Wer war Bertha Kirchner?

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Lieder von Wilhelm Kienzl, jenem Kienzle, der mit seinem Evangelimann Musikgeschichte geschrieben hat, bei Toccata Classics (TOCC 0736). Mehr musikalisches Singspiel als traditionelle Oper lebt das Werk vor allen durch zwei Melodien auf Tonträgern fort – den zur Arie geformten Choral „Selig sind, die Verfolgung leiden“ und Magdalenas wehmütige Erinnerungen an ihre „schönen Jugendtage“. Kaum ein Tenor, kaum eine Altisten, die sich damit nicht verewigt haben. Bühnenaufführungen sind ehr selten geworden. Umso erfreulicher ist es, dem Komponisten, der einst sehr populär war, wichtige Posten besetzt hielt und mit den Kollegen seiner Zeit sehr gut vernetzt gewesen ist, in Erinnerung zu bringen. Lieder bieten sich an. Sie sind in der Produktion nicht so aufwändig. Der Markt ist schon vergleichsweise gut versorgt. Zumindest aus zweiter Hand ist die CD mit dem amerikanischen Bariton Steven Kimbrough bei Koch/Schwann noch zu haben. Chandos hatte eine Edition mit Christiane Libor, Carsten Süss und Jochen Kupfer gestartet. Dagmar Schellenberger ist bei cpo zu finden, wo vor gut zwanzig Jahren erstmals auch seine Oper Don Quichotte veröffentlicht wurde. Kienzl hat 238 Lieder mit Klavierbegleitung hinterlassen, die fast alle gedruckt vorliegen. Sie „geben Einblick in ein langes Komponistenleben mit einer stetig musikalischen Entwicklung“, vermerkt die österreichische Musikwissenschaftlerin Carmen Ottner im Booklet, wo sich auch die Liedtexte finden. Diesmal sind vier kleine Zyklen im Angebot, die in dieser Geschlossenheit bisher nicht zugänglich waren auf Tonträger. Darauf wird auf dem Cover zurecht verwiesen. Von einfachen „volkstümlichen“ Liedern bis zu an der Grenze der Atonalität harmonisch gestalteten Kunstliedern dokumentierten die „die erstaunliche Bandbreite einer Künstlerpersönlichkeit“.

Solist der neuen CD ist der Tenor Malte Müller. Er wird von Werner Heinrich Schmitt am Klavier begleitet. Müller begann seine Ausbildung bei den Regensburger Domspatzen, studierte zunächst Jura und anschließend Gesang an der Musikhochschule Mannheim. Zum Liedgesang fühlt er sich besonders hingezogen. Er könnte etwas freier singen. In den vielen von Leidenschaft getragenen Liedern entfalten sich die Gefühle, mit denen es rauf und runter geht, nicht immer überzeugend. Sie werden gedeckelt und ausgebremst. Der Vortrag wirkt auf mich zu introvertiert, um noch als so gewollt und beabsichtigt verstanden zu werden. Müller singt für meinen Geschmack oft zu groß. Sein Ansatz hat gelegentlich schon heldisch Züge, die sich mit den poetischen Botschaften oft nicht gut vertragen. Dafür ist er, was für einen Liedsänger ein großer Vorteil ist, ziemlich gut zu verstehen. Sein Timbre hat Wiedererkennungswert. Ottner: „Prinzipiell dominieren Liebesgedichte Kienzls Lieschaffen, oftmals in Verbindung mit Naturbildern, eine Usance, die von zeitgenössischen Musikwissenschaftlern als Schwäche angeprangert wurde.“ Hinsichtlich der textlichen Vorlagen lasse sich Kienzls Oeuvre in zwei Gruppen einteilen: „Volkstümliche“ – und „Kunstlieder“. Der überwiegende Teil der Gedichte stamme von zeitgenössischen, eher wenige von bedeutenden romantischen Dichtern. „Wollte Kienzl einen Vergleich mit Liedkomponisten wie Schubert, Schumann, Brahms, Wolf vermeiden“, fragt sich die Autorin. „Man könnte aber auch das Bildungsideal der damaligen Zeit, in seinem Elternhaus gepflegt, als Erklärung heranziehen.“

