Archiv für den Monat: Oktober 2023

Tanzende Cowboys

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Man muss sich schon für tanzende Cowboys und Country und Hornpipe Tänze begeistern können und Gefallen an drollig naiven Liebeständeleien haben, um sich für Oklahoma! zu begeistern. Das Musical, das in den USA so etwas wie nationales Erbe darstellt, ist hierzulande eine ausgesprochene Rarität. Das deutsche Publikum lernte die Farmhaus-Geschichte erst 1973 in Münster kennen. Dreißig Jahr zuvor hatte die erste Zusammenarbeit von Richard Rodgers und Oscar Greeley Clendenning Hammerstein II. mit 2200 Aufführungen einen der größten Musicalerfolge am Broadway installiert.

Im Juli 2022 begaben sich in London zahlreiche Musical-Spezialisten ins Sainsbury Theatre der Royal Academy of Music, um die erste komplette Aufnahme des Musicals zu realisieren, „where every note is played and where they are played as originally writen“. Den philologischen Ernst können wir bewundern, aber ebenso wenig einschätzen wie den korrekten Oklahoma-Akzent (2 CD Chandos CHSA 5322/2). Doch es ist schön, eines der zentralen „goldene age musicals“ aus der großen Zeit des amerikanischen Musicals in einer herausragenden Wiedergabe zu erleben, die beim mehrmaligen Hören die Brillanz, Leichtigkeit und Klarheit der originalen Orchestration von Robert Russell Bennett unterstreicht und von John Wilson und der Sinfonia of London punktgenau ausgespielt wird. Großartig sind die Chor- und Ensembleszenen mit den zahlreichen prägnanten Soloeinwürfe zu Beginn des zweiten Aktes. Der Chor des Oklahoma! Ensembles scheint handverlesen. Wilson, der von einer „informed historical performance“ spricht, benutzt die gleiche Besetzung wie 1943, darunter sechs erste und vier zweite Violinen, je zwei Bratschen, Celli und Bässe sowie umfangreiche Holzbläser, Schlagzeug und Gitarre.

Es singen erfahrene Kräfte, keine Opernstars, wie beispielsweise einst auf den John McGlinn-Aufnahmen von Jerome Kerns Show Boat und Cole Porters Kiss me Kate bei EMI. Kern wurde ursprünglich auch ins Auge gefasst, als Hammerstein aus dem nicht sonderlich erfolgreichen Broadway-Stück Green Grow the Lilacs von Lynn Riggs ein Musical machen sollte. Lynn Riggs, dem der Staat Oklahoma bei seinem Tod 1954 ein Ehrenbegräbnis ausrichtete, siedelte sein Stück im Jahr 1900 auf dem Indianergebiet seiner Kindheit wenige Jahre vor der Gründung des Staates Oklahoma an und zeigt eine Dreiecksgeschichte zwischen dem Cowboy Curley, der Farmertochter Laurey und dem Farmgehilfen Jud. Nathaniel Hackmann und Sierra Boggess geben ein reizendes Farmer-Paar ab, mehr Farbe und Charakter besitzt der wandelbare Bariton Rodney Earl Clarke als Jud. Auch die weiteren Rollen sind typgerecht besetzt: Jamie Parker als Will, Louise Ado als Annie und Nadim Naaman als Aki, die in einer Nebenhandlung den Hauptstrang spiegeln, sowie Sandra Marvin als Tante Eller. Das Musical erhält einen tragischen Anstrich, als bei der Eheschließung von Curly und Laurey, deren Hochzeit nie in Frage stand, sich Jud der Braut nähert und sich in einem Zweikampf mit Curly tödlich verwundet. In der adhoc anberaumten Verhandlung wird Curly freigesprochen. Das Brautpaar kann in die Flitterwochen reisen. Alle singen den Oklahoma-Hymnus „Oklahoma, where the wind comes sweepin‘ down the plain“, und schließlich zu allerletzt „Oh, what a beautiful mornin! Oh, what a beautiful day!“ Ungewöhnlicher als der Mord in einem Musical war die 15minütige Traumszene der Laurey am Ende des ersten Aktes, auch wenn sie nicht ohne Vorbild ist, und die von Agnes de Mill choreographierten Tanzszenen im zweiten Akt, die allesamt in die Handlung integriert sind und bis heute als stilprägend gelten; wie Rodgers, Hammerstein und Riggs firmiert de Mille, die sich durch die Choreographie zu Coplands Rodeo empfohlen hatte, auch auf der CD noch unter den Autoren.  Rolf Fath

 

Eine Wiener Geschichte

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„Aber die Liebe …“ So der Titel einer Johannes-Brahms-CD, die bei Prospero erschienen ist (Prosp 0058). Marie-Claude Chappuis (Foto oben aus dem Booklet) singt zehn Lieder aus unterschiedlichen Werkgruppen, bei denen sie von Christian Chamorel begleitet wird, der seinerseits als Solist drei Klavierstücke aus den Sieben Fantasien Op. 116 beisteuert. Diese kleinen Zwischenspiele sind gut platziert. Eine Praxis, die so auch bei klassischen Liederabenden im Konzert vorstellbar ist. Auf diese Weise könnten sich Pianisten auch jenseits ihrer Rolle als Begleiter profilieren. Bei den Vier ernsten Gesängen ersetzt das Quartett Sine Nomine mit Patrick Genet (Violine 1), Francois Gottraux (Violine 2), Hans Egidi (Viola) und Mare Jaermann (Violoncello) das originale Pianoforte. Eine Bearbeitung mit Seltenheitswert. Sie stammt vom Schweizer Violinisten und Arrangeur Jean-Pierre Moeckli, der sie sehr feinsinnig und diskret angelegt hat – als wolle er sich vor Brahms verneigen. Eine Version also, die dem Original den nötigen Respekt zollt.

Die weit verbreitete Neigung zu Bearbeitungen ist fast so alt wie das letzte Liederwerk des Komponisten selbst. Max Reger, der mit Brahms in dessen Todesjahr in brieflichen Austausch trat, setzte die Gesänge „Für Klavier allein“, der Kirchenmusiker Helmut Bornefeld lässt wie andere vor ihm den Sänger von der Orgel begleitet. Ähnlich Reger verzichtet auch der zeitgenössische Posaunisten Barnaby Kerekes in seiner Fassung für Tenor- oder Bassposaune und Klavier auf einen Gesangssolisten. Die Vier ernsten Gesänge wurden ursprünglich für Bassstimme und Klavier komponiert und dem Maler, Grafiker und Bildhauer Max Klinger gewidmet. Damit stattete er seinen Dank für den graphischen Zyklus „Die Brahms-Phantasie“ ab. Dabei handelt es sich um Radierungen und Steinzeichnungen zur Illustration diverser Vokalkompositionen. Das Brahms-Denkmal für dessen Geburtsstadt Hamburg vollendete Klinger 1909. Es steht in der heutigen Laiszhalle.

Konzertszene im alten Bösendorfer-Saal im Palais Liechtenstein in Wien / Wikipedia

Textgrundlage der ersten drei Lieder („Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh“, „Ich wandte mich, und sahe an“, „O Tod, wie bitter bist du“) sind Themen über Vergänglichkeit aus dem Alten Testament. Für das vierte („Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete“) griff Brahms auf das Neue Testament zurück, indem er Glaube, Hoffnung und Liebe beschwor. Der Zyklus entstand ein Jahr vor seinem Tod unter dem Eindruck des schweren Schlaganfalls, den die verehrte Freundin Clara Schumann erlitten hatte. Neben der originären Version existieren Ausgaben für Sopran und Tenor sowie für Alt und Bariton, deren Drucklegung Brahms noch selbst überwacht haben soll. Wann erstmals eine Frau den vierteiligen Zyklus öffentlich vortrug, ließ sich nicht herausfinden. Die Altistin Sigrid Onégin dürfte eine der ersten, wenn nicht die erste gewesen sein, die 1922 eine Schallplattenaufnahme mit damals üblicher Studio-Orchesterbegleitung vorlegte. Für 1939 ist Emmi Leisner in Begleitung von Michael Raucheisen dokumentiert. Von der Altistin Kathleen Ferrier gibt es gleich drei Aufnahmen und zwar von 1947, 1949 und 1950, eine davon in englischer Übersetzung mit einem eigenwilligen Orchesterarrangement, das von Malcolm Sargent, dem Dirigenten dieses Mitschnitt aus der Londoner Royal Albert Hall besorgt wurde. In traditioneller Klavierfassung haben auch Kirsten Flagstad, Nell Rankin, Rose Bampton, Gertrude Pitzinger, Janet Baker, Barbara Manford, Martha Kessler, Aafje Heynis, Maureen Forrester, Jadwiga Rappé, und Brigitte Fassbaender Aufnahmen gemacht. Zudem sind Marie-Nicole Lemieux, Madeleine Jalbert, Ruth-Maria Nicolay, Linda Finnie, Cornelia Wulkopf und Tamara Takács für das Werk ins Studio gegangen. Bei der Recherche war ich selbst überrascht, wie viele Dokumente mit Sängerinnen zusammen kamen.

Mit dieser Anzeige wurde die Uraufführung der Vier ernsten Gesänge angekündigt/Wikipedia

Marie-Claude Chappuis, vom Haus aus Mezzosopranistin mit Erfahrungen in Barockmusik, Bachs Oratorien und Mozarts Opern, findet in der aktuellsten Einspielung einen betont lyrischen Ansatz und erweitert damit das Ausdrucksspektrum für die Interpretation dieses Zyklus auch jenseits der männlichen Interpreten, die in der Aufnahmestatistik nach einem groben Überblick in der Mehrzahl sind. Obwohl es auch die Tenor-Einrichtung gibt, dominieren die tiefen Stimmlagen: Alexander Kipnis, Paul Gümmer, Hermann Schey, Hans Hotter, Kim Borg, Harald Stamm, Hermann Prey, Georg London, José van Dam, Thomas Quasthoff, Theo Adam, Siegfried Lorenz, Sherril Milnes, Andreas Schmidt, Nathan Berg, Norman Foster, Robert Holl, Kurt Moll, Christian Immler, Arttu Kataja, Gerald Finley, Christian Gerhaher, Matthias Goerne, Günther Groissböck und Georg Zeppenfeld. Dietrich Fischer-Dieskau hatte gar 1949 bei der Deutschen Grammophon mit den Vier ernsten Gesängen seine erfolgreiche Schallplattenkarriere begonnen. Noch keine fünfundzwanzig, gelang ihm ein ungewöhnlicher Kontrast zwischen seiner Jugend und dem „bitteren Tod“ des dritten Liedes. Es sollte nicht bei einer Aufnahme bleiben.

Der Holländer Anton Sistermans war Sänger  der Urauffühung / Sammlung Manskopf

Die Uraufführung hatte am 9. November 1896 im Wiener Bösendorfer-Saal durch den holländischen Heldenbariton Bariton Anton Sistermans stattgefunden, der 1899 bei den Bayreuther Festspielen als Gurnemanz und Pogner mitwirkte. Dieser Saal, der mehr als fünfhundert Besuchern Platz bot und in dieser Form bis 1913 existierte, befand sich im später abgerissenen Palais Liechtenstein in der Herrengasse und war wegen seiner Akustik bei einem erlesenen Publikum überaus geschätzt. Der gebürtige Wiener Schriftsteller Stefan Zweig setzte ihm in seinem Erinnerungsbuch „Die Welt von gestern“ ein literarisches Denkmal indem er das letzte Konzert mit Kammermusik von Beethoven beschrieb: „Wir lärmten und applaudierten, einige Frauen schluchzten vor Erregung, niemand wollte es wahrhaben, dass es ein Abschied war. Man verlöschte im Saal die Lichter, um uns zu verjagen. Keiner von den vier- oder fünfhundert Fanatikern wich von seinem Platz.“ Der Name des Saals geht auf den Klavierbauer Ludwig Bösendorfer zurück, dessen Instrumente auch bei den Konzerten zum Einsatz kamen. Von Sistermans haben sich einige akustische Aufnahmen, darunter zwei Brahms-Lieder, erhalten. Bei aller technischen Unzulänglichkeit vermitteln sie einen Eindruck davon, wie es gelungen haben könnte bei Uraufführung. Sistermans hatte eine elegante, ruhige Stimme. Sein Legato war vorbildlich, der Ausdruck durch ein gewisses Pathos sehr der Zeit verhaftet.

