Eine Wiener Geschichte

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„Aber die Liebe …“ So der Titel einer Johannes-Brahms-CD, die bei Prospero erschienen ist (Prosp 0058). Marie-Claude Chappuis (Foto oben aus dem Booklet) singt zehn Lieder aus unterschiedlichen Werkgruppen, bei denen sie von Christian Chamorel begleitet wird, der seinerseits als Solist drei Klavierstücke aus den Sieben Fantasien Op. 116 beisteuert. Diese kleinen Zwischenspiele sind gut platziert. Eine Praxis, die so auch bei klassischen Liederabenden im Konzert vorstellbar ist. Auf diese Weise könnten sich Pianisten auch jenseits ihrer Rolle als Begleiter profilieren. Bei den Vier ernsten Gesängen ersetzt das Quartett Sine Nomine mit Patrick Genet (Violine 1), Francois Gottraux (Violine 2), Hans Egidi (Viola) und Mare Jaermann (Violoncello) das originale Pianoforte. Eine Bearbeitung mit Seltenheitswert. Sie stammt vom Schweizer Violinisten und Arrangeur Jean-Pierre Moeckli, der sie sehr feinsinnig und diskret angelegt hat – als wolle er sich vor Brahms verneigen. Eine Version also, die dem Original den nötigen Respekt zollt.

Die weit verbreitete Neigung zu Bearbeitungen ist fast so alt wie das letzte Liederwerk des Komponisten selbst. Max Reger, der mit Brahms in dessen Todesjahr in brieflichen Austausch trat, setzte die Gesänge „Für Klavier allein“, der Kirchenmusiker Helmut Bornefeld lässt wie andere vor ihm den Sänger von der Orgel begleitet. Ähnlich Reger verzichtet auch der zeitgenössische Posaunisten Barnaby Kerekes in seiner Fassung für Tenor- oder Bassposaune und Klavier auf einen Gesangssolisten. Die Vier ernsten Gesänge wurden ursprünglich für Bassstimme und Klavier komponiert und dem Maler, Grafiker und Bildhauer Max Klinger gewidmet. Damit stattete er seinen Dank für den graphischen Zyklus „Die Brahms-Phantasie“ ab. Dabei handelt es sich um Radierungen und Steinzeichnungen zur Illustration diverser Vokalkompositionen. Das Brahms-Denkmal für dessen Geburtsstadt Hamburg vollendete Klinger 1909. Es steht in der heutigen Laiszhalle.

Konzertszene im alten Bösendorfer-Saal im Palais Liechtenstein in Wien / Wikipedia

Textgrundlage der ersten drei Lieder („Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh“, „Ich wandte mich, und sahe an“, „O Tod, wie bitter bist du“) sind Themen über Vergänglichkeit aus dem Alten Testament. Für das vierte („Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete“) griff Brahms auf das Neue Testament zurück, indem er Glaube, Hoffnung und Liebe beschwor. Der Zyklus entstand ein Jahr vor seinem Tod unter dem Eindruck des schweren Schlaganfalls, den die verehrte Freundin Clara Schumann erlitten hatte. Neben der originären Version existieren Ausgaben für Sopran und Tenor sowie für Alt und Bariton, deren Drucklegung Brahms noch selbst überwacht haben soll. Wann erstmals eine Frau den vierteiligen Zyklus öffentlich vortrug, ließ sich nicht herausfinden. Die Altistin Sigrid Onégin dürfte eine der ersten, wenn nicht die erste gewesen sein, die 1922 eine Schallplattenaufnahme mit damals üblicher Studio-Orchesterbegleitung vorlegte. Für 1939 ist Emmi Leisner in Begleitung von Michael Raucheisen dokumentiert. Von der Altistin Kathleen Ferrier gibt es gleich drei Aufnahmen und zwar von 1947, 1949 und 1950, eine davon in englischer Übersetzung mit einem eigenwilligen Orchesterarrangement, das von Malcolm Sargent, dem Dirigenten dieses Mitschnitt aus der Londoner Royal Albert Hall besorgt wurde. In traditioneller Klavierfassung haben auch Kirsten Flagstad, Nell Rankin, Rose Bampton, Gertrude Pitzinger, Janet Baker, Barbara Manford, Martha Kessler, Aafje Heynis, Maureen Forrester, Jadwiga Rappé, und Brigitte Fassbaender Aufnahmen gemacht. Zudem sind Marie-Nicole Lemieux, Madeleine Jalbert, Ruth-Maria Nicolay, Linda Finnie, Cornelia Wulkopf und Tamara Takács für das Werk ins Studio gegangen. Bei der Recherche war ich selbst überrascht, wie viele Dokumente mit Sängerinnen zusammen kamen.