Seine literarischen Vorlagen haben oft einen direkten Bezug zu persönlichen Beziehungen mit den Autoren. Den Angaben im Booklet zufolge war Kienzl gut bekannt mit Robert Hamerling (1830-1889), Hermann Lingg (1820-1905) und Peter Rosegger (1843-1918). Linggs Gedicht „Immer leiser wird mein Schlumme“ haben auch Johannes Brahms und Hans Pfitzner vertont. Besonders eng war die Freundschaft mit Rosegger, der in vielen Städten mit Straßennamen und Denkmälern geehrt wurde. Ihr reger Briefwechsel wurde in Buchform veröffentlicht. Als Dichter des Liedes „Wie ist doch die Erde so schön“ taucht Robert Reinick (1805-1852) auf, der Italien bereist hatte und auch als Kunstmaler wirkte. Er war mit Richard Wagner, Ferdinand Hiller und Robert Schumann bekannt, für dessen Oper Genoveva er das Libretto beisteuerte. Solcherart waren damals die segensreichen Verknüpfungen. Nach Angaben der Booklet-Autorin wurden zur Lebenszeit des Komponisten Wilhelm Kienzl Lieder stets von bedeutenden Sängerinnen und Sängern interpretiert, wie es auch durch die Widmungen der auf der CD interpretierten Werke deutlich wird. Der Zyklus Liebesfrühling, der auf Gedichten von Friedrich Rückert beruht, ist Paul Bulss, in anderen Quellen Bulß geschrieben (1847-1902), zugeeignet. Er trat erfolgreiche in Dresden, Berlin und Wien als Holländer, Don Giovanni und Hans Heiling auf. Eine direkte Verbindung zu Kienzl ergibt sich auch daher, dass er in den Uraufführungen seiner Opern Evangelimann (Johannes Freudhofer) und Don Quichotte (Carrasco) mitwirkte. Und wer war Fräulein Bertha Kirchner? Kienzl hat der Königlich Preußischen Hofopernsängerin sein Opus 24 in Form von Drei Albumblättern gewidmet. Mehr ist auch aus dem Booklet nicht zu erfahren. In der siebenbändigen Ausgabe des Großen Sängerlexikons von K.J. Kutsch und Leo Riemens wird sie nicht genannt. In Besetzungslisten der infrage kommenden Berliner Premieren taucht sie auch nicht auf. Rüdiger Winter

  1. Heiko Cullmann

    Über die Sopranistin Bertha Kirchner gibt es nur wenige Daten in historischen Musikzeitschriften oder Büchern: Erste Auftritte – wohl noch als Studentin – fanden in Berlin statt, so 1873 im Grand Hôtel de Rome (Arie von Lotti, Lieder von Dessauer und Taubert) oder 1874 beim Kotzold’schen Gesangsverein (Lieder von Schubert, Hinrich und Taubert). Im »Staats-Handbuch für das Großherzogtum Sachsen – Weimar – Eisenach« des Jahres 1874 ist sie in der Rubrik „Hofschauspielerinnen und Opern-Sängerinnen“ zu finden. 1878 wird Kirchner als neues Ensemblemitglied am Theater Breslau begrüßt und als „Opern-Soubrette vom Hoftheater Weimar“ bezeichnet. 1879 debütierte sie in Hamburg „mit recht günstigem Erfolg“ als Marie in Lortzings »Zar und Zimmermann«. Der »Hamburgische Correspondent« (11. Januar 1879) berichtete weiter: „Dem Vernehmen nach ist Fräul. Kirchner als Vertreterin des Soubretten-Faches in den Verband der Oper des hiesigen Stadt-Theaters eingetreten.“ Zwischen 1879 bis 1883 gehörte Kirchner dem Ensemble des Königlichen Theaters zu Kassel an, wo sie u. a. 1881 die Titelrolle in »Carmen« übernahm. (Christiane Bernsdorff-Engelbrecht: »Theater in Kassel. Aus der Geschichte des Staatstheaters Kassel, von den Anfängen bis zur Gegenwart«, Kassel 1959). Sie gastierte am Hoftheater in Schwerin als Marie in Lortzings »Der Waffenschmied« und Zerline in Aubers »Fra Diavolo« (»Wiener Theater-Chronik«, 01. August 1883). Ab 1883 ist noch ein Engagement als Solistin am Stadttheater Augsburg nachzuweisen. Von dort aus gastierte sie ein Jahr später im Theater am Gärtnerplatz in München in Genées »Der Geiger von Tirol« und Offenbachs »Orpheus in der Unterwelt«: „Bertha Kircher, ein routinierter[,] aber etwas scharfer Sopran sang die Eurydice.“ (»Bote von Tirol und Vorarlberg«, 04. Juni 1884) Die »Allgemeine Zeitung« aus Augsburg warnte anlässlich des gleichen Gastspiels am 25. Mai 1884: „Wir möchten auch dem Fräulein, das mit rühmenswerter Ausdauer und Bravour gesungen, im Interesse ihrer Stimme und im Hinblick auf die mäßigen hiesigen Raumverhältnisse nur rathen, ihren ohnedies hellen Sopran nicht ohne Noth zu forcieren, da derselbe sonst leicht in ein unschön schmetterndes Tremolieren verfällt.“ 1890 findet man Bertha Kirchner noch einmal beim Belle-Alliance-Theater in Berlin, dort allerdings unter den Damen des Chores. Letztmalig erscheint ihr Name im »Berliner Börsen-Courier« vom 11. Juni 1902: „Gestorben: Frl. Bertha Kirchner (Berlin)“.

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