Die Altistin Julia Culp und der Pianist Coenraad V. Bos, der bei der Uraufführung die Sänger begleitet haben will. / Wikipedia

Und wer saß am Klavier? Darum ranken sich Legenden. Organisiert hatte das Konzert, für das auch Lieder aus Schuberts Müllerin, zwei Balladen von Loewe sowie „Lieder neuerer Componisten“ angekündigt waren, der namhafte Wiener Musikalienhändler und Konzertagent Albert Gutmann, der ein eigenes Geschäft in der Hofoper betrieb. Er hatte zahlreiche in- und ausländische Künstler und Ensembles unter Vertrag und unterhielt Büros in London, Paris und Berlin. In einer von ihm geschalteten Zeitungsanzeige wird Anton Rückauf (1855-1903) genannt, der „die Clavierbegleitung freundlichst übernommen“ habe. Rückauf war Komponist, Musikpädagoge und Pianist in einem. Seine Lieder mit einem extrem schwierigen Klaviersatz wurden seinerzeit oft aufgeführt. Für seine Bedeutung spricht auch, dass er in Wien auf dem Zentralfriedhof in einem Ehrengrab beigesetzt wurde. Nach Angaben der Mahler Foundation im Internet soll sich Anton Sistermans Brahms selbst als Begleiter gewünscht haben, der aber ablehnte. Stattdessen sei diese Aufgabe vom Pianisten Coenraad V. Bos übernommen worden. Er war ein Landsmann von Sistermans und zum Zeitpunkt der Uraufführung einundzwanzig Jahre alt. Auch Wikipedia folgt dieser Darstellung und gibt als Quelle Bos selbst an. Der hatte in dem 1949 in Philadelphia erschienen Buch „The Weel-Tempered Accompanist“, das von Ashley Pettis herausgegeben wurde, von seiner Mitwirkung an der Uraufführung berichtet. Nach dem Konzert, so Bos, „kam Brahms ins Künstlerzimmer und bedankte sich herzlich bei [Anton] Sistermans und mir für unsere Darbietung, die, wie er sagte, seine Absichten perfekt in die Tat umsetzte“.

Ein Blatt aus dem Zyklus Brahmsphantasie von Max Klinger. Dafür widmete ihm der Komponist seine „Vier ernsten Gesänge“. / Wikipedia

In seiner umfangreichen achtbändigen Biographie des Komponisten geht der Musikschriftsteller und Kritiker Max Kalbeck (1850-1921) ausführlich auf die Uraufführung ein. Sie ist zwischen 1904 und 1914 als Fortsetzung erschienen und gilt trotz zeitgebundener Unkorrektheiten immer noch als eine wesentliche musikhistorische Quelle. Kalbeck hatte Brahms 1874 kennengelernt und war ihm fortan eng verbunden. „Bis kurz vor seinem Tode besuchte Brahms noch Konzert und Theater“, heißt es darin. Nur sei er „absolut nicht dazu zu bewegen“ gewesen, sich seine Vier ernsten Gesänge anzuhören. „Weder kam er in den Tonkünstlerverein, als sie dort von Felix Kraus am 30. Oktober gesungen wurden, noch erschien er im Künstlerzimmer oder bezog seinen Horcherposten bei Bösendorfer, wo Anton Sistermans das Werk am 9. November in die Öffentlichkeit einführte.“ Kalbeck zitiert eine Bemerkung des Sängers, mit der auch die Angaben der Mahler Foundation bestätigt wird, wonach er am liebsten mit Brahms gemeinsam aufgetreten wäre. „Nach früheren Begegnungen mit Brahms glaubte Sistermans, eine solche Bitte wagen zu dürfen“, so Kalbeck. Mehr nicht. Folglich ist nach derzeitigem Stand der Dinge davon auszugehen, dass Anton Rückauf am Flügel saß.

Den Darstellungen von Kalbeck zufolge war der eigentlichen Uraufführung eine offenbar nicht öffentliche Vorstellung der Vier ernsten Gesänge im kleineren Kreis vorausgegangen. Solist war der 1870 geborene Felix von Kraus. Obwohl sein Hauptbetätigungsfeld der Konzertsaal gewesen ist, trat auch er in Bayreuth auf und alternierte 1899 sogar mit Sistermans als Gurnemanz. Kraus hat Erinnerungen an Brahms, Bruckner und Cosima Wagner hinterlassen, die 1961 im Kommissionsverlag bei Franz Hain in Wien herausgegeben wurden. Auf seinem Begleiter geht er nicht ein. War es der nur fünf Jahre jüngere Coenraad V. Bos? Bos, der 1955 starb, erlebte noch den Beginn der Langspielplattenära. Bei der schon erwähnte Einspielung der Vier ernsten Gesänge durch die amerikanische Altistin Nell Rankin für Capitol Records spielt er den Flügel. Für die vom englischen Produzenten Walter Legge initiierte Hugo Wolf Society begleitete Bos Elisabeth Rethberg, Elena Gerhardt, Herbert Janssen, Gerhard Hüsch und Alexander Kipnis.  Rüdiger Winter

In walisisches

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Die sieben Jahrzehnte seit seiner ersten Aufführung hat das Oratorium Saint David oder besser Dewi Sant von Arwel Hughes gut überstanden. Es behauptet einen sicheren Platz im Chorleben von Wales, wie es denn überhaupt wesentlich zu einer walisischen Musikidentität betrug. Hierzulande dürfte keiner den walisischen Komponisten Arwel Hughes (1909-88) kennen, der u.a. Schüler von Ralph Vaughan Williams war und als Mitarbeiter der BBC Wales unauffällig blieb. Bei der 1946 in Cardiff entstandenen Welsh National Opera spielte Hughes als Dirigent eine nicht unbedeutende Rolle, zudem lieferte er ihr 1953 das erste Werk eines walisischen Komponisten: Hughes selbst dirigierte Menna mit den namhaften Gästen Richard Lewis und Elsie Morrison in den Hauptrollen. 1960 folgte die komische Oper Serch yw’r Doctor nach Molière. Beide Werke spielten eine wesentliche Rolle in der Entwicklung einer walisischen Oper.

Als Komponist konnte sich Hughes jedoch vor allem durch seine großen Chorwerke einen bleibenden Namen sichern, darunter seine beiden Oratorien Dewi Sant 1951 als Auftragswerk des Festival of Britain entstanden sowie dreizehn Jahre später Pantycelyn. Beider Texte stammen von Hughes‘ BBC-Kollegen und Dichter Aneirin Talfan Davies. In dem 70minütigen Oratorium über David von Menevia, den im 6. Jahrhundert lebenden Schutzpatron von Wales, verbinden sich schlichte Melodik und handwerkliche Gediegenheit zu einem eingängigen Werk, das seine Höhepunkte in den Soloarien von Sopran, Tenor oder Bariton findet. Am überzeugendsten wirken die Passagen des Baritons im dritten Abschnitt, die der Bassbariton Paul Carey Jones, der den Wotan beim Longborough Opera Festival zu seinen größten Herausforderungen zählt, mit markanter Stimme und Elan singt. Der Sopranpart, den in der im November 2022 in Cardiff entstandenen Aufnahme seine Wagner-Kollegin Susan Bullock übernommen hat, bleibt gesichtslos, während der walisische Tenor Rhodri Prys Jones, der sich zur Zeit der Aufnahme an der WNO als Ernesto beweisen konnte, mit süßem Timbre im „Kyrie Eleison“ – die einzige lateinische Zeile im Oratorium – einen guten Eindruck hinterlässt. Für das BBC National Orchestra & Chorus of Wales ist Dewi Sant eine Sache von nationalem Interesse. Hughes‘ Sohn Owein Arwel Hughes (*1942), der seit seiner Kindheit mit dem Oratorium vertraut ist, an der Welsh National Opera als Dirigent in die Fußstapfen seines Vaters trat, aber auch an der English National Opera wirkte, verfasste den Text zur CD und dirigierte die Aufnahme mit souveräner Überzeugungskraft (Rubicon RCD1100). Rolf Fath

Klemperer zum Zweiten

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Wie bereits erwartet, schiebt Warner Classics nun den zweiten Teil seiner Otto Klemperer Remastered Edition nach (5 054197 528996) nach. Zwar sind es diesmal bei Vol. 2 „nur“ 29 CDs (statt 95), jedoch ist auch diese Box nicht von schlechten Eltern und deckt gut die Bandbreite dieses legendären Dirigenten ab. Die Einspielungen sind bereits sämtlich in Stereophonie festgehalten und entstanden in den Jahren zwischen 1960 und 1971, weithin als Klemperers „Indian Summer“ bekannt geworden.

Mit Johann Sebastian Bach bringt man Otto Klemperer nicht unbedingt gleich in Verbindung, doch ging seine Bach-Begeisterung soweit, dass er die h-Moll-Messe gar als die größte Musik überhaupt bezeichnete. Mit Agnes Giebel, Janet Baker, Nicolai Gedda, Hermann Prey und Franz Crass stand 1967 ein hervorragendes Solistenensemble zur Verfügung. Trotz aller Monumentalität, die Klemperer dieser gewaltigen Messe angedeihen lässt, ist sein stets transparenter Ansatz auch hier spürbar. So sind die Chormassen des BBC Chorus keineswegs verwaschen oder undeutlich. Das New Philharmonia Orchestra ist bestens aufgelegt und der Klang erfreulich klar und detailliert.

Wenig bekannt, hatte Klemperer die Chöre der h-Moll-Messe bereits 1961 erstmals für EMI eingespielt, hier mit dem Philharmonia Chorus und dem Philharmonia Orchestra. Die Erstveröffentlichung war erst Jahrzehnte später beim Label Testament erfolgt. Hier nun folgt eine Wiederauflage, die zum Vergleichen anregt. Tempomäßig gibt es kaum Unterschiede, jedoch ist der Klang sechs Jahre früher hörbar unterlegen, so dass dieser Bonus eher von historischem Interesse bleibt und der Gesamtaufnahme keine wirkliche Konkurrenz machen kann. Ungleich berühmter wurde bereits seinerzeit Klemperers Einspielung der Matthäus-Passion von 1960/61. Die Solisten könnten nicht prominenter besetzt sein: Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Pears, Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Nicolai Gedda und Walter Berry brillieren sämtlich. Aus heutiger Sicht auffällig die besonders getragenen Tempi, die die meisten HIP-Befürworter ratlos zurücklassen dürften. Ebenfalls dem Spätbarock zugeordnet werden muss Händels Messiah, den Klemperer 1964 vorlegte. Elisabeth Schwarzkopf, Grace Hoffman, Nicolai Gedda und Jerome Hines bildeten das Solistenquartett. Verglichen mit den zeitgenössischen Interpretationen von Leonard Bernstein (Columbia) und Hermann Scherchen (Westminster) mutet Klemperers Lesart beinahe modern an. Im Zuge der Originalklang-Bewegung geriet sie indes bereits bald nach ihrem Erscheinen ins Abseits und war seither lediglich Enthusiasten weiterhin geläufig.

Chronologisch am nächsten sind Klemperers Einspielungen diverser Mozart-Opern einzuordnen. Vor allem die 1964 als erste produzierte Zauberflöte (u. a. mit Lucia Popp, Gundula Janowitz, Nicolai Gedda, Walter Berry und Gottlob Frick) gilt bis heute als absoluter Klassiker und wird nicht selten nach wie vor als Referenzaufnahme benannt. Der Don Giovanni von 1966 (u. a. mit Nicolai Ghiaurov, Claire Watson, Christa Ludwig, Walter Berry und Franz Crass) hat als besonders titanenhafte Darbietung zurecht ebenfalls einen festen Platz in der Diskographie gefunden. Weit weniger vorteilhaft wurden bereits bei ihrem Erscheinen Klemperers Le nozze di Figaro (1970) und Così fan tutte (1971) beurteilt. Diese seien zu spät entstanden und insgesamt zu schwerfällig ausgefallen. Freilich hat gerade der Figaro eine der überzeugendsten auf Tonträger überlieferten Besetzungen vorzuweisen (Geraint Evans, Reri Grist, Elisabeth Söderström, Teresa Berganza und Gabriel Bacquier) und muss nach über einem halben Jahrhundert als viel besser als sein Ruf betrachtet werden. Die Così stellte tatsächlich Klemperers letzte Operneinspielung überhaupt dar (Margaret Price, Yvonne Minton, Lucia Popp, Luigi Alva, Geraint Evans und Hans Sotin).

Seit langem bewährte Klassiker stellen Klemperers Einspielungen von Beethovens einziger Oper Fidelio (Christa Ludwig, Jon Vickers, Gottlob Frick, Walter Berry, Gerhard Unger, Franz Crass, Ingeborg Hallstein – wobei erwähnt werden sollte, dass die Dialoge nicht von ihr sondern von Elisabeth Schwarzkopf gesprochen werden, eine Trouvaille für Kenner!) und BrahmsEin deutsches Requiem (Elisabeth Schwarzkopf, Dietrich Fischer-Dieskau) dar. Sie entstanden zu einem Zeitpunkt, als das Philharmonia Orchestra in seiner ursprünglichen Form noch existierte (1962 bzw. 1961). EMI-Produzent Walter Legge ließ es 1964 auflösen, wonach es sich als New Philharmonia Orchestra selbstverwaltete. Insofern ist es nur folgerichtig, wenn letzteres 1965 bei der Einspielung der Beethoven’schen Missa solemnis zum Einsatz kam (Elisabeth Söderström, Marga Höffgen, Waldemar Kmentt, Martti Talvela).

