Schreiben statt singen

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Einer der nachdenklichsten Sänger unserer Zeit, im eindringlichen Hinterfragen eines Kunstwerks wohl nur mit Dietrich Fischer-Dieskau zu vergleichen, ist der Engländer Ian Bostridge, der die auftrittsfreie Corona-Zeit dazu nutzte, sich in drei Essays mit ihn bewegenden Problemen zu befassen. Das Lied & das Ich ist der Titel des schmalen Bands, der sich mit Problemen der Interpretation, der  kulturellen Aneignung und schließlich der Gestaltung des Todes befasst, wobei als musikalische Beispiele Claudio Monteverdis Il Combattimento di Tancredi e Clorinda, Robert Schumanns Frauenliebe und –leben, Ravels Chansons Madécasses und verschiedene Werke  Benjamin Brittens, vor allem Der Tod in Venedig, herangezogen werden.

Es handelt sich eigentlich um Vorlesungen, die der Sänger, der auch Geschichte studiert hat, in Chicago hielt, und er  beginnt mit der leicht nachvollziehbaren Einsicht, dass jede Interpretation ein bestimmtes Verhältnis zwischen Werk und Interpreten hat, wobei die wünschenswerteste Konstellation die sei, dass das Lied den Sänger singt, wenn nicht nur von der Vergangenheit her die Gegenwart beleuchtet wird, sondern gleichzeitig das Umgekehrte geschieht. Sowohl im Monteverdi-Werk wie in dem Schumanns interessiert Bostridge die Ambiguität der Geschlechterrollen, wenn Clorinda mit dem Tod dafür bestraft wird, dass sie als kämpfender Mann auftrat, einer der Gründe dafür, dass der Tenor sowohl als Testo wie als Tancredi als auch Clorinda auftrat.

Unangemessen mutet heute der Text zu Schumanns Zyklus an und dürfte Feministinnen auf die Barrikaden treiben, nachdem bereits Storm und Mörike die Chamisso-Gedichte peinlich fanden. Bonstridge möchte den Zyklus bald selbst singen, wäre damit aber nicht der erste Sänger, und leitet die Berechtigung dazu unter anderem daraus ab, dass Schumann hin- und hergerissen war zwischen männlichem Überlegenheitsgefühl und dem Bewusstsein, gegenüber seiner Gattin der geistig und künstlerisch Unterlegene zu sein. Das bringt den Autor dazu, in Robert Schumann selbst den Protagonisten des Zyklus‘ zu sehen, woraus zwangsläufig das Vorhaben erwächst, nach Matthias Goerne und Roderick Williams nun selbst diese Lieder zu singen. Mit der Überschreitung der Geschlechtergrenzen hätten allerdings Tenöre und Baritone viel weniger Neuland zu betreten als Sängerinnen mit der Eroberung von Schöner Müllerin und Winterreise.

Bostridge wendet sich auch dem ausschließlich von Männern gestalteten japanischen NO –Theater zu und dem daran angelehnten Werk von Britten, in dem dessen Lebensgefährte Peter Pears eine Mutterrolle sang, für die der Autor die Vokabel Elternteil einsetzt. Nicht nur hier, sondern an vielen anderen Stellen des Buches hat man den Eindruck, es handle sich um eine eigentlich nicht mehr notwendige  Art Rechtfertigung dafür, dass Bostridge sich zu Rollen hingezogen fühlt, die Frauen vorbehalten waren. So kommt er zu dem Schluss,  „Geschlechterrollen werden verwischt und schlussendlich transzendiert.“

Als weißer Mann hat man augenblicklich nicht viel zu lachen und findet auch in Bostridge keinen Verteidiger, ganz im Gegenteil. Es geht um Ravels Chansons Madécasses, deren eines von vielen, von denen wiederum Ravel drei vertonte, von dem französischen Literaten Évariste de Parny einem indigenen Madegassen in den Mund gelegt wird. In ihm warnt er die Weißen davor, seine Insel erobern und die Bevölkerung versklaven zu wollen. Der Dichter wurde auf einer Nachbarinsel geboren und an seiner Erziehung waren auch Inselbewohner beteiligt. Er selbst sprach sich gegen die damals noch herrschende Sklaverei aus, was ihn nicht daran hinderte, eine seiner schwarzen Geliebten zu verkaufen. Bostridges Problem nun ist, ob ein heutiger Sänger zum Ventriloquismus verdammt würde, gleich ein Bauchredner zu sein, würde er sich anmaßen, dieses Lied zu singen, ja eine Art Diebstahl damit  begehen. Die Aneignung der indigenen Perspektive erscheint als eine Art Raub.

Dem Phänomen Tod widmet sich das dritte Kapitel, der Winterreise als einer solchen in den Tod, danach dem Tod als Zentrum in Brittens Schaffen angefangen mit der Sinfonia da Requiem von 1939. Der Komponist begibt sich 1945 mit Menuhin auf eine Konzertreise für überlebende KZ-Insassen, aber auch notleidende Deutsche, und natürlich widmet der Autor auch dem War Requiem, der Gegenüberstellung von lateinischer Totenmesse mit den Gedichten des im Ersten Weltkrieg gefallenen Wilfred Owen, einen Abschnitt. Dabei beschäftigt den Verfasser offensichtlich auch der Kriegsdienstverweigerer Britten und dessen eventuelle Reue, sich der Befreiung Europas versagt zu haben.. Hoch interessant ist der Vergleich von Brittens Oper Der Tod in Venedig mit der Novelle Thomas Manns, aber auch mit dem Film Viscontis, aufschlussreich sind die Vergleiche verschiedener Inszenierungen der Oper, in der auch an der Deutschen Oper Berlin der Tenor den Aschenbach sang.

Das Buch gewährt einen interessanten und berührenden Einblick in künstlerische und von jedweder persönlichen Orientierung bestimmte Entwicklungsprozesse, den Einfluss gesellschaftlicher, in der Wandlung befindlicher Normen auf künstlerische Entscheidungen (ISBN 978-3-406-80866-1; C.H.Beck Verlag 2023; 145 Seiten mit 6 s/w-Abbildungen und 4 Farbtafeln; Hardcover/ Foto oben Wikipedia). Ingrid Wanja