Mit dieser Anzeige wurde die Uraufführung der Vier ernsten Gesänge angekündigt/Wikipedia

Marie-Claude Chappuis, vom Haus aus Mezzosopranistin mit Erfahrungen in Barockmusik, Bachs Oratorien und Mozarts Opern, findet in der aktuellsten Einspielung einen betont lyrischen Ansatz und erweitert damit das Ausdrucksspektrum für die Interpretation dieses Zyklus auch jenseits der männlichen Interpreten, die in der Aufnahmestatistik nach einem groben Überblick in der Mehrzahl sind. Obwohl es auch die Tenor-Einrichtung gibt, dominieren die tiefen Stimmlagen: Alexander Kipnis, Paul Gümmer, Hermann Schey, Hans Hotter, Kim Borg, Harald Stamm, Hermann Prey, Georg London, José van Dam, Thomas Quasthoff, Theo Adam, Siegfried Lorenz, Sherril Milnes, Andreas Schmidt, Nathan Berg, Norman Foster, Robert Holl, Kurt Moll, Christian Immler, Arttu Kataja, Gerald Finley, Christian Gerhaher, Matthias Goerne, Günther Groissböck und Georg Zeppenfeld. Dietrich Fischer-Dieskau hatte gar 1949 bei der Deutschen Grammophon mit den Vier ernsten Gesängen seine erfolgreiche Schallplattenkarriere begonnen. Noch keine fünfundzwanzig, gelang ihm ein ungewöhnlicher Kontrast zwischen seiner Jugend und dem „bitteren Tod“ des dritten Liedes. Es sollte nicht bei einer Aufnahme bleiben.

Der Holländer Anton Sistermans war Sänger  der Urauffühung / Sammlung Manskopf

Die Uraufführung hatte am 9. November 1896 im Wiener Bösendorfer-Saal durch den holländischen Heldenbariton Bariton Anton Sistermans stattgefunden, der 1899 bei den Bayreuther Festspielen als Gurnemanz und Pogner mitwirkte. Dieser Saal, der mehr als fünfhundert Besuchern Platz bot und in dieser Form bis 1913 existierte, befand sich im später abgerissenen Palais Liechtenstein in der Herrengasse und war wegen seiner Akustik bei einem erlesenen Publikum überaus geschätzt. Der gebürtige Wiener Schriftsteller Stefan Zweig setzte ihm in seinem Erinnerungsbuch „Die Welt von gestern“ ein literarisches Denkmal indem er das letzte Konzert mit Kammermusik von Beethoven beschrieb: „Wir lärmten und applaudierten, einige Frauen schluchzten vor Erregung, niemand wollte es wahrhaben, dass es ein Abschied war. Man verlöschte im Saal die Lichter, um uns zu verjagen. Keiner von den vier- oder fünfhundert Fanatikern wich von seinem Platz.“ Der Name des Saals geht auf den Klavierbauer Ludwig Bösendorfer zurück, dessen Instrumente auch bei den Konzerten zum Einsatz kamen. Von Sistermans haben sich einige akustische Aufnahmen, darunter zwei Brahms-Lieder, erhalten. Bei aller technischen Unzulänglichkeit vermitteln sie einen Eindruck davon, wie es gelungen haben könnte bei Uraufführung. Sistermans hatte eine elegante, ruhige Stimme. Sein Legato war vorbildlich, der Ausdruck durch ein gewisses Pathos sehr der Zeit verhaftet.

Die Altistin Julia Culp und der Pianist Coenraad V. Bos, der bei der Uraufführung die Sänger begleitet haben will. / Wikipedia

