Archiv für den Monat: April 2024

Massenets Werther als Bariton

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Und wieder bannt uns das renommierte Label Palazzetto Bru Zane in Erstaunen ob seiner Repertoire-Politik. Diesmal mit Massenets Werther in der Bariton-Version, die Massenet für den berühmten Bariton seiner Zeit, Mattia Battistini, schrieb, dem er sehr zugetan war. Nur eben: Es gibt eigentlich keine französische Version für Bariton, denn Battistini sang diese Partie nur (??) in seiner Heimatsprache. Erst 2004 nahm Thomas Hampson (nach Dale Duesing im fernen Seattle) eine Version auf, die auf der Grundlage der Battistini-Absachrift die Baritonlage an die Noten- und französisch-sprachliche Linie anpasst. Seitdem haben es manche Baritone gesungen und sind damit dokumentiert (und als DVD/2004 erhältlich). Von Luca Grassi 2007 Martina Franca in Italienisch), sodann in Französisch Dale Duesing (Seattle 1989), Thomas Hampson (Version Almeida, Met 1999 mit DVD Konzert Paris 2004 Mezzo) über Philip Addes (2011 Montreal), Adam Tunnicliffe und Ed Ballard (Glyndebourne Touring 2008), bis zu kürzlich Ludovic Tézier (2023 in Wien). Es ist das Verdienst der älteren Dynamic-Aufnahme von 2003 (ersch. 2004), mit Luca Grassi die originale Battistini-Version in eben dessen Heimatsprache herausgegeben zu haben. Und es ist ein Irrtum, wenn man nun von einer Battistini-Fassung spricht, aber die französische meint.

Es gibt lediglich die Übertragungen der Gesangslinie für Battistini als handschriftlicher Klavier-Auszug. Und eine Arbeitspartitur, in die ein Kopist die neue Bariton-Gesangslinie eingetragen hatte. Im Nachlass von Vanni Marcoux , dem berühmten französischen Bariton, befindet sich eine solche. Und es gibt Varianten von einer zur anderen, was auf schrittweise Bearbeitungen hindeutet, die vielleicht im Laufe von zehn Jahren erfolgten. Eine Version wurde in den USA ausgegraben und 1989 in Seattle mit Dale Duesing und 1999 an der Metropolitan Opera in New York mit Thomas Hampson aufgeführt, wobei der Text auf einer Partitur basierte, die sich im Besitz des Dirigenten Antonio de Almeida befand (Almeida war ja stets für Überraschungen auf dem musikalisch-archäologischen Sektor gut). Der Text zeigt einen früheren Stand als den, den Mattia Battistini für die beiden Auszüge aus dem Jahr 1911 aufgenommen hat, wobei die Varianten auf einigen Exemplaren (separates Stück oder Gesamtausgabe) erscheinen, die der italienische Bariton verwendet hat; dies geht aus Kopien hervor, die Jacques Chuilon, Autor einer Biografie über Mattia Battistini (Mattia Battistini, King of Baritons erschienen bei Rowman & Littlefield Publishing Group Inc 2009), vorlegte.

Jacques Chuilon ist der festen Überzeugung, dass die Vereinbarung zwischen Battistini und Massenet aus praktischen Gründen eine Baritonlinie vorsah, die ohne Änderungen in die bestehende Orchesterpartitur eingefügt werden konnte, damit die Repertoiretheater, die bereits mit dem Orchestermaterial der Tenorversion gearbeitet hatten, nicht darunter leiden mussten; diese Hypothese wird nicht durch die Tatsache widerlegt, dass Battistini zwei – derzeit verschollene – Orchestermaterialien von Werther besaß, da der Sänger diese Materialien sehr schnell in die osteuropäischen Länder liefern können musste, in denen er insbesondere „seine“ Version gesungen hatte. Solange diese Materialien jedoch nicht wieder aufgetaucht sind, wird man nicht wissen, ob sie Spuren der vom Komponisten vorgeschlagenen Änderungen tragen.

Der „nerue“ Bariton-Werther beim Palazzetto, Tassis Christoyannis/Agence Massis


Thomas Hampson, der zweite moderne französische Bariton-Werther nach Dale Duesing schreibt auf seiner Seite dazu: „Ein autographes Manuskript ist nicht erhalten, aber eine Arbeitspartitur, die Battistini gehörte, bildete die Grundlage für die hier (2004 konzertant im Pariser Châtelet) aufgeführte Fassung, in der die Rolle nicht nur transponiert, sondern auch umgeschrieben wurde, um der dunkleren und psychologisch reicheren Baritonstimme gerecht zu werden“.

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Die erneute Umarbeitung ins Französische und überhaupt betont erwartungsgemäß weniger die glanzvollen denn die dramatisch-dunkleren Momente, was mich nicht für die Fassung einnimmt. Das klingt für mich eher nach einem depressiven Hamlet als nach einem feuerköpfigen jungen Mann im Liebes-und Verzweiflungswahn, im Sinne Goethes. Die Partie erscheint nun viel älter, gesetzter, klingt nach spätem Glück eines Rentiérs. Zumal nun mit La Gens auch eine sehr stimmlich recht reife Frau sich zu ihm gesellt, ein wenig also: Eine Kaffee-Runde im Altersheim oder (Der Traum des Werther, haben Alberts Pistolen versagt?). Da stört der ältere Bariton-Mitbewerber Albert eher weniger.

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Nach einer DVD und einigen weiteren Live-Mitschnitten ist die neue Palazzetto-Buch-Edition aber zumindest die erste CD (!)-Ausgabe des Bairton-Werther, nämlich mit Glanz von Tassis Christoyannis neben einer ältlichen, abgedunkelten und nun wohl ins Mezzofach abgewanderten Véronique Gens gesungen. Der einzige Tenor weit und breit in Wetzlar ist nun Herr Schmidt. Aber Christoyannis kann für mich einfach alles singen, sogar das Telefonbuch von Neuilly, denn ich liebe diese tolle Bass-.Bariton-Stimme, zumal im Französischen. Was für ein Sänger, was für ein sinnliches Timbre, was für ein sexy Mann! Aber er allein reißt nicht alles raus. Thomas Dolie und Hélène Carpentier als Albert und Sophie sind wirklich befriedigend. György Vashegyi am Pult der beim Palazzetto bewährten Budapester Kräfte ist mir hingegen zu bodenlastig und nicht rauschhaft genug. Da gilt oben Gesagtes.

Dafür ist die Textbeilage (leider wie stets nur ein Englisch und Französisch trotz des überdimensional großen deutschsprachigen Marktes in der EU) wieder Grund für einen Neukauf! Und eben wegen der fehlenden deutschen Übersetzung bringen wir nachstehend zwei Auszüge (in eigener deutschen Übersetzung/DeepL) zur weiteren Information über die Bariton-Version, und anschließend zwei weitere interessante Beiträge von Danilo Prefumo und Lesley Wright . Es ist doch bemerkenswert, wie sich die Darstellung von Details unterscheiden. G. H.

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Mattia Battistini als Werther/Wikipedia

Alexandre Dratwicki schreibt beim Palazzetto: Auf Wunsch von Mattia Battistini stimmte der Komponist einer Neufassung der Titelrolle zu – eine Aufgabe, die Massenet bereits in groben Zügen für Massenet für Victor Maurel, der den Werther schließlich nicht sang (und die der italienische Bariton anscheinend selbst vollendet hatte) für die Aufführungen in St. Petersburg 1902 fertiggestellt hatte. Obwohl kein autographes Manuskript von Massenets Hand existiert, sind Skizzen von ihm erhalten, in denen die Rolle des Albert für einen Tenor umgeschrieben wurde, zweifellos, um den  französischen Provinztheatern die Möglichkeit zu geben, den Helden des Werks mit dem führenden Bariton des Hauses zu besetzen, während sie Albert einem Solotenor geben konnten. Aber die Adaption wurde nie vollendet. Dennoch veröffentlichte die Firma Heugel eine Vokalpartitur, wahrscheinlich nach Massenets Tod und unter Bedingungen der Eile, wie die zahlreichen Druckfehler verraten.

Die wenigen Auszüge aus Werther, die Battistini aufgenommen hat, unterscheiden sich deutlich von dieser Partitur, die wahrscheinlich das Werk eines „internen“ Bearbeiters ist, der das kommerzielle Potenzial der Oper erweitern wollte. Seitdem haben die Baritone, die diese Rolle singen, die Partitur häufig auf ihre eigenen stimmlichen Möglichkeiten zugeschnitten.

Die vorliegende Aufnahme – die dritte kommerzielle Veröffentlichung der Baritonfassung – soll einen Beitrag zur Nachwelt des Werther beitragen, indem sie zwei Aspekte beleuchtet, die die Musik in den Vordergrund stellt: den Text und die Frage nach der Stimmfarbe. Alexandre Dratwicki/DeepL

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Ebenfalls Palazzetto: Jean-Christophe Branger – ein Bariton-Werther. Nach mehreren gescheiterten Versuchen in Frankreich und im Ausland wurde Werther schließlich am 16. Februar 1892 in Wien (in deutscher Sprache) mit dem Tenor Ernest Van Dyck in der Titelrolle gegeben. Entgegen allen Erwartungen war die Premiere ein denkwürdiger Triumph. Das Werk wurde während der Spielzeit regelmäßig wiederaufgenommen und im selben Jahr in Weimar (ebenfalls in deutsch) aufgeführt. Aber es hatte Schwierigkeiten, sich in Frankreich und anderswo zu etablieren, da kein Tenor in der Lage war, eine Rolle, die solche stimmlichen und dramatischen Anforderungen stellte, auszuführen.

Die Pariser Premiere an der Opéra-Comique machte diese Schwierigkeiten deutlich. Im Herbst 1892 probte Étienne Gibert, der Schöpfer des Roland in Esclarmonde, mit der jungen Marie Delna. Doch verzweifelt von Massenets Forderungen und seiner wiederholten Unzufriedenheit mit ihm, gab der Tenor schließlich seine Rolle zurück. Die wurde dann Charles Delmas zugewiesen, der prompt erkrankte. Angesichts dieser vielfältigen Schwierigkeiten komponierte Massenet eine Fassung der Titelrolle für Bariton, die er für Victor Maurel, einem bewunderten Verdi-Interpreten, vorgesehen hatte Doch dieses Projekt, das für die Opéra-Comique geplant war, scheiterte jedoch bald, bis der Tenor Guillaume Ibos Massenet anfragte, ob er sich der Herausforderung stellen könne. Ibos behauptete später sogar, er habe sich an Massenet gewandt, nachdem er von dem Projekt mit Maurel erfahren habe. Allerdings überzeugte seine Darstellung die Kritiker nicht. Werther sollte erst 1903 in Frankreich dank des Talents des jungen Léon Beyle seine Nische in Frankreich finden.

Bariton Philipp Addis als Werther in Montreal/PHOTO MIGUEL LEGAULT, COLLABORATION SPÉCIALE Montreale 2011

In der Zwischenzeit tauchte die Baritonversion wieder auf, als Mattia Battistini (1856-1928) Massenet fragte, ob er Werther singen könne. Als gewiefter Stratege bot ihm der Komponist die für Maurel arrangierte Partitur an und behauptete, sie sei für ihn konzipiert worden, wie er an seinen Verleger Heugel schrieb: „Sie wissen sehr wohl, dass die Arbeit getan ist – sie ist fertig – aber ich möchte, dass, wenn ich meine Antwort gebe, bekannt wird, dass ich die Rolle auf diese Weise für Battistini arrangiert habe“. Nachdem er die Rolle mit Massenet studiert hatte, sang der italienische Bariton die Rolle (in Italienisch!) im November 1901 in Warschau und im folgenden Jahr in St. Petersburg und Odessa, ein Jahrzehnt bevor er einige Auszüge im Jahr 1911 aufnahm. Doch Massenets Autograph dieser Fassung ist bis heute nicht auffindbar und wurde nie veröffentlicht. Dennoch wurde sie wahrscheinlich weitergegeben, vielleicht sogar vom Komponisten oder auch von anderen, denn der französische Bariton Vanni Marcoux besaß ein Exemplar des Werther aus dem Jahr 1918, in der die – handschriftliche – Gesangslinie manchmal von dem abweicht, was wir in Battistinis Aufnahmen hören. Die Baritonfassung geriet schließlich in Vergessenheit, da die Tenöre in einer Oper, die inzwischen in den Opern-Kanon aufgenommen worden war, großen Erfolg hatten. (Erst 1989 tauchte die Baritonfassung in einer Bearbeitung  durch Antonio de Almeida) wieder auf. Nach Dale Duesing in Seattle im Jahr 1989 nahm Thomas Hampson die Oper 1999 wieder auf (dto. Almeida). Jean-Christophe Branger/ DeepL/ Kursiveinschübe G. H.

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Nachstehend ein weiterer interessanter Artikel des italienischen Musikwissenschaftler Danilo Prefumo aus dem Beiheft zu der erwähnten originalen Battistini-Version aus Martina-Franca 2007. 

Massenet hatte bereits seit 1880 begonnen, an Werther zu denken und vervollständigte sein Projekt dann im Februar 1882 zur Zeit der italienischen Erstaufführung von Hérodiade. Damals war er mit der Komposition von Manon und Le Cid beschäftigt und hatte nicht viel Zeit, um die Arbeit des Librettisten Paul Milliet zu verfolgen, die nur von Georges Hartmann, dem ersten Pariser Verleger des Komponisten, überwacht wurde. Da Hartmann und Massenet mit Milliets Arbeit wenig zufrieden waren, erbaten sie die Mitarbeit eines weiteren Librettisten ihres Vertrauens, Edouard Blau. Dessen Beitrag erwies sich für das gute Gelingen des literarischen Teils als entscheidend; sein Name erscheint denn auch als erster in dem von ihm zusammen mit Milliet (der dann nicht mehr mit Massenet arbeitete) verantworteten Libretto.

Dieses wurde Anfang 1885 beendet, und Massenet begann im Frühjahr desselben Jahres mit der Komposition. Die Klavierfassung war Ende Februar 1887 fertig, und die Orchestrierung wurde am 2. Juli desselben Jahres beendet. Ursprünglich sollte die Oper an der Opéra-Comique herauskommen, aber am 25. April 1887 ging das Haus in Flammen auf, und alle Pläne hinsichtlich des Werther wurden buchstäblich zu Rauch. Einige Jahre lang sollte von dem Werk nicht mehr die Rede sein.

Delores Ziegler (Charlotte) and Dale Duesing (Werther) in Massenet’s Werther, Seattle Opera 1989/Matthew McVay

Am 19. November 1890 ging Massenets Manon über die Bühne der Kaiserlichen Hofoper in Wien; die Hauptrollen sangen Marie Renard und der belgische Tenor Ernest van Dyck. Es war ein riesiger Erfolg, weshalb es wahrscheinlich ist, dass in dessen Sog der Einfall entstand, hier auch den noch unaufgeführten Werther spielen zu wollen. Der Leiter des Wiener Hauses, Wilhelm Jahn, nahm den Vorschlag begeistert auf.

Der Verleger Hartmann war aber anfangs 1891 gezwungen, eine Bankrotterklärung abzugeben, und dieses unglückselige Ereignis versetzte den Komponisten nicht wenig in Angst um das Schicksal seiner Oper. Zu Massenets Glück wurde das Verlagsarchiv von Heugel erworben, und damit unterlag Werther keinem Risiko.

Ludovic Tézier als Werther in Wien 2022/Foto Pöhl

So kam es endlich mit den erwähnten selben Sängern zur Wiener Uraufführung vom 16. Februar 1892. Wie damals üblich, wurde die Oper in deutscher Sprache geboten (die Übersetzung stammte von Max Kalbeck). Es kam zu einem vollem Erfolg bei Publikum und Kritik; auch der bei der Premiere anwesende Johannes Brahms gab seiner Bewunderung für die Partitur Ausdruck. Bei seiner Rückkehr nach Paris fand Massenet ein Schreiben von Léon de Carvalho, dem Direktor der wiedererstandenen Opéra-Comique, vor, in dem zu lesen war: “Revenez-nous […] et rapatriez ce Werther que, musicalement, vous avez fait français”.

