Archiv für den Monat: August 2023

Sempre Gomes

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Carlos Gomes ist operalounge.de-Lesern nun wirklich kein Unbekannter, vielfach haben wir über ihn berichtet und seine Bedeutung für Brasiliens Musiklandschaft hervorgehoben. Und so erfreulicher ist nun die Nachricht: Bei NAXOS gibt es jetzt eine neue Reihe The Music of Brazil, und darin eine CD mit Ouvertüren und Vorspielen aus Opern von Carlos Gomes. Sie ist Teil des Projekts Brasil em Concerto, das vom Außenministerium Brasiliens unterstützt wird, um die Musik des Landes in aller Welt bekannt zu machen. Carlos Gomes ist der bislang bekannteste Vertreter lateinamerikanischer Komponisten. Seine ersten Opern, A noite do castelo (1861) und Joana de Flandres (1862), wurden in der National Academy von Rio de Janeiro uraufgeführt und führten für Gomes zu einem Stipendium am Mailänder Konservatorium. Nach zwei erfolgreichen musikalischen Komödien hatte er dort endgültig Fuß gefasst. 1870 gelang ihm der Durchbruch an der Scala mit seiner bekanntesten Oper Il Guarany. Erst 1896 kehrte er nach Brasilien zurück, um die Leitung des Belém Conservatory zu übernehmen; kurz danach starb er überraschend. Bis dahin schrieb er noch weitere große Opern, die mit Instrumentalmusik auf dieser Aufnahme vorgestellt werden. Im Prelude des 1.Aktes von A noite do castello sind in der experimentellen Instrumentierung schon deutlich dramatische Effekte auszumachen. Ausgeglichener bezüglich der Klangfülle gelang ihm das bereits ein Jahr später mit dem Prelude zum 1.Akt von Joana de Flandre. (Dazu gibt es bei operalounge.de auch einen Opernführer, Die vergessene Oper). Der wuchtige Beginn der ausladenden Ouvertüre zu Il Guaranay kommt da schon intensiver daher, der Klang wird differenzierter. Weitere Entwicklung ist deutlich in den Ouvertüren zu Fosca (1873) und Salvator Rosa (1874 auch hierzu einen Beitrag Die vergessene Oper) auszumachen, nachdem Gomes vor allem Fosca noch mehrfach überarbeitet hatte; dabei wurde das ursprüngliche Prelude noch zur Ouvertüre erweitert. Das Prelude zum 1.Akt der Oper Maria Tudor (1878; a.a.O. 1879) basiert auf zwei gegensätzlichen Themen, dem Rache-Thema des 3.Aktes und dem Marsch der Verurteilten im 4.Akt. Von Gomes‘ reifen Werken erklingt Musik aus Lo schiavo (1889 auch hierzu einen Beitrag Die vergessene Oper) und Condor (1890): Im Prelude zum 1.Akt von Lo schiavo wird eine kurze Einstimmung auf das Stück gegeben, wobei Oboe und Flöte jeweils mit Soli darüber schweben; das Prelude des 4.Aktes – bekannt unter dem Titel Alvorada – kommt  einem symphonischen Gedicht am Nächsten. Seine letzte Oper Condor wird durch das Prelude zum 1.Akt sowie das Nocturne des 3.Aktes präsentiert. Passend zum Sujet, das in Samarkand spielt, werden Orientalismen in die Klangpalette eingeflochten; von kammermusikalischen Phasen bis zu großen Aufschwüngen wird alles ausgeschöpft. Der Dirigent Fabio Mechetti gründete 2008 das Minas Gerais Philharmonic Orchestra, mit dem er seitdem für Einspielungen eng zusammenarbeitet. Dadurch ist auch bei dieser Aufnahme eine sehr ausgeglichene Klanggebung und Differenzierung der unterschiedlichen Grundcharaktere der Opern deutlich geworden. Für Gomes-Liebhaber ist diese CD besonders gut geeignet (NAXOS 8.574409). Marion Eckels

Finnlands größter Komponist vor Sibelius

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Die finnische Musiklandschaft trat erst spät ins Bewusstsein überregionaler Wahrnehmung und teilt insofern das Schicksal anderer Peripherien. Bis heute dominiert unstrittig der Name Jean Sibelius das Bild von der Musik Finnlands in geradezu omnipotenter Weise, was freilich dazu führt, dass andere Komponisten aus dem äußersten Nordosten Europas es schwer haben. Wenn das in Helsinki beheimatete, oft schon verdienstvoll hervorgetretene Label Ondine nun mit Bernhard Henrik Crusell (1775-1838) den „größten Komponisten finnischer Herkunft vor Jean Sibelius“ – so Janne Palkisto im (englischsprachigen) Einführungstext – bedenkt, kann dies gar nicht hoch genug gewürdigt werden. Obwohl die Neuerscheinung (Ondine ODE 1424-2) mit gerade 51 Minuten Spielzeit nur recht mäßig bestückt ist, soll dies mitnichten die Bedeutung dieser Veröffentlichung herabwürdigen.