Den letzten großen Themenkomplex der Kollektion bildet die Musik von Richard Wagner. Obwohl zeitlebens ein Wagnerianer, erhielt Klemperer erst im hohen Alter die Möglichkeit, dessen Opernschaffen innerhalb der eigenen Diskographie zu berücksichtigen. So dirigierte er zwar bereits 1949 die Meistersinger in Budapest (Auszüge in ungarischer Sprache haben sich erhalten) und 1963 den Lohengrin in Covent Garden (die BBC verpasste die Chance, dieses Ereignis mitzuschneiden), doch die erste Gesamteinspielung einer Wagner-Oper stand erst 1968 mit dem Fliegenden Holländer an. Klemperer, inzwischen beinahe 83, legte dirigentisch eine atemberaubende Aufnahme vor, die in dieser Wucht ihresgleichen sucht. Mit Theo Adam, Anja Silja, Martti Talvela, Gerhard Unger, Ernst Kozub und Annelies Burmeister sehr gut bis hervorragend besetzt, wurde sie rasch zu einer Standardempfehlung. Insofern als der Dirigent die frühere Fassung des Finales ohne Erlösungsthema wählte, blieb er seiner mitunter schroffen Nüchternheit treu, der jeder Anflug von Romantisierung ein Dorn im Auge war. Leider zu spät wurde das Projekt einer Ring-Einspielung in Angriff genommen.

Lediglich der erste Aufzug der Walküre (mit Helga Dernesch, William Cochran und Hans Sotin nicht ganz optimal besetzt) sowie Wotans Abschied (mit Norman Bailey) konnten Ende 1969 bzw. Ende 1970 noch vorgelegt werden. Die Kräfte des mittlerweile 85-Jährigen reichten bedauerlicherweise nicht mehr, um zumindest diese populärste Ring-Oper zu Ende zu bringen. Was erhalten ist, gewissermaßen eine Art großer Querschnitt, vermittelt zumindest einen groben Eindruck, wie Klemperer die Tetralogie angelegt hätte. Die mitunter exorbitant breiten Tempomaße (fast 20 Minuten für den Wotan-Abschied) dürften freilich ein Tribut an das hohe Alter gewesen sein. Nichtsdestoweniger ist das Ergebnis auf seine Art für sich einnehmend. Gleichsam als Schmankerl sind noch die deutlich früher, nämlich 1962 eingespielten Wesendonck-Lieder sowie Isoldes Liebestod mit der großartigen Christa Ludwig beigegeben.

Abgerundet wird die Box durch zwei Dokumentationen, zum einen Behind the Scenes der besagten Don Giovanni-Produktion, zum anderen die Doku An Opera Souvenir, beides durch Jon Tolansky betreut, der auch den lesenswerten Einführungstext im recht ausführlichen Booklet verfasste. In der Summe also eine lohnenswerte Investition, welche auch für diejenigen von Interesse ist, die das Gros der Einspielungen bereits vorliegen haben, nicht zuletzt dem insgesamt vorbildlichen Remastering von Art & Son Studio (192 kHz/24 Bit) geschuldet, das hie und da mehr herausholen konnte als bisher möglich schien. Daniel Hauser

Bewährte Interpreten

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Aus dem Wunsch des endlich anerkannten Komponisten, einen ähnlichen Erfolg wie den des Nabucco zu erzielen, und dem Verlangen des Publikums nach einer weiteren Oper, mit der man sich wie mit dem Drama um die geknechteten Hebräer identifizieren könne, ist die Oper I Lombardi alla prima crociata entstanden und erfuhr einen ähnlich starken Zuspruch wie ihre Vorgängerin. Es war nicht Va pensiero, der nach der Einigung Italiens zur vorübergehenden Nationalhymne wurde, sondern O Signore, dal tetto natio aus den Lombardi übte vorübergehend diese Funktion aus.

Noch vor Nabucco wurden die Lombardi in den USA 1847 aufgeführt, bereits 1845 in vielen europäischen Städten von Odessa bis Berlin, und 1847 erlebte das Werk in französischer Sprache, erweitert und mit dem obligatorischen Ballett versehen als Jérusalem in Paris eine umjubelte Aufführung. Diese Fassung wurde ins Italienische zurückübersetzt und hatte unter dem Titel Gerusalemme als Scala-Eröffnung 1850 ihre Erstaufführung.

Im Frühjahr 2023 wurde die Erstfassung konzertant in München mit dem Münchner Rundfunkorchester unter dem Verdi-erfahrenen Dirigenten Ivan Repušić aufgeführt und aufgezeichnet, nachdem es in den vergangenen Jahren bereits andere frühe Werke Verdis in gleicher Besetzung mit Luisa Miller, I due Foscari und Attila, allesamt von BR Klassik zu verantworten, gegeben hatte. Das ansonsten informationsreiche Booklet geht streng mit der Oper um, da sie einen Angriffskrieg verherrliche, übersieht dabei, dass es sich beim ersten Kreuzzug um das Bemühen handelte, den christlichen Pilgern die Wallfahrt nach Jerusalem wieder möglich zu machen, die durch die Eroberungen der türkischen Seldschuken unmöglich geworden war, und dass sich Gottfried von Bouillon weigerte, sich zum König von Jerusalem krönen zu lassen.

Die Erfahrung mit dieser Musik merkt man nicht nur dem Orchester, sondern auch dem Chor des Bayerischen Rundfunks an, was gut ist, denn wie Nabucco sind die Lombardi eine Choroper mit vielfältigen Aufgaben für den Klangkörper, seien es die bösen Verschwörer um den Vatermörder Pagano, die frommen Nonnen in Mailand, die Kreuzfahrer in Not oder Jubel, die Haremsdamen, Pilger und Pilgerinnen in wechselnder Verfassung.

Auch die Solisten-Besetzung ist wie bei den vergangenen Aufnahmen, die Marina Rebeka, Leo Nucci und Ildebrando D’Arcangelo aufführten, eine prominente.  An der Spitze des Ensembles steht der italienische Bass Michele Pertusi, der einen zunächst dunkel dräuenden, danach balsamisch den Ohren schmeichelnden Pagano singt, hörbar belcantogeschult, präsent auch in den kleinen Notenwerten, mit viel slancio in der Cabaletta O speranza di vendetta und Nachdruck für Chi accusa Iddio. Die vielfältigen Gemütsregungen der Figur finden stets ihren adäquaten Ausdruck. Ein großes Plus für die Aufnahme stellt auch die Griselda von Nino Machaidze dar, deren Sopran an Gilda denken lässt, im Gebet des ersten Akts frisch, apart und klar klingt, die sanfte Tongespinste für den zweiten Akt hat, sicher die Intervallsprünge der Cabaletta meistert und innig das O belle, a questa misera klingen lässt. Den einzigen Schlager des Werks singt mit La mia letizia infondere der Oronte, quasi das Mio babbino caro für Tenöre und gern als Zugabe gesungen. Piero Pretti verfügt über ein recht anonymes Timbre, eine sichere Höhe und steht damit auf der Habenseite dieser CD. Es gibt aber erstaunlicherweise noch einen zweiten Tenor mit einer tragenden Rolle, den Arvino, Anführer der Lombardi und Vater Griseldas. Diese Partie wird gern mit alternden Sängern besetzt, was hier ganz und gar nicht der Fall ist, denn Galeano Salas konkurriert durchaus mit Pretti um die schönste Tenorstimme der Aufnahme, so mit einem machtvollen Parricida. Seine Gattin Viclinda wird von Réka Kristȯf rollengemäß gesungen, während Ruth Volpert eine mütterlich klingende Sofia ist.

Hat man diese Aufnahme gehört, fragt man sich ein weiteres Mal, warum das Werk es nicht ins Repertoire der Opernhäuser geschafft hat (BR Klassik 900351). Ingrid Wanja           

Klemperer-Box No. 1

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Unter den großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts nimmt Otto Klemperer (1885-1973) ohne Frage eine besondere Stellung ein. Seine diskographische Hinterlassenschaft ist gewaltig, was mit der nunmehr vorgelegten, nicht weniger als 95 CDs umfassenden ersten Box Otto Klemperer: The Warner Classics Remastered Edition – Complete Recordings of Symphonic Works on EMI Columbia, HMV, Electrola & Parlophone (Warner 5 054197 257049) schon rein äußerlich demonstriert wird. Tatsächlich soll im Herbst 2023 noch eine zweite, gewiss ähnlich voluminöse Kollektion mit Opern und Sakralwerken nachfolgen.

Jon Tolansky nennt ihn in seinem sehr lesenswerten Einführungstext zurecht einen „stoischen Giganten der Musik“. Im schlesischen Breslau als Sohn jüdischer Eltern geboren, machte Klemperer schon in jungen Jahren von sich reden. Bei einer Aufführung von Gustav Mahlers Auferstehungs-Sinfonie 1905 in Berlin unter Oskar Fried, bei der er das Fernorchester dirigieren durfte, traf er den Komponisten höchstpersönlich, der ihm ein Empfehlungsschreiben mit auf den Weg gab und damit Klemperers frühen Aufstieg beförderte. 1907 wurde er nicht zuletzt aufgrund dieser Empfehlung Chorleiter und kurz darauf Kapellmeister am Deutschen Theater in Prag. 1910 durfte Klemperer gar Mahler selbst bei der Uraufführung von dessen Sinfonie der Tausend assistieren. Über Hamburg (1910-1912), Barmen (1912-1913), Straßburg (1914-1917), Köln (1917-1924) und Wiesbaden (1924-1927) kam Klemperer schließlich an die Berliner Krolloper. Seine kurze Amtszeit (bis 1931) brachte ihm aufgrund seiner Offenheit gegenüber zeitgenössischen Werken und modernen Regiekonzepten internationale Aufmerksamkeit, aber auch nachhaltige Anfeindungen ein. Nach der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten wurde er als „Kulturbolschewist“ mit eine Aufführungsverbot belegt, was zu seiner Emigration in die Schweiz führte. Über Zürich gelangte er schließlich in die Vereinigten Staaten, wo er bereits im Oktober 1933 sein Amt als Chefdirigent des Los Angeles Philharmonic antrat, welches er bis 1939 innehaben sollte. Im selben Jahr wurde ein komplizierter operativer Eingriff wegen eines Hirntumors notwendig, der eine partielle Lähmung des Dirigenten zur Folge hatte. Dies und eine sich verstärkende bipolare Störung führten dazu, dass es in den folgenden Jahren zunächst still um Klemperer wurde. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte er nach Europa zurück und schlug sich mit Gastdirigaten bei verschiedensten Orchestern durch, bevor er zwischen 1947 und 1950 als Musikdirektor der Ungarischen Staatsoper in Budapest wirkte. Insgesamt hatte es seinerzeit gleichwohl den Anschein, als sei seine ganz große Zeit vorüber.

Klemperers kaum mehr für möglich gehaltener Indian Summer erfolgte infolge der so nicht vorhersehbaren Verpflichtung durch den legendären EMI-Produzenten Walter Legge ab dem Jahre 1954 im stattlichen Alter von 69. In den 17 Jahren darauf kam es zu denjenigen Studioeinspielungen, welche das Bild vom Dirigenten Otto Klemperer für die Nachwelt nachhaltig prägen sollten. Sie sind nunmehr sämtlich in dieser monumentalen Box zusammengefasst worden. Es gilt freilich zu bedenken, dass diese Aufnahmen in den späten Lebensjahren des Dirigenten entstanden sind und zumal nach seinem Brandunfall im Jahre 1958, der zu einer weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigung führte und ein einjähriges Pausieren nach sich zog, insofern seinen Spätstil wiedergeben. Es ist andererseits erstaunlich, wie flüssig und teilweise gar rasant Klemperer selbst Mitte der 1950er Jahre noch dirigieren konnte, nimmt man beispielsweise seine 1956 entstandene Einspielung von Mozarts kleiner g-Moll-Sinfonie (Nr. 25 KV 183), deren Feuer modernen HIP-Aufnahmen in nichts nachsteht. Auch die vier Sinfonien von Brahms, die Klemperer in den Jahren 1956/57 einspielte, atmen diese unerwartete Jugendlichkeit. Der Bruch, den das Jahr 1958 darstellt, wird am deutlichsten, wenn man den Beethoven-Zyklus betrachtet, der 1955 (zunächst noch in Mono) begonnen wurde. Die späteren, nach 1958 entstandenen Stereo-Einspielungen etwa der fünften und siebenten Sinfonie gerieten deutlich monumentaler und prägten den landläufig als solchen bezeichneten „Klemperer-Stil“, der durch zurückgenommene Tempi beinahe sprichwörtlich wurde. Legge selbst soll darob zunächst irritiert gewesen sein, worauf Klemperer, schlagfertig wie eh und je, erwidert haben soll: „Daran werden Sie sich schon noch gewöhnen.“

Freilich ist eine allzu pauschale Reduzierung des greisen Klemperer auf seine vermeintliche Langsamkeit nicht zielführend. Noch in den 1960er Jahren nahm der Dirigent die langsamen Sätze sinfonischer Werke vergleichsweise flott, betrachtet man etwa die fulminante Symphonie Pathétique von Tschaikowski von 1961, wo der larmoyante Schlusssatz im Vergleich zum vorangehenden, sehr breit genommenen marschartigen Scherzo geradezu flott daherkommt. Und auch in den ganz späten Einspielungen der Bruckner-Sinfonien Nr. 5, 8 und 9 (1967 bis 1970) lässt sich diese Tendenz beobachten, in der sich Klemperer in den Adagio-Sätzen jedwedem Ansatz von etwaiger Rührseligkeit versagt. Sich selbst hat er in einem Interview Anfang der 60er Jahre einmal einen „Immoralisten“ genannt, völlig anders geartet als der „Romantiker“ Bruno Walter. Nüchterne Sachlichkeit, klare Strukturierung und ausgezeichnete Durchhörbarkeit des Orchesterklangs blieben insofern Klemperers Maxime bis zuletzt, was wohl auch seine Begeisterung für den damals jungen und als Enfant terrible berüchtigten Dirigentenkollegen Pierre Boulez erklärt.