Auf den Tag genau ein Jahr nach der Wiener Premiere und nach der eigentlichen französischsprachigen Premiere in Genf 1892 (mit Ernest van Dyck)  ging Werther mit triumphalem Erfolg am 16. Februar 1893 über die Bühne der Opéra-Comique, damals im Théatre Lyrique an der Place du Chatelet.

Massenets Widmungsfoto für den von ihm hochgeschätzten Battistini/Novo

Auf der Hauptprobe war es allerdings zu einem unerfreulichen Zwischenfall gekommen. Weil Massenet mit dem für die Titelrolle vorgesehenen Tenor (Etienne Gilbert) in keiner Weise zufrieden war, protestierte er gegen diesen auf aufsehenerregende Weise wegen Unfähigkeit. Le Figaro brachte die Nachricht in großer Aufmachung und fügte auch hinzu, Massenet hätte die Absicht, die Rolle von Tenor auf Bariton umzuschreiben und sie dann Victor Maurel (dem ersten Jago in Verdis Otello) zu übertragen.

Die Vorstellung einer Baritonfassung kam Massenet also sehr früh (1901) in den Sinn, obwohl diese erst etliche Jahre später zustande kam, was dem italienischen Sänger Mattia Battistini (Contigliano, Rieti, 1857 – Colle Buccaro, Rieti, 1928) zu verdanken war. Battistini hatte eine der bedeutendsten Baritonstimmen und oft Opern von Massenet gesungen, die damals auch in Italien sehr populär waren. Die Beziehung zwischen den beiden Künstlern war immer eine ausgezeichnete, und Massenet nahm den Vorschlag des Sängers einer Transponierung der Rolle des Werther vom Tenor zum Bariton gerne auf (auf dieselbe Weise transponierte er, gleichfalls für Battistini, die Rolle des Athanaël in Thaïs von Bass auf Bariton).

Natürlich wurde Werther in dieser Neufassung von 1901 von Battistini immer auf Italienisch gesungen, und der Künstler erkühnte sich nie, die Rolle in Frankreich zu singen, wo er sie hätte auf Französisch bringen müssen. Im übrigen gehörte damals der Purismus hinsichtlich der Originalsprache nicht zur landläufigen Meinung, und es wurde als ganz natürlich betrachtet, dass man eine Oper in die Sprache des Landes, in welchem sie gegeben wurde, übersetzte.

In jedem Fall diente damals das Italienische als übergeordnete Sprache, und französische Opern wurden, wenn sie außerhalb Frankreichs gespielt wurden – beispielsweise an der New Yorker Met – fast immer auf Italienisch gegeben.

Aufführungsposter für Battistini als Werther 1911/Ipernity

Die Erstaufführung des Werther in der Baritonfassung erfolgte am 18. November 1901 in Warschau mit Battistini in der Titelrolle und Salomea Kruscenski als Charlotte. Der Vorgang blieb nicht frei von kritischen Einwänden, auch wenn niemand wagte, den Wert von Battistinis künstlerischer Leistung zu beanstanden, der – wie Giancarlo Landini schrieb – „auf neue, unübliche Weise die Natur dieser Figur zeichnete: Ausbrüche und Leidenschaft fügten sich in eine höhere Schönheit der Ausdrucksweise, als Beweis für ein dermaßen vornehmes Fühlen, dass es zum Selbstmord trieb, um der Gewöhnlichkeit der Gesellschaft zu entgehen“.

Danilo Prefumo (Übersetzung: Eva Pleus). Entnommen der Beilage zur Dynamic-CD der Oper in der Einspielung eines Mitschnitts aus Martina Franca 2007 mit Luca Grassi unter Jean-Luc Tingaud.

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Und dazu noch ein Beitrag von Lesley Wright: Obwohl die Wiener Premiere sehr positiv aufgenommen wurde, brachte es das Werk an der Opéra-Comique in Paris zwischen 1893 und 1902 nur auf 56 Aufführungen. In London scheiterte die Oper 1894 grandios. Massenets schwierige und abenteuerliche Suche nach dem richtigen Tenor, der seinen tragisch-romantischen Helden an der Opéra-Comique spielen konnte, zögerte nicht nur die Pariser Premiere vom November 1892 auf den 16. Januar 1893 hinaus (so dass die Ehre der ersten französischsprachigen Produktion am 27. Dezember 1892 Genf zuteil wurde), sondern bewegte den Komponisten möglicherweise auch dazu, eine Fassung für Bariton vorzulegen.

Victor Maurel war Massenets idealer Werther, sang die Partie aber nie/Ipernity

Mit dieser Fassung verband der Komponist Berichten zufolge die Hoffnung, dass der große Sänger und Schauspieler Victor Maurel (der Verdis ersten Iago und Falstaff gegeben hatte) die Rolle im April 1894 an der Opéra-Comique übernehmen und mit Werther anschließend auf Welttournee gehen würde. (…) Viele Jahre später betonte der Tenor der Genfer Erstaufführung, Guillaume, Ibos noch einmal, wie viel Gewicht Massenet seiner Oper und ihrem Erfolg beimaß, weil sie „sein eigenes Leben als Mensch und Musiker“ widerspiegelte. Diese Behauptung scheint trotz der Beobachtung ihre Gültigkeit zu behalten, dass Ibos gegen Ende seines Lebens dazu tendierte, die Wahrheit auszuschmücken, vor allem was seinen eigenen Beitrag zur Geschichte des Werther anbelangt. Dieser Beitrag bestand darin, dass er in letzter Minute die Titelrolle übernahm und damit die Pariser Premiere ermöglichte. (…)

Die Bärenreiter-Neuedition geht den Unterschieden zwischen den verschiedenen Quellen aus der Zeit Massenets nach, erläutert diese und bringt sie zusammen (etwas, was dem Komponisten selbst nie gelang). Sie würdigt außerdem die Rolle des Librettos, korrigiert Fehler und Auslassungen und empfiehlt eine andere Paukenstimmung (davon ausgehend, dass heutigen Paukisten drei leicht zu stimmende Pauken zur Verfügung stehen). Anmerkungen machen ältere Lesarten zugänglich und erläutern Massenets Wunsch nach einem Zusammenwirken von Inszenierung und Musik.. Lesley Wright (aus [t]akte 2/2016) (Übersetzung: Anna-Lena Bulgrin)

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

 

Indienreise zum Zweiten

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Natürlich begrüßt Vasco da Gama die neuentdeckte Welt nicht mehr mit „Ȏ Paradis“, sondern genießt deren milde Atmosphäre mit „Ȏ doux climat“, so wie es seit der Erstaufführung von Giacomo Meyerbeers L’ Africaine in der „Originalfassung“ als Vasco da Gama 2013 in Chemnitz de rigueur ist.

In den zwischen dem 2. März und 2. April 2018 mitgeschnittenen Frankfurter Aufführungen, die Naxos (3 CD 8.660558-60) jetzt als leicht gekürzte Alternative zur Chemnitzer cpo-Aufnahme vorlegt, machte das noch mehr Sinn, da Tobias Kratzer Meyerbeers gewaltigen Fünfakter damals als Weltraum-Oper inszenierte, in der der Seefahrer und Entdecker da Gama die Weiten des Weltraums erkundet und bei den Avatars des Planeten Pandora landet. Bis es Anfang des vierten Aktes zu dieser zentralen Arie kommt, vergeht sehr viel Zeit.

Doch letztlich könnte Michael Spyres so ziemlich alles singen. In der auf gutem Niveau besetzten Aufführung, die nicht mit den allerersten Stimmen aufwarten kann, wie sie seinerzeit bei der posthumen Uraufführung 1865 zur Verfügung standen, bietet er eine herausragende Leistung. Nicht als Star, sondern als Solitär eingefasst in ein Ensemble, das er nicht sprengt, obwohl in der Diktion, in der sorgfältigen Behandlung der Phrasen, in der üppigen und reich strömenden Mittellage und der fein angebunden und leichten Höhe die besonderen Starqualitäten erkennbar sind. Bereits der großen Ensemblenummer Nr. 3 verleiht er eine besondere Qualität, wie denn überhaupt dem müden ersten Akt, in dessen Finale er eine befeuernde Note bringt. Im Ensemble Nr. 18 und dem Duett im anschließenden Finale des vierten Aktes ist er von faszinierender Präsenz. Antonello Manacorda stützt sich in Frankfurt auf die in Chemnitz gespielte neue historisch-kritische Ausgabe, wobei die Oper mit dem vertrauten Namen L‘ Africaine und dem Untertitel Vasco da Gama benannt wird, kann aber nicht wirklich überzeugend die besonderen Qualitäten der Grand opéra und die Komplexität der weiträumigen Nummern und Szenenkomplexe verdeutlichen, denen es an Wucht und Größe fehlt. Den Matrosenchören des dritten Aktes, aus denen Isaac Lee als Solo-Matrose heraussticht, verleiht Manacorda eine deutsch-romantische Beweglichkeit und Plastizität und mit dem Septett und Finale des dritten Aktes, wo sich das Frankfurter Opern- und Museumsorchester samt dem Frankfurter Opernchor gewaltig ins Zeug legen, gewinnt die Aufführung letztlich an Format. Die Admiralstochter Ines, die bereit ist, den Präsidenten des königlichen Rats zu heiraten, um ihren Geliebten Vasco zu retten, singt Kirsten MacKinnon mit einem angenehmen, etwas anonym und der Partie geschuldet langweilig klingenden Sopran, Thomas Faulkner und vor allem Andreas Bauer Kanabas verleihen den Würdenträger die Fülle ihrer Bässe, der erste eher schlank elegant als Inès‘ Vater Don Diego, der zweite finster und kraftvoller und sehr charaktervoll als Don Pedro. Magnus Baldvinsson, der auch den Großinquisitor in Lissabon übernimmt, ist als Hohepriester des Brahma in der Krönungsszene der Sélika zur Königin von Indien besonders effektiv.

„Vasco da Gama“ an der Oper Frankfurt/Foto Rittershaus

Entstehungsgeschichte und Fassungen wurden in operalolunge.de eingehend behandelt. Eine Annäherung zwischen Sélika und Vasco da Gama ist in dieser Science-Fiction-Variante genauso unmöglich wie zwischen dem christlichen Seefahrer in Diensten des portugiesischen Königs und der geheimnisvollen Inderin hinduistischen Glaubens, die sich als Königin eines indischen Küstenreiches herausstellt; nach dem ursprünglichen Vertrag von Meyerbeer und Eugène Scribe sollte das Libretto eine afrikanische Prinzessin und einen anonymen Marineoffizier behandeln. Nachdem Vasco da Gama die Mitglieder der Ratsversammlung beschimpft und des Hochverrats angeklagt wurde, wird er mit Sélika und ihrem Begleiter Nélusko ins Gefängnis geworfen, wo sich die Fremde und der Seefahrer näherkommen. Auf Claudia Mahnke würde man nicht auf Anhieb als ideale Besetzung der Sélika verfallen, aber sie macht das mit warmem Klang und reifem Timbre und einer sensiblen Deklamation und Prosodie ziemlich gut. Die Schlummerarie „Sur mes genoux“ klingt mütterlich voll und nicht sehr verführerisch, die Höhe ist manchmal steif, die Stimme durchwegs nicht sehr beweglich. Im anschließenden Duett verbindet sich ihre Stimmfarbe aber sehr schön mit dem dunklen Edelglanz von Spyres, ihr Engagement, ihre Intensität in den Ensembles und in der ausdrucksvollen Sterbeszene sind aller Ehren wert. Brian Mulligans wilde Stimmprahlerei passt gut zur Figur des Nélusko, der bei Kratzer ein Alien war, seine Ballade erreicht allerdings nicht ganz die Wucht, die man mit dem Bravourstück verbindet (10.5. 2024). Rolf Fath.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

Barockes Gefühlslabyrinth

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Francesco Cavallis L´Egisto, uraufgeführt 1643 in Venedig, zählt zu den ersten Werken des Frühbarock, welche in moderner Zeit wiederbelebt wurden. Ein Pionier in dieser Bewegung war Raymond Leppard, der die Favola drammatica musicale bereits 1971 für die Decca aufnahm. 1973 folgte René Jacobs mit seiner Einspielung bei harmonia mundi. Das Label Château de VERSAILLES ist heute führend in der diskographischen Aufarbeitung des barocken Erbes – vor allem natürlich der französischen Kompositionen. Aber auch Werke italienischer Meister stehen im Fokus, wie jetzt die Veröffentlichung von Cavallis L´Egisto belegt. Die Aufnahme entstand im März 2021 in der Opéra Royal du Château de Versailles und wurde auf zwei CDs veröffentlicht, wie stets bei diesem Label von einem prachtvollen Booklet mit farbigen Abbildungen und Einführungstexten in mehreren Sprachen begleitet (CVS076).

Im Libretto von Giovanni Faustini geht es um die erotischen Verflechtungen von zwei Paaren – der arkadischen Hirten Clori und Lidio sowie Egisto und Climene -, ergänzt um den beharrlich an Clori interessierten Hipparco, Climenes Bruder. Dazu gesellt sich die Dienerin Dema, eine komische Travestiefigur, wie sie in der venezianischen Oper des 17. Jahrhunderts Tradition hatte. Sie ist frustriert wegen der entschwundenen Jugend und der immer selteneren sexuellen Abenteuer. Schließlich finden sich im Personal noch mythologische Figuren wie Venere, Apollo und Amore sowie kapriziöse Göttergestalten wie Bellezza und Volupia.

Mit seinem 1998 von ihm gegründeten Ensemble Le Poème Harmonique sorgt Vincent Dumestre für eine vitale, unterhaltsame Interpretation mit reichen Farbkontrasten, zu der auch die im Stil des recitar cantando prägnant artikulierende Sängerbesetzung beiträgt. Der Bari-Tenor Marc Mauillon ist ein empfindsamer junger, in seinen Gefühlen verwirrter Titelheld. Seine Climene ist die französische Mezzosopranistin Ambroisine Bré,  die ihre Partie mit Delikatesse und Wohllaut ausfüllt. Ähnlich kultiviert und angenehm süß klingt die belgische Sopranistin Sophie Junker als ihre Konkurrentin Clori. Ihr Lidio ist der amerikanische Tenor Zachary Wilder mit weicher, schmeichelnder Textur, der Bariton Romain Bockler der sie begehrende Hipparco. Der britische Tenor Nicholas Scott gibt mit lautmalerischen Extravaganzen eine köstliche Karikatur der Dema in ihren Zuständen der Gefühlsverwirrungen. Eine ähnlich hinreißende Studie liefert der Haute-contre David Tricou als La Notte mit exaltierter Stimmgebung und Apollo (18. 094. 24). Bernd Hoppe

„Déjanire“ von Saint-Saens

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Und wieder überrascht uns die umtriebige Firma Palazzetto Bru Zane mit einer weiteren Oper von Saint-Saens, zugegebener Weise mit einer Welt-Ersteinspielung nachdem die Oper bereits 1985 in Monpellier mit Dunya Vezjovic vorgestellt wurde. Déjanire nach Sophokles, wie man den Stoff von Cavalli, Händel oder Dauvergne kennt. Das ist sicher gut und schön, aber angesichts der ins Auge starrenden Lücken im Repertoire der dokumentierten französischen Oper: Ist nun noch eine von Saint-Saens nötig? Schon die kürzlich vorgestellte Ariane hat ihre beträchtlichen Längen. Und nach  Proserpine, Phryné und einem Riesenkontingent von Ascanio bis Timbre d´argent bei anderen Firmen: Ist es nicht langsam genug mit Saint-Saens?