Geboren wurde Crusell in der Kleinstadt Uusikaupunki (schwedisch: Nystad), im äußersten Südwesten des Landes, das seinerzeit noch zu Schweden gehörte. Glückliche Umstände führten ihn alsbald nach Stockholm, wo er als Erster Klarinettist der Königlichen Hofkapelle, als Komponist und Lehrer für Aufmerksamkeit sorgte. Drei Werke aus seiner späteren Schaffenszeit finden sich nun auf der CD versammelt. Bis Anfang der 1820er Jahre hatte Crusell vor allem für die Klarinette, sein eigenes Instrument, komponiert, darunter jeweils drei Konzerte und Quartette. Von da an widmete er sich anderen musikalischen Genres. Seine einzige Oper Den lilla slavinnan (Die kleine Sklavin) von 1824 erhielt ihren Impuls durch das tragische Ableben seiner gerade 17-jährigen Tochter Maria infolge einer banalen Erkältung. Thematisch beruht der Stoff auf Ali Baba und die vierzig Räuber von René-Charles Guilbert Pixerécourt. Inkludiert wurde die siebenminütige Ouvertüre, die an ihren düsteren Stellen an Webers Freischütz gemahnt, aber auch eine Verwandtschaft mit der Spritzigkeit von Haydns Sinfonik offenbart.

Das hochvirtuose Konzert für Fagott und Orchester entstand 1829 und galt seinem Schwiegersohn Franz Preumayr, dem Gemahl seiner anderen Tochter Sophie, der zudem Crusells Kollege in der Hofkapelle war. Das dreisätzige Werk mit einer Spielzeit von etwa 20 Minuten setzte sich in Kopenhagen, Hamburg, Ludwigslust und Paris rasch als „Schlachtross“ durch. Indem Crusell den seinerzeit sehr populären Boieldieu zitierte, schmeichelte er dem Ego der Pariser.

Noch unter Gustav III. aufgewachsen, erlebte Crusell die stürmische Zeit zwischen der Ermordung dieses Königs und der letztendlichen Etablierung der Dynastie der Bernadotte auf dem schwedischen Thron. Wiewohl Schweden Finnland an das Zarenreich abtreten musste, konnte es Norwegen (welches seinerseits den Dänen verlorenging) hinzugewinnen und auch nach dem Untergang Napoleons halten. Unter dem neuen König Karl XIV. Johann begann ab 1818 eine Rückbesinnung auf die mythologische Vergangenheit. Eine Idealisierung des nordischen Mittelalters ließ die Götter um Odin nach Jahrhunderten in der Versenkung wiederauferstehen. Eine gewichtige Rolle spielt ein diesem Zusammenhang der Historiker, Komponist und Poet Erik Gustaf Geijer. Sein Den siste kämpen (Der letzte Krieger) von 1811 setzte bereits einige Jahre zuvor den Beginn dieser Entwicklung, die sich mit den Gedichten Vikingen (Der Wikinger) und Odalbonden (Der Freibauer) fortsetzte. Crusells 1834 entstandene Vertonung von Den siste kämpen heißt sich etwas sperrig Declamatorium für Rezitation, Chor und Orchester. Die öffentliche Erstaufführung erfolgte indes erst im Dezember 1837 unter Anwesenheit des Kronprinzen (und späteren Königs) Oscar. Die Reaktionen waren eher gemischt und die Musikgeschichte ging bald über dieses eigentümliche Stück hinweg, wozu auch das nur kurze Zeit später, im August 1838, erfolgte Ableben Bernhard Henrik Crusells beitragen haben mag. Von den 23 Spielminuten werden bereits viereinhalb für die stimmungsvolle Introduktion eingenommen.Schon in dieser instrumentalen Einleitung tritt der Chor auf. Obwohl die Musik bereits romantische Anklänge hat, kommt die Rezitation noch klassisch daher, oft (nicht immer) streng abgesetzt vom Orchester. Ein merkliches Talent für einprägsame Melodien tritt immer wieder zutage. Apotheotisch wird das Werk mit dem Einzug des Kriegers in Odins Saal beschlossen und darf als Verherrlichung der sagenhaften Geschichte Skandinaviens verstanden werden.