So breit das Repertoire Otto Klemperers gewiss war, so lassen sich doch eindeutige Schwerpunkte festmachen. Ein großer Fokus lag zweifellos auf dem deutsch-österreichischen Raum von der Wiener Klassik bis zur Spätromantik. Besonders als Interpret von Mozart, Beethoven, Brahms und Bruckner ist Klemperer zurecht berühmt geworden. Seine Affinität für die Musik Mahlers muss gewiss nicht weiter belegt werden, selbst wenn er nur einige ausgewählte Mahler-Sinfonien fest im Repertoire hatte (Nr. 2, 4 und 9) und sich der als Cinderella verschrienen Siebenten erst mit über achtzig annahm, freilich mit sensationellem Ergebnis, wie diese Einspielung von 1968 belegt. Aber auch für Haydn hatte Klemperer eine Schwäche und war zuletzt mit einer leider nicht mehr vollendeten Einspielung sämtlicher Londoner Sinfonien betraut gewesen. Die Oxford (Nr. 92) von 1971 stellt tatsächlich seine letzte Einspielung einer Sinfonie überhaupt dar. Ein Kleinod ist gerade auch Klemperers Lesart der wenig bekannten 95. Sinfonie, der einzigen in Moll-Tonart, eingespielt 1970.

Eine lebenslange Hingabe des Dirigenten galt Johann Sebastian Bach, wovon – neben den hier nicht weiter zu thematisierenden Vokalwerken – zwei Gesamtaufnahmen der sechs Orchestersuiten (1954 und 1969) sowie eine der sechs Brandenburger Konzerte (1960) zeugen. Eine wirkliche Durchdringung dieser Barockmusik muss dem alten Herrn zweifelsohne zugestandenen werden; wie blass und einzig technisch brillant wirkt dagegen so manche „historisch korrekte“ Bach-Aufnahme unserer Tage. Eine tiefe religiöse Verwurzelung mag Klemperers Bach-Begeisterung mitbestimmt haben, der die h-Moll-Messe einmal „das größte Werk, das jemals geschrieben wurde“ nannte. 1919 zum Katholizismus konvertiert, blieb er derselben die meiste Zeit seines Lebens verbunden, um ihr im hohen Alter von 82 Jahren 1967 doch abermals den Rücken zuzukehren. In seinen letzten Lebensjahren kam es zu einer Rückbesinnung auf seine jüdischen Wurzeln.

Daneben trat Klemperer auch als Fürsprecher Schumanns auf, dessen Orchestrierungen zumal seinerzeit als verbesserungswürdig galten, und spielte die vier Sinfonien und zwei der Ouvertüren ein. Ein Anliegen scheint ihm die bis heute verschmähte Zweite des Zwickauers gewesen zu sein, die er sogar auf eines seiner letzten Konzertprogramme setzte. Von Mendelssohn Bartholdy legte er immerhin die populärsten Werke vor: Die Schottische und die Italienische Sinfonie sowie die Bühnenmusik zum Sommernachtstraum von Shakespeare finden sich in seiner Diskographie. Zwar fand Klemperer die Finalcoda der Schottischen unbefriedigend und komponierte gar einen eigenen Alternativschluss, doch konnte Legge glücklicherweise zumindest in der Studioproduktion die Originalfassung des Komponisten erzwingen. Erstaunlicherweise klingt ausgerechnet Klemperers Einspielung mit dem gefühlt halbierten Tempo in dieser Coda mustergültig. Leider kam es zu keiner Produktion auch der Reformations-Sinfonie, die Klemperer mutmaßlich gelegen wäre. Schubert stand vergleichsweise wenig im Zentrum seines Interesses, auch wenn die hier vorliegenden Einspielungen der Fünften, der Unvollendeten und der Großen C-Dur fraglos ihre Meriten aufweisen. Erstmals wurde nun der 1963 eingespielte Kopfsatz der Tragischen (Nr. 4) veröffentlicht; eine Gesamtaufnahme des Werks existiert unter Klemperers Dirigat allerdings mitnichten. Hinzu gesellt sich eine zu Unrecht etwas im Schatten stehende, formidable Wiedergabe der Sinfonie Aus der Neuen Welt (Nr. 9) von Dvorák. Dass ihm das slawische Idiom durchaus behagte, belegen im Übrigen auch die weiteren Tschaikowski-Sinfonien Nr. 4 und 5, die als analytische Gegenpole zu hyperemotionalen Darbietungen durchaus bestehen können. Auch im französischen Fach gibt es zumindest zwei sinfonische Werke, denen Klemperer in seinen späten Jahren Aufmerksamkeit zukommen ließ. Sowohl die Symphonie Fantastique von Berlioz als auch César Francks Sinfonie d-Moll dürfen als unverhofft überzeugende Überraschungen gelten; letztere verkommt keineswegs zu einer bloßen Bruckner-Kopie. Unerwartet sein Einsatz für Strawinski, dessen Petruschka hier ebenfalls inkludiert wurde; zu LP-Zeiten wurde sie als nicht wirklich überzeugend von EMI zurückgehalten.

Vorspiele, Ouvertüren und sonstige Orchestermusik aus den Werken Richard Wagners standen in den Jahren 1960/61 im Fokus. Vom Rienzi bis zum Parsifal ist das wesentliche Orchestrale enthalten. Ein Wermutstropfen freilich, dass Klemperer einzig eine Gesamtaufnahme des Fliegenden Holländers vorlegen konnte. Eine erwogene Gesamteinspielung des Rings des Nibelungen musste sich angesichts des Alters des Dirigenten als illusorisch erweisen; einzig den ersten Walküren-Akt konnte Klemperer 1969 noch zu Ende bringen. Rein orchestral fällt auch die Beigabe an Werken von Richard Strauss aus, wo Don Juan, Till Eulenspiegel, Tod und Verklärung, der Tanz der sieben Schleier aus Salome und die Metamorphosen immerhin einen Eindruck vermitteln können. Auch der Namensvetter Johann Strauss ist immerhin mit zwei Walzern und der Fledermaus-Ouvertüre vertreten. Ausgezeichnet gelingt Klemperer die Kleine Dreigroschenmusik von Kurt Weill, gleichsam eine Reminiszenz an seine wilden Berliner Jahre.

Die in der Box enthaltenen Opernouvertüren von Weber (Der Freischütz, Euryanthe), Humperdinck (Hänsel und Gretel), Gluck (Iphigénie in Aulis) und erstmals auch Cherubini (Anacréon) sind in Klemperers überlegener Interpretation ein Labsal. Dass er allgemein ein bedeutender Operndirigent war, geht in der vorliegenden Box freilich unter und wird Gegenstand der nachfolgenden sein. Allerdings gibt es gleichwohl auch hier einige Werke mit Vokalanteil, angefangen bei Beethovens Neunter von 1957, wo interessanterweise nicht nur die landläufig bekannte Studioeinspielung inkludiert wurde, sondern auch der beinahe zeitgleich entstandene Live-Mitschnitt aus der Royal Festival Hall. Die hervorragenden Solisten sind dieselben: Aase Nordmo-Lövberg, Christa Ludwig, Waldemar Kmentt sowie Hans Hotter. Hinzutritt in beiden Fällen der von Wilhelm Pitz einstudierte Philharmonia Chorus. Der Konzertmitschnitt ist sogar noch lebendiger und verblüffend gut, ebenfalls bereits in Stereo, eingefangen. Christa Ludwig ist zudem mit den Wesendonck-Liedern und Isoldes Liebestod von Wagner, fünf Liedern von Mahler sowie der Brahms’schen Alt-Rhapsodie vertreten. Ebenfalls mehrfach berücksichtigt wurde die Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf, und zwar sowohl in der zweiten als auch in der vierten Sinfonie von Mahler, zurecht legendär gewordenen Einspielungen. Ihre Partnerin in der Zweiten ist die Mezzosopranistin Hilde Rössl-Majdan.

Auch Instrumentalsolisten gesellen sich hinzu. Daniel Barenboim übernimmt den Solistenpart in den fünf Klavierkonzerten und der Chorfantasie von Beethoven sowie dem 25. Klavierkonzert von Mozart, das einzige dieses Komponisten, das unter Klemperers Dirigat vorliegt. Diese Aufnahmen erscheinen wie in Stein gemeißelt. Annie Fischer wird von ihm in den Klavierkonzerten von Schumann und Liszt (Nr. 1) begleitet, David Oistrach im Violinkonzert von Brahms (übrigens die einzige Einspielung Klemperers mit dem französischen Nationalen Rundfunkorchester) und schließlich Yehudi Menuhin im Violinkonzert von Beethoven. Hinzukommen die vier Hornkonzerte Mozarts mit Alan Civil.

Klemperer, der sich gerade auch als Komponisten sah, kommt in der Box auch als solcher zum Zuge. EMI spielte immerhin den Merry Waltz (1961), die Sinfonie Nr. 2 (1969) und das Streichquartett Nr. 7 (1970) im Studio ein. Auf zwei Bonus-CDs sind hier weitere Kompositionen Klemperers enthalten, zuvörderst die Sinfonien Nr. 3 (1970) und 4 (1969) wie auch das Streichquartett Nr. 3 (1969), die jeweils in einem einzigen Zuge aufgenommen wurden.

Primär von historischem Interesse sind die auf den ersten beiden CDs zusammengefassten 78er-Schellackaufnahmen aus den Jahren 1927 bis 1929 mit der Staatskapelle Berlin bzw. dem Orchester der Staatsoper Berlin, darunter eine komplette Einspielung der ersten Brahms-Sinfonie und sogar die Ouvertüren zu Aubers Fra Diavolo und Offenbachs La Belle Hélène, die der Dirigent später leider nicht mehr in Stereo wiederholte.

Die letzte Disc der Kollektion enthält schließlich eine 80-minütige Dokumentation vom bereits genannten Jon Tolansky, welche die Lebensstationen Otto Klemperers musikalisch durchschreitet.

Bei all der überreichlichen Fülle geht darüber beinahe unter, dass nicht wirklich alle ehemaligen EMI-Aufnahmen hier vertreten sind. Tatsächlich wurden diejenigen Live-Produktionen des Bayerischen Rundfunks ausgespart, die einst unter dem EMI-Label auf CD erschienen sind: Mahlers zweite Sinfonie (1965; mit Heather Harper und Janet Baker), Schuberts Unvollendete (1966), Mendelssohns Schottische (1969; mit Klemperers eigener Schlusscoda) sowie Beethovens vierte und fünfte Sinfonie (1969). Bedauerlich ist dies gerade deshalb, weil diese Aufnahmen künstlerisch besonders hervorragen und die entsprechenden Studioeinspielungen hie und da sogar noch übertreffen. Lizenzrechtliche Gründe sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Ursache der Weglassung. Mit etwas Glück kann man diese Aufnahmen noch auf dem Gebrauchtmarkt erstehen.

Über das vom Art & Son Studio vorgenommene Remastering (192 kHz/24 Bit) sämtlicher Einspielungen von den Originaltonbändern kann voll des Lobes gesprochen werden. Besser klangen diese Aufnahmen in den bisherigen landläufigen Veröffentlichungen mitnichten. Es glückte sogar das Kunststück, bis dato klanglich problematische Produktionen wie Klemperers letzte Beethoven-Siebente von 1968 in einem deutlich günstigeren Licht erscheinen zu lassen. Die von Art & Son erzielte Klarheit geht Hand in Hand mit der vom Dirigenten angestrebten orchestralen Detailversessenheit. Auch aufgrund dieser technisch sehr geglückten Aufbereitung bleibt – trotz der fehlenden BR-Aufnahmen aus München – nichts weiter, als eine volle Empfehlung auszusprechen. Daniel Hauser

Akustischer Nachtrag

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Der Film Il Boemo des tschechischen Regisseurs Petr Vaclav erzählt die Geschichte des böhmischen Komponisten Josef Myslivecek, der von 1737 bis 1781 lebte, nach Italien ging und dort zu einem berühmten Opernkomponisten avancierte. In Bologna lernte er 1770 Mozart kennen, mit dem er sich anfreundete und in seiner Musik auch stilistische Verwandtschaft zeigt. Nach Jahren der Vergessenheit galt erst in jüngster  Zeit seinem Werk wieder die verdiente Aufmerksamkeit der Musikliebhaber – auch dank dieses Films von 2022 als tschechisch-slowakisch-italienische Koproduktion.