Man schüttelt doch den Kopf ob der Repertoirepolitik des franco-italienischen Hauses (zumal nicht immer wirklich beglückend gesungen wird). Aber selbst angesichts der Seltenheit der Déjanire: gibt es nicht andere, brennendere Titel zur Wiederauferweckung? Etwa  Zampa, Dom Sebastien, eine französische Agnes von Hohenstaufen (eine deutsche gab es am Theater Erfurt!),Charles IV/Halevy (einmal in Combiegne), eine ungekürzte und gut gesungene Juive, Les Fées du Rhin (zuletzt je einmal in Toulon und Biel), Le Freyschütz, Antar/Dupont, Aben-Hamlet/Dubois, La Samaritaine/D´Ollone (Radio), Julien/Charpentier, L´attaque du moulin/Bruneau (ebenfalls am Theater Erfurt!)Marie Stuart/Niedermeyer (gab´s mal in Mini-Ausgabe in Zürich), Lancelot/Joncieres (zuletzt in Toulon), Fervaal/D´Indy (dto. einmal in Montpellier), Monna Vanna/Février (franz. Radio), St Julien l´hospitalier/Erlanger (dto.), und viele, viele mehr (sogar bitte eine, diesmal dritte Reine de Saba/Gounod, weil die vorhandenen entweder klanglich oder besetzungsmäßig nicht ausreichen). Ach ja, um mit Carmen zu sprechen: „C´est ne pas interdit de rever!“ Immerhin kommt eine neue Medée von Cherubini mit Marina Rebeka unter Christophe Rousset ohne Alexandriner von Hoffman aber mit (angeblich) eigenen Rezitativen vom Komponisten selbst … Aber man kann sich des Eindrucks nicht verschließen, dass der Palazetto seine ursprüngliche Richtung verloren hat, die Romantische französische Oper vorzustellen (wie doch das Motto der CD-Reihe verspricht) als das Spektrum sehr viel weiter war.

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„Déjanire“ von Saint-Saens: Kate Aldrich beim Konzert in Monte-Carlo/Foto Fréderic Nebinger Palais Preincier Departement Communication Monte-Carlo

Nun aber zu Déjanire. Die wurde erstmals 1898 für die Riesen-Freiluft-.Arena von Béziers geschrieben, ca. 30 000 Zuschauer und fast ebensoviele Mitwirkende auf der Bühne, eine gigantische Angelegenheit á la Aida (mit wüsten Bühnenbildern). In der zweiten Fassung ging das Werk in das winzige Opernhaus von Monte-Carlo, eine fürwahr musico-logistische Leistung. Für seine (in den Hauptrollen mit Bérziers identische) Besetzung eben dort am 14. März 1911 hatte Saint-Saëns Sängerinnen und Sänger, die zur Crème de la Crème der dramatischen Werke jener Zeit gehörten: die große, in Russland geborene Félia Litvinne als Déjanire, die heute vergessene, aber enorm in ihrer Zeit bekannte französische Sopranistin Yvonne Dubel als Iole (Foto oben), den Tenor Lucien Muratore als Hercule und die Mezzosopranistin Germaine Bailac (de Boria), die den Komponisten bereits mit ihrer Darstellung der Dalila in seiner früheren Oper beeindruckt hatte, als Phénice. Dies waren große Stimmen; sowohl Litvinne als auch Dubel sangen Wagner-Rollen sowie französische und italienische heroische Rollen, und obwohl Muratore nie Wagner gesungen hat, war er als bedeutender singender Schauspieler in großen Rollen bekannt, der sein dramatisches Handwerk durch die Arbeit mit Sarah Bernhardt gelernt hatte.

Für diese Aufnahme hat Bru Zane uns die Äquivalente dieser Sänger im Taschenformat zur Verfügung gestellt. Kate Aldrich (Déjanire, nicht überzeugend, wohl doch schon ausgesungen?), Julien Dran (Hercule, sehr engagiert, vielleicht eine Spur zu klein), Anaïs Constans (Iole sehr klangschön, aber auch mal kanpper auf der Höhe), Jerôme Bouotillier (Philoctète, wirklich sonor und klangschön) und Anna Dowsley (Phénice, etwas unruhig) bewältigen ihre Partien nicht mit der Stimm-Fülle und Virtuosität, die diese Oper idealerweise braucht. Aber zumindest können sie alle gut und mehr als anständig singen. Kate Aldrich in der Titelpartie kann mit stumpfem Mezzo (zu viel und zu groß gesungen, das rächt sich hier einmal mehr) nicht überzeugen. Ihre Kollegen sind mehr als ordentlich und liefern in einer Studioumgebung so viel ab, wie sie können. Aber eine (in den Medien hoch gelobte) konzertante Wirkung im winzigen Saal und schöner Umgebung ist eben nicht dieselbe wie eine rein akustische auf 2 CDs im heimischen Wohnzimmer. Wie sich auch hier zeigt.

Der Bariton Henri Danges/ Philoctète in „Déjanire“/Ipernity

Es gilt für mich hier dasselbe wie bereits auf dieser website vielfach und  für die erwähnte Ariane und andere gesagt: Man wünscht sich da doch Größeres, Divenhafteres, Persönlicheres. Auch musikalisch Substanzreicheres, weniger Aufgewärmtes.  Ich habe mich lange nicht mehr so gelangweilt!

Diese Déjanire-Einspielung ist für mich  ist wie Porsche mit einem VW-Motor. Natürlich ist man interessiert – wenn man nun noch einen Saint-Saens möchte – diese seltene, kaum bekannte Oper in die eigene Sammlung einzufügen und sie zumindest einmal gehört zu haben. Und dafür ist die neue Aufnahme auch ordentlich, seriös musiziert.

Aber diese Art von Opern lebte, wenn schon dünner in der Erfindung,  aber doch zumindest orchestral rauschhaft von dem Glamour der Mitwirkenden anderer Zeiten. Man bräuchte heute einen Pavarotti, jungen Carreras oder auch jungen Kaufmann oder Spyres zusammen mit einer Sutherland, Horne, Scotto oder zumindest Netrebko (in schmerzhafter Abwesenheit französischer Sänger dieses Kalibers, die es seit Régine Crespin nicht mehr gibt). Insofern ist dies für mich – mich allein natürlich nur (und ich weiß, ich werde als ewiger Mäkler betrachtet) – die Schwarz-Weiss-Kopie eines Cinemascope-Films …  G. H.

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Zum Kennenlernen der Oper jedoch nun der Artikel von Vincent Giroud aus dem wie stets luxuriösen 2-CD-Band des Palazzetto, der neben dem französisch-englischen Libretto auch weitere Aufsätze vom Prinzipal Alexandre Dratwicki, Sabine Teulon Lardic und Gabriel Fauré enthält – wieder einmal nichts in deutscher Sprache. Deshalb nachstehend der einführenden Artikel zu Werk und Geschichte in unserer eigenen deutschen Übersetzung mit Dank an M. Dratwicki. G. H.

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Die Entstehung der Déjanire geht auf das Frühjahr 1897 zurück, als Saint- Saëns Fernand Castelbon de Beauxhostes (1859-1934) kennenlernte, einen wohlhabenden Winzer und Amateurmusiker aus Béziers, der ihn einlud, ein Orgelkonzert in der Kathedrale seiner Heimatstadt einlud. Castelbon erzählte Castelbon erzählte dem Komponisten von seinen Plänen, in Béziers ein Festival zu veranstalten, für das er die große Arena zu veranstalten, die damals auf dem Gelände eines antiken Amphitheaters gebaut Amphitheater gebaut wurde, und schlug vor, es im folgenden Jahr mit einem im folgenden Jahr mit einem von ihm selbst komponierten dramatischen Werk zu eröffnen.

Lucien Muratore als Hercule in „Déjanire“ an der Pariser Opéra/Atelier Nadar/Ipernity

Nach Phryné (1893) hatte Saint-Saëns jedoch erwogen, die Oper aufzugeben und kehrte nur zurück, um die Frédégonde seines Freundes Guiraud zu vollenden, die die 1895 im Palais Garnier ein kläglicher Misserfolg war. Obwohl er anfangs mit der Akustik unter freiem Himmel rechnen musste, war er dennoch daran interessiert, was er selbst als „die Wiederherstellung des antiken Theaters“ bezeichnete. Saint-Saëns verfügte über umfangreiche Kenntnisse der klassischen Kultur und begeisterte sich für die antike Welt; er hatte seine persönliche Interpretation der musikalischen Begleitung der griechischen griechischen Tragödie im Jahr 1893 mit seiner Bühnenmusik zu Sophokles‘ Antigone in der von Paul Meurice und Auguste Vacquerie für die Comédie-Française Française. Nachdem er mit Castelbon die Möglichkeiten der Arena erprobt hatte, wandte er sich an seinen Lieblingsmitarbeiter Louis Gallet, der ihm das den Tod des Herkules vorschlug. In formaler Hinsicht sollte das Werk gesungene Chöre und Orchesternummern sowie ein Ballett im letzten Akt, aber die Rollen in der eigentlichen Tragödie sollten gesprochen werden.

 In diesem Gewand wurde das Stück mit dem Titel Déjanire und dem Untertitel „tragédie lyrique“ am 28. August 1898 in der Arena von Béziers mit großem Erfolg uraufgeführt. Die junge Cora Laparcerie vom Théâtre de l’Odéon (die spätere Mme Jacques Richepin) spielte die Titelrolle, Georges Dorival, ebenfalls vom Odéon, als Hercule und Eugénie Segond-Weber von der Comédie-Française, als Iole. Saint-Saëns selbst dirigierte die musikalischen Abschnitte. Déjanire wurde im Dezember desselben Jahres sechsmal im Odéon aufgeführt. desselben Jahres unter der Leitung von Édouard Colonne mit derselben Besetzung aber mit einer leichteren Orchester- und Chorbesetzung.

Die Wiederaufnahme erfolgte 1899 in Béziers, 1901 in Toulouse und wurde im darauf folgenden Jahr in Bordeaux aufgeführt. Obwohl Saint-Saëns mit der Erfahrung in Béziers zufrieden war, hatte er sich der sich inzwischen mit der Oper versöhnt, erwog aber bald  Déjanire von 1898 in eine echte, durchgehend gesungene tragédie lyrique zu verwandeln. Doch zunächst schien die Aufgabe zunächst unüberwindbar, denn er hatte seinen Mitarbeiter Gallet verloren, der am 16. Oktober 1898 verstorben war. Als es darum ging, ein Theater für das Projekt zu finden, verstand er sich schlecht mit dem Direktor der Pariser Opéra (Palais Garnier), Pedro Gailhard, trotz des Erfolgs von Les Barbares im Jahr 1901, und auch mit Albert Carré, der 1898 die Nachfolge von Léon der 1898 die Nachfolge von Léon Carvalho als Direktor der Opéra-Comique angetreten hatte.

Bühnenbild für „Déjanire“ an der Pariser Opéra 1911/Gallica

Doch die Aussichten verbesserten sich 1904, als der Komponist eine neue Zusammenarbeit mit der Opéra de Monte-Carlo begann. Dieses von Charles Garnier errichtete Haus (erbaut und 1879 eingeweiht), stand seit 1893 unter der Leitung von Raoul Gunsbourg. Er war eine schillernde Persönlichkeit rumänischer Herkunft und hatte eine abenteuerliche Karriere hinter sich, bevor er seinen letzten Posten als Leiter  des Grand-Théâtre de Lille antrat. Mit einem beträchtlichen Budget und der Unterstützung von Prinz Albert I. und Prinzessin Alice, einer wohlhabenden Amerikanerin, deren Familie mit dem Dichter Heinrich Heine verwandt war, machte Gunsbourg das Fürstentum zu einem der wichtigsten Zentren der zeitgenössischen Oper in den ersten drei Jahrzehnten des Jahrhunderts, von Massenets Le Jongleur de Notre-Dame (1901) bis zu Ravels L’Enfant et les sortilèges (1925).

Saint-Saëns‘ erste Komposition für Monte Carlo war das einaktige „poème lyrique“ Hélène, für das er selbst das Libretto nach den antiken Quellen über Helena von Troja schrieb; es wurde im Februar 1904 im Fürstentum uraufgeführt.

Bühnenbild für Déjanire“ an der Pariser Oper 1911/Gallica

Nachdem er sich selbst bewiesen hatte, dass er der Aufgabe gewachsen war, konnte er nun die Umarbeitung der Déjanire in eine Oper als realisierbares Projekt betrachten. Dieses Projekt wurde jedoch durch andere Arbeiten verzögert, darunter eine zweite Oper für Monte Carlo, L’Ancêtre, die im Februar 1906 uraufgeführt wurde. Endlich bekam er dank eines dritten günstigen Faktors, nämlich der Ernennung von André Messager und Leimistin Broussan zum Nachfolger Gailhards als Direktor der der Pariser Opéra im Jahr 1908. Als sowohl Messager, mit dem er eine gute persönliche Beziehung hatte (der jüngere Komponist hatte auf seine Bitte hin Rezitative für Phryné komponiert), als auch der Fürst von Monaco und Gunsbourg eine neue Oper von ihm verlangten, bot Saint-Saëns die Déjanire neu zu besetzen, und der Vorschlag für diesen gemeinsamen Auftrag wurde angenommen.

Die Komposition der zweiten Déjanire begann im Dezember 1909 in Kairo, wo der Bruder des Khediven, Mohammed Ali Pascha, dem Komponisten einen Flügel in seiner Villa auf der Insel Roda zur Verfügung stellte. Das Werk wurde im März 1910 in Monte Carlo und Cannes vollendet, und die Partitur wurde im September von Durand veröffentlicht. Das Libretto wurde von  Calmann-Lévy zu Beginn des folgenden Jahres zur Zeit der Aufführung in Monte Carlo herausgegeben und trägt den Namen von Saint-Saëns als Ko-Autor mit Gallet auf dem Titelblatt. Merkwürdigerweise wird die Déjanire von 1911 als „Wiederaufnahme“ (Reprise) bezeichnet, obwohl es sich um ein wirklich neues Werk handelt.

Félia Litvinne als Déjanire / Gallica

Diese Verwechslung hat sich seither in zahlreichen Nachschlagewerken wiederholt. Das Libretto von Gallet, das Saint-Saëns – mit einer wichtigen Ausnahme – nur in formalen Aspekten änderte, war hauptsächlich von Sophokles‘ Trachiniae inspiriert und in geringerem Maße von Hercules Oetaeus, einem römischen Stück aus dem ersten Jahrhundert n. Chr., dessen Zuschreibung an Seneca seit langem umstritten ist. Gallet bewahrte die Grundzüge des ursprünglichen Mythos, der auch im neunten Buch der Metamorphosen von Ovid auftaucht: Dejanira, die Frau des Herkules, glaubt, die Liebe ihres Mannes zurückgewinnen zu können, der sich in seine junge Gefangene Iole verliebt hat, und schenkt ihm zu diesem Zweck eine Tunika die einst mit dem Blut des Zentauren Nessus getränkt war, einem der vielen Opfer des Herkules. vielen Opfern. Doch das Blut verwandelt sich in ein Gift, das Herkules verbrennt, sobald er das Kleidungsstück angezogen hat, so dass er unter Qualen stirbt.

Nach dem Beispiel von Rotrous´ Hercule mourant ou la Déjanire (1634) hat Gallet die die Figur des Hyllus, des Sohnes von Herkules und Dejanira, nicht aus den antiken Quellen übernommen. Herkules und Dejanira, dem der sterbende Held befahl, Iole zu heiraten und so die Dynastie der Herakliden (Heracleidae) zu gründen, von denen die Dorer ihre Abstammung behaupteten. Die Opernadaptionen von Cavalli (Ercole amante, 1662, Libretto von Abbé Buti), Händel (Hercules, 1745, Libretto von Thomas Broughton) und Dauvergne (Hercule mourant, 1761, Libretto von Marmontel) gingen so weit, Hyllus zum Rivalen seines Vaters zu machen indem er ihn sich ebenfalls in Iole verliebt. Gallet führte eine Abwandlung ein, indem er diese Rolle Philoctetus übertrug, der, obwohl er mit den Herkules-Mythen in Verbindung gebracht wird, aber weder in Sophokles‘ Stück noch in Hercules Oetaeus, und der in Rotrou einfach ein Vertrauter des Helden ist.

Die Handlung dreht sich also um ein Quartett:  Déjanire ist eifersüchtig auf Hercule, der Iole liebt, die Philoctète liebt und von ihm geliebt wird. Eine fünfte Figur, die von Gallet erfunden wurde, ist Phénice, Déjanires Amme und Vertraute von Déjanire (die auch die Gabe der Prophezeiung besitzt). Was den Ort der Handlungbetrifft:  Gallet, der zweifellos mit der geografischen Lage der in den Quellen erwähnten Städte vertraut ist, siedelt nicht wie Sophokles diese in Trachis, sondern im Palast von Oechalia an, eine jener Städte, die von Herkules erobert wurde und deren König Eurytos, Vater von Iole, er gerade getötet hat.

