Das Orchester als Protagonist

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Die Oper heißt Katya Kabanova, aber sie müsste eigentlich Die Wolga oder Das Unwetter oder Der aufgehende Mond heißen, so wie die Textvorlage Ostrowskis, nach der Leos Janaček  sein Werk schuf, Das Gewitter heißt. Nicht die Sänger sind die Protagonisten, sondern das Orchester, das alle diese wunderbaren Naturereignisse zaubert und das es nur als konsequent erscheinen lässt, dass die unglückliche Titelheldin sich dem Sog des allgegenwärtigen Gewässers nicht entziehen kann und den Tod in ihm sucht. Die zweite Gesamtaufnahme einer Janaček-Oper nach Das schlaue Füchslein durch Simon Rattle und das London Symphony Orchestra ist ein Wunder an Naturstimmungen und macht einmal mehr deutlich, dass jede Produktion, die die Natur aussperrt wie die Inszenierung von Andrea Breth für die Berliner Staatsoper 2014 im Schillertheater ein Irrtum ist,   so dass man dem Dirigenten seine Mitwirkung an demselben eigentlich nicht verzeihen dürfte. Neben dem üppigen, farbigen Orchesterklang nimmt sich der ariose Sprechgesang zumindest streckenweise weniger ausdrucksstark aus, vermittelt sich die Sehnsucht der Katya nach Liebe im Intermezzo des ersten Akts mindestens ebenso stark wie in ihrem Gesang. Akustische Wunderwerke werden vollbracht im sanften Umspielen der Stimmen im zweiten Akt (schließlich ist der Dirigent mit einer Sängerin verheiratet), im Aufbau der Spannung vor dem Gewitter, im einfühlsamen Begleiten der Schilderung Katyas, wenn sie sich an ihre glücklichere Jugend erinnert.

Das Werk ist eine Huldigung Janačeks an seine 35 Jahre jüngere Liebe Kamila Stösslova, eine verheiratete Frau, die unerreichbar für ihn blieb, und es ermutigt auch nicht gerade zu einem Seitensprung, denn die Männer erweisen sich durch die Bank als schwach, selbst der herrisch auftretende Dikoj, der sich seiner Verantwortung entziehende Boris oder Katias Mann Tichon, der sich als Muttersöhnchen erweist und seine Ehefrau der herrischen Schwiegermutter, die wiederum abhängig vom Urteil der Gesellschaft ist, ausliefert.

Die konzertante Aufnahme stammt vom 11. und 13. Januar 2023, vor Jahren gab es bereits in der Berliner Phiharmonie ein Konzert unter Simon Rattle mit Karita Mattila als Katya und Deborah Polaski als Kabanicha. Letztere wird nun vom ebenfalls einstigen Wagnersopran Katarina Dalayman gesungen, die sowohl matronenhafte wie hysterische Töne vernehmen lässt, zugleich weinerlich und aggressiv klingen kann und zugleich Täterin wie Opfer zu sein scheint. Es gibt drei Tenöre, von denen der Tichon von Andrew Staples das angenehmste Timbre besitzt, eine gute Mittellage und nur in der Höhe etwas enger werdend. Den Liebhaber Boris, der Katia feig im Stich lässt, wird von Simon O’Neill mit heller, lyrischer, auch scharf werdender Stimme gesungen. Emanzipierter gibt sich der Kudrjas von Ladislav Elgr, Muttersprachler mit typisch slawischem Tenor, der das mährische Volkslied wie mit einer Naturstimme singt. Ihm folgt nach Moskau die Warwara von Dirigentengattin Magdalena Kožená mit leuchtendem  Timbre die relativ kleine Partie der Warwara aufwertend. Sein Freund Kulgin ist Lukaš Zeman mit sonorem Bariton. Resignation und Untertänigkeit vermittelt trotz nur kurzen Auftritts der Mezzosopran von Claire Barnett-Jones in der Partie der Glasa. Zunächst polternd und dann zunehmend auch in Weinerlichkeit versinkend zeigt der Bassbariton von Pavlo Hunka für den Dikoj Fassade wie Innerstes einer zwiespältigen Persönlichkeit.

Viele Facetten der unglücklichen Katya kann der Sopran von Amanda Majeski, einer Amerikanerin, die 2019 mit großem Erfolg als Katya an Covent Garden debütierte, vermitteln. An der Met ist sie vor allem als Mozartsängerin bekannt, in Chicago sang sie aber auch die Marschallin und die Meistersinger-Eva. Für Katia besitzt der Sopran einen schönen Glockenton, kann er bruchlos aufblühen in weit gespannten Bögen und lotet er ein weites Spektrum zwischen zarter Klage und stählernem Aufbegehren aus. Bei einer solchen Leistung erscheint dem Hörer das Urteil Simon Rattles, es handle sich bei ihr um die  „Katya der Stunde“ nicht als Publicity, sondern zustimmungsfähige Überzeugung, gerechtfertigt (LSO L500889 25ACD). Ingrid Wanja