Barockes Gefühlslabyrinth

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Francesco Cavallis L´Egisto, uraufgeführt 1643 in Venedig, zählt zu den ersten Werken des Frühbarock, welche in moderner Zeit wiederbelebt wurden. Ein Pionier in dieser Bewegung war Raymond Leppard, der die Favola drammatica musicale bereits 1971 für die Decca aufnahm. 1973 folgte René Jacobs mit seiner Einspielung bei harmonia mundi. Das Label Château de VERSAILLES ist heute führend in der diskographischen Aufarbeitung des barocken Erbes – vor allem natürlich der französischen Kompositionen. Aber auch Werke italienischer Meister stehen im Fokus, wie jetzt die Veröffentlichung von Cavallis L´Egisto belegt. Die Aufnahme entstand im März 2021 in der Opéra Royal du Château de Versailles und wurde auf zwei CDs veröffentlicht, wie stets bei diesem Label von einem prachtvollen Booklet mit farbigen Abbildungen und Einführungstexten in mehreren Sprachen begleitet (CVS076).

Im Libretto von Giovanni Faustini geht es um die erotischen Verflechtungen von zwei Paaren – der arkadischen Hirten Clori und Lidio sowie Egisto und Climene -, ergänzt um den beharrlich an Clori interessierten Hipparco, Climenes Bruder. Dazu gesellt sich die Dienerin Dema, eine komische Travestiefigur, wie sie in der venezianischen Oper des 17. Jahrhunderts Tradition hatte. Sie ist frustriert wegen der entschwundenen Jugend und der immer selteneren sexuellen Abenteuer. Schließlich finden sich im Personal noch mythologische Figuren wie Venere, Apollo und Amore sowie kapriziöse Göttergestalten wie Bellezza und Volupia.

Mit seinem 1998 von ihm gegründeten Ensemble Le Poème Harmonique sorgt Vincent Dumestre für eine vitale, unterhaltsame Interpretation mit reichen Farbkontrasten, zu der auch die im Stil des recitar cantando prägnant artikulierende Sängerbesetzung beiträgt. Der Bari-Tenor Marc Mauillon ist ein empfindsamer junger, in seinen Gefühlen verwirrter Titelheld. Seine Climene ist die französische Mezzosopranistin Ambroisine Bré,  die ihre Partie mit Delikatesse und Wohllaut ausfüllt. Ähnlich kultiviert und angenehm süß klingt die belgische Sopranistin Sophie Junker als ihre Konkurrentin Clori. Ihr Lidio ist der amerikanische Tenor Zachary Wilder mit weicher, schmeichelnder Textur, der Bariton Romain Bockler der sie begehrende Hipparco. Der britische Tenor Nicholas Scott gibt mit lautmalerischen Extravaganzen eine köstliche Karikatur der Dema in ihren Zuständen der Gefühlsverwirrungen. Eine ähnlich hinreißende Studie liefert der Haute-contre David Tricou als La Notte mit exaltierter Stimmgebung und Apollo (18. 094. 24). Bernd Hoppe