Als Saint-Saëns den Text 1898 für die Vertonung überarbeitete, änderte er den Schluss in einem wichtigen Punkt: Während in Gallets Stück die Déjanire, entsetzt über ihren Irrtum, ihre Absicht ankündigt, Selbstmord zu begehen (wie in Trachiniae und Hercules Oetaeus), so klagt sie in der Oper zwar am Ende, aber es wird nichts mehr ihr Schicksal gesagt. Wir können also davon ausgehen, dass sie überlebt, wie das schon in Cavallis Oper der Fall war.

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„Déjanire“ 1898 in der Arena von Béziers /Gallica

Die Hauptaufgabe des Komponisten bestand darin, einen ursprünglich für die Deklamation konzipierten Text  „singbar“ zu machen. Wie er in einem Artikel in der Zeitschrift Zeitschrift Musica im November 1911 erklärte er: „Ein Text, der für die Deklamation gedacht ist, und ein Text, der zum Singen bestimmt ist, sind nicht dasselbe“. Das Problem war nicht Gallets meist ungereimter Blankvers: Saint-Saëns, trotz seiner erklärten Vorliebe für traditionelle poetische Formen, respektierte diese Wahl. Es war vielmehr eine Frage des Beschneidens, Verdichtens und manchmal des Ausdehnens den Erfordernissen der Gesangslinie zu kürzen, zu verdichten und manchmal zu erweitern, „sogar das Tempo bestimmter Szenen“. Das von ihm angeführte Beispiel, aus dem hier nur ein Auszug zitiert werden soll, zeigt die Richtigkeit seines Urteils und seinen Geschmack, denn er den Text seines Mitarbeiters in jeder Hinsicht verbessert. In der Szene zwischen Iole und Déjanire am Anfang des zweiten Aktes hatte Gallet geschrieben: Tu viendras seulement, enchaînée à mon char, Captive du héros, c’est-à-dire la mienne, Vivre au palais de Calydon. Et je m’y souviendrai que tu fus presque reine! Toi, tu te souviendras que, moi vivante, Hercule ne peut pas connaître une autre épouse! Saint-Saëns hat dies wie folgt umgeschrieben: Mais tu viendras, enchaînée à mon char, Désormais ma captive, Vivre au palais de Calydon. Là, je te ferai voir que, moi vivante, Hercule ne peut avoir une autre épouse!

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„Déjanire“: Mlle. Bourgeois von der Pariser Oper singt die “Hymne an Eros” in der Arena von Béziers 1898/ Ipernity

Was die Musik selbst betrifft, so sind einige der Änderungen lediglich kosmetischer Natur. Saint-Saëns verrät in demselben Artikel, warum er sich dazu veranlasst sah die Rolle des Herkules – ein Bass bei Händel, ein basse-taille (Bariton) bei Cavalli und Dauvergne – für einen Tenor zu schreiben, nachdem beschlossen worden war, ihm die Épithalame im vierten Akt: der/die Koryphäe, der/die diese Nummer 1898 sang, war der Tenor Valentin Duc aus Béziers (der Schöpfer von Paladilhe’s Patrie! im Palais Garnier 1886), und obwohl sie nun dem Helden zugewiesen war konnte es aufgrund seiner Position in der Partitur nicht transponiert werden. Dieses Epithalamium („Viens, ô toi, dont le clair visage“) ist der einzige Auszug aus dem Auszug aus dem Werk, der 1911 von dem berühmten puertoricanischen Tenor Antonio Paoli in französischer Sprache aufgenommen wurde und der den Samson an der Scala gesungen hatte. obwohl nicht bekannt ist, ob diese Aufnahme in irgendeinem Zusammenhang mit der Uraufführung der Oper im selben Jahr hatte.

In der Tat war es eine weitgehend neue Partitur, selbst die Orchester- und Chorpassagen aus dem Jahr von 1898 übernommenen (laut Hugh Macdonald etwa ein Viertel der Musik), wurden neu orchestriert und manchmal in eine andere Tonart transponiert. Das Präludium ist anders, auch wenn es wie sein Vorgänger, das Anfangsthema von Saint-Saëns‘ symphonischer Dichtung La Jeunesse d’Hercule zitiert, die 1877 von Colonne uraufgeführt wurde und deren Coda auch in der auch in der Apotheose, mit der die Oper endet, auftaucht. Auch ist der getanzte Chor des vierten Aktes ebenfalls nicht mit dem in Béziers aufgeführten identisch.

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Fotoeindrücke von Déjanire“ in Béziers: Représentations aux Arènes de_[…]Bois-Guillot_Antoinette/ Gallica

Die Uraufführung von Déjanire im Grand-Théâtre de Monte-Carlo am 14. März 1911 war ein Ereignis, das dem Ruf des Komponisten entsprach, und die Reaktion des Publikums scheint enthusiastisch gewesen zu sein. Sie wurde von Gunsbourg selbst inszeniert und von Léon Jehin dirigiert, dessen Frau, Blanche Deschamps-Jehin, die erste Dalila im Palais Garnier im Jahr 1892 war. Die Titelrolle wurde von Félia Litvinne gesungen, selbst eine Dalila, deren Stimme, die gewöhnlich als dramatischer Sopran bezeichnet wird, eher dem Typus des „Falcon“-Soprans entsprach (nach der Sängerin Cornelie Falcon, ein „kurzer“ Sopran/ G. H.); sie wurde in St. Petersburg geboren und war eine Schülerin von Pauline Viardot. Sie sang auch die Rolle der Catherine d’Aragon in der Wiederaufnahme von Henri VIII. an der Opéra im Jahr 1909 und wirkte bei der Premiere von L’Ancêtre in Monte Carlo mit. Hercule war der Tenor Lucien Muratore, ein gebürtiger Marseiller, der seit seinem Debüt 1902 Debüt an der Opéra-Comique in Reynaldo Hahns La Carmélite zum führenden Tenor der Opéra geworden war. Die in Rennes geborene lyrische Sopranistin Yvonne Dubel spielte die Iole, der Bariton Henri Dangès sang den Philoctète, und die Mezzosopranistin Germaine Bailac war die Phénice.

Litvinne, Muratore und Dangès behielten ihre Rollen für die Pariser Premiere im Palais Garnier am 22. November desselben Jahres, diesmal mit Yvonne Gall als Iole und der Altistin Lyse Charny als Phénice, eine Künstlerin, die Saint-Saëns besonders schätzte. Unter vier Augen hat der Komponist, der mit der Inszenierung und der musikalischen Darbietung in Monte Carlo zufrieden gewesen zu sein scheint, keinen Hehl aus seiner Unzufriedenheit mit dem gemacht, was er in Paris gesehen und gehört hatte, und vor allem mit den allzu statischen Tempi von Messager (die Saint-Saëns an dem einzigen Abend, an dem er auf dem Podium stand, zu korrigieren versuchte).

„L´arrivé de Déjanire“, Stich zur Aufführung 1889 in Béziere/Gallica

Déjanire wurde fünfmal in Monte Carlo aufgeführt, mit zwei zusätzlichen Aufführungen im folgenden Jahr, aber nur siebzehn Mal im Palais Garnier zwischen 1911 und 1913. Es wäre jedoch falsch, daraus zu schließen, dass das Werk von den Opernhäusern gemieden wurde. Es gab aber eine Erstaufführung in Brüssel im Dezember 1912 (mit Claire Friché in der Titelrolle), im folgenden Jahr in Lyon, Dessau (!) (Durand hatte auch eine deutschsprachige Fassung veröffentlicht) Algier, Kairo, Marseille, Bordeaux, Enghien und Aix-les-Bains Bains und Cannes im Jahr 1914. Die Aufführungen in Marseille, bei denen Muratore die Gelegenheit hatte, seine Rolle auf heimischem Boden zu erleben, bereiteten Saint-Saëns die größte Freude. Die Chicago Opera Association gab die nordamerikanische Erstaufführung am 9. Dezember 1915 unter der Leitung ihres musikalischen Chefdirigenten Cleofonte Campanini und wieder mit Muratore, diesmal unterstützt von der sardischen Sopranistin Carmen Melis als Déjanire und dem Bariton Alfred Maguenat als Philoctète. Einige Quellen erwähnen Aufführungen in New York, vielleicht von denselben Künstlern, aber es ist schwierig, eine Spur davon zu finden. Der Krieg und das Fehlen einer Partitur in italienischer Sprache erklären, warum die Karriere des Werks so kurzlebig war, obwohl sie so erfolgreich begann. Nur eine moderne Aufführung ist bekannt, die 1985 beim Montpellier-Radio France Festival stattfand, unter der Leitung von Serge Baudo mit der kroatischen Sopranistin Dunja Vezjovic in der Titelrolle (die als Radiomitschnitt Sammlern bekannt ist/G. H.) (Foto oben: Yvonne Dubel als Déjanire 1911 an der Opéra de Monte-Carlo/ Gallica) . (…) Vincent Giroud/DeepL/Red. G. H..

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

Überraschender Repertoire-Ausflug

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Das Label Château de VERSAILLES ist spezialisiert auf die Einspielungen französischer Barockopern. Lully, Rameau, aber auch Mondonville, Destouches und Boismortier stehen im Zentrum der Aktivitäten – Händel ist eher die Ausnahme. Umso mehr Aufmerksamkeit gilt der Einspielung einer Oper des Halleschen Meisters, wie jetzt seinem Poro, re delle Indie, uraufgeführt 1731 im King´s Theatre London. Die Aufnahme entstand im März 2023 in den Salles des Croisades du Château de Versailles und wurde auf drei CDs veröffentlicht (CVS 123). Das Libretto von Metastasio behandelt den Edelmut, den Alessandro, König von Mazedonien, gegenüber seinem Widersacher, dem indischen König Poro, übt und dem von ihm Besiegten die Freiheit schenkt.

Die Veröffentlichung ist auch von Interesse, weil das Werk auf dem Musikmarkt nicht allzu häufig vertreten ist. Das verwundert, weil das Dramma per musica reich ist an herrlicher Musik – an melodischen Arien, wunderbaren Liebesduetten, gefühlvollem Schmelz und heroischem Pathos. Als Referenzaufnahme gilt noch immer Fabio Biondis Produktion bei Opus 111 von 1994, die inzwischen aus dem Karalog gestrichen ist. Zudem gibt es mit dem Ensemble Il Groviglio ein noch junges Ensemble für Alte Musik zu hören, das der Tenor Marco Angioloni 2018 gründete. Neben seiner Funktion als Dirigent der neuen Händel-Einspielung wirkt der Sänger in dieser auch solistisch mit – sogar in der zentralen Rolle des Alessandro mit. Sein Gegenspieler Poro ist mit dem amerikanischen Countertenor  Christopher Lorey besetzt. Als dessen Schwester Erissena tritt Giuseppina Bridelli in Erscheinung. Die auf Alte Musik spezialisierte Mezzosopranistin imponiert mit pastosen Tönen. Poros Verlobte Cleofide singt die Sopranistin Lucía Martín Cartón mit schön aufblühender Stimme Der französische Counter Paul-Antoine Bénos-Dijan adelt die Partie des Gandarte, Erissenas Verlobten. Der junge Bassist Alessandro Ravasio als Alessandros Leutnant Timagene komplettiert die Besetzung (10. 04. 24). Bernd Hoppe

Mary, Marianna, Maria

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Am 2. Dezember 2023 wäre Maria Callas hundert Jahre alt geworden. Nicht ihr Geburtsland, die USA, sondern ihr Herkunftsland, in das ihre Familie, allerdings ohne den Vater,  1937 zurück kehrte, Griechenland, hielt aus diesem Anlass beachtliche Ehrungen für sie bereit. So wurde die Zweieuromünze mit ihrem Konterfei versehen, wurde das Zimmer des Dekorateurs George Grandpierre, in dem sie ihre letzten Jahre in Paris verbrachte, in einem eigens für sie eingerichteten Museum in Athen nachgestellt. „Voller Stolz und Liebe“ widmet man sich ihrem Andenken, wozu auch ein Film gehört, der im Rahmen des Festivals griechischer Filme im Berliner Kino Babylon gezeigt wurde. Dieser widmet sich nicht der Diva mit internationaler Karriere, nicht der Geliebten, ebenso wie sie berühmte Männer wie Onassis und Giuseppe Di Stefano, der erstaunlichen Verwandlung vom dicklichen hässlichen Entlein zum strahlenden Schwan mit Hilfe oder doch nicht eines Bandwurms, der von den Medien gepflegten Feindschaft mit Renata Tebaldi, sondern der Jahre 1938 bis 1945 und der späteren Rückkehr nach Griechenland.

Es geht auch nicht um den noch seiner Uraufführung entgegensehenden Film von Pablo Larrain mit Angelina Jolie in der Hauptrolle oder den ebenfalls noch nicht fertigen Film von Niki Caro mit Noomi Rapace als Maria, sondern um ein besonders für die Griechen heikles Kapitel, die Besetzung durch italienische und deutsche Truppen in den Vierzigern. Die französische Sopranistin Germaine Lubin wurde wegen ihrer Auftritte vor deutschen Soldaten in Paris und in Bayreuth nach dem Krieg inhaftiert und musste Frankreich für einige Jahre verlassen, obwohl es viele Zeugen für ihre Hilfe für von den Nazis Verfolgte gab.

Maria Kalegoropoulos: Leronore/“Fidelio“/Athen 1944/Tosi

Kirsten Flagstad sang nicht einmal in Nazideutschland und erlitt trotzdem Verfolgung im Nachkriegsnorwegen. Maria Callas, damals noch Gesangsstudentin und Schülerin von Elvira de Hidalgo, so wie übrigens auch die Mezzosopranistin Arda Mandikan, die gemeinsam mit Maria Callas ihr Debut und das mit nur fünfzehn Jahren im  Athen erlebte. Sie war wie die Callas ein Teenager, als diese vor deutschen und italienischen Offizieren als Tosca, Marta in Tiefland oder Fidelio-Leonore (in Griechisch) auftrat. Mandikan wird im Verlauf des knapp zweistündigen Films immer wieder Zeugnis ablegen vom Schicksal der Callas und mit ihr die Rückkehr nach Griechenland, als Adalgisa 1960 im Freilichttheater von Epidaurus, erleben, wenn die inzwischen zum Weltstar gewordene Callas die öffentliche Meinung von totaler Ablehnung zu ebenso totaler Anbetung umwandeln kann.

Der Film von von Vasilis Louras und Vasilis Louras The Unsung Greek Years of Callas mit englischen Untertiteln zu griechischem Dialog oder umgekehrt geht chronologisch vor und lässt viele Zeitzeugen oder zumindest deren Nachkommen oder Schüler zu Wort kommen, so auch den Sohn des deutschen Dirigenten Hans Hörner, der 1944 den griechisch gesungenen Fidelio in Athen dirigiert hatte, den die Callas nach dem Krieg besuchte, die Freude darüber ausdrückend, dass er trotz der Kriegsereignisse noch am Leben war. Die Übersiedelung der in den USA geborenen (Maria Anna Sophia Cecilia getaufte, Mary oder Maryanne genannte) Callas zurück nach Amerika auf Wunsch des Vaters (der als erfolgreicher Drogeriebesitzer nach der Trennung der Eltern in New York geblieben war) war einmal den instabilen Nachkriegs-Verhältnissen in Griechenland mit kommunistischen Aufständen, der Feindseligkeit von Ensemblemitgliedern und der Zurückstufung in der Sängerhierarchie der Athener Oper geschuldet, die spätere Rückkehr dann wohl noch mehr als dem griechischen Herzen, das sie in ihrer Brust schlagen hörte, der Liebe zu Onassis zu verdanken.

Maria Kalegeropoulos und Evangelos Mangliveras in "Tiefland" April 1944 Athen/Tosi

Maria Kalegoropoulos und Evangelos Mangliveras in „Tiefland“, Athen 1944/ Tosi

Einem sommerlichen Aufenthalt hat der Film eines seiner wertvollsten Zeugnisse zu verdanken, ein improvisiertes „Voi lo sapete, o mamma“ der Santuzza nur mit Klavierbegleitung,  neben den nicht zu bezweifelnden Qualitäten der Stimme auch die Binsenwahrheit bestätigend, dass man sich vor dem Singen einsingen sollte. Noch interessanter und wegen seiner hohen Qualität sehr berührend ist ein bisher unveröffentlichtes „Son giunta“ der Forza-Leonora, das die Callas kurz vor ihrem Tod in ihrer Pariser Wohnung repetierte. Da klingt die Stimme, und das meint auch der Kommentator, besser, d.h. frischer als bei ihren späten Auftritten mit Di Stefano.