Dankenswerterweise hat ERATO nun eine CD mit dem Soundtrack herausgebracht, so dass man auch rein akustisch  die Vielfalt des Schaffens von Myslivecek nachhören kann (5054197238147). Die Aufnahmen der Opernszenen fanden bereits 2019 in der Prager St. Anna Kirche und im Teatro Sociale von Como statt. Es musiziert das im Barockgenre renommierte Prager Ensemble Collegium 1704 unter seinem Leiter Václav Luks. Es eröffnet die Anthologie mit der dreisätzigen Overture aus der Oper Ezio von 1777. Sie zeigt die Nähe zu Mozart schon im einleitenden lebhaften Allegro con spirito, zu dem das mittlere Andantino affettuoso in seinem graziösen Charakter einen schönen Kontrast bildet und das finale Presto einen turbulenten Ausklang bringt.

Prominente Gesangssolisten sind am Werk, darunter die ungarische Sopranistin Emöke Baráth und der französische Countertenor Philippe Jaroussky. Sie  bringt den ersten Gesangsbeitrag zu Gehör – die Arie der Cleonice, „Mi parea del porto“, aus Demetrio (1779). Die noble Stimme lässt sogleich an die Figaro-Contessa denken, und auch die Arie in ihrer kantablen, wehmütigen Stimmung weckt die Erinnerung an diese große Figur in Mozarts Schaffen. Der Schlussteil ist gespickt mit Koloraturen und wird von der Interpretin glänzend bewältigt. Er folgt mit der Arie des Licida, „Gemo in un punto“, aus L’Olimpiade (1778), in der er wieder seinen infantilen Stimmklang hören lässt, und singt später daraus noch eine weitere Arie des Licida, „Mentre dormi“, auch diese in knabenhafter Manier. Auch die hierzulande noch weniger bekannte deutsche Mezzosopranistin Sophie Harmsen präsentiert mit der dramatischen Arie der Argene „Che non mi disse“ einen Titel aus diesem Werk. Sie sorgt damit für einen Höhepunkt in der Sammlung, trägt das aufgewühlte Stück mit erregtem Ausdruck vor. Schließlich endet die Anthologie mit drei Ausschnitten daraus, zwei Rezitativen zwischen Megacle und Licida sowie der Arie der Megacle „Se cerca, se dice“ mit der bekannten italienischen Sopranistin Raffaella Milanesi. Stilistisch versiert, trägt sie die Arie mit reicher Gefühlsempfindung vor und macht im Schlussteil den seelischen Aufruhr der Figur deutlich.

Sophie Harmsen singt vorher eine Arie der Eva, „Non so se il mio peccato“, aus der unbekannten Oper Adamo ed Eva (1771).  Die reizvoll androgyne Stimme bietet den elegischen Titel mit feinen Konturen. Lohnend ist die Bekanntschaft mit dem polnischen Tenor Krystian Adam, der die Arie des Ariobate, „Pria ch’io perda“,  aus Il Bellerofonte vorstellt. Die wohllautende Stimme von beherztem Ausdruck dürfte auch ein glänzender Tito sein, bringt das Stück des Böhmen mit perfektem stilistischem Einfühlungsvermögen zu Gehör. Es ist Mysliveceks zweite Oper aus dem Jahre 1767, komponiert für die Geburtstagsfeier des neapolitanischen Königs Karl III., mit der er im Teatro San Carlo von Neapel seinen Durchbruch in Italien errang. Daraus singt die slowakische Sopranistin Simona Saturovà die bravouröse Arie der Argene mit obligatem Horn „Palesar vorrei col pianto“, welche die längste Nummer des Programms darstellt und dem Horn reizvolle solistische Einsätze gewährt. Die Stimme ist im Klang etwas larmoyant., aber gebührend virtuos für das Zierwerk, die Kadenz allerdings in ihrer Ausdehnung überzogen. Später ist sie noch als Rinaldo aus Armida (1779) zu hören. Die Arie „Il caro mio bene“ ist ein anmutiges Andante, das wiederum an Mozart denken lässt. Beim Quartett „Deh in vita ti serba“ aus Romolo ed Ersilia (1776) werden Baráth und Jaroussky durch den deutschen Altus Benno Schachtner und den spanischen Tenor Juan Sancho ergänzt. Letzterer lässt durch den virilen Charakter seiner Stimme und die zupackende Gestaltung in Idomeneo-Nähe aufhorchen.

Die CD ist eine Fundgrube für die Musik des böhmischen Komponisten und eine Gelegenheit, sein Werk neu zu entdecken – sie sei allen Musikliebhabern empfohlen. Bernd Hoppe

Cécile Chaminade

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Die Mezzosopranistin Katharina Kammerloher und der Pianist Johann Blanchard haben aus dem umfangreichem Liedschaffen der französischen Komponistin Cécile Chaminade eine Auswahl (bei MDG) zusammengestellt, die nun als Welt-Ersteinspielung vorliegt. Bei drei Liedern stand ihnen die Geigerin Jiyoon Lee, die erste Konzertmeisterin der Berliner Staatskapelle, zur Seite. Aufgenommen wurde schließlich im stilvollen Konzertsaal der Abtei Marienmünster, einem Ort, die sich für den audiophilen Anspruch des Labels Dabringhaus und Grimm besonders eignet. Stefan Pieper traf sich mit Katharina Kammerloher und Johann Blanchard, beide in Berlin lebend, zum Gespräch nach einem Videodreh im schmucken Palais Lichtenau in Potsdam.

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Katharina Kammerloher und Johannes Blanchard im Konzert im Palais Lichtenau in Potsdam/Foto Martin Teschner/youtube

Wie sind Sie auf Cécile Chaminade aufmerksam geworden? Johann Blanchard: Ich kannte diese Komponistin schon vorher, mir lag das Notenmaterial vor. Diese Komponistin hat wahnsinnig viel geschrieben und ist danach weitgehend in Vergessenheit geraten. In Frankreich war sie sehr populär. Sie war zum Beispiel die erste Frau, die in die Ehrenlegion aufgenommen worden ist. Insgesamt hat sie circa 200 Klavierstücke komponiert. Ich habe übrigens schon eine Soloplatte gemacht mit ihr. Dass sie auch 150 Lieder geschrieben hat, hatte ich immer im Hinterkopf. Übrigens sind alle Lieder auf dieser CD Ersteinspielungen.

Frau Kammerloher, was bedeuten Ihnen diese Lieder? Ich habe Cécile Chaminade erst durch Johann kennengelernt. Als ich seine beiden CDs mit Klavier- und Kammermusik hörte, fing ich sofort Feuer. Während des Corona-Lockdowns hatte ich viel unverhofft freie Zeit und konnte mich so sehr intensiv in Chaminades umfangreiches Liedschaffen einarbeiten. Das Konzentrat aus dieser Arbeit sind die 22 Lieder dieser CD. Jedes eine Perle. Sie ist eine so feine Komponistin.

Es ist ja vielfach so, dass Komponistinnen und Komponisten auf ein einziges oder wenige bekannte Werke reduziert werden. K. K.: Ich habe früher Oboe studiert und genau diese Erfahrung habe ich bei diesem Instrument gemacht. Du bist eigentlich ständig gefordert, etwas Neues herauszusuchen. So verhält es sich ja auch bei vielen anderen Instrumenten, z.B bei der Bratsche. Dann habe ich Gesang studiert und ich war überwältigt von der Fülle, die sich hier auftut. Das kann man ja alles gar nicht in einem Sänger-Leben singen. Allein das Repertoire von Cécile Chaminade ist so umfangreich, dass wir ohne weiteres sofort eine weitere Platte aufnehmen könnten.

Handelt es sich bei Saison d’amour um einen Zyklus? K. K.: Nein, es handelt sich um meine eigene Zusammenstellung, die ich aufgrund der Texte getroffen habe. Ich finde, sie passen so gut zueinander, das sich wie von selbst eine Geschichte ergibt. Dabei trägt jedes einzelne Lied ja schon eine Geschichte in sich.

Die Komponistin Cécile Chaminade (* 8. August 1857 in Paris; † 13. April 1944 in Monte Carlo)/Wikipedia

Ein roter Faden ist ja wohl der starke Bezug zwischen jahreszeitlichen Impressionen und der Liebe. K. K.: Genau. Die Gedichte, derer sich Chaminade bedient, schöpfen voll aus dem Geist der französischen Romantik mit ihren starken Bezügen zur Natur, wie wir es ja auch in der deutschen Romantik wiederfinden. Oft ist die Rede vom Wald, vom Wind, vom Himmel, vom Meer und so weiter. Chaminade hat ein feines Gespür für Poesie und verleiht jedem einzelnen Gedicht seine ganz eigene, persönliche Tonsprache. Umso reizvoller war es für uns, durch den programmatischen Rahmen eine größere Einheit zu formen. Von zarten Trieben erster Liebe des Frühlings zum heißen, leidenschaftlichen Sommer, von den Verlusten des Herbstes bis hin zum Abschied und dem wehmütigen Rückblick des Winters, um zum Schluss, mit „Portrait“ den Frühling wieder auferstehen zu lassen.

J. B.: Die Zusammenstellung auf dieser CD macht eine große Vielfalt deutlich. Cécile Chaminade war unglaublich kreativ und alles hört sich sehr natürlich an. Sie muss auch eine sehr gute Pianistin gewesen sein.

K. K.: Ich höre schon so manchen Einfluss von Franz Schubert oder Robert Schumann heraus. Ich denke vor allem an ihre besondere Schlichtheit und Intimität, wenn es um die Aussagen eines Liedes geht. Ihr Ego stellte sie hintenan.

Mein erster Höreindruck der CD bestätigt diese Aussage. Mir kommt es so vor, dass sie eben nicht mit zu vielen exaltierten Gesten oder zu viel Dramatik auftrumpft. K. K.: Genauso ist es. Auch wenn mal Schubert oder Schumann oder auch mal etwas Debussy durchschimmert, bleibt sie immer bei sich selbst.

Kann man ihren Personalstil präzise einordnen? J. B.: Er ist auf jeden Fall der französischen Romantik zuzuordnen. Vielleicht in der Nähe zu Saint-Saens. Auf jeden Fall ist da mehr Leichtigkeit als bei den deutschen Romantikern. Es kann aber trotzdem genauso tiefsinnig sein.

J. B.: Die Musik klingt immer etwas silbrig von den Akkorden her. Und ja, wir haben uns für die Aufnahme sehr bemüht, es noch heller und noch silbriger hinzubekommen. Zuerst sind wir vielleicht etwas zu sehr von der deutschen Romantik an die Sache heran gegangen.

Was bedeutet Ihnen die Arbeit an einem solchen Liederprogramm in Ihrem sonstigen Alltag als vielbeschäftigte Opernsängerin? Gibt Ihnen das auch eine Art Ausgleich? K. K.: Was ich an so einem Liedprogramm liebe, ist die Autonomie. Ich kann alles allein zusammen mit meinem Pianisten erarbeiten. Es gibt keinen Regisseur, der mir Vorgaben macht, kein Dirigent gibt mir das Tempo vor. Johann und ich sind hier einfach unsere eigenen Chefs, wir entscheiden, wie wir es machen. Wir sind beide Suchende und lieben es, tief in eine Sache hinein zu gehen. Ich liebe am Lied einfach die Poesie. Diese hohe Kunst, in der großartige Texte in eine komprimierte musikalische Form gebracht werden. Cécile Chaminades Lieder sind ja oft regelrechte Mini-Opern. Ich mache das vor allem, weil ich einen großen Respekt vor der Kunst von Cécile Chaminade habe.

Cécile Chaminade muss ja wirklich eine markante und selbstbewusste Persönlichkeit gewesen sein und wurde auch so wahrgenommen. Was auch nicht selbstverständlich für Komponistinnen in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts war. K. K.: Es war damals wirklich nicht leicht für Frauen – die durften ja nicht mal ans Konservatorium. Cécile Chaminade hat Privatunterricht bekommen. Sie wuchs in einem wohlhabenden Haushalt auf. George Bizet ist bei der Familie regelmäßig ein und ausgegangen. Er hat schon früh ihr überragendes Talent erkannt hatte und sie „Le Petit Mozart“ genannt. Sie war ein unglaublich begabtes Kind und hat sich später als Komponistin durchgesetzt. Sie war Mitglied in einem Komponistenverband. Ebenso hat sie als fabelhafte Pianistin viele Konzerte in ganz Europa gegeben.

Katharina Kammerloher und Johannes Blanchard im Konzert im Palais Lichtenau in Potsdam/Foto Martin Teschner/youtube

J. B.: Was für eine Ausstrahlung Cécile Chaminade hatte, wird auch dadurch deutlich, dass sie in diversen Filmen und Serien, die sich mit dieser Zeit beschäftigen, vorkommt. Allerdings wurde sie manchmal auch zu sehr als Salonkomponistin abgestempelt. Das trifft aber nicht die ganze Wahrheit. Sie hat vielseitige Musik für viele Menschen geschrieben. Und ihre Etüden und Sonaten sind pianistisch sehr anspruchsvoll.

