424 Verse in Musik

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„Festgemauert in der Erden steht die Form aus Lehm gebrannt“: Kaum ein anderer Gedichtanfang hat sich einst Generationen so eingebrannt wie dieser. Zu meiner Zeit in der DDR stand Friedrich Schillers Lied von der Glocke nicht mehr auf dem Lehrplan. Hüben wie drüben hatte es als Bestandteil des Kanons der deutschen Literatur ausgedient, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. In Osten wurde sich vor allem an Schillers harscher Kritik an der Französischen Revolution gestoßen. „Wehe, wenn sie losgelassen, wachsend, ohne Widerstand, durch die volkbelebten Gassen wälzt den ungeheuern Brand!“ Im Land der Aufmärsche und Umzüge war die Furcht vor dem eigenen Volk allgegenwärtig. Ich lernte das Lied dennoch auswendig, weil es meine Mutter – mit zunehmenden Lücken – auch immer noch aufsagen konnte. Es machte mir Spaß, es war meine sportliche Betätigung. Mein Gefühl für die Muttersprache und deren Reime hat es dauerhaft befördert. Die Glocke ist eines der am häufigsten zitierten und parodierten Gedichte. Viele Sprüche haben sich im Volksmund verselbständigt. Es gab viele Übersetzungen, Inszenierungen – und auch Vertonungen. Eine davon hat Hänssler Classic neu aufgelegt (HC23061). Der Komponist ist Andreas Romberg, der 1767 in Vechta geboren wurde und 1821 in Gotha starb. Als er sich 1815 an seinem letzten Wirkungsort als Konzertmeister der Hofkapelle niederließ, war der Dichter seit zehn Jahren tot.

Da Schiller sein Werk als Lied verstanden wissen wollte, bot sich eine Vertonung regelrecht an. Noch zu seinen Lebzeiten wurde in Dresden bei einer entsprechenden Aufführung Musik aus unterschiedlichen Kompositionen untergelegt. Wie Bernd Edelman im Booklet schreibt, habe sein Freund Christian Gottfried Körner eine selbständige Vertonung angeregt, in die Schiller mit eigenen konkreten Vorstellungen einstimmte. In einem Brief zwei Monate vor seinem Tod äußerte er: „Dem Meister Glockengießer muss ein kräftiger biederer Charakter gegeben werden, der das ganze trägt und zusammenhält.“ Nach dem Worten von Edelmann hat Romberg, der Schillers Wunsch gewiss nicht kannte, genau diese Idee verwirklicht. Das ganze lange Gedicht von 424 Versen sei in einem großen Zug vertont. Wie der Meister den Glockenguss leitet, so führe er von Station zu Station des Gedichts. Obwohl es eigentlich betrachtend episch sei, ließen sich dessen einzelne Episoden durchaus szenisch auffassen, so Edelmann. Mit verteilten Rollen. Dadurch wird es sehr kurzweilig. Es gibt Soloszenen, Duette, Quartette und Chöre. Karl Ridderbusch erweist sich mit seinem voluminösen Bass als Meister ganz im Sinne von Schiller. Ihm zur Seite stehen mit Maria Friesenhausen (Sopran) und Heiner Hopfer (Tenor) zwei Sänger mit großer Kantatenerfahrung. Die Altistin Renate Naber tritt nur in den beiden Quartetten in Erscheinung. Aus Rombergs Vertonung spricht ein großer Respekt vor Friedrich Schiller. Er lädt die wie in Stein gemeißelten Botschaften nicht noch zusätzlich auf. Vielmehr wendet er sie in menschliche Aussagen, die nicht selten sehr mild, sanft und lyrisch daherkommen.

Der weitgereiste Romberg hinterließ ein umfangreiches Werk in allen Genres, das so gut wie noch nicht erschlossen ist. Mit Ausnahme seiner Glocke, die bereits zweimal aufgenommen wurde, sind nur ganz wenige Werke auf Tonträger gelangt. Von Aufführungen ganz zu schweigen. Bei der jüngsten Hänssler-Veröffentlichung handelt es sich um die erste Einspielung, die 1982 in Essen entstand und zunächst bei der Wünschelburger Edition, einem Label, das sich Chorwerken und Liedern widmete, als Langspielplatte erschien. Zwischenzeitlich brachte sie Calig 1995 schon einmal auf CD heraus. Nun also folgte Hänssler. 1992 wurde beim WDR in Köln eine Aufnahme mit dem Chorus Musicus und dem Neuen Orchester unter der Leitung Christoph Spering produziert, die von Opus 111 als CD herausgegeben wurde. LiederNet, die umfangreichste Onlinedatenbank für Lieder, weiß von insgesamt vier Vertonungen. Der Organist, Kantor und Komponist Johann Georg Adam (1806-1867) legte eine Fassung für Solostimme mit Klavierbegleitung vor. Einem Sprecher stellt Georg Wilhelm Rauchenecker (1844-1906), der auch als Geiger tätig war, wahlweise einen Frauen- oder einen gemischten Chor sowie ein Klavier zur Seite. Max Bruch (1838-1920) gestaltete die Glocke zu einem großen spätromantischen Oratorium für Chor, vier Solostimmen, Orchester und Orgel. Der schweizer Komponist deutsch-russischer Herkunft Wladimir Vogel (1896-1984 setzte einen Solosprecher und einen Doppelchor mit eigenem Sprecher ein. Romberg ist bei LiederNet nicht erwähnt. Rüdiger Winter