Der Film ist faktenreich, seinem Sujet zugeneigt, aber ihm nicht unkritisch gegenüber, und er zeichnet ein farbiges, vielseitiges und Interesse am Sujet wach haltendes oder erweckendes Bild seiner Protagonistin. Er war im Rahmen des Greek Film Festival in Berliner Kino Babylon 2024 zu sehen. Ingrid Wanja/ G. H.

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PS: Absolut nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang das Buch The Unknown Callas: The Greek Years von Nicholas Petsalis-Diomidis (Hal Leonard Corporation; Illustrated Edition, neu herausgegeben 2001; ISBN-13 – ‎978-3100244130). Dies ist ein besonders spannendes Buch über die Callas, weil die zum Teil beklemmend zu lesenden Details über die italienische und schlimmer noch deutsche Besatzung Athens mehr als deutlich geschildert wird. Hunger-Leichen lagen in den Straßen, und die deutschen Besetzer schossen bei der geringsten Gelegenheit (danach kam der Widerstand und schoss ebenfalls) – kein Ruhmesblatt für uns hier. Die Callas und ihre Mutter Evangelina sowie Schwester Jackie hatten jeweils italienische und dann deutsche Liebhaber, die sie vor dem Schlimmsten schützten. Und sie studierte Tiefland und Leonore mit ihrem Freund ein. Das reich illustrierte Buch, voll mit Zeitzeugen-Aussagen (Mireille Flery, Zoe Vlachopoulou, Constantin Stellakis und auch Arda Mandikian) und hervorragend recherchiert, ist absolut habens- und lesenswert. Und ein Exkurs in deutsch-griechischer Geschichte. Diese und andere Sänger eben dieser Vorkriegszeit sind in der repräsentativen Sammlung beim Hamburger Archiv für Gesangskunst zu hören (dazu unser Artikel bei operalounge.de)..

Aber ganz eigentlich und ungeschlagen ist der bewegende Film Maria über Callas (Regie: Tom Volf, Studiocanal 2021) mit sensationellen und bislang unbekannten Live-Rollen-Aufnahmen, auch aus den griechischen Jahren.

Dazu unser Beitrag zum 100. Geburtstag von Maria Callas mit einer Auswahl an Buchempfehlungen (Foto oben Maria Kalegoropoulos und Stelios Athenaios in „Ho Protomastoras“/Athen 1944/Tosi). G. H.

Thriller bei Pentatone

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Ich hatte mich nie sonderlich für Stephen King interessiert. Weder für die Filme noch für die Bücher. Das Versäumte lässt sich nun leicht nachholen. Der amerikanische Komponist und Pulitzer-Preisträger Paul Moravec (*1957) hat im Auftrag der Minnesota Opera einen der berühmtesten, wenn nicht gar den berühmtesten Roman Kings für die Bühne eingerichtet. „Stephen King’s novel The Shinng ist naturally operatic. The story strikingly dramatizes three oft he most basic elements of opera – love, death, and power“. In diesem Sinn hätte Moravec natürlich aus jedem Plot einer Vorabendserie eine Oper machen können. Allerdings ist The Shining nicht die erste Oper nach Stephen King; bereits 2013 wurde in San Francisco Tobias Pickers Dolores Claiborne nach dem gleichnamigen Roman (1992) uraufgeführt. Moravecs Librettist Mark Campell hat allerdings einen sehr guten Job gemacht, hat verdichtet und den zeitlichen Ablauf der Ereignisse im Overlook-Hotel gestrafft, in dem der trockene Alkoholiker Jack Tarrance eine Hausmeisterstelle antritt, um wieder sein Leben in den Griff zu bekommen und seine schriftstellerische Arbeit aufzunehmen. Anders als dutzende von Opern, für die Campbell ebenfalls Libretti verfasst hat, gelangte The Shining nach seiner Uraufführung im Mai 2016 in Saint-Paul und einer Produktion der Colorado Opera nach Covid-19 bedingter Verspätung auch in Kansas City zur Aufführung, wo nach mehreren ausverkauften Aufführungen im Kauffman Center for the Performing Arts im März 2023 die Produktion unter dem Dirigenten Gerard Schwarz mitgeschnitten wurde (Pentatone 2 CD PTC 5187036).

Vergesst Jack Nicholson, vergesst Stanley Kubrick. Moravec und Campbell bemühten sich tatsächlich, den Film, mit dem King keineswegs zufrieden war, hinter sich zu lassen und zum Roman (1977) zurückzukehren. Campbell hat die handelnden Figuren klar beschrieben, Jack Tarrance, seine Frau Wendy und ihren sechsjährigen Sohn Danny, dazu den Koch, Manager sowie Hausmeister des Hotels. Ebenso die Erscheinungen von Jacks gewalttätigem Vater Mark Terrance und früheren Hotelgästen, -Besitzern- und Mitarbeitern. In zwei Akten von rund 65 und 45 Minuten und sieben bzw. zehn Szenen und Epilog, die sich mit Ausnahme des acht Monate später spielenden Epilogs zwischen September und November 1975 im besagten Hotel in Western Colorado abspielen, hält sich das klaustrophobische Gruseln im bekömmlichen Rahmen. Szenisch mögen die Szenen der Lebenden und Toten, trostlose Gegenwart und festliche Vergangenheit des Hotels eine Herausforderung sein, musikalisch bietet Moravec brav illustrierende Hausmannskost, gesungenes Aufsagetheater sozusagen.

Man muss das wohl sehen – und nicht nur hören. Die einst als „One hell of a ride“ angekündigte Oper ist alles andere als ein Todesritt, sondern eine handwerklich souverän gearbeitete Oper, in der Edward Parks mit seinem sauberen Mozart- und Rossini-Bariton und seinem rührenden Abschied „I love you, Wendy, I love you, Danny“ einen weniger grellen Psychopathen Jack Tarrance zeichnen kann und Kelly Kaduce seiner Ehefrau Wendy mit ihrem Glittersopran hinreichend Kraft und Durchsetzungsvermögen gibt. Schwarz bringt das rund ein Dutzend Sänger schmalerer Partien, den Lyric Opera of Kansas City Chorus und die Kansas City Symphony zum Leuchten.    R. F.

Erstmals nach 185 Jahren

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Seit vielen Jahren nicht mehr aus dem Berliner Opernerleben wegzudenken sind die halbszenischen Aufführungen selten oder nie in der Hauptstadt zu erleben gewesener italienischer Opern durch den und mit dem Dirigenten Felix Krieger, erst im Radialsystem an der Spree, inzwischen längst aber im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Vom Belcanto mit Donizettis Maria di Rohan oder Betly, über Verdi mit Oberto, Masnadieri, Stiffelio und Puccini mit Edgar bis hin in den tiefen Verismo mit Mascagnis Iris oder Zanetto reichen die teilweise inzwischen auf CD erhältlichen Aufführungen, die im vergangenen Jahr von einer Uraufführung gekrönt wurden.

Dalinda nennt sich Gaetano Donizettis Oper, und auf dem Cover der von dem Label Oehms herausgegebenen Doppel-CD finden sich neben lateinischen auch arabische Schriftzeichen für den Namen der Titelheldin. Diese war nämlich eigentlich nicht eine persische Fürstin, sondern die allgemein bekannte Papsttochter und angebliche Giftmischerin, Blutschänderin und Ehebrecherin Lucrezia Borgia, über die, basierend auf einem Drama Victor Hugos, Felice Romano das Libretto verfasst, Donizetti die Musik komponiert hatte und die an der Mailänder Scala mit zunächst bescheidenem, aber wachsendem Erfolg uraufgeführt worden war und die in Paris auch dem Publikum, aber nicht Hugo gefiel. Schlimmere Querelen aber gab es in Neapel, wo die Zensur trotz vieler Änderungen und Verlegungen in alle möglichen Zeiten und Milieus ihr Placet verweigerte, so dass der Komponist und der Librettist der Angelegenheit schließlich müde wurden und Dalinda, der letzte Vorschlag zur Güte, nie aufgeführt wurde. Musikalisch sind die beiden ersten Akte von Lucrezia Borgia und Dalinda fast identisch, der dritte Akt jedoch wurde von Donizetti fast vollkommen neu komponiert, so dass am 14. Mai 2022 tatsächlich vollkommen neue Musik erklingen konnte. Die Handlung wurde in die Zeit des Dritten Kreuzzugs verlegt und von Venedig und Ferrara nach Persien, es bleiben  Mutter und fern von ihr aufgezogener Sohn sowie der eifersüchtige Ehemann Acmet, der eine ehebrecherische Liebe zwischen beiden argwöhnt und ihren Tod beschließt. Wie der ursprüngliche Gennaro hat auch der Ildemaro einen treuen Freund, der Mezzosopran singt, zur Seite, wurden aus den übermütigen italienischen Adligen nun Kreuzritter. Verschärft wird die Handlung durch die Glaubensgegensätze und die Tatsache, dass Gennaro aus einer früheren Ehe stammt, Ildemaro hingegen der Fehltritt mit einem Christen sein muss. Die vielen Rettungsversuche führten letztendlich dazu, dass aus einem zumindest zu großen Teilen historisch beglaubigten Stoff ein wildes Schauermärchen wurde, was jedoch den musikalischen Wert des Werks in keiner Weise mindert, wohl aber die Wahl einer nur akustischen Übermittlung der immer sehr klug gestalteten Aufführungen der Operngruppe nachvollziehbar werden lässt.

Dalinda galt lange Zeit als verschollen, bis die italienische Musikologin Eleonora di Cintio Bruchstücke in Archiven entdeckte, zusammenfügte und der Verlag Casa Ricordi, die auch über eine Dependance in Berlin verfügt, die Herstellung einer vollständigen Partitur ermöglichte.

Wer fast alle Aufführungen der Berliner Operngruppe erlebt hat, kann nur über deren Entwicklung staunen, darüber wie sich der unüberhörbare Enthusiasmus von Chor und Orchester erhalten, ja noch verstärkt hat und gleichzeitig eine mit den institutionellen Orchestern der Stadt vergleichbare Professionalität und Virtuosität, im Erreichen von Italianità kaum zu überbietende Qualität erreicht hat. Das zeigt sich bereits bei der Sinfonia voller Brio und Slancio, es zeigt sich beim rücksichtsvollen Begleiten der Solisten und beim Spannen großer Bögen, beim nie Nachlassen an Intensität. Auch der Chor vermag in diesem Sinne mitzuhalten und verdient großes Lob.

Von Anfang an legte die Berliner Operngruppe großen Wert auf angemessene Sängersolisten, arbeitete doch schon im Radialsystem ein Francesco Ellera D’Artegna mit ihr zusammen. Für die Titelpartie von Dalinda braucht es einen echten dramatischen Koloratursopran, den man mit Lidia Fridman gefunden hatte, die über ein melancholisches, in keiner Weise anonymes Timbre verfügt, Intervallsprünge mühelos meistert, kultiviert auch bei rasanten Tempi bleibt und mit einem schmerzlich umflorten „È spento“ die Oper beschließt. Davor kann sie noch einmal, Donizetti hat seine Soprane mit wunderbaren Schlussmonologen versehen, für einen Höhepunkt der Aufnahme sorgen. Lediglich am Schluss des ersten Akts gerät das Vibrato etwas außer Kontrolle. Eigentlich bereits die schweren Verdi-Kaliber wie Radames singt der Tenor Luciano Ganci, der, vergleicht man mit berühmten Gennaros, eher ein Aragall als ein Kraus ist. Er phrasiert gut, kostet Fermaten gekonnt aus und hat eine schöne Nachdenklichkeit für das Gebet des Ildemaro. Er ist leidenschaftlich in der Cabaletta, singt ein zärtliches „mia madre“ und erfreut mit einem beachtlichen Spitzenton. Durch eine gute Diktion und das Timbre eines Brunnenvergifters ist auch der ansonsten im Buffofach tätige Paolo Bordogna mit schöner Phrasierung ein hochachtbarer Acmet. Als Ugo d’Asti erfreut Yajie Zhang mit mildem Mezzo, könnte nur in die Cabaletta ihrer Arie mehr grinta einbringen. Keinerlei Ausfall gibt es in dem umfangreichen Herrenensemble.

Der nächste Auftritt der Berliner Operngruppe findet am 2. Juni 2024 mit Puccinis Jugendwerk Le Villi in beachtlicher Besetzung und natürlich mit Felix Krieger am Dirigentenpult statt. Das ist  ärgerlicherweise auch der Tag der Premiere von Chowanschtschina in der Staatsoper (Oehms Classics 989 2 CDs). Ingrid Wanja        

Tendenziell verhalten

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Gerade hat er bereits das 85. Lebensjahr vollendet und darf ohne Wenn und Aber zu den großen Alten unter den lebenden Dirigenten gezählt werden, doch ans Aufhören scheint Marek Janowski nicht zu denken. Zugegeben, im Vergleich mit Herbert Blomstedt, dem Nestor der heutigen Dirigentenzunft, wirkt er beinahe jung. Janowski ist gerade im deutsch-österreichischen Repertoire der Romantik zu Hause. Umso merkwürdiger, dass erst jetzt ein Zyklus der vier Sinfonien von Robert Schumann unter seinem Dirigat herauskommt (Pentatone PTC 5186 989). Auf den ersten Blick zumindest. Es bedurfte einer gewissen Rechercheleistung um herauszufinden, dass Janowski tatsächlich schon einmal einen Schumann-Zyklus einspielte, nämlich Mitte der 1980er Jahre mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra für das Label ASV (lange vergriffen und wohl nur kurzzeitig auf CD erschienen). Und dann gibt es da noch die 1994 entstandene Frühlingssinfonie mit dem SWF-Orchester auf einer in Vergessenheit geratenen Disc von Arte Nova, wo neben ihm noch Arnold Östmann und Hans Vonk weitere Schumann-Werke beisteuern. Und wenn wir schon dabei sind: Schon 1978 leitete Janowski die Eterna/EMI-Koproduktion der in Dresden gemachten Einspielung des Schumann-Violinkonzerts mit Ulf Hoelscher als Solisten (auch bis heute nicht auf CD übernommen). Auf den zweiten Blick also doch eine beachtliche Erfahrungen des Dirigenten in Sachen Schumann. Schaut man sich Janowskis Konzertprogramme der letzten Jahre an, so tauchten Schumanns Sinfonien folgerichtig durchaus ab und an auf.

Wie aber klingt Schumann á la Janowski denn nun? Die oben genannte Aufnahme des orchestral durchaus gewichtigen Violinkonzerts, die mir durch glückliche Umstände vorliegt, empfand ich seinerzeit dirigentisch unauffällig. Tatsächlich ist Janowskis Ansatz auch bei den Sinfonien kein euphorisch-ekstatischer wie weiland derjenige des unvergessenen Leonard Bernstein. Dies muss per se nichts grundsätzlich Verkehrtes sein. Fraglos trägt die unstrittige langjährige Erfahrung Janowskis dazu bei, dass er bei der nunmehrigen Neueinspielung durchaus den Schumann’schen Tonfall trifft und nicht versucht, dem Erzromantiker die Romantik auszutreiben, wie dies manche Vertreter der HIP-Bewegung ohne nachhaltigen Erfolg taten. Die Tempi, die Janowski anschlägt, vermeiden die Extreme; weder wird gehetzt noch verschleppt. Die zum Zuge kommende Dresdner Philharmonie erweist sich als zugleich voll tönender wie auch beweglicher Klangkörper. Detailfreudiges Hervorheben gerade lyrischer Momente ist eine Stärke dieser Lesart. Andererseits fehlen die orchestralen Ausbrüche, etwa im Kopfsatz und bei der Überleitung zum Finale der Vierten, wie sie einst Wilhelm Furtwängler in seiner legendären DG-Einspielung maßstäblich und wie in Stein gemeißelt vorlegte.

