Lebens drehten, immer aktuell.

Insofern macht es Sinn, dass sich junge Sänger, die noch am Beginn ihrer Karriere stehen, diesen Liedern zuwenden und dabei ihren eigenen Erfahrungen und Empfindungen einbringen. Teilen sich in den meisten Aufnahmen zwei Solisten in die Sammlung, wartet Naxos gleich mit vier in unterschiedlichen Stimmlagen auf: Alina Wunderlin (Sopran), Esther Valentin-Fieguth (Mezzosopran), Kieran Carrel (Tenor) und Konstantin Ingenpaß (Bariton). Dadurch kommt eine gewisse singspielartige Atmosphäre auf, die ihren ganz besonderen Reiz hat. Wer wird das nächste Lied singen? Und wie im Flug ist die CD auch schon an ihr Ende gekommen. Musikalisch gelingt schon der Einstieg effektvoll. Eisenlohr betont ihn so, als würde an eine Tür geklopft, hinter der sich diese ganz eigene Welt wie eine große poetische Erzählung auftut: „Sag mir, o schönste Schäf’rin mein“, lässt sich der Tenor vernehmen. Alle Solisten sind sehr gut zu verstehen, was für Lieder wie diese mit ihren gelegentlichen mundartigen Einlassungen unabdingbar ist. Mit Vol. 3 liegen die Die Deutschen Volkslieder nun komplett bei Naxos vor (8.574346). Diese CD enthält die restlichen zwei Hefte. Und noch etwas unterscheidet diese Volkslieder-Einspielung von ihren Vorgängern: Sie ist komplett, enthält auch das siebte Heft, dessen Titel für Vorsänger und kleinen Chor – hier die vier Solisten – angelegt sind. Dadurch kommt noch zusätzlich eine gewisse Theatralik ins Spiel, die ihren ganz besonderen Reiz entfaltet. Nach Auffassung des Pianisten Eisenlohr öffnen sich durch die Wechselgesänge neue Ebenen des Musizierens. Komplettiert wird das Programm der CD mit den Volkskinderliedern. Brahms hatte sie den Kindern von Robert und Clara Schumann gewidmet. Hierbei sei die musikalische Faktur und Ausführbarkeit des Klaviersatzes einfach und „kindgerecht“, so Eisenlohr. Für die Liedauswahl gelte das nicht immer. So gehöre das Heidenröslein mit seiner sexuell konnotierten Symbolik trotz „vordergründig naiver Erzählweise nicht in den Bereich des Kindlichen“.

Alina Wunderlin und Kieran Carrel bestreiten Vol. 4 (8.574489) und Vol. 5 (8.574489). Realisiert wurden neun Werkgruppen mit den Opuszahlen 6, 14, 19, 48 und 70, 71, 95, 97, 107 sowie mit den fünf Ophelia-Liedern ein kleiner Zyklus ohne Opuszahl. „Ein bis heute gängiges Klischee ortet Johannes Brahms mit seinen Klangwelten als Inbegriff norddeutscher Melancholie und Schwerblütigkeit. Wendet man sich mit dieser Erwartung seinen frühen Kompositionen zu, so erlebt man einige Überraschungen.“ Mit diesen Worten leitet Pianist Eisenlohr seinen Text für die vierte CD ein. Mehrere Titel – darunter gleich das erste Lied aus den Sechs Gesängen op. 8 des zwanzigjährigen Komponisten belegen diese Feststellung sehr anschaulich. Es lässt auch deshalb aufhorchen, weil es durch Hugo Wolf vierzig Jahre später in seinem Spanisches Liederbuch populärer wurde als durch Brahms. „In den Schatten meiner Locken schlief mir mein Geliebter ein.“ Der Text stammt von Paul Heyse, dem ersten deutschen Nobelpreisträger. Alina Wunderlin kitzelt die erotische Stimmung geschickt, doch unaufdringlich heraus, so dass man auf Anhieb eben nicht auf Brahms käme. In derselben Werkgruppe vier Lieder weiter gibt er sich schon ehr als derjenige zu erkennen, der sich – wie Eisenlohr treffend anmerkt – als „schwärmerisch, sich vollkommen der Sehnsucht nach der Geliebten und dem Glanz ihrer Augen“ ausliefert. Und damit in einen Seelenzustand versetzt, der als typisch für Brahms gilt. Textdichter des Liedes „Wie die Wolke nach der Sonne“ ist August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Vortragender der Tenor Kieran Carrel, dem zu wünschen ist, dass er mit seinem wohlgebildeten lyrischen Tenor noch klarer in die mit einem Konsonanten beginnenden Wörter hineinfindet – nicht aspiriert. Also „wie“ statt „whie“!

In seinem Textbeitrag für Vol. 5 kommt Ulrich Eisenlohr anhand Programms dieser CD darauf zurück, dass es sicher nicht die Absicht von Brahms gewesen sei, Liederzyklen wie Schubert und Schumann als „eine in sich geschlossene Einheit“ zu schaffen. Nach seinen eigenen Worten habe er einzelne zu unterschiedlichen Zeiten geschaffene Titel später wie ein „Bouquet“ von Blumen zusammengefügt. Für Eisenlohr meint der Begriff „auch eine Zusammengehörigkeit“. Diese könne aus „thematischen Bezugnahmen, Ähnlichkeiten im formalen Bereich oder auch wirkungsvollen Kontrasten im Musikalischen wie im Poetischen entstehen“. Einzelne Gruppen unter diesen Gesichtspunkten, die auch Anregungen für die Beschäftigung mit dem Liedschaffen von Brahms sein wollen, näher besehen – und gehört – kommt einem der Komponisten sehr nahe. Die fünf Ophelia-Lieder, die fast ineinander übergehen, stehen am Schluss. Und sie stehen dort gut. Alina Wunderlin singt sie denn auch wie ein Finale, in dem unnötiger Ballast abgeworfen wird, Text und Musik zu großer Schlichtheit finden. Sie seien als Gelegenheitsarbeit für eine „Schauspielerin ohne Gesangsausbildung“ anzusehen und im Rahmen einer Hamlet-Aufführung als Bestandteil der berühmten Wahnsinns-Szene im Dezember 1873 aufgeführt worden, so Eisenlohr. Brahms benutzt die Übersetzung von August Wilhelm Schlegel. Laut Regieanweisung von William Shakespeare sollten sie auch gesungen vorgetragen werden.  Rüdiger Winter

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Abbildung oben:  Ophelias tragisches Ende durch Ertrinken/Selbstmord, Gemälde von  John Everett Millais (Ausschnitt). / Tate Gallerie London Wikipedia