Und damit haben Sie ja ganz viel erstaunliches Repertoire jenseits des Standardprogramms entdeckbar gemacht. K. K.: Wir wollten bewusst Repertoire aufnehmen, das es bislang noch nicht auf CD gibt. Man tut Komponistinnen und Komponisten ja auch Unrecht, wenn sie im Repertoirebetrieb immer auf eines oder wenige Werke reduziert werden. Ich habe das Gefühl, dass das heutzutage sogar noch viel mehr als früher der Fall ist. Viele Menschen sind weniger neugierig und oft werden Musikstücke nur nach Anzahl der Klicks im Internet ausgewählt. Aber wie soll man auf dieser Basis noch etwas Besonderes, eine wahre Perle entdecken? Das Interview führte Stefan Pieper

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Sollten etwa im Fahrwasser des mehr oder weniger eindringlichen Bemühens um die Gleichberechtigung der Frauen einschließlich Genderwahnsinns auch kaum oder gar nicht gewürdigte Komponistinnen zu Wort kommen bzw. zu Gehör gebracht werden? Gerade erschienen Auszüge aus den Schriften der englischen Musikerin Ethel Smyth, nun liegt eine CD mit Liedern der französischen Komponistin Cécile Chaminade mit dem Titel Saisons d’amour vor, die der Mezzosopran Katharina Kammerloher eingespielt hat. Gängige Meinung eines Teils der Musikwissenschaftler ist es, dass es einen weiblichen Mozart oder Beethoven nicht gibt, da Frauen daran gehindert wurden, ihr Talent, ja Genie zur Entfaltung zu bringen. Cécile Chaminade wurden keine derartigen Steine in den Weg gelegt, denn der Tochter aus wohlhabendem Pariser Hause wurde zwar nicht der Besuch des Konservatoriums gestattet, wohl aber der Privatunterricht in Komposition, Harmonielehre und Klavierspiel durch einige der renomiertesten Musiklehrer ihrer Zeit. Außerdem verkehrte im Salon ihrer Eltern das musikalische Paris. Bereits mit zwanzig Jahren trat sie öffentlich als Pianistin auf, sie war Mitglied der Société national de musique, die einige ihrer Werke aufführte, ihre Ballettmusik Callirhoe oder die opéra comique La Sévillane  und andere Werke erreichten eine gewisse Bekanntheit, und warum sie sich zunehmend der kleinen Form, Klavierstücken und Lieder, widmete, lässt sich nur vermuten. Tatsache aber ist, dass ihre Stücke nicht nur im Konzertsaal, sondern besonders häufig bei Veranstaltungen mit Hausmusik aufgeführt wurden, das Booklet zur CD berichtet von L’anneau d’argent, der 200 000 Mal gedruckt wurde. Chaminade konzertierte nicht nur in Europa, sondern auch in den USA, ihre Karriere wurde durch den Ersten Weltkrieg nicht nur unter-, sondern abgebrochen. Noch bis 1944 lebte sie zurückgezogen in Monte Carlo.

Die seit vielen Jahren an der Berliner Staatsoper fest engagierte Katharina Kammerloher tat sich bereits des öfteren mit Liederabenden und Aufnahmen von Liedern hervor, und auch bei dieser CD zeigt sich die große Sorgfalt, mit der sie ihre Programme zusammenzustellen pflegt. So ergibt die Reihenfolge quasi eine Geschichte vom Erwachen der Liebe, dem Frühling, über Reifezeit und Welken in Sommer und Herbst bis hin zum Verlust, dem Winter. Die Texte stammen von zeitgenössischen Schriftstellern.

Bereits mit dem ersten Titel, Plaintes d’amour, fällt das schöne Ebenmaß der leicht androgyn klingenden Stimme auf, macht dem Hörer aber auch dir recht verwaschene, sich von Vokal zu Vokal hangelnde Aussprache zu schaffen. Schön wiegt die Stimme sich auf der Melodie, in Avril s’éveille überzeugt sie durch Frische und Beschwingtheit. Schön phrasiert wird in Fragilité, wo der beschriebene Zustand überzeugend vermittelt wird. Wie hingetupft wirken die Töne in Absence, bruchlos steigert sich die Sängerin, was die Lautstärke betrifft, während sie sich in  Sérénade Sévillana vom Rhythmus tragen lässt. Voll jugendlicher Beschwingtheit ertönt der Mezzo in Madrigal, energischer und entschiedener und zugleich dunkler in Mon coeur chante, in L Été herrscht flirrender Übermut. Feine Melancholie überschattet Madeleine, die weiche Wehmut der Stimme wird in Chanson naive vom Piano umspielt.

Auch in einem langen Track wie La Fiancée du soldat kann die Spannung gehalten werden, in Roulis des gréves bleibt die Sägerin der Grundstimmung treu und variiert doch zugleich. Ein sehnsüchtiger Ruf nach verlorenem Glück ist Le beau chanteur, mütterliche Klänge werden in Avenir angestimmt, und ganz zart und liebevoll erklingt  Jadis!.Infini gewinnt durch den Einsatz der Violine (Jiyoon Lee) noch an süßer Melancholie, einen schönen Jubelton gibt es für Portrait, und der durchweg einfühlsame Begleiter Johann Blanchard am Klavier zeigt hier noch einmal seine Qualitäten.

Das Booklet ist informationsreich in drei Sprachen und hilfreich durch die Liedtexte in Französisch und Englisch (MDG 908 2288-6). Ingrid Wanja   

„Was gehen mich die Lieder an?“

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Es ist guter Brauch geworden, dass junge Sänger ihre Aufnahmen von Liedern mit ganz persönlichen Gedanken versehen. Nicht selten lassen sie dabei in ihr Innerstes blicken. Samuel Hasselhorn, Jahrgang 1990, ist so einer. Er hat kein Problem damit, über seine Gefühle zu sprechen, wenn er den literarischen Figuren, die er darzustellen hat, ihren Handlungen, Sehnsüchten, Nöten, Ängsten und Glückmomenten, die nur selten von Dauer sind, nachzudenken. Das fiktive lyrische Ich der Dichtungen wird sozusagen wörtlich genommen und konkret ausgefüllt. Das unterscheidet diese Generation von den meisten berühmten Großeltern-Kollegen. Fischer-Dieskau – um dieses Beispiel zu nennen, das noch immer oft genannt wird, wenn es um Liedinterpretationen geht – hätte den Jahren nach der Urgroßvater von Hasselhorn sein können. Es liegt also in der Natur der Sache, dass die Jungen anders zu Werke gehen. Es ist ihr gutes Recht. Samuel Hasselhorn hat bei Harmonia Mundi Die schöne Müllerin von Franz Schubert vorgelegt (HMM 902720). Begleitet wird er am Klavier von Ammiel Bushakevitz. Im Booklet verweist der Sänger auf die lange Zeitspanne zwischen der Entstehung der Lieder und unserer Gegenwart und stellt die berechtigte Frage: „Was hat das mit mir, mit uns zu tun?“ Ihm persönlich sei der Zugang zu der Geschichte von dem Müllerburschen, der sich Hals über Kopf in die Tochter des Müllers verliebe, die aber seine Liebe nicht erwidere, stets relativ schwer gefallen. „Irgendetwas kam mir immer ein wenig seltsam vor, nicht wirklich greifbar. Über die weibliche Figur erfährt man kaum etwas: Wir wissen nur, dass sie blonde Haare und blaue Augen hat.“ Mehr nicht. Lasse man die recht konventionelle Dreiecksgeschichte vom Jüngling, der ein Mädchen liebe, das aber einen andern erwählt habe, beiseite, erscheine zwischen den Zeilen eine ganz andere Lesart. Die männliche Figur bleibe allein zurück, der erhofften Liebe und Anerkennung beraubt. „Jenseits der ein wenig simplen Geschichte von einer verschmähten Liebe geht es indirekt nämlich um gesellschaftliche Ausgrenzung. Wer nicht den geltenden Normen entspricht, wird wegen seiner Individualität und damit seinem ,Anderssein‘ ausgeschlossen, und an dieser sozialen Isolierung verzweifelt er schließlich. Vielleicht haben gerade deshalb diese vor 200 Jahren entstandenen Lieder für uns im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Aktualität eingebüßt“, so Hasselhorn. Das mag ein wenig offiziell klingen, aber es ist nun mal so.

Hasselhorn singt wie von sich. Mit Empathie und sehr viel Einfühlungsvermögen dringt er regelrecht in die Lieder ein, lässt keinen noch so verborgenen Winkel aus. Nichts entgeht ihm. Wenngleich manches auch spontan daher kommt, dürfte jedes Detail genau kalkuliert und vorher erprobt worden sein. Er spielt gekonnt mit dem Tempo, zieht es an, wenn es ihm angezeigt scheint, um dann wieder wie auf der Stelle zu treten, weil es ein bestimmtes masochistisch angehauchtes Detail so verlangt. Sein Vortrag wirkt schlüssig und sicher. Und doch bewegt er sich auf dieser Wanderung in den Tod in einer Art Trance. Von Beginn an steht fest, dass es kein gutes Ende nehmen wird mit diesem Wandergesell. Sein betont männlich wirkender Bariton, der ihn älter erscheinen lässt als er in Wirklichkeit ist, zeichnet sich durch eine hohe Flexibilität aus. Stimmliche Grenzen werden nicht berührt. Er ist sehr gut zu verstehen. Nicht, dass Hasselhorn in seiner Interpretation den Faden verlöre. Nein, das nicht. Es fällt aber auf, dass manche Lieder durch zu viele interpretatorische Zutaten und Nuancen zur Vereinzelung neigen, sich zu sehr aus dem Großen und Ganzen dieses Zyklus herauszulösen drohen. Gewisse opernhafte Züge greifen im Ausdruck, in Spiel mit den Worten Platz. Die Lieder werden nicht mehr nur gesungen – sie werden aufgeführt.

Wer das Cover genau betrachtet, findet einen Hinweis auf „Schubert 200“. Soll heißen: 2028 wird der 200. Todestag von Franz Schubert begangen. Im Hinblick auf dieses Ereignis soll die Neuerscheinung verstanden werden. Sie ist Teil eines größer anlegten Projektes mit Samuel Hasselhorn und seinem Pianisten Ammiel Bushakevitz auf Konzertpodien und im Studio. Der Schönen Müllerin sollen bei Harmonia Mundi vier weitere CDs mit Liedern aus den letzten Lebensjahren Schuberts, darunter Winterreise und Schwanengesang. Das Projekt richtet sich nach Angaben des Labels an eine neue Generation des Lied-Publikums und widmet sich der Frage, inwieweit Schuberts Lieder für unser Leben im 21. Jahrhundert relevant sind und wie diese Verbindung hör- und erfahrbar gemacht werden kann“. Es bleibt also spannend. Rüdiger Winter

Flimmerkisten

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In den letzten Jahren hat Jonas Kaufmann in Konzerten und Recitals oftmals das Genre der Oper verlassen und sein Repertoire um Operettentitel, italienische Canzoni, Wiener Lieder und Berliner Tonfilmschlager erweitert. Berühmte Tenöre vor ihm haben das auch getan, man denke nur an Joseph Schmidt, Richard Tauber und Luciano Pavarotti. Auch die Aufnahmen mit Mario Lanza, der kein Bühnen-, sondern ein Mikrofonsänger war, werden in der Erinnerung wach. An sie denkt man mit Wehmut, wenn man die neue Platte des  deutschen Tenors bei SONY auflegt. Sie ist mit The Sound of Movies betitelt und wurde im November 2022 in Prag aufgenommen (11526885). Denn der Tenor wird begleitet vom Czech National Symphony Orchestra unter Leitung von Jochen Rieder, der mit den Musikern einen rauschhaften Breitwand-Sound ausbreitet.

Die Musikauswahl aus über 80 Jahren reicht von Ralph Erwins „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ von 1929 bis zu Claude-Michel Schönbergs „Bring Him Home“ aus Les Misérables von 2012. Eröffnet wird sie wird mit „The Loveliest Night of the Year“ aus dem Film The Great Caruso, womit an den Jahrhundert-Tenor erinnert wird. Kaufmanns Stimme ist inzwischen in einem kritischen Zustand, klingt oft kehlig und strapaziert. Sein Gesang wirkt forciert und ermangelt der Leichtigkeit, der Nonchalance und des Charmes. Beim folgenden „Where do I Begin?“ aus dem Film Love Story wiederholt sich der Eindruck eines bemühten Singens. Ein diesbezüglicher Tiefpunkt ist die Interpretation von „Nelle tue mani“ (eine neue Textfassung von „Now We Are Free“) aus Gladiator als ständiger Kampf mit den exponierten Noten.

Gelungener erscheinen Titel, welche nicht wie große Opernszenen angelegt sind, so Stanley Myers „She was beautiful“ aus The Deer Hunter, „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ oder der Tango-Klassiker von Carlos Gardel „Por una cabeza“ aus Scent of a Woman und Richard Rodgers „Edelweiß“ aus The Sound of Music. Es fehlen natürlich nicht die legendären Musical-Hits wie „Maria“ aus Bernsteins West Side Story oder „You’ll Never Walk Alone“ aus Carousel (als strapaziöse tour de force) sowie unvergessene Songs wie „What a Wonderful World“ aus Good Morning, Vietnam und Bert Kaempferts „Strangers in the Night“. Von Ennio Morricone wählte der Tenor drei Titel aus, womit die Bedeutung des Italieners als Komponist von Filmmusik unterstrichen wird: „E più ti penso“ aus Once Upon a Time, „Se tu fossi nei miei occhi“ aus Cinema Paradiso und „Nella fantasia“ aus The Mission. Ähnliche Berühmtheit erlangten Nino Rota und Henry Mancini, die hier mit „What is a Youth?“ aus Romeo + Juliet bzw. mit „Moon River“ aus Breakfast at Tiffany’s vertreten sind.