Zur Frühlingssinfonie hat Janowski offenbar – wie oben schon erwähnt – ein besonders enges Verhältnis. Seine geradlinige Lesart der Mitte bestätigt den allgemein vorherrschenden Eindruck, dass ein Bis-an-die-Grenzen-Gehen gar nicht beabsichtigt ist. Die Tiefgründigkeit eines Otto Klemperer (EMI), der zumal im Kopfsatz ein überlebensgroßes Klanggemälde entstehen lässt, bleibt unerreicht. Von der überschwänglichen Lebensfreude, die an Botticellis Primavera denken lässt und die musikalisch in der zu Unrecht vergessenen Einspielung Hans Swarowskys (Audio Fidelity) mustergültig umgesetzt scheint, ist Janowski ein gutes Stück entfernt. Am stärksten gelingt ihm das verinnerlichte Larghetto.

Mehr und mehr beschleicht einen das Gefühl, dass das etwas pauschal geratene Klangbild seinen Anteil daran hat, dass Verhaltenheit vorherrscht und der Funke nur stellenweise überspringen will (aufgenommen wurde zwischen Mai 2021 und Juni 2023 im Kulturpalast Dresden). Nahezu erwartbar, kann auch in der als schwierig geltenden Sinfonie Nr. 2 – laut Günter Wand „ein krankes Werk“ – der langsame Satz, das großartige Adagio espressivo, am ehesten punkten. Die unbändige Überzeugungskraft des genannten Bernstein (CBS und DG), aber auch diejenige des eigentlich als nüchtern geltenden Ernest Ansermet (Decca) wird zumal in den Ecksätzen nicht entfesselt.

Schließlich die Rheinische, anders als die Nummerierung glauben macht, Schumanns finale genuine sinfonische Schöpfung und ob ihrer Fünfsätzigkeit aus der Reihe tanzend. Sie zu einer Schumann’sche Eroica erhöhen zu wollen – wie weiland auf seine Art vortrefflich Carlo Maria Giulini (EMI und DG) –, ist mitnichten Janowskis Absicht. Rein tempomäßig nimmt er das Lebhaft im Kopfsatz ernst, ohne exaltiert zu werden. Ein Eindruck von der im Rheinland vorherrschenden Lebensbejahung gelingt im nachfolgenden Scherzo. Gleichzeitig wird die berühmte Feierlichkeit des langsamen Satzes nicht überbetont und ersteht der Kölner Dom vor dem geistigen Auge insofern tendenziell säkularisiert. Im Schlusssatz kehrt die Ausgelassenheit zurück. In summa womöglich das Highlight dieses neuen Zyklus.

Das nicht allzu umfangreiche Beiheft mit Einleitungstext von Jörg Peter Urbach (auf Deutsch und Englisch) ist grundsolide, befasst sich allerdings allein mit den vier Sinfonien selbst. Kein Wort darüber, wieso sich Marek Janowski im hohen Alter nun abermals diesen Werken Schumanns widmet und welche Gedanken der Dirigent selbst dazu haben mag. Daniel Hauser

Winterreise szenisch

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Wohl alle Sängerinnen und Sänger haben sich irgendwann einmal mit Schuberts Winterreise auseinandergesetzt; auch Bearbeitungen gibt es immer wieder. Nun hat sich der Regisseur Christof Loy gemeinsam mit der schwedischen Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter dem Liederkreis auf ganz andere Weise genähert: Im Februar 2022 gab es im Theater Basel eine szenische Bearbeitung von Schubert-Liedern, die sich unter dem Titel Eine Winterreise in einer Art Kaleidoskop mit Schuberts Leben und den in seinen Liedern zum Ausdruck gekommenen Gefühlen beschäftigt. Von der Aufführung am 21. Februar 2022 im Theater Basel wurde ein Mitschnitt gefertigt, den NAXOS als DVD herausgebracht hat. Wenn sich der Vorhang öffnet, sieht man in einen dunklen, mit warmen Braunfarben getäfelten Raum, in dessen Mitte ein Hammerflügel steht. Das Bühnenbild von Herbert Murauer soll von den Ballhäusern aus dem Ende des 19. Jahrhunderts inspiriert sein, in dem sich jetzt Stühle stapeln und die Decke baufällig ist. Die Sängerin tritt als Er auf und stellt, wie Loy es ausdrückt, Schuberts Seele dar. Daneben bewegen sich vier Tänzerinnen und Tänzer als Der Doppelgänger Nicolas Franciscus, Kristian Alm als Schuberts Freund Schober sowie als Viola Giulia Tornarolli und Matilda Gustafsson als Die Kurtisane. Neben fünf einzelnen Liedern, einigen aus der Müllerin und dem Schwanengesang werden aus der titelgebenden Wintereise nur sechs Lieder verwendet. Dazu kommen wenige Instrumentalstücke und kurze nicht vertonte Text-Fragmente aus Der Traum von Schubert und aus Wilhelm Müllers Epilog zu Die schöne Müllerin. Im Zentrum des Abends stehen die nachdrücklichen Interpretationen von Schuberts Liedern durch Anne Sofie von Otter und den in Liedbegleitung besonders profilierten Pianisten Kristian Bezuidenhout. Hier erweist sich nun die hohe Gestaltungskunst der Sängerin, die z.B. in Im Abendrot, Nachtstück oder „Einsamkeit“ ihren immer noch schlanken, in allen Lagen abgerundeten Mezzo mit perfektem Legato in wunderbarer Ruhe fließen lässt. Auch führt sie die Stimme bruchlos und ungemein flexibel durch die schnelleren Lieder wie die Taubenpost oder Die Post aus der Winterreise. Ebenso ausdrucksstark gelingen ihr und dem kongenialen Begleiter in dichtem partnerschaftlichem Musizieren die dramatischeren Lieder wie Der Lindenbaum oder Der Doppelgänger. Zu allem sind die Tänzerinnen und Tänzer in Bewegung, um die „zeitlosen Themen wie Erinnerung, Vergänglichkeit und Todesangst“ (Christof Loy) tänzerisch darzustellen. Schubert hat allerdings in seinen Liedern die jeweiligen Stimmungen, zu denen auch depressive Melancholie gehört, kompositorisch so genial gestaltet, dass sie meiner Meinung nach keiner zusätzlichen pantomimischen oder tänzerischen Illustration bedürfen. Am Schluss erhielten alle Mitwirkenden starken, begeisterten Applaus (NAXOS 2.110751).  Gerhard Eckels 

Musik für das Ospedaletto

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Die vier Ospedali Grandi Venedigs boten über Jahrhunderte Bedürftigen ein Heim und sogar eine musikalische Ausbildung – waren es Bettler, Kranke, Findelkinder oder Obdachlose. Der renommierte neapolitanische Komponist Nicola Antonio Porpora zählte neben Antonio Vivaldi zu den musikalischen Berühmtheiten, deren Karrieren mit den Ospedali in Verbindung standen. Er unterrichtete zwischen 1729 und 38 am Incurabili, zwischen 1742 und 43 am Pietà und zwischen 1742 und 47 am Derelitti, auch Ospedaletto genannt. Dort traf er die begabte Altistin Angiola Moro, la „Anzoletta“, für die er anspruchsvolle Solopartien schuf.

GLOSSA/Note 1 hat nun eine CD herausgebracht, die im September 2022 in Brixen entstand (GCD 923537). Solistin ist die italienische Mezzosopranistin/Altistin Josè Maria Lo Monaco, die vom Ensemble Stile Galante unter Leitung von Stefano Aresi begleitet wird. Sie interpretiert zwei virtuose Motetten und ein Salve Regina, von Porpora zwischen 1744 und 45 komponiert.

„Placida surge, Aurora“ besteht aus vier Sätzen wie auch „Qualis avis cui perempta“. Die erste Motette beginnt mit einem munter beschwingtem Thema und verlangt der Interpretin wegen der langen Bögen große Atemreserven und wegen der anspruchsvollen Verzierungen ein virtuoses Vermögen ab. Lo Monaco wird diesen Ansprüchen beeindruckend gerecht. Zudem lässt sie erkennen, dass das historische Vorbild neben der außerordentlichen Begabung einen beachtlichen Stimmumfang gehabt haben muss. Die Komposition endet mit einem jubelnden „Alleluia“, in welchem die Stimme funkeln kann.

Das Salve Regina ist siebensätzig und beginnt mit einem getragenen, ernsten Satz, dessen Titel dem Werk den Namen gab. Lo Monacos Stimme klingt hier recht larmoyant, um nicht zu sagen wimmernd. Einen günstigeren Eindruck hinterlässt sie in dem energisch auftrumpfenden 2. Satz, „Ad te clamamus“, in welchem zudem die virtuosen Koloraturgirlanden imponieren. Krönender Abschluss ist das wiegende „O clemens“, kommt der tiefe Mezzo (oder hohe Alt) in seiner reizvoll herben Struktur hier doch bestens zur Geltung.

Die zweite Motette besteht wie die erste aus einem Rezitativ, zwei Arien (der schmerzlichen „Qualis avis cui perempta“ und der hoffnungsvollen „Da per Te, Virgo Regina“) sowie dem finalen „Alleluia“, welches das Album in heiterer Virtuosität enden lässt.

Das Programm der CD wird ergänzt durch Porporas populäres Cellokonzert in G-Dur mit vier Sätzen, womit eine Tradition aufgegriffen wird, welche am Ospedaletto gepflegt wurde – nämlich die Aufführung von Vokalwerken mit Cellokonzerten zu kombinieren, weil der virtuose Cellist Niccolosa Fanello im Orchester wirkte. In der GLOSSA-Einspielung wurde der Solopart Agnieszka Oszanca übertragen, die ihn gleichermaßen mit Bravour wie Empfindungsreichtum ausfüllt. Bernd Hoppe

Genuss bei geschlossenen Augen

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Die mit Abstand größte Aufregung provozierte im Herbst 2022 nicht die Tatsache, dass das Götter-, Menschen-, Zwergendrama von Wagners Ring des Nibelungen von der Regie jedweden Mythos‘ entkleidet worden war, auch nicht, dass anstelle von Daniel Barenboim wegen dessen gesundheitlicher Beeinträchtigung Christian Thielemann das Dirigat an der Staatsoper Berlin übernahm, sondern es war ein halbes Dutzend kuscheliger Kaninchen, das für Aufregung sorgte. Zum aufwändigen Bühnenbild, wohl eine Anstalt zur Erforschung menschlichen Verhaltens darstellend, gehörte neben Konferenzsaal, Stress-Labor, Wartezimmer und anderem auch ein Raum, in dem, so legten es die in Käfigen gehaltenen Säuger nahe, Tierversuche stattfinden. Das oder vielmehr erst die Premierenkritiken riefen PETA auf den Plan und führten zu einer langen Diskussion über vermeintliches Wohl und Wehe der Tierchen und letztendlich zu deren Ersatz durch Stofftiere.

Jetzt gibt es die Bluray von der Premiere des Rheingold und dessen Betrachter kann sich davon überzeugen, dass es den nun auch in Großaufnahme erscheinenden Kaninchen prächtig ging, sie keinerlei Zeichen von Stress zeigten, sondern unbeeindruckt mümmelten und von dem reichlich vorhandenen Heu schnabulierten.

Daniel Barenboim hatte sich, obwohl der letzte Ring noch im Schillertheater seine Premiere erlebt hatte und der der Deutschen Oper fast zeitgleich nach vielen Jahrzehnten im Zeittunnel Götz Friedrichs entstand, zum 80.Geburtstag einen neuen Ring gewünscht. Erfahrungen mit einem brutalisierten Parsifal und einem banalisierten Tristan jeweils in der Regie von Dmitri Tcherniakov hatten ihn offensichtlich nicht geschreckt, und auch sein Nachfolger am Dirigentenpult zeigte sich mit dem entzauberten, banalisierten Ring dieses Regisseurs einverstanden. Dessen Vorzüge bestehen darin, dass die  Charaktere nicht verändert wurden, ihre Nachteile, dass ihr Verhalten nicht nachvollziehbar ist, umso weniger, wenn, um nur einige Beispiele zu nennen, Alberich nach Verlust von Gold und Ring, wobei es zwar diesen, ansonsten aber weder Rhein noch Walhalla, weder Kröte noch Riesenschlange, in die Gummizelle abgeführt wird. Wie konnte er da Hagen zeugen? Das Geschehen gipfelt in einem albernen Kindergeburtstag mit Luftschlangen und Minifeuerwerk.

Wenn es dann zum Schlussapplaus kommt, staunt, wer die Premiere erlebte, nicht schlecht, welch stürmischen Beifall Rolando Villazon für seinen banalen, von Stimmproblemen geplagten Loge erhält, obwohl er doch heftig ausgebuht wurde, allerdings  schlimmer, als hier wahrnehmbar, war. Wurde da nachgebessert? Der noch vielheftigere Buh-Sturm für das Regieteam wird hingegen unterschlagen, so getan, als wäre dies gar nicht auf der Bühne erschienen.

Hin- und hergerissen zwischen dem unterschiedlichen Sinneseindrücken, die Auge und Ohr vermitteln, das eine beleidigend, das andere umschmeichelnd, schaltet das Gehirn auf Resignation oder Rebellion. Im Falle Rheingold an der Lindenoper ist die Beschränkung auf das Hören anzuempfehlen, denn was Christian Thielemann im Orchestergraben zaubert ist sensationell, auch weil der Klang der Staatskapelle, deren Chef er bald sein wird, sowohl zu Wagner wie zu seinen Klangvorstellungen optimal passt. Dass der Dirigent über dem Klangrausch die Bedürfnisse der Sänger nicht vergisst, ist zusätzlich lobenswert.

Ein Wotan, der akustisch alles das ist, was er szenisch nicht sein darf, bildet mit Michael Volle das Zentrum der Aufführung, ein machtvoller, stimmschöner, hoch diszipliniert eingesetzter Bariton. Weniger edler im Timbre und damit rollengerecht als Alberich und insgesamt vorzüglich ist Johannes Martin Kränzle, als Mime lässt Stephan Rügamer bedauern, dass er nicht der Loge sein darf. Mika Kares macht mit samtschwarzem Bass die Liebessehnsucht des Fasolt glaubwürdig, Peter Rose mit derberem Material die Sucht nach dem Gold, die Fafner plagt. Lauri Vasar und Siyabonga Maqungo als Donner und Froh lassen keinen Wunsch übrig. Sensationell gut mit weichem, verführerischem Alt gibt Anna Kissjudit eine Erda, zu der der Regie nur eingefallen ist, dass sie irgendwie zum Personal gehört. Claudia Mahnke war bereits als Fricka in Frankfurt aufgefallen und bestätigt in Berlin den überaus günstigen Eindruck. Anett Frisch muss als Freia verklemmt sein, singt aber schön, die Rheintöchter sind mit den Stimmen von Evelin Novak, Natalia Skrycka und Anna Lapkovskaja fein aufeinander abgestimmt. Eingekauft haben wohl alle Damen im GUM der Vor-Putin-Zeit (Elena Zaytseva).    Mit geschlossenen Augen und offenen Ohren ist ein Wagner-Hochgenuss garantiert (Unitel 809904). Ingrid Wanja

Virtuos

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Seine gesamte, zugegebenerweise nur kurze Schaffenszeit hindurch hat Wolfgang Amadeus Mozart neben Opern und Orchesterstücken auch separat existierende Konzertarien komponiert oder Gesangsstücke als Ersatz für Arien in bereits bestehenden Opern anderer Komponisten, oft ausgerichtet auf die vokalen Fähigkeiten mit ihm befreundeter Sängerinnen wie Aloysia Weber, erst Angebetete, später Schwägerin, oder für Josepha Duschek in Prag, wobei die reinen Konzertarien länger sind und ihnen ein Rezitativ vorangestellt ist.

Mit erst dreizehn Jahren komponierte Mozart A Berenice-Sol nascente als Ergänzung zu einer bereits bestehenden Oper, und auf der CD mit dem lyrischen Koloratursopran Lisette Oropesa, begleitet von Il Pomo d’Oro unter Antonello Manacorda überzeugen mit den ersten Takten der festliche Klang des Orchesters wie die glänzende und schillernde Stimme der Solistin. Mit leicht melancholischem Touch bedenkt diese die Arie mit recht dramatischen Koloraturen, variiert fein bei der Wiederholung, lässt die Extremhöhen im günstigsten Fall kristallin, im ungünstigen leicht gläsern erklingen, wobei die Fähigkeit zum Virtuosen stets unangefochten bleibt.