Die Darbietung dieser nunmehrigen Weltersteinspielungen sind dazu geeignet, das Œuvre Crusells auf hohem Niveau wiederzuentdecken. Dafür sorgt die Darbietung des auf historischen Instrumenten spielenden Helsinki Baroque Orchestra unter Aapo Häkkinnen. Als Solist im Fagottkonzert tritt hinzu Jani Sunnarborg, als Rezitator im Declamatorium Frank Skog sowie die bestens aufgestellte Ingolstädter Audi Jugendchorakademie. Die Klangqualität der im Oktober 2022 im Musiikkitalo in Helsinki eingespielten Aufnahme lässt keine Wünsche offen. Der Text des Vokalwerks liegt im schwedischen Original sowie in englischer Übersetzung bei. Daniel Hauser

Alles Puppen

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Gut zwanzig Jahre nach der Marthaler-Inszenierung unter Sylvain Cambreling mit Angela Denoke in der Titelrolle füllen die Salzburger Festspiele die sehr schmale Auswahl der Katja KabanovaAufführungen auf DVD, die zwischenzeitlich u.a. noch durch die schöne Carsen-Aufführung mit Karita Mattila bereichert wurde, mit einer neuen Variante an. Diesmal aus der Felsenreitschule, vor deren Ausmaßen Barrie Kosky und sein Ausstatter Rufus Didwiszus im August 2022 keine Scheu hatten. Mussten sie auch nicht, so geschickt, wie sie die Breitwand mit den Bewohnern des Städtchens Kalinow an der Wolga füllten, die unseren Protagonisten den Rücken zukehren. Obwohl die Bühne angefüllt mit Menschenmassen ist, sprich mit ein paar hundert Menschenpuppen, bleibt sie im Grunde auf radikale Weise leer. Vor dieser bewegungslosen und gefühllosen Masse lässt Kosky KátŤa Kabanová als hartes Gesellschaftsdrama ohne Dekorationen, Möbel und Versatzstücke ganz auf die Protagonisten bezogen in der Gegenwart (gedämpft farblose Kostüme von Victoria Behr) spielen. Live war das in der Felsenreitschule sicher wirkungsvoller als auf der DVD. Einziger Gegenstand scheint der Gehstock der Kabanicha zu sein, mit der sie ihre Familie knutet und als Domina den ihr ergebenen und hündchenhaft tapsenden Dikoj züchtigt, was Jens Larsen besser spielt als singt. Koskys reduzierte Inszenierung ist größtenteils spannend. Oft auch suggestiv. Nimmt sich freilich auch etwas hilflos aus, wenn Benjamin Hurell als Kudrjáš auf dem Boden hockt und David Butt Philip als Boris nervös und angestochen hin- und herläuft. Butt Philip und Hurell führen die Reihe britischer Janacek-Tenöre fort, Butt Philip etwas schwerer, quasi auf dem Sprung zum jugendlichen Heldentenor, farbloser Hurlett mit keuschem Oratorienton, beide lyrisch beweglich. Ein Kraftpaket garstiger Schwiegermutterfiesheit ist Evelyn Herlitzius, deren schneidend scharf charakterisierte Kabanicha keinen Widerspruch duldet. Klar und eindringlich baut Kosky die Situation auf. Berührend, wie sich Varvara und Katja ihre Träume erzählen, vor allem, da Jamila Balazova und Corinne Winters packend, eindringlich und authentisch mädchenhaft wirken und sich bei ihnen Gesang und Ausdruck auf bezwingende Weise ergänzen und durchdringen. Da merkt man auch immer wieder, wie gut der in Brünn geborene Jakub Hrúša diese Musik mit ihren kleinteilig gebrochenen Gesangslinien beherrscht und sie mit den Wiener Philharmoniker nicht nur in den sprechenden Naturklängen der Zwischenspiele ausspielt. Die fragile Corine Winters ist eine von den schmalen vögelchenzarten Singschauspielerinnen, die zum Hingucken zwingen, keine unverkennbare Stimme, aber eine hingebungsvolle Darstellerin. Vielleicht sollte der Sopran etwas mehr Körper und Volumen haben, doch das spielt keine Rolle, wenn Katja erzählt, dass sie eine Todsünde begangen habe und wie sie sich nach einem anderen Leben außerhalb der trübseligen Ehe mit ihrem hilflosen Mann Tichon (zu alt und unauffällig Jaroslav Břrzina) sehnt. Der einzige Mann, der sie aus der Öde führen könnte, ist Boris, doch David Butt Philips bleibt zu gesichtslos. Wie schon bei der Salzburger Erstaufführung von Janáčeks Tragödie nach Ostrowskis Schauspiel Das Gewitter kommt die Wolga auch diesmal nicht vor (Unitel 809108). Katja lässt sich am Ende durch eine Bodenlucke fallen. Ihr Mann fischt nur noch ihr nasses Kleid heraus.   Rolf Fath

 

Nichts für Kinder

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Jedes große Opernhaus, das etwas auf sich hält, hat in den letzten zwei, drei Jahrzehnten, als deren „Wiederentdeckung“ einsetzte, Engelbert Humperdincks Königskinder auf das Programm gesetzt. Darunter München, Zürich sowie 2012 auch Frankfurt, wo der Königssohn von Daniel Behle gesungen wurde, der auch ein Jahr nach dem Humperdinck-Jahr 2021 – Humperdinck starb 100 Jahre zuvor in Neustrelitz – in der Aufführung aus Amsterdam aus dem Herbst 2022 als erfahrener Prinz zu hören ist.