Eine Besonderheit stellt Rachel Portmans Titelthema für The Cider House Rules dar, wofür sie als erste Frau einen Filmmusik-Oscar empfing. Der New Yorker Librettist Gene Scheer schrieb eigens für dieses Album einen neuen Text dazu. Mit dem Mario-Lanza-Evergreen „Serenade“ aus The Student Prince endet das Album nochmals zwiespältig, und man sollte es nur in kleineren Portionen hören. Bernd Hoppe

Jonathan Tetelman zum Zweiten

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Geschniegelt und gebügelt schaut Jonathan Tetelman vom Cover seiner zweiten CD, die ausschließlich Giacomo Puccini gewidmet ist, dessen hundertster Todestag unmittelbar bevorsteht. Eher an Lehár als an den italienischen Opernkomponisten denkt man bei diesen Fotos und erwartet  von einer derartigen Optik viel akustische süßliche Eleganz und viel tenoralen Schmelz, um nicht zu sagen viel Schmalz , doch sowohl optisch im Booklet wie akustisch auf der CD werden die Erwartungen nicht erfüllt, denn die inseitigen Fotos zeigen den amerikanischen Sänger mit chilenischer Abstammung eher leger bis robust und immer dem Betrachter eindringlich in die Augen schauend.

Vier der auf der CD bedachten Figuren hat der Tenor bereits auf einer Bühne verkörpert, Rodolfo, Cavaradossi, Luigi und Pinkerton, die bisher noch nicht bedachten sind zum großen Teil bereits in Vorbereitung. Bei der Auswahl der Arien, aber auch Duette oder Szenen  aus La Bohéme oder Butterfly, fällt auf, dass manchmal bekannte Arien zugunsten weniger geläufiger Szenen wider des Hörers Erwartung nicht vertreten sind. So gibt es von Pinkerton nicht das Fiorito Asil, sondern aus dem dritten Akt eine kurze Szene zwischen Suzuki, Sharpless ( sonor Önay Köse) und Pinkerton und von Des Grieux nicht Pazzo non sono, guardate, sondern einen Ausschnitt aus dem Duett mit Manon aus dem zweiten Akt.

Ansonsten gibt es viele der berühmten Arien wie natürlich Calafs Nessun dorma, nicht nur durch Pavarotti verkommen zur Bravourarie und auch auf dieser CD als imponierender Kraftakt, der beim Vincerò zum Lautstärkenregler eilen lässt, aufgefasst. Da kann es auch der Prague Philharmonia unter dem erfahrenen Carlo Rizzi nicht gelingen, etwas von der nächtlichen Stimmung an den Hörer zu vermitteln. Mehr gefallen kann allerdings Non piangere, Liù, das zumindest im ersten Teil zärtlich verträumt klingt.

Gleich drei Tracks widmen sich La Bohéme, zunächst natürlich Che gelida manina, in der weder jugendlicher Leichtsinn einer povertà lieta, noch der träumerische Glanz der notte di luna zu vernehmen ist, stattdessen zu sehr auf gröbere Effekte hin gearbeitet wird. Im Schluss des ersten Akts klingt Rodolfos Sognar zu geschmettert, le dolcezze estreme findet man eher beim Sopran Federica Lombardi, deren Stimme Charme und Süße hat. Auch in der Schlussszene des 3. Akts klingt der Tenor recht hart, lassen Musetta Marina Monzò und  Theodore Platt als Marcello aufhorchen.

Die beiden Arien des Cavaradossi lassen ein Recondita armonia hören, das ganz auf ein wahrhaft geschmettertes Tosca sei tu hinarbeitet und ein Lucevan le stelle mit schönem Parlando vor Beginn der Arie, mit recht erfolgreichem Bemühen um die für diese Arie so wichtige Agogik, die dann doch wieder abgelöst wird von einem nur auf Überwältigung zielenden Schluss.

Des Grieux ist außer mit dem Ausschnitt aus dem zweiten Akt von Manon Lescaut mit Donna non vidi mai vertreten, das gänzlich der Poesie und Verträumtheit entbehrt, wie unter Überdruck steht, da hätte man anstelle der Kraftentfaltung doch lieber etwas in der Nähe eines sussuro gentil gehört, während aus dem zweiten Akt der Ausbruch der Verzweiflung mit angemessenem vokalem Kraftaufwand bewältigt wird, nachvollziehen lässt, warum die Partie als Otello Puccinis gilt. Auch Dick Johnson aus La Fanciulla del West kommt den vokalen Möglichkeiten Tetelmans, der in vielem an Mario del Monaco erinnert, entgegen mit einem kraftvollen Che ella mi creda und einer kurzen Passage aus dem ersten Akt. Eine eher auch lyrische Qualitäten aufweisende Stimme wünscht man sich hingegen für den Ruggero aus La Rondine und den Roberto aus Le Villi.

Bleibt noch der Luigi aus Il Tabarro, mit dem der Tenor unlängst an der Deutschen Oper Berlin reüssierte. Währen der Sopran Vida Miknevičiũtè ihre Giorgetta bebend in verhaltener Lust und Angst sich äußern lässt, auch das Orchester die Anspannung, die auf der Bühne herrscht, nachvollziehen lässt, äußert sich Tetelmanns Luigi zwar imponierend heldisch, aber doch eher eindimensional und hörbar nur auf den  nicht immer positiven Eindruck kraftprotzenden Singens vertrauend (DG 486 4683/ Foto Jonathan Tetelman DOB Stephen Howard Dillon). Ingrid Wanja

Schreiben statt singen

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Einer der nachdenklichsten Sänger unserer Zeit, im eindringlichen Hinterfragen eines Kunstwerks wohl nur mit Dietrich Fischer-Dieskau zu vergleichen, ist der Engländer Ian Bostridge, der die auftrittsfreie Corona-Zeit dazu nutzte, sich in drei Essays mit ihn bewegenden Problemen zu befassen. Das Lied & das Ich ist der Titel des schmalen Bands, der sich mit Problemen der Interpretation, der  kulturellen Aneignung und schließlich der Gestaltung des Todes befasst, wobei als musikalische Beispiele Claudio Monteverdis Il Combattimento di Tancredi e Clorinda, Robert Schumanns Frauenliebe und –leben, Ravels Chansons Madécasses und verschiedene Werke  Benjamin Brittens, vor allem Der Tod in Venedig, herangezogen werden.

Es handelt sich eigentlich um Vorlesungen, die der Sänger, der auch Geschichte studiert hat, in Chicago hielt, und er  beginnt mit der leicht nachvollziehbaren Einsicht, dass jede Interpretation ein bestimmtes Verhältnis zwischen Werk und Interpreten hat, wobei die wünschenswerteste Konstellation die sei, dass das Lied den Sänger singt, wenn nicht nur von der Vergangenheit her die Gegenwart beleuchtet wird, sondern gleichzeitig das Umgekehrte geschieht. Sowohl im Monteverdi-Werk wie in dem Schumanns interessiert Bostridge die Ambiguität der Geschlechterrollen, wenn Clorinda mit dem Tod dafür bestraft wird, dass sie als kämpfender Mann auftrat, einer der Gründe dafür, dass der Tenor sowohl als Testo wie als Tancredi als auch Clorinda auftrat.

Unangemessen mutet heute der Text zu Schumanns Zyklus an und dürfte Feministinnen auf die Barrikaden treiben, nachdem bereits Storm und Mörike die Chamisso-Gedichte peinlich fanden. Bonstridge möchte den Zyklus bald selbst singen, wäre damit aber nicht der erste Sänger, und leitet die Berechtigung dazu unter anderem daraus ab, dass Schumann hin- und hergerissen war zwischen männlichem Überlegenheitsgefühl und dem Bewusstsein, gegenüber seiner Gattin der geistig und künstlerisch Unterlegene zu sein. Das bringt den Autor dazu, in Robert Schumann selbst den Protagonisten des Zyklus‘ zu sehen, woraus zwangsläufig das Vorhaben erwächst, nach Matthias Goerne und Roderick Williams nun selbst diese Lieder zu singen. Mit der Überschreitung der Geschlechtergrenzen hätten allerdings Tenöre und Baritone viel weniger Neuland zu betreten als Sängerinnen mit der Eroberung von Schöner Müllerin und Winterreise.

Bostridge wendet sich auch dem ausschließlich von Männern gestalteten japanischen NO –Theater zu und dem daran angelehnten Werk von Britten, in dem dessen Lebensgefährte Peter Pears eine Mutterrolle sang, für die der Autor die Vokabel Elternteil einsetzt. Nicht nur hier, sondern an vielen anderen Stellen des Buches hat man den Eindruck, es handle sich um eine eigentlich nicht mehr notwendige  Art Rechtfertigung dafür, dass Bostridge sich zu Rollen hingezogen fühlt, die Frauen vorbehalten waren. So kommt er zu dem Schluss,  „Geschlechterrollen werden verwischt und schlussendlich transzendiert.“

Als weißer Mann hat man augenblicklich nicht viel zu lachen und findet auch in Bostridge keinen Verteidiger, ganz im Gegenteil. Es geht um Ravels Chansons Madécasses, deren eines von vielen, von denen wiederum Ravel drei vertonte, von dem französischen Literaten Évariste de Parny einem indigenen Madegassen in den Mund gelegt wird. In ihm warnt er die Weißen davor, seine Insel erobern und die Bevölkerung versklaven zu wollen. Der Dichter wurde auf einer Nachbarinsel geboren und an seiner Erziehung waren auch Inselbewohner beteiligt. Er selbst sprach sich gegen die damals noch herrschende Sklaverei aus, was ihn nicht daran hinderte, eine seiner schwarzen Geliebten zu verkaufen. Bostridges Problem nun ist, ob ein heutiger Sänger zum Ventriloquismus verdammt würde, gleich ein Bauchredner zu sein, würde er sich anmaßen, dieses Lied zu singen, ja eine Art Diebstahl damit  begehen. Die Aneignung der indigenen Perspektive erscheint als eine Art Raub.

Dem Phänomen Tod widmet sich das dritte Kapitel, der Winterreise als einer solchen in den Tod, danach dem Tod als Zentrum in Brittens Schaffen angefangen mit der Sinfonia da Requiem von 1939. Der Komponist begibt sich 1945 mit Menuhin auf eine Konzertreise für überlebende KZ-Insassen, aber auch notleidende Deutsche, und natürlich widmet der Autor auch dem War Requiem, der Gegenüberstellung von lateinischer Totenmesse mit den Gedichten des im Ersten Weltkrieg gefallenen Wilfred Owen, einen Abschnitt. Dabei beschäftigt den Verfasser offensichtlich auch der Kriegsdienstverweigerer Britten und dessen eventuelle Reue, sich der Befreiung Europas versagt zu haben.. Hoch interessant ist der Vergleich von Brittens Oper Der Tod in Venedig mit der Novelle Thomas Manns, aber auch mit dem Film Viscontis, aufschlussreich sind die Vergleiche verschiedener Inszenierungen der Oper, in der auch an der Deutschen Oper Berlin der Tenor den Aschenbach sang.

Das Buch gewährt einen interessanten und berührenden Einblick in künstlerische und von jedweder persönlichen Orientierung bestimmte Entwicklungsprozesse, den Einfluss gesellschaftlicher, in der Wandlung befindlicher Normen auf künstlerische Entscheidungen (ISBN 978-3-406-80866-1; C.H.Beck Verlag 2023; 145 Seiten mit 6 s/w-Abbildungen und 4 Farbtafeln; Hardcover/ Foto oben Wikipedia). Ingrid Wanja     

Librettist Dante

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Unzählige Komponisten insbesondere des 19. Jahrhunderts hat das Schicksal von Paolo il Bello und Francesca da Rimini, die ihr Zeitgenosse Dante in seiner Göttlichen Komödie in die Hölle verbannt sah, beschäftigt und zu musikalischen Werken aller Arten inspiriert. Allein vollständige Opern gibt es von Mercadante ( erst 2016 in Martina Franca uraufgeführt), Goetz, Thomas, Rachmaninow, Mancinelli, Leoni und Zandonai, dazu eine Sinfonische Dichtung von Tschaikowski. Dabei wurde die Unerbittlichkeit des Renaissancemenschen gegenüber seiner Mitbürgerin bald in späteren Zeiten von einer milderen Sicht abgelöst,  so wenn der Poet Mario Rapisardi Francesca trotz der Begnadigung durch den Allerhöchsten freiwillig zu Paolo in die Hölle zurückkehren lässt, wenn gar ein Francesco Gianni sie zur Vorkämpferin für die freie Liebe stilisierte. Nicht vergessen werden darf natürlich auch, dass sie betrogen wurde, indem man sie glauben ließ, nicht sein missgestalteter Bruder, sondern der nur als Brautwerber auftretende Paolo sei ihr zukünftiger Gatte.

Weit weniger interessant fanden die Komponisten das Schicksal des ebenfalls von Dante portraitierten Grafen Ugolino, der von seinem Gegner samt Söhnen und Enkeln in einen Turm eingesperrt und dem Hungertod preisgegeben wurde. Bildliche Darstellungen zeigen ihn an seinen Händen nagend, geargwöhnt wurde, er habe sich von den Kadavern seines Nachwuchses ernährt, der ihn zuvor  ausdrücklich dazu ermuntert hätte. Natürlich regt eine solche Geschichte weit weniger zur Vertonung an, ist aber auf der CD ebenfalls mit einer Cantata von Francesco Morlacchi vertreten. Auch aus der Göttlichen Komödie stammt Pia de‘ Tolomei, die im Fegefeuer auf den Eintritt ins Paradies wartet, nachdem ihr Ehemann sie ermordet hat.

Auf der von Tactus aufgenommenen CD verleiht der Mezzosopran Manuela Custer einer selbstbewussten Francesca von Luigi Confidati ganz in Dur abgesehen vom „Caino attende“ ihre zärtlich-sinnliche Stimme voller Empfindsamkeit, nur am Schluss eine trotzige Aufwallung ins Spiel bringend. Begleitet wird sie vom Quartetto Dafne, das auch im weitaus längsten, dem Grafen Ugolino gewidmeten Stück dessen Verzweiflung beredten Ausdruck verleiht. Dieses stellt an den Mezzosopran höchste Anforderungen, und es ist schön, dass er vom Streichquartett auch hier erfolgreich darin unterstützt wird, alle Phasen der Verzweiflung ob der aussichtslosen Lage im Hungerturm in schöner Ausgewogenheit zwischen Emotion und Verhaltenheit dem Hörer nahe zu bringen. „La Pia“, wie sie auch genannt wurde, widmen sich zwei gleichnamige Stücke. Das von Filippo Marchetti geht tief ins Brustregister hinunter, und über seine gesamte Spannbreite hinweg lässt die Stimme Tragik und Reife vernehmen. Besonders gefordert wird von Antonino Palminteri in seiner La Pia das Klavier, mit dem der Pianist Raffaele Cortesi die Sängerin in ihrem erfolgreichen Bemühen unterstützt, das traurige Schicksal des Mordopfers nachzuzeichnen.

Viele andere, auch dem heutigen Musikfreund bekannte Namen sind auf der CD zu finden, so Puccini, der sich der  Szene annahm, in der es bei der Lektüre der Geschichte von Lanzelot und Ginevra zum ersten Kuss zwischen Francesca und Paolo kommt, außerdem Boito, der sich eines Musikstücks von Robert Schumann als Vorlage bedient, oder Ponchielli, der es ebenfalls vom Lesen zum Küssen kommen lässt. Der Gioconda-Komponist findet im Vergleich zu Puccini einen angemessen hochdramatischen Ansatz, lässt auch das Klavier dräuen, die Stimme tragisch verschattet klingen. Rossini ist mit einem Recitativo ritmato vertreten, Hans von Bülow, der erste Mann von Cosima Wagner mit einem Sonett Dantes.

Man könnte die CD mit einem Booklet, das außer der wertvollen Einführung auch die Texte der Stücke zumindest in Italienisch enthält, noch mehr genießen, aber auch so ist das Hören dieser Liriche su Testi di Dante ein Vergnügen und eine Bereicherung (TC 840003). Ingrid Wanja            

Aus den Barock-Archiven

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Für das neue Album bei seiner Stammfirma ERATO hat Philippe Jaroussky ein reizvolles Programm ausgewählt und in Musikbibliotheken nach vergessenen Werken gesucht, welche dort Jahrhunderte lang „der Welt abhanden gekommen“ waren. Forgotten Arias ist der Titel dieser CD, die im November/Dezember 2022 in Paris aufgenommen wurde (5054197633881). Die Platte ist auch eine Würdigung des Librettisten Pietro Metastasio, denn alle Arientexte stammen aus seiner Feder. Auf dem Album werden die aus dem Spätbarock stammenden Titel als Welterstveröffentlichungen präsentiert. Neun Komponisten sind vertreten, darunter auch unbekanntere wie Andrea Bernasconi, dessen L’Olimpiade die Anthologie eröffnet. Das Solo des Aminta „Siam navi all’onde algenti“ ist eine Gleichnisarie vom Schiff und seinem Steuermann in ungestümen Wogen. Vom Orchester mit erregten Figuren eröffnet, nimmt der Sänger diese Stimmung auf und überrascht vor allem mit seiner nachgedunkelten, gereiften Stimme. Sein früher knabenhafter, keuscher Ton war ja stets Geschmackssache und für heroische Arien weniger geeignet. Später gibt es diese Oper noch in der Vertonung von Tommaso Traetta. Daraus erklingt die Arie des Licida „Gemo in un punto“. Mit aufgewühlten Klängen des Orchesters wird sie eröffnet und der Counter nimmt diese Vorgabe auf, lässt einen dramatisch betonten Gesang hören.

Weniger bekannt ist auch Giovanni Battista Ferrandini, aus dessen 24 Arias Nr. 11, „Gelido in ogni vena“, ausgewählt wurde. Berühmt wurde diese in der Vertonung durch Vivaldi in dessen Oper Farnace. Auch in dieser Version wird das Stück von frostigen Akkorden des Orchesters eingeleitet. Auch der Sänger versucht, eingefrorene Klänge in seiner Stimme zu entfalten, was reizvolle Effekte mit sich bringt.

Catone in Utica existiert in Kompositionen von Vinci, Vivaldi, Jommelli, Leo, Graun, Hasse u. a. Jaroussky wählte die Version von Niccolo Piccinni und daraus die Arie des Arbace „Che legge spietata“. Diese ist von stürmischem Zuschnitt und der Interpret bemüht sich um adäquate Interpretation, die freilich etwas harmlos ausfällt. Auch von Il re pastore finden sich mehrere Versionen, von denen die Mozarts am bekanntesten ist. Hier ist die von Christoph Willibald Gluck zu hören und aus dieser die Arie des Agenore „Sol può dir“. Sie ist getragen von inniger Empfindung, was Jaroussky überzeugend zum Ausdruck bringt.

Ein weiterer Unbekannter ist Michelangelo Valentini, dessen Oper La clemenza di Tito natürlich vor allem in der Vertonung durch Mozart populär wurde. Die ausgedehnte Arie des Sesto „Se mai senti“ gibt es freilich dort nicht. Sie ist von kantablem Charakter und gibt der Stimme mannigfaltige Möglichkeiten zur Entfaltung.

Aus Johann Adolph Hasses Demofoonte stellt der Counter zwei Arien des Timante vor: „Sperai vicino il lido“ und „Misero pargoletto“. Erstere ist ein zunächst getragenes Stück, das sich dann zu lebhaftem Rhythmus wandelt, die zweite von kantablem Charakter und in beiden kann der Interpret mit stimmlicher Schönheit aufwarten.

Zum Abschluss gibt es eine interessante Gegenüberstellung der Oper Artaserse in zwei Vertonungen durch Johann Chrstian Bach und Niccolò Jommelli – aus der ersten „Per quel paterno amplesso“ in zunächst introvertierter, dann explosiver Manier, aus der zweiten „Fra cento affanni“. das in seinem stürmischen Duktus für einen vehementen Ausklang sorgt.

Der Counter wird begleitet vom Ensemble Le Concert de la Loge unter Julien Chauvin – ein neuer Partner also an der Seite des Sängers, der in der kontrastreichen dreisätzigen Sinfonia aus Hasses Demofoonte auch Gelegenheit zu orchestralem Einsatz hat und diesen glänzend absolviert. Bernd Hoppe

424 Verse in Musik

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„Festgemauert in der Erden steht die Form aus Lehm gebrannt“: Kaum ein anderer Gedichtanfang hat sich einst Generationen so eingebrannt wie dieser. Zu meiner Zeit in der DDR stand Friedrich Schillers Lied von der Glocke nicht mehr auf dem Lehrplan. Hüben wie drüben hatte es als Bestandteil des Kanons der deutschen Literatur ausgedient, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. In Osten wurde sich vor allem an Schillers harscher Kritik an der Französischen Revolution gestoßen. „Wehe, wenn sie losgelassen, wachsend, ohne Widerstand, durch die volkbelebten Gassen wälzt den ungeheuern Brand!“ Im Land der Aufmärsche und Umzüge war die Furcht vor dem eigenen Volk allgegenwärtig. Ich lernte das Lied dennoch auswendig, weil es meine Mutter – mit zunehmenden Lücken – auch immer noch aufsagen konnte. Es machte mir Spaß, es war meine sportliche Betätigung. Mein Gefühl für die Muttersprache und deren Reime hat es dauerhaft befördert. Die Glocke ist eines der am häufigsten zitierten und parodierten Gedichte. Viele Sprüche haben sich im Volksmund verselbständigt. Es gab viele Übersetzungen, Inszenierungen – und auch Vertonungen. Eine davon hat Hänssler Classic neu aufgelegt (HC23061). Der Komponist ist Andreas Romberg, der 1767 in Vechta geboren wurde und 1821 in Gotha starb. Als er sich 1815 an seinem letzten Wirkungsort als Konzertmeister der Hofkapelle niederließ, war der Dichter seit zehn Jahren tot.

Da Schiller sein Werk als Lied verstanden wissen wollte, bot sich eine Vertonung regelrecht an. Noch zu seinen Lebzeiten wurde in Dresden bei einer entsprechenden Aufführung Musik aus unterschiedlichen Kompositionen untergelegt. Wie Bernd Edelman im Booklet schreibt, habe sein Freund Christian Gottfried Körner eine selbständige Vertonung angeregt, in die Schiller mit eigenen konkreten Vorstellungen einstimmte. In einem Brief zwei Monate vor seinem Tod äußerte er: „Dem Meister Glockengießer muss ein kräftiger biederer Charakter gegeben werden, der das ganze trägt und zusammenhält.“ Nach dem Worten von Edelmann hat Romberg, der Schillers Wunsch gewiss nicht kannte, genau diese Idee verwirklicht. Das ganze lange Gedicht von 424 Versen sei in einem großen Zug vertont. Wie der Meister den Glockenguss leitet, so führe er von Station zu Station des Gedichts. Obwohl es eigentlich betrachtend episch sei, ließen sich dessen einzelne Episoden durchaus szenisch auffassen, so Edelmann. Mit verteilten Rollen. Dadurch wird es sehr kurzweilig. Es gibt Soloszenen, Duette, Quartette und Chöre. Karl Ridderbusch erweist sich mit seinem voluminösen Bass als Meister ganz im Sinne von Schiller. Ihm zur Seite stehen mit Maria Friesenhausen (Sopran) und Heiner Hopfer (Tenor) zwei Sänger mit großer Kantatenerfahrung. Die Altistin Renate Naber tritt nur in den beiden Quartetten in Erscheinung. Aus Rombergs Vertonung spricht ein großer Respekt vor Friedrich Schiller. Er lädt die wie in Stein gemeißelten Botschaften nicht noch zusätzlich auf. Vielmehr wendet er sie in menschliche Aussagen, die nicht selten sehr mild, sanft und lyrisch daherkommen.

Der weitgereiste Romberg hinterließ ein umfangreiches Werk in allen Genres, das so gut wie noch nicht erschlossen ist. Mit Ausnahme seiner Glocke, die bereits zweimal aufgenommen wurde, sind nur ganz wenige Werke auf Tonträger gelangt. Von Aufführungen ganz zu schweigen. Bei der jüngsten Hänssler-Veröffentlichung handelt es sich um die erste Einspielung, die 1982 in Essen entstand und zunächst bei der Wünschelburger Edition, einem Label, das sich Chorwerken und Liedern widmete, als Langspielplatte erschien. Zwischenzeitlich brachte sie Calig 1995 schon einmal auf CD heraus. Nun also folgte Hänssler. 1992 wurde beim WDR in Köln eine Aufnahme mit dem Chorus Musicus und dem Neuen Orchester unter der Leitung Christoph Spering produziert, die von Opus 111 als CD herausgegeben wurde. LiederNet, die umfangreichste Onlinedatenbank für Lieder, weiß von insgesamt vier Vertonungen. Der Organist, Kantor und Komponist Johann Georg Adam (1806-1867) legte eine Fassung für Solostimme mit Klavierbegleitung vor. Einem Sprecher stellt Georg Wilhelm Rauchenecker (1844-1906), der auch als Geiger tätig war, wahlweise einen Frauen- oder einen gemischten Chor sowie ein Klavier zur Seite. Max Bruch (1838-1920) gestaltete die Glocke zu einem großen spätromantischen Oratorium für Chor, vier Solostimmen, Orchester und Orgel. Der schweizer Komponist deutsch-russischer Herkunft Wladimir Vogel (1896-1984 setzte einen Solosprecher und einen Doppelchor mit eigenem Sprecher ein. Romberg ist bei LiederNet nicht erwähnt. Rüdiger Winter