Für Aloysia in einer Kastratenpartie war Non so d’onde viene bestimmt, eine Arie, in der ein Clistene sein Bedauern über die Verurteilung seines Sohnes ausdrückt. Eher wie die eines Jünglings als die eines Vaters klingt die Stimme der Oropesa, bruchlos sicher die Register durchmessend. Für Josepha Duschek komponierte Mozart gleich nach Don Giovanni in Prag Resta, oh cara, für eine Oper Jamellis bestimmt und den Abschied in den Tod eines Titanus, der die geliebte Proserpina nicht ehelichen darf, darstellend, empfindsam im Rezitativ und tragisch umflort in der Arie die Nähe zu einer Donna Anna nicht verleugnend und von Oropesa perfekt ausgeführt.

Der späteren Sängerin der Dorobella, Luisa Villeneuve, war eine Arie, Chi sá, chi sá,  zugedacht, die Oropesa virtuos bewältigt. Für ein privates Konzert in München war Misera, dove son! bestimmt, dessen heroischem Aufbäumen der Sopran perfekt stand hält. Ebenfalls eine Replacement Arie ist Voi avete un cor fedele mit interessantem Stimmungswechsel zwischen Ironie und Übermut und beides vom Sopran unüberhörbar zum Ausdruck gebracht.

Wirkungsvoll herausgearbeitet werden die Kontraste in Ah, lo prevedi, in dem sich Andromeda, ihren Retter Perseus tot glaubend, kontrastreich an ihre unterschiedlichen Partner wendet. Aus dieser Arie stammt das titelgebende Ombra Compagna. Auch in Vado, ma dove? wechseln die Stimmungen, wird einmal Entschlossenheit, einmal inniges Fühlen unverwechselbar zum Ausdruck gebracht.

Den Schluss bildet eine Für Aloysia begonnene und erst zehn Jahre später fertiggestellte Arie ohne Rezitativ auf einen Text Metastasios (L’eroe cinese) in eher heiterer Virtuosität, denn das schlimme Ende, das der Held nimmt, ist noch fern (PTC 5786 885). Ingrid Wanja     

Das Orchester als Protagonist

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Die Oper heißt Katya Kabanova, aber sie müsste eigentlich Die Wolga oder Das Unwetter oder Der aufgehende Mond heißen, so wie die Textvorlage Ostrowskis, nach der Leos Janaček  sein Werk schuf, Das Gewitter heißt. Nicht die Sänger sind die Protagonisten, sondern das Orchester, das alle diese wunderbaren Naturereignisse zaubert und das es nur als konsequent erscheinen lässt, dass die unglückliche Titelheldin sich dem Sog des allgegenwärtigen Gewässers nicht entziehen kann und den Tod in ihm sucht. Die zweite Gesamtaufnahme einer Janaček-Oper nach Das schlaue Füchslein durch Simon Rattle und das London Symphony Orchestra ist ein Wunder an Naturstimmungen und macht einmal mehr deutlich, dass jede Produktion, die die Natur aussperrt wie die Inszenierung von Andrea Breth für die Berliner Staatsoper 2014 im Schillertheater ein Irrtum ist,   so dass man dem Dirigenten seine Mitwirkung an demselben eigentlich nicht verzeihen dürfte. Neben dem üppigen, farbigen Orchesterklang nimmt sich der ariose Sprechgesang zumindest streckenweise weniger ausdrucksstark aus, vermittelt sich die Sehnsucht der Katya nach Liebe im Intermezzo des ersten Akts mindestens ebenso stark wie in ihrem Gesang. Akustische Wunderwerke werden vollbracht im sanften Umspielen der Stimmen im zweiten Akt (schließlich ist der Dirigent mit einer Sängerin verheiratet), im Aufbau der Spannung vor dem Gewitter, im einfühlsamen Begleiten der Schilderung Katyas, wenn sie sich an ihre glücklichere Jugend erinnert.

Das Werk ist eine Huldigung Janačeks an seine 35 Jahre jüngere Liebe Kamila Stösslova, eine verheiratete Frau, die unerreichbar für ihn blieb, und es ermutigt auch nicht gerade zu einem Seitensprung, denn die Männer erweisen sich durch die Bank als schwach, selbst der herrisch auftretende Dikoj, der sich seiner Verantwortung entziehende Boris oder Katias Mann Tichon, der sich als Muttersöhnchen erweist und seine Ehefrau der herrischen Schwiegermutter, die wiederum abhängig vom Urteil der Gesellschaft ist, ausliefert.

Die konzertante Aufnahme stammt vom 11. und 13. Januar 2023, vor Jahren gab es bereits in der Berliner Phiharmonie ein Konzert unter Simon Rattle mit Karita Mattila als Katya und Deborah Polaski als Kabanicha. Letztere wird nun vom ebenfalls einstigen Wagnersopran Katarina Dalayman gesungen, die sowohl matronenhafte wie hysterische Töne vernehmen lässt, zugleich weinerlich und aggressiv klingen kann und zugleich Täterin wie Opfer zu sein scheint. Es gibt drei Tenöre, von denen der Tichon von Andrew Staples das angenehmste Timbre besitzt, eine gute Mittellage und nur in der Höhe etwas enger werdend. Den Liebhaber Boris, der Katia feig im Stich lässt, wird von Simon O’Neill mit heller, lyrischer, auch scharf werdender Stimme gesungen. Emanzipierter gibt sich der Kudrjas von Ladislav Elgr, Muttersprachler mit typisch slawischem Tenor, der das mährische Volkslied wie mit einer Naturstimme singt. Ihm folgt nach Moskau die Warwara von Dirigentengattin Magdalena Kožená mit leuchtendem  Timbre die relativ kleine Partie der Warwara aufwertend. Sein Freund Kulgin ist Lukaš Zeman mit sonorem Bariton. Resignation und Untertänigkeit vermittelt trotz nur kurzen Auftritts der Mezzosopran von Claire Barnett-Jones in der Partie der Glasa. Zunächst polternd und dann zunehmend auch in Weinerlichkeit versinkend zeigt der Bassbariton von Pavlo Hunka für den Dikoj Fassade wie Innerstes einer zwiespältigen Persönlichkeit.

Viele Facetten der unglücklichen Katya kann der Sopran von Amanda Majeski, einer Amerikanerin, die 2019 mit großem Erfolg als Katya an Covent Garden debütierte, vermitteln. An der Met ist sie vor allem als Mozartsängerin bekannt, in Chicago sang sie aber auch die Marschallin und die Meistersinger-Eva. Für Katia besitzt der Sopran einen schönen Glockenton, kann er bruchlos aufblühen in weit gespannten Bögen und lotet er ein weites Spektrum zwischen zarter Klage und stählernem Aufbegehren aus. Bei einer solchen Leistung erscheint dem Hörer das Urteil Simon Rattles, es handle sich bei ihr um die  „Katya der Stunde“ nicht als Publicity, sondern zustimmungsfähige Überzeugung, gerechtfertigt (LSO L500889 25ACD). Ingrid Wanja

Beherzter Griff ins Archiv

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.Es gibt viele Gründe, die Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy zu lieben. Als ich so alt war wie er auf seinem schöpferischen Höhepunkt – er starb achtunddreißigjährig – konnte ich noch nicht viel anfangen mit seiner Musik. Wagnerbesessen wie ich war, empfand ich sie als zu sanft, um nicht zu sagen zu seicht. In meiner Vorstellungen drückte sich Romantik anders aus – vornehmlich in großer Form und noch größerer Besetzung. Mit den Jahren änderte sich das. Ich war weit verbreiteten Klischees aufgesessen. Peu a peu lehrte mich Mendelsohn, dass der große musikalische Gedanke nicht zwangsläufig Pauken, Posaunen und ganze Heerscharen von Streichern braucht, um sich auszudrücken. Nicht, dass es nur kammermusikalisch zugehen würde bei Mendelssohn. In den großen Chorwerken spart er nicht an der Besetzung. Doch wenn es zum Wesentlichen kommt, dann geht er meist in sich, reduziert die Mittel – und wird auch leiser.

Warner hat jetzt sein Werk in einer großen Edition versammelt (40 CD 5054197774133). Einen Anlass wie ein rundes Jubiläum gibt es dafür nicht. Es braucht ihn auch nicht. Bei Mendelssohn Bartholdy schon gar nicht. Er ist allgegenwärtig, Allgemeingut geworden, auf Spielplänen und in der Musikindustrie eine feste Größe. Aufnahmen seiner Werke sind Legende. Einspielungen, die nach 2000 entstanden, sind die absolute Ausnahme. Nicht selten stammen sie sogar aus den 1970er Jahren. Warner hat für die Edition also beherzt ins Archiv gegriffen (weitgehend des der EMI, Teldec und Erato).

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Die vierzig CDs stecken in einer schönen Box. Bei der Gestaltung der Hüllen wird sich nicht zufällig bei solchen Gemälden bedient, die den Zeitbezug des Komponisten illustrieren. Caspar David Friedrich ist darunter und der Berliner Holbein mit Vornamen Eduard, der an der Ausmalung des Neuen Museums in Berlin beteiligt gewesen ist. Tischbeins Goethe in der Campagna Romana erinnert daran, dass der Komponist im Jünglingsalter 1821 vor dem alten Dichterfürsten in Weimar gespielt hat. Und es finden sich auch Zeichnungen von Mendelssohn fein geführtem Stift. Malerei war einen seiner vielen Begabungen. Insofern gibt die Sammlung Anregungen, nach Verbindungen zwischen Musik und bildnerischer Kunst zu suchen. „Die vielseitige Persönlichkeit Mendelssohns offenbart mehr und mehr Überraschungen, je weiter man zu ihrem Kern vordringt“, schreibt René Jacobs im Vorwort des Booklets. „Neben den bekanntesten Schöpfungen gibt es unzählige Werke, die bis zur Wiedervereinigung in den Bibliotheken im Osten und Westen getrennt voneinander aufbewahrt wurden.“ Daraus erklärt sich wohl auch, dass ein neues wissenschaftliches Werkverzeichnis (MWV) mit 750 Kompositionen in 26 Gruppen erst im August 2009 von der Mendelssohn-Forschungsstelle der Sächsischen Akademie der Wissenschaften veröffentlicht wurde. Es bereitet Freude und Verdruss zugleich herauszufinden, welche Werke genau nun in die Edition aufgenommen wurden, zumal sowohl die traditionellen Opuszahlen alter Zählung meist neben den MWV-Ziffern stehen. Das geht nicht ohne eigene Vergleichslisten. Die Edition setzt sich im Index aus sechs Gruppen zusammen: Instrumental, Chamber Music, Concertante Music, Orchestral, Vocal, Sacred Music aus. Vocal beispielsweise ist nochmals in die Untergruppen Choral, Lieder, Opera gegliedert. Schnell wird deutlich, was alles fehlt. Mendelssohn hat unendlich viele Chorwerke mit und ohne Begleitung hinterlassen. Immerhin wirkte er auch als Chorleiter. Davon finden sich kaum fünfundzwanzig einzelne Stücke. Sein Liedschaffen ist zwar auch reduziert, wird aber repräsentativer dargeboten. Ohnehin hatten sich die deutschen Plattenfirmen auf diesem Gebiet kein Bein ausgerissen. Wieder kommt Dietrich Fischer-Dieskau das herausragende Verdienst zu, dem Liederwerk zu großer Verbreitung verholfen zu haben. Seine gemeinsam mit Wolfgang Sawallisch einst für EMI – jetzt Warner – produzierten Aufnahmen gehören zu den Glanzstücken der Edition. Neben ihm geben auch Janet Baker, Victoria de los Angeles, Felicitas Lott, Barbara Bonney, Ann Murray, Karita Mattila und Natalie Stutzmann sowie Thomas Hampson Mendelssohn die Ehre. Die Baker wirkt zudem im Psalm 42 Wie der Hirsch schreit mit, der zu den populärsten Schöpfungen des Komponisten gehört.

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Gemälde von Caspar David Friedrich sind gleich auf mehreren CD-Hüllen zu finden.

Einen deutlichen Akzent in der Sammlung setzt der schweizerische Dirigent Michel Corboz, dem mindestens zwei Generationen ihren Zugang zu Monteverdi verdanken. Seine entsprechenden Einspielungen sind maßstäblich geblieben und letztlich nie vom Markt verdrängt worden. Er galt als glänzender Chorerzieher und hatte dieses Fach an die dreißig Jahre am Genfer Konservatorium gelehrt. Mit dem Ensemble Vocal et Instrumental de Lausanne und dem Choeur Symphonique de la Fondation Gulbenkian de Lisbonne bestreitet er gleich fünf CDs der Abteilungen Sacred Works und Vocal & Choral Works – darunter Die erste Walpurgisnacht. Durch seine Interpretation wird einmal mehr deutlich, warum diese Kantate nach Goethe im Kanon der Werke einen vorderen Platz behauptet. Ausladende Sinfonik, großer Chorsatz und lyrischer Liedgesang gehen eine perfekte Mischung ein, wie sie so nur bei Mendelssohn Bartholdy zu finden ist. Die Solisten – hier die Altistin Brigitte Balleys, der Tenor Frieder Lang und der Bassbariton Gilles Cachemaille – tragen zur packenden Realisierung dieser Mischform bei. Ein Sommernachtstraum steht beispielhaft für die Schauspielmusiken in der Edition. Wenngleich sie eher selten bei Bühnenaufführungen der Shakespeare-Komödie erklingt, hat sie dank ihrer Genialität ein unverwüstliches Eigenleben auf Konzertpodien und im Studio entwickelt. Die Zahl der Einspielungen ist Legende. Warner entschied sich für die Aufnahme mit dem Rundfunkchor Leipzig und dem Gewandhausorchester unter der Leitung von Kurt Masur aus dem Jahr der deutschen Wiedervereinigung 1990. Es singen Edith Wiens und Christiane Oertel. Sprecher ist der in Leipzig wirkende Schauspieler Friedhelm Eberle. Opern bzw. Singspiele sind im Schaffen von Mendelssohn nur eine Randerscheinung. Insofern muss eine Edition, die nicht auf das Gesamtwerk aus ist, mit zwei Einaktern auskommen: Die Heimkehr aus der Fremde von 1977 – der Komponist bezeichnete das Werk als Liederspiel – und Die beiden Pädagogen von 1978. An der Besetzung wurde nicht gespart. Beide Male kommen der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Münchner Rundfunkorchester unter seinem damaligen Chefdirigenten Heinz Wallberg zum Einsatz. Das gilt auch für Fischer-Dieskau als Kauz und Kinderschreck. In der Heimkehr steht auch Peter Schreier, der bei der DDR-Firma Eterna ebenfalls vorzügliche Mendelssohn-Lieder einspielte, als Hermann auf der Besetzungsliste. Mit dem Tenorpart des Carl bringt sich Adolf Dallapozza in schönste Erinnerung. Die jeweils ersten Soprane sind Helen Donath (Lisbeth) und Krisztina Laki (Elise).

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Felix Mendelssohn Bartholdy war auch malerisch begabt und hat diese Bild von der Amalfiküste hinterlassen.