Das Experiment mit der melodramatischen Schauspielmusik war bei der Münchner Uraufführung 1897 gescheitert. Humperdinck verteidigte die Wahl zwar nachdrücklich, „Ich glaube, dass die Ansätze für eine neue Kunstform gegeben sind… Ich denke natürlich nicht daran, dass sie je den Gesang verdrängen soll, aber neben demselben wird sie sicher von größter Wirkung sein, da, wo Stoff und Form sich nicht für ein gesanglichen Ausdruck eignen. Unsere moderne Oper geht den Weg, der zum Melodram führen muss“. Doch auch für Humperdinck führte der Weg zum Erfolg über eine gängige Opernfassung. Der Uraufführungserfolg an der Metropolitan Opera im Dezember 1910 übertraf den von Puccinis kaum drei Wochen zuvor uraufgeführten Fanciulla del west. Die Kritik feierte „die bedeutendste Oper seit Wagners Parsifal“. Nach 1943 durfte das Werk nicht mehr gespielt werden. Die Librettistin Elsa Bernstein-Porges (1866-1949), die nachdem sie ihre Tätigkeit als Schauspielerin aufgeben musste, unter dem Pseudonym Ernst Rosmer Dramen und Gedichte schrieb, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert. Im Mai 1945 kam sie frei, ihre Schwester überlebte das KZ nicht. Rosmers bzw. Bernstein-Porges‘ symbolistisches Kunstmärchen ist eine bitterböse Parabel über die Hartherzigkeit der Gesellschaft, die Christof Loy in seiner Inszenierung im Stummfilm während der Einleitung zum dritten Akt, der nicht nur hilft, die Brüche der Handlung zu verstehen, sondern ein Bild von der aufgehetzten Bürgerschaft gibt, zu einer politischen Geschichte zuspitzt.

Die Königskinder sind die Gänsemagd und der Königssohn, der aus dem Palast geflohen ist, um die Welt kennenzulernen. Die Hexe prophezeit, dass sie die neuen Herrscher der Stadt sein können, doch die Bürger sehen in ihnen nur armes Pack, das sie aus der Stadt vertreiben. Hungernd irren die Königskinder durch den Wald. Der Königssohn tauscht schließlich seine Krone für ein Brot ein, das vergiftet ist. Beide sterben im kalten Wald, beklagt vom Spielmann und den Kindern. Nichts für Kinder.

Die Düsternis des Märchens kontrastiert in Amsterdam mit einer hellen Bühne, über die die jungen Leute zu Beginn ausgelassen tanzen. In Johannes Leiackers White Box-Bühne oder besser weißer Rundhorizont-Bühne mit der riesigen Linde ist der Hellawald ein helles Tandaradei, über das bunte Blätter rieseln. Selbst die Hexe trägt Barbara Droshins helle Kleidung. Doris Soffel fügt der Galerie bedeutender Partien ihrer Alterskarriere ein kraftvolles Porträt hinzu, durchsetzungsstark, textakzentuiert und mit einer gewissen Allüre. Fröhlichkeit herrscht auch in der Stadt. Die jungen Leute streifen zum „Hellafest und Kinderreigen“ völlig unnötigerweise schnell ihre Kleider ab, ziehen sich weiße Klamotten über ihre Feinripp-Unterwäsche und tanzen um den langen weißen Sommertisch und die weißen Klappstühle. Das ist alles hochdekorativ, ein Sommerfest in bewährter Loy-Manier mit Überschwang in den lustvoll-locker choreographierten Tanzszenen und mit sensiblen Details und berührenden Momenten. Loys Personenregie trägt immerhin gut genug, um auch in der Schneelandschaft des dritten Aktes die Längen der Oper erträglich zu machen. Ebenso dekorativ, der Einfall für das Geigensoli die Musikerin Camille Joubert – zudem als Einzige in schwarzer Konzertkleidung – auf die Bühne zu holen.

An seiner einstigen Wirkungsstätte macht Marc Albrecht mit nachwagnerischer Üppigkeit und fast impressionistischer Stimmungszauberei deutlich, weshalb die Oper als Werk des Übergangs seine Meriten hat (DVD Naxos 2.110789). Mit dem Netherlands Philharmonic Orchestra setzt er aber auch auf die rein musikantisch-kraftvollen, manchmal kraftmeierischen Momente der Musik, die auch das Ensemble mitreißen. Olga Kulchynska verbindet als Gänsemagd treuherzige Backfischmomente mit inniger Lyrik, Daniel Behle wirkt als stimmlich und darstellerisch gereifter Königssohn im Lauf der drei langen Akte ein wenig einfarbig, Josef Wagner nutzt die Möglichkeiten, die ihm die dankbare Partie des Spielmanns gibt, rührend Henk Poort als Ratsältester, viele der kleineren Partien sind weniger markanter besetzt. Rolf Fath

Ausstattungsfilm

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Mit der Zürcher Verlobung hat diese Liebesgeschichte nichts zu tun. The Zurich Affair behandelt eine Liebesbeziehung, die sich gut hundert Jahre vor Helmut Käutners Film von 1957 ereignete, die Beziehung Richard Wagners zur Gattin seines Gönners und Mäzens Otto Wesendonck während seines Zürcher Aufenthalts in einem Haus neben der Villa Wesendonck. Im Zuge der Beziehung schrieb Mathilde einige schwärmerische Gedichte, deren Vertonung Richard als Studien zu Tristan und Isolde nutzte.