Und wer saß am Klavier? Darum ranken sich Legenden. Organisiert hatte das Konzert, für das auch Lieder aus Schuberts Müllerin, zwei Balladen von Loewe sowie „Lieder neuerer Componisten“ angekündigt waren, der namhafte Wiener Musikalienhändler und Konzertagent Albert Gutmann, der ein eigenes Geschäft in der Hofoper betrieb. Er hatte zahlreiche in- und ausländische Künstler und Ensembles unter Vertrag und unterhielt Büros in London, Paris und Berlin. In einer von ihm geschalteten Zeitungsanzeige wird Anton Rückauf (1855-1903) genannt, der „die Clavierbegleitung freundlichst übernommen“ habe. Rückauf war Komponist, Musikpädagoge und Pianist in einem. Seine Lieder mit einem extrem schwierigen Klaviersatz wurden seinerzeit oft aufgeführt. Für seine Bedeutung spricht auch, dass er in Wien auf dem Zentralfriedhof in einem Ehrengrab beigesetzt wurde. Nach Angaben der Mahler Foundation im Internet soll sich Anton Sistermans Brahms selbst als Begleiter gewünscht haben, der aber ablehnte. Stattdessen sei diese Aufgabe vom Pianisten Coenraad V. Bos übernommen worden. Er war ein Landsmann von Sistermans und zum Zeitpunkt der Uraufführung einundzwanzig Jahre alt. Auch Wikipedia folgt dieser Darstellung und gibt als Quelle Bos selbst an. Der hatte in dem 1949 in Philadelphia erschienen Buch „The Weel-Tempered Accompanist“, das von Ashley Pettis herausgegeben wurde, von seiner Mitwirkung an der Uraufführung berichtet. Nach dem Konzert, so Bos, „kam Brahms ins Künstlerzimmer und bedankte sich herzlich bei [Anton] Sistermans und mir für unsere Darbietung, die, wie er sagte, seine Absichten perfekt in die Tat umsetzte“.

Ein Blatt aus dem Zyklus Brahmsphantasie von Max Klinger. Dafür widmete ihm der Komponist seine „Vier ernsten Gesänge“. / Wikipedia

In seiner umfangreichen achtbändigen Biographie des Komponisten geht der Musikschriftsteller und Kritiker Max Kalbeck (1850-1921) ausführlich auf die Uraufführung ein. Sie ist zwischen 1904 und 1914 als Fortsetzung erschienen und gilt trotz zeitgebundener Unkorrektheiten immer noch als eine wesentliche musikhistorische Quelle. Kalbeck hatte Brahms 1874 kennengelernt und war ihm fortan eng verbunden. „Bis kurz vor seinem Tode besuchte Brahms noch Konzert und Theater“, heißt es darin. Nur sei er „absolut nicht dazu zu bewegen“ gewesen, sich seine Vier ernsten Gesänge anzuhören. „Weder kam er in den Tonkünstlerverein, als sie dort von Felix Kraus am 30. Oktober gesungen wurden, noch erschien er im Künstlerzimmer oder bezog seinen Horcherposten bei Bösendorfer, wo Anton Sistermans das Werk am 9. November in die Öffentlichkeit einführte.“ Kalbeck zitiert eine Bemerkung des Sängers, mit der auch die Angaben der Mahler Foundation bestätigt wird, wonach er am liebsten mit Brahms gemeinsam aufgetreten wäre. „Nach früheren Begegnungen mit Brahms glaubte Sistermans, eine solche Bitte wagen zu dürfen“, so Kalbeck. Mehr nicht. Folglich ist nach derzeitigem Stand der Dinge davon auszugehen, dass Anton Rückauf am Flügel saß.

Den Darstellungen von Kalbeck zufolge war der eigentlichen Uraufführung eine offenbar nicht öffentliche Vorstellung der Vier ernsten Gesänge im kleineren Kreis vorausgegangen. Solist war der 1870 geborene Felix von Kraus. Obwohl sein Hauptbetätigungsfeld der Konzertsaal gewesen ist, trat auch er in Bayreuth auf und alternierte 1899 sogar mit Sistermans als Gurnemanz. Kraus hat Erinnerungen an Brahms, Bruckner und Cosima Wagner hinterlassen, die 1961 im Kommissionsverlag bei Franz Hain in Wien herausgegeben wurden. Auf seinem Begleiter geht er nicht ein. War es der nur fünf Jahre jüngere Coenraad V. Bos? Bos, der 1955 starb, erlebte noch den Beginn der Langspielplattenära. Bei der schon erwähnte Einspielung der Vier ernsten Gesänge durch die amerikanische Altistin Nell Rankin für Capitol Records spielt er den Flügel. Für die vom englischen Produzenten Walter Legge initiierte Hugo Wolf Society begleitete Bos Elisabeth Rethberg, Elena Gerhardt, Herbert Janssen, Gerhard Hüsch und Alexander Kipnis.  Rüdiger Winter