Wie ein gewaltiges Gebirge ragen die beiden großen abendfüllenden Oratorien nach Bibel-Worten aus dem Gesamtwerk – und damit auch aus der Sammlung hervor. Paulus wurde 1976 und 1977 mit Rafael Frühbeck de Burgos am Pult der Düsseldorfer Symphoniker eingespielt. Die Sängerbesetzung ist mit Helen Donath, Hanna Schwarz, Werner Hollweg und Dietrich Fischer-Dieskau exklusiv. Alle drei bringen Opernerfahrungen ein, was der Umsetzung zu Gute kommt. Obwohl Frühbeck bei EMI auch einen Elias vorgelegt hatte, fiel die Wahl bei diesem Werk, das sich ohne lange Einleitung wie aus dem Nichts erhebt, auf den US-amerikanischen Dirigenten James Conlon. Er war von 1990 bis 2003 Chefdirigent der Kölner Oper und des Gürzenich-Orchesters. In diese Zeit fällt auch die Aufnahme mit dem Kölner Klangkörper, Mitgliedern des Windsbacher Knabenchores und dem Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf. Sie entstand 1996 in der Düsseldorfer Thomaskirche, einem Neubau aus den späten 1950er Jahren, der der Klangentfaltung gewisse Grenzen zu setzen scheint. Deutlich wird das bei den Chören, die auch im Elias eine ganz entscheidende Rolle spielen und eng mit den Partien der Gesangssolisten verflochten sind. Dieses feine Geflecht, das sich erst mit der Erfindung der Stereophonie auf Tonträgern perfekt einfangen ließ, entfaltet sich unter den gegebenen akustischen Umständen exzellent, während gewaltige Steigerungen etwas auf der Strecke zu bleiben drohen. Der Komponist selbst sprach in einem Brief an den Jugendfreund Karl Klingemann von „recht dicken, starken, vollen Chören“. Der Bassbariton Andreas Schmidt ist mit damals Mitte dreißig ein noch junger Prophet Elias, der seinen starken Kampfesgeist und auch seine Verzweiflung mit einer Portion Milde, die seinen damaligen stimmlichen Fähigkeiten entspricht, versieht. Des Weiteren wirken mit Andrea Rost (Witwe), Cornelia Kallisch (Königin), Deon van der Walt (Ahab/Obadiah). Noch am Anfang ihrer erfolgreichen Karriere steht Anne Schwanewilms, damals noch vor dem Fachwechsel als Contralto II.

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Tischbeins Gemälde Goethe in der Campagna Romana erinnert daran, dass der junge Felix 1821 vor dem alten Dichter in Weimar spielte.

Was noch? Die Sinfonien natürlich, mit denen sich mein Kollege Daniel Hauser beschäftigt hat:
In Sachen Mendelssohn in der ehemaligen DDR kommt dem Dirigenten Kurt Masur das unbestreitbare Verdienst zu, sich für dessen Werke besonders eingesetzt zu haben. Obwohl der jüdisch geborene Komponist unter dem NS-Regime faktisch (wenn auch nicht offiziell) von den deutschen Spielplänen verschwand – man denke an den Versuch der Nazis, Mendelssohns Violinkonzert durch das seinerzeit in diesem Zusammenhang uraufgeführte Schwesterwerk Schumanns zu ersetzen –, fand seine Musik nach Kriegsende keineswegs sofort in die Konzertsäle zurück. Eine anhaltende Abwertung, durchaus antisemitisch konnotiert, hielt sich noch einige Jahrzehnte nach 1945. So nimmt es nicht wunder, dass von bedeutenden deutschen Dirigenten dieser Generation so gut wie kein Mendelssohn aufgeführt wurde. Interessanterweise setzte die wiederauflebende Mendelssohn-Pflege auch im sozialistischen Ostdeutschland nicht bereits in den 1950er Jahren ein. Hier nun kommt Masurs Einsatz zum Tragen. Zwar spielte bereits Franz Konwitschny mit dem Gewandhausorchester Leipzig im Juni 1962 die Schottische Sinfonie für Eterna in der Heilandskirche Leipzig ein – die erste DDR-Einspielung einer Mendelssohn-Sinfonie überhaupt –, doch machte sein im Monat danach erfolgtes unerwartetes Ableben einer etwaigen Fortsetzung einen Strich durch die Rechnung. Erst sein Nachnachfolger als Gewandhauskapellmeister, eben Kurt Masur, wurde 1971/72 mit der Ersteinspielung eines kompletten Zyklus der fünf Sinfonien von Mendelssohn beauftragt. Es ist wohl kein Zufall, dass die Leipziger zum Zuge kamen, war Mendelssohn selbst ja in den Jahren 1835 bis 1847 ebenfalls an der Spitze des altehrwürdigen Orchesters gestanden.

Als Aufnahmestätte für diesen ersten Zyklus unter Masur diente die Versöhnungskirche Leipzig. Er erschien bereits 1972 auf vier Langspielplatten auch bei Eurodisc und kam 1990 beim selben Label erstmals als CD-Set heraus, 1994 noch einmal als Neuauflage bei RCA. Seit 30 Jahren scheinen diese Aufnahmen indes nicht mehr ohne weiteres greifbar zu sein. Eine zweite, nun digitale Gesamteinspielung der fünf Sinfonien entstand als Koproduktion der Eterna mit Teldec zwischen August 1987 und Juni 1989 wiederum mit dem Gewandhausorchester unter Masur. Diesmal wählte man das Neue Gewandhaus als Aufnahmeort. Diese neueren Einspielungen wurden um 1990 bei Teldec erstmals einzeln auf CD aufgelegt und erlebten 2016 bei Warner eine Neuauflage als Gesamtbox (ergänzt um die 13 Streichersinfonien). So verständlich der Wunsch nach einer zeitgemäßen Neueinspielung unter Ausnutzung der modernsten Tontechnik Ende der 1980er Jahre auch gewesen sein mag, so relativierte die schließlich massenhaft erfolgte CD-Übernahme älterer Analogaufnahmen diese Entwicklung doch aus heutiger Sicht. Die beiden Masur-Zyklen unterscheiden sich rein interpretatorisch nur geringfügig. Die Spielzeiten sind nahezu identisch, im Falle der 1. Sinfonie ließ Masur in der Digitalaufnahme die Wiederholung im Kopfsatz spielen. Was allerdings verwundert, ist der detailreichere und letztlich idealere Klang der älteren Produktion. Die Neueinspielung hat im direkten Vergleich ein etwas verwascheneres Klangbild und bietet in dieser Hinsicht trotz der häufig als ausgezeichnet beschriebenen Gewandhaus-Akustik keinen Vorteil. Dass sich Warner gleichwohl in seiner Neuerscheinung für den digitalen Zyklus entschied, ist labeltechnisch bedingt. Die Rechte am analogen Vorgängerzyklus liegen bei RCA und somit bei Sony.

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Mit zwölf Jahren wurde Felix Mendelssohn Bartholdy von Carl Joseph Begas gemalt.

Künstlerisch gibt es da wie dort wenig an Masurs Mendelssohn auszusetzen, doch fehlt andererseits auch ein gewisser Aha-Effekt. Sein Ansatz vermeidet die Extreme und bietet gewiss einen adäquaten Einstieg in die sinfonische Welt des Komponisten. Freilich ließe sich für jede der fünf Sinfonien eine noch referenzträchtigere Alternative benennen. Bei der Schottischen träte gewiss neben dem bereits genannten Konwitschny der hier überragende Otto Klemperer (EMI/Warner) hinzu (obwohl dieser die Coda des Finalsatzes nicht sonderlich mochte und in einer Live-Aufnahme beim BR auch eine eigens komponierte Alternative zu Gehör brachte). Was die Italienische angeht, darf der Verweis auf den heißblütigen jungen Lorin Maazel (DG) nicht fehlen. Erstaunlich gehaltvoll die Reformationssinfonie in der monumentalen Einspielung unter Riccardo Muti (EMI/Warner), gleichsam als Gegenpol zu den ungemein feurigen Darbietungen von Charles Munch (RCA) und Paul Paray (Mercury). Was den Lobgesang betrifft, sei der Hinweis auf die zunächst unscheinbare Einspielung Karl-Friedrich Beringers mit dem exzellenten Windsbacher Knabenchor erlaubt (Hänssler). Die Erste als Cinderella wurde selten außerhalb von Gesamtaufnahmen bedacht. Louis Lane spielte sie mustergültig nebst alternativem Scherzo ein (CBS/Sony).

Hinsichtlich alternativer kompletter Gesamtaufnahmen sei an dieser Stelle auf Peter Maag (Arts), Herbert von Karajan (DG), Claudio Abbado (DG) und Wolfgang Sawallisch (Philips) verwiesen. Rüdiger Winter/Daniel Hauser

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ORCHESTERWERKE – Symphonien Nr. 1-5; Streichersymphonien Nr. 1-12; Sinfoniesatz c-moll (Streichersymphonie Nr. 13); Ein Sommernachtstraum-Ouvertüre op. 21; Die Hebriden-Ouvertüre op. 26; Meeresstille und glückliche Fahrt op. 27; Märchen von der schönen Melusine-Ouvertüre op. 32; Athalie-Ouvertüre op. 74; Heimkehr aus der Fremde-Ouvertüre op. 89; Ruy Blas-Ouvertüre op. 95
KONZERTE – Klavierkonzerte Nr. 1 & 2; Klavierkonzert a-moll; Capriccio brillant op. 22 für Klavier & Orchester; Rondo brillant op. 29 für Klavier & Orchester; Violinkonzert op. 64; Violinkonzert d-moll; Konzert d-moll für Violine, Klavier, Streicher; Konzertstücke Nr. 1 F-Dur op. 113 & Nr. 2 d-moll op. 114 für Klarinette, Bassetthorn, Orchester
KAMMERMUSIK – Violinsonate F-Dur; Flötensonate F-Dur (nach der Violinsonate); Cellosonaten Nr. 1 & 2; Klaviertrios Nr. 1 d-moll op. 49 & Nr. 2 c-moll op. 66; Klavierquartette Nr. 1-3; Klaviersextett D-Dur op. 110; Streichquartette Nr. 1-6; 4 Stücke für Streichquartett op. 81; Streichquintette Nr. 1 A-Dur op. 18 & Nr. 2 B-Dur op. 87; Streichoktett Es-Dur op. 20
KLAVIERWERKE – Lieder ohne Worte Hefte 1-8 (op. 19b, 30, 38, 53, 62, 67, 85, 102); Albumblatt e-moll op. 117; Gondellied A-Dur WoO 10; Rondo capriccioso E-Dur op. 14; Variations serieuses op. 54; Fantasie fis-moll op. 28 „Sonate ecossaise“; Fantaisies (Capricen) op. 16; Kinderstücke op. 72; Andante con variazioni op. 82; Capriccio fis-moll op. 5 (in zwei Einspielungen); Preldues op. 104a Nr. 1-3; Etüden op. 104b Nr. 1-3 (in zwei Einspielungen); Caprices op. 33 Nr. 1-3; Klaviersonate Nr. 1; 6 Präludien & Fugen op. 35; Ouvertüre & Scherzo für 2 Klaviere aus Ein Sommernachtstraum
ORGELWERKE – 3 Präludien & Fugen op. 37; Orgelsonaten op. 65 Nr. 1-6; Fugen A-Dur, e-moll, F-Dur, g-moll, d-moll, d-moll; Andante con variationi D-Dur; Präludien c-moll & d-moll; Allegro B-Dur; Fantasie & Fuge g-moll; Minuetto G-Dur; Ostinato c-moll; Andante D-Dur; Choralvariationen über „Wie groß ist des Almmächt’gen Güte“; Marsch der Priester aus Athalia op. 74; Variations serieuses op. 54; Hochzeitsmarsch aus Ein Sommernachtstraum op. 61
LIEDER – Lieder im Freien zu singen op. 41 Nr. 1-6; op. 48 Nr. 1-6; op. 59 Nr. 1-6; Lieder op. 100 Nr. 1-4; Neue Liebe; Gruß; Auf Flügeln des Gesangs; Morgengruß; Allnächtlich im Traume; Frühlingslied (op. 47 Nr. 3; op. 19a Nr. 1; op. 34 Nr. 3; op. 71 Nr. 2); An die Entfernte; Schilflied; Auf der Wanderschaft; Minnelied (op. 34 Nr. 1 & op. 47 Nr. 1); Das erste Veilchen; Winterlied; Reiselied (op. 34 Nr. 6 & op. 19a Nr. 6); Winterlied; O Jugend, o schöne Rosenzeit; Da lieg ich unter Bäumen; Erntelied; Volkslied; Wanderlied; Nachtlied; Das Waldschloss; Pagenlied; Bei der Wiege; Das Fenster; Tröstung; Jagdlied; Wenn sich zwei Herzen scheiden; Der Mond; Venezianisches Gondellied; The Harland; Erster Verlust; Andres Mailied; Warnung von dem Rhein; Altdeutsches Lied; Hirtenlied; Schlafloser Auge Leuchte; Scheidend; Gruß; Ich wollt, meine Liebe ergösse sich; Lied aus Ruy Blas; Abendlied; Wasserfahrt; Abschiedslied der Zugvögel; Wie kann ich froh und lustig sein; Herbstlied (op. 63 Nr. 4 & op. 84 Nr. 2); Die Sterne schaun in stiller Nacht; Ich hör ein Vöglein; Frage; Es weiß und räth es dich keiner; Im Grünen; Frühlingsglaube; Des Mädchens Klage; Volkslied; Maiglöckchen und die Blümelein; Infelice; Die Liebende schreibt; Suleika (op. 34 Nr. 4 & op. 57 Nr. 3); Ferne; Verlust; die Nonne; Sehnsucht; Der Blumenstrauss; Im Herbst; Sonntagslied; Romanze; Altdeutsches Frühlingslied; Hark! the Herald Angels sing (nach der Gutenberg-Kantate WoO 9)
VOKALWERKE – Ein Sommernachtstraum-Ouvertüre op. 21 & Bühnenmusik op. 61; Singspiel „Die beiden Pädagogen“; Oper „Die Heimkehr aus der Fremde“ op. 89; Weltliche Kantate „Die erste Walpurgisnacht“ op. 60
GEISTLICHE Werke – Oratorium op. 36 „Paulus“; Oratorium op. 70 „Elias“; Choralkantate „O Haupt voll Blut und Wunden“; Kantaten „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“, „Jesu, meine Freude“, „Wer nur den lieben Gott läss walten“; Psalm 42 „Wie der Hirsch schreit“ op. 42; Psalm 115 „Nicht unserm Namen, Herr“ op. 31; Psalm 98 „Singet dem Herrn ein neues Lied“ op. 91; Psalm 114 „Da Israel aus Aegypten zog“ op. 51; Psalm 55 „Hör mein Bitten, Herr“ WoO 15; Psalm 95 „Kommt, lasst uns anbeten“ op. 46; Lauda Sion op. 73; Kantate WoO 5 „Verleih uns Frieden“; 3 Geistliche Stücke op. 23 „Kirchenmusik“; Lass, o Herr mich Hülfe finden op. 96; Te Deum A-Dur WoO 29; Kyrie d-moll; Denn er hat seinen Engeln befohlen; 3 Psalmen op. posth. (Psalm 2 „Warum toben die Heiden“, Psalm 43 „Richte mich, Gott“, Psalm 22 „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“)

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Künstler: Victoria de los Angeles, Barbara Bonney, Edith Wiens, Helen Donath, Janet Baker, Peter Schreier, Dietrich Fischer-Dieskau, Philippe Huttenlocher, Daniel Adni, Martha Argerich, Khatia Buniatishvili, Cyprien Katsaris, Wolfgang Sawallisch, Andreas Staier, Jean-Jacques Kantorow, Rainer Kussmaul, Maxim Vengerov, Frederic Lodeon, Samson Francois, Sylvia Kersenbaum, Marie-Claire Alain, Wayne Marshall, Olivier Latry, Noel Rawsthorne, Gerard Causse, Emmanuel Pahud, Eric Le Sage, Sabine Meyer, Wolfgang Meyer, Nathalie Stutzmann, Thomas Hampson, Rundfunkchor Leipzig, Choir Of New College Oxford, Kammerchor Stuttgart, Alban Berg Quartett, Artemis Quartett, Cherubini Quartett, Domus, Eder Quartet, Kreuzberger Streichquartett, Quatuor Arod, Viotti String Quartet, Trio Fontenay, Gewandhausorchester Leipzig, London Symphony Orchestra, Concerto Köln, Franz Liszt Chamber Orchestra, Academy of St. Martin in the Fields, Orchestre d’Auvergne, Berliner Philharmoniker, New Philharmonia Orchestra, Ensemble Orchestral de Paris, Münchner Rundfunkorchester, Staatskapelle Dresden, Gulbenkian Orchestra, Düsseldorfer Symphoniker, Gürzenich-Orchester Köln, City of London Sinfonia, Sergiu Celibidache, James Conlon, Michel Corboz, Rafael Frühbeck de Burgos, Kurt Masur, Riccardo Muti, Heinz Wallberg, Aldo Ceccato, Janos Rolla, Nikolaus Harnoncourt, Moshe Atzmon, John Nelson, Colin Davis, Edward Higginbottom; Label: Warner, ADD/DDD, 1961-2016; / jpc