Trotz seiner 1,66 Meter gelte der Klavierlehrer und Zukunftsmusiker bereits jetzt als der größte lebende Komponist, begeistert sich der mit seiner Frau gerade erst von Düsseldorf nach Zürich übergesiedelte Otto Wesendonck und setzt sich vehement für den Freund Wagner ein. Bald zieht dieser die skeptischen Zürcher Bürger durch eine Lesung seiner Rheingold-Dichtung in seinen Bann. Bei diesem Anlass trifft Wagner erneut auf Mathilde Wesendonck und das, was Regisseur Jens Neubert „Wagner’s one and only love“ nennt, nimmt seinen Lauf (Naxos NBDO170V). Der international besetzte Film dürfte Zuschauer, die mit Wagner und seinen Zürcher Jahren nicht vertraut sind, einigermaßen in gespannte Aufmerksamkeit versetzten, um den Ereignissen in der Villa Wesendonck und der Zürcher Bürgerschaft zu folgen. Neubert hat gut recherchiert. Vor allem Otto Wesendonck ist gut gezeichnet. Neubert zeigt Ottos Großzügigkeit, seine Zuwendungen und Geschenke einerseits und seinen Geschäftssinn auf der anderen Seite, auch seine Versuche, Wagner zum Dirigieren zu überreden und ihm dadurch ein Auskommen zu sichern. Dem stehen die  Kleingeistigkeit der Gegner mit den bekannten Aussagen wie eine artige Zitaten-Sammlung gegenüber, beispielsweise vom „Huren-Aquarium“, oder den Auslassungen über Wagners Marotten, das Baden im kalten See usw. Otto philosophiert über soziale Fragen, Zivilisation und Wohlstand, wobei Rüdiger Hauffe eine gute Figur macht und überhaupt als kultivierter und hoch gebildeter Geschäftsmann viel sympathischer erscheint als man das gemeinhin annehmen mochte. In den Gesprächen verleiht Roland Bonjour dem Schweizer Politiker Johann Sulzer ein wenig Profil, Patrick Rapold dem Franz Liszt. Weitere historische Figuren wie Georg Herwegh, Johann Bernhard Spyri oder Gottfried Keller werden kaum greifbar, auch nicht Cosima und Hans von Bülow. Vielfach belässt es der Film bei blutleer langweiligem Aufsage-Theater. Die Zurich Affair ist ein präsentabler Ausstattungsfilm, der das Hotel Baur au Lac und die Wesendonck Villa in ihrer großbürgerlichen Pracht ebenso erfasst wie die Ansichtskartenbilder der Bergwelt und dabei über Stoffe und Kostüme streift, wie es Wagner wohl gefallen hätte. Aber die Zwischen- und Untertöne in der Richard-Mathilde-Otto Dreierbeziehung werden doch nur gestreift. Da hat so manche Tristan-Inszenierung mehr an Zwischentönen und Spannungsbögen geliefert. So seltsam glatt bleiben auch viele darstellerische Leistungen, vor allem der amerikanischen Schauspielerin und Sängerin Sophie Auster als Mathilde, während der Finne Joonas Saartamo als Wagner vor allem den getriebenen Egomanen gibt. Schön der Auftritt von Michael Volle als Kleinstadt-Sänger in einer kurzen Sequenz mit dem Holländer.   R.F.

Hören statt sehen

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Orfeo hat Columbus von Werner Egk neu aufgelegt (C240032). BR – das Logo des Bayerischen Rundfunks findet sich nun auf dem Cover deutlicher herausgestellt. Bei dem Werk handelt es sich um kein herkömmliches Musikdrama. Es ist eine Funkoper, die gehört und nicht gesehen werden soll. Insofern ist sie bei einem Radiosender genau richtig. Es gibt noch einen sehr viel direkteren Bezug. Columbus war ein Auftrag des Bayerischen Rundfunks und wurde am 13. Juli 1933 erstmals gesendet. Der Sender hat seinen Namen bis heute behalten. Egk, der auch den Text verfasste, bezeichnete seinen Columbus als „Bericht und Bildnis“. Er griff auf historische Quellen über den Seefahrer zurück, der immer noch als Entdecker Amerikas gepriesen wird, obwohl das historische widerlegt ist. Gegliedert in neun Bilder ist die Handlung die nämliche. Wurden Funkopern auf der Schwelle von den zwanziger zu den dreißiger Jahren zunächst als Bearbeitungen von herkömmlichen Werken mit Erzähler für das neue Medium verstanden, bildete sie sich schließlich als eigene Gattung heraus. Ein solches Werk sollte wie ein Hörspiel also ganz bewusst ohne die Darstellung auf einer Bühne auskommen.

Im Booklet findet sich ein sehr informativer Text der Musikwissenschaftlerin Helga-Maria Palm. Darin wird auch die Geschichte der Funkoper umrissen. Der aus Bayern stammende Egk empfing seine ersten Eindrücke für die neue musikalische Form im Berlin, wo er auch 1928 die Uraufführung der Dreigroschenoper von Brecht und Weill miterlebte. Sein großes Vorbild aber sei Oedipus Rex von Stravinsky gewesen, heißt es. Führe dort ein Sprecher durch das Stück, so dramatisiere Egk die Idee des Kommentators. „Die musikalische Konzeption basiert auf dem Wechsel von chorischen, solistischen und instrumentalen Episoden.“ Neun Jahre nach der Erstsendung sei Columbus 1942 ein echter Opernheld geworden. „Hans Konwitschny dirigierte in Frankfurt die Bühnenfassung; ein legitimer, aber zweifelhafter Versuch.“ Denn auf der Bühne müsse der experimentelle Charakter des Werkes, die szenisch-dramatischen Vorgänge allein durch das Hören glaubhaft zu machen, verloren gehen, so die Autorin, der ein kleiner Irrtum unterlief. Konwitschny, damals Musikdirektor und musikalischer Leiter des Frankfurter Opernhauses, hieß Franz. Er und der Komponist sollten sich nicht mehr aus den Augen verlieren. 1957 kam Egk auch nach Ostberlin, wo an der Staatsoper Unter den Linden, Konwitschny – inzwischen deren Generalmusikdirektor – seinen Revisor dirigierte. Peer Gynt folgte 1961 kurz vor dem Bau der Mauer.

Eine rätselhafte Unbekannte: Die argentinische Sopranisten Lia Montoya singt als Königin Isabella. Foto / Discogs

Mit den Worten der Musikwissenschaftlerin zurück zur Funkoper: „Der Hörer sollte mit den modernen technischen Mitteln zu einem aufregenden Hörerlebnis gelangen. Die technisch-akustischen Möglichkeiten eröffneten zusätzliche Aktionsebenen. Textverständlichkeit war am wichtigsten.“ Als Egk im Januar 1963 im Herkulessaal der Münchner Residenz das Werk unter Studiobedingungen aufnahm und dabei selbst dirigierte, fand er ein erlesenes Ensemble vor, das diese Bedingungen zu erfüllen in der Lage war. In der Titelrolle der österreichische Bariton Ernst Gutstein, mit der Interpretation zeitgenössischen Werke genauso erfahren wie Fritz Wunderlich als König Ferdinand. Sie hinterlassen die stärksten Eindrücke, so dass man sich vornimmt, wieder mehr solche Musik zu hören. Wolfgang Anheisser (Dritter Rat), Max Pröbstl (Mönch) und Friedrich Lenz (Vorsänger) gehören mit dem Schauspieler Rolf Boysen ebenfalls zum Ensemble. Was die beschworene Textverständlichkeit angeht, ist die argentinische Sopranisten Lia Montoya als Königin Isabella nicht perfekt besetzt. Es scheint ihre einzige offizielle Aufnahme zu sein. Lediglich auf einem der Sopranistin Liane Synek gewidmeten LP-Album von Melodram ist sie 1962 in Köln noch als Sophie im Schlussterzett des Rosenkavalier neben Hanna Ludwig als Octavian zu hören. Rar wie ihre Dokumente sind die biographischen Angaben. Die einschlägige Literatur und das Netz geben sich so zugeknöpft wie das Booklet, in dem auch darauf verzichtet wurde, die abgebildeten Sänger zu benennen, die bei einer szenischen Columbus-Aufführung am 3. Mai 1960 im Prinzregententheater mitwirkten. Rüdiger Winter

Liebeswerk

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Zumindest partiell ein Lebens-, ganz bestimmt aber ein Liebeswerk ist Dieter David Scholz`dreihundert Seiten umfassendes Buch mit dem Titel Jacques Offenbach und dem eine kämpferische Auseinandersetzung vermuten lassendem Untertitel Ein deutsches Missverständnis. Nur partiell, da neben Offenbach auch andere Komponisten, so besonders Richard Wagner , den Autor beschäftigen, allerdings dem Sachsen nicht dessen Zuneigung wie dem Deutschfranzosen zuteil wird, wie nicht zuletzt die Benennung der Wagner-Nase mit „Zinken“ verrät, während das nicht unauffällige Riechorgan Offenbachs keine Erwähnung findet. Ein Text, der in anderer Form bereits in einem Wagner-Buch des Autors erschienen ist, versieht den Leser mit zusätzlichem Material zum Thema Wagner. Mit etwas Stirnrunzeln liest man, dass Wagner die Schwachen verlacht habe, Offenbach die Starken, wobei es zu lachen bei Wagner nicht viel gibt, Beckmesser als Merker und Stadtschreiber so schwach nicht ist.

Die Vielseitigkeit des vorliegenden Bandes zeigt sich darin, dass er auch ein chronologisches Verzeichnis der Werke Offenbachs, eine Übersicht über Werke zu Offenbach und eine Offenbach-Diskographie enthält.

Worin das Missverständnis der Deutschen in Bezug auf Offenbach besteht, wird sehr schnell und immer wieder klar: Es ist einmal die Bezeichnung von Offenbachs sehr unterschiedlichen Werken als Operette, während der  Komponist selbst nur einen Teil seiner Einakter mit dieser Gattungsbezeichnung versah, und  es ist zudem die Annahme, es gebe eine Entwicklungslinie, die von Offenbachs Werken direkt zur Wiener Operette führe. Erst 1950 findet man nach Scholz bei Alfred Einstein den allein zutreffenden Begriff der Opéra bouffe, und noch 2018 musste sich Peter Hawig gegen eine „Willkür von Begrifflichkeiten“ verwehren. Von Matthias Attig stammt das Bekenntnis zur „Offenbachiade“, das noch besser als alle anderen Begriffe die Einmaligkeit des offenbachschen Werks deutlich macht, das in dieser Form, voller Satire, Ironie, Freizügigkeit und Geschliffenheit, nur im Zweiten Kaiserreich entstehen und überleben konnte, nach dessen Ende mit Schrecken sich Offenbach anderen Gattungen, schließlich der Oper Hoffmanns Erzählungen, die unvollendet blieb, zuwandte.

Natürlich äußerten sich bereits Zeitgenossen zu Offenbach, so Heinrich Heine, mit dem ihm vieles, so Herkunft und Exil, verband, Rossini, der ihn als Mozart der Champs- Eliysees bezeichnete, Nietzsche und Karl Kraus, letzterer allerdings kein Zeitgenosse.

War ein verzerrtes Offenbachbild nicht zuletzt wegen dessen Judentums und infolge der im Krieg von 1870/71 gipfelnden deutsch-französischen Erbfeindschaft in Deutschland beinahe eine Selbstverständlichkeit, so kam es doch mit der Zeit zu von Abneigung oder gar Hass freien Einschätzungen, die der Verfasser in chronologischer Abfolge mit Erste Korrekturen eine verzerrten Offenbachbildes, Durchbruch zu einem sachlichen Offenbachbild und Das neue Offenbachbild betitelt. Dabei ist zu beobachten, dass zwar die Wertschätzung des Komponisten und seiner Librettisten immer mehr zunimmt, allerdings von der Nazizeit und in anderer Form auch in der DDR unterbrochen, der Begriff Operette für Offenbachs Werke aber von einer so unverständlichen wie trotzigen Langlebigkeit ist. So werden Autor für Autor oder auch Lexika einer strengen Prüfung unterworfen, für ihre Einsichten in die Bedeutung Offenbachs für die Musikgeschichte gelobt, aber zwangsläufig immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, sich des falschen Begriffs Operette für Offenbachs Werke zu bedienen. Genüsslich wird auch wiederholt darauf hingewiesen, dass die Barcarole nicht in „heimeliger Venedig-Kulisse“, sondern zunächst in Offenbachs erst in den letzten Jahren wieder öfter gespielter Oper „Die Rheinnixen“ auftauchte, und dass der rauschhafte Tanz in „Orpheus in der Unterwelt“ kein Cancan, sondern ein Galopp ist.

Vom Autor oder von Gastautoren stammen interessante Beiträge über Offenbachgesellschaften und Offenbach-Aufführungsorte wie Wien oder Bad Ems, über das Kölner Offenbacharchiv und sein dramatische Geschichte, eine Charakterisierung der offenbachschen opéra bouffe wie der der Wiener Operette, die durchweg nicht gut davon kommt. Auch die Bühnenpraxis wird in die Betrachtungen mit einbezogen, so die Offenbachpflege an der Komischen Oper Berlin mit sehr unterschiedlich zu bewertenden Aufführungen, wobei Barrie Kosky mit den seinen, vom Publikum bejubelten, nicht gut wegkommt, da er nicht nur nach Meinung des Verfassers allzu viel Travestie in seine Inszenierungen einbaut und damit eine andere Art der Verfälschung praktiziert. Weitere Aufführungskritiken schließen das ebenso kenntnisreiche wie gut zu lesende Werk ab, das im Nachwort von Peter Hawig noch einmal Wesentliches zusammenfasst, was die offenbachsche Opéra bouffe ausmacht, die nichts ernst nimmt, was ernst genommen werden will, zugleich zeitbezogen und überzeitlich ist, Karikatur, Parodie und Persiflage zu ihren Merkmalen zählt, Partei für die Schwachen nimmt, lyrische Ruhepunkte hat, utopische Träume ernst nimmt, das lustbetonte Gute siegen lässt, Paris zum Zentrum hat und eine Musik, die für “entgrenzte Leichtigkeit“ steht, dem entzückten Ohr bietet.

Eine Bibliographie und ein Namensregister beschließen das überaus inhaltsreiche, vielseitige und inspirierende Buch, das dazu angetan ist, ein deutsches Missverständnis ein für alle Mal auszuräumen. Jacques Offenbach- Ein deutsches Missverständnis; Dieter David Scholz, Königshausen & Neumann; Würzburg 2023, 300 Seiten, ISBN 978 3 8260 7959 7). Ingrid Wanja

Musikalischer Spass

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L’Heure espagnole/Bolero ist die fünfte Einspielung von Ravel-Werken unter der Leitung des versierten Francois-Xavier Roth mit dem Ensemble Les Siècles bei harmonia mundi. Ravels Vorgaben für das komödiantische Sujet der L’heure espagnole erfüllt Roth mit dem Ensemble, das von feinsten Melodiebögen bis zu größten Ausbrüchen mit passenden Farben malt, aufs Beste. So gerät der hier nur knapp 50 Minuten dauernde Einakter äußerst kurzweilig, der die Rafinesse einer Frau anschaulich macht, die zwischen Ehemann und zwei Verehrern schließlich im zunäcst störend hinzukommenden Vierten dank seiner Kraft als Möbelträger durchaus praktische Vorteile erkennt. Ravel hat für die Protagonisten häufig Sprechgesang gewählt, aber daneben durchaus veritable Arien in Miniformat geschaffen. Die Dame, um die sich alles dreht, ist Concepción – Frau des Uhrmachers – die von Isabelle Druet mit wandlungsfähigem Mezzo-Sopran ausdrucksstark gesungen wird; Gipfel der nuancenreichen Interpretation ist ihre Klage über das „jämmerliche Abenteuer“ mit ihren Liebhabern, wenn sie – unterstützt von teils schrägen, fast schrillen Klänge der Instrumente – durch die Oktaven tobt,. Loic Felix gibt den vor allem in seine Uhren verliebten Torquemada mit hellem Tenor, den er locker und leicht mit elegantem Sprachfluss durch alle Lagen führt. Als ganz von der Poesie beherrschter Gonzalve kostet Julien Behr die Gesangslinien sehnsuchtsvoll aus; der Tenor verfügt über klangvolle, freie Höhe und lässt die Sprache förmlich auf der Zunge zergehen. Sein Rivale, der ob seiner Leibesfülle verhinderte Liebhaber Don Inigo Gomez, hat in Jean Teitgen mit großformatigem Bass einen adäquaten Vertreter. Als Maultiertreiber Ramiro erweist sich Thomas Dolié mit bassgrundiertem, teils kräftigem, teils schmeichelndem Bariton erfolgreich im trubeligen Spiel. Ravels Coup, die Story angelehnt an Boccaccios Moral –  „Von allen Liebhabern ist einer erfolgreich, es kommt der Moment beim Zeitvertreib der Liebe, wo der Maultiertreiber an der Reihe ist“ –  mit einem wirbeligen Quintett enden zu lassen, wird von der Sängerin und den Sängern entsprechend bravourös vorgetragen.

Als starker Kontrast zu dem turbulenten Einakter wird die CD von Ravels „Meisterwerk“, dem Bolero ergänzt, der erst im Sommer 1928 entstand und über den er selbst sagte: „Schade nur, dass er überhaupt keine Musik enthält.“ Die Tänzerin und Choreographin Ida Rubinstein hatte Ravel 1927 um die Orchestrierung einiger Tänze von Albeniz’ Klavierzyklus „Iberia“ gebeten, was sich aber zerschlug. Da setzte Ravel auf eine schon lange in ihm wachsende Idee, nämlich ein Stück zu schreiben mit nur einem sich neunmal wiederholenden Thema aus zwei gleich langen Teilen, das nicht entwickelt wird, sondern nur durch stetige Steigerungen in Dynamik und Instrumentierung auf  den Höhepunkt zuläuft. Damit hat Ravel die abendländische Musiktradition verlassen, aber auf seine Weise eine kraftvoll bezwingende Musik geschrieben. Wie sich aus dem ursprünglichen Solo der Kleinen Trommel als Rhythmusgeber und Flöte/Klarinette mit dem erstem sowie Fagott/Klarinette in Es mit dem zweitem Thema über gut 15 Minuten lang der Klang vom kleinsten pianissimo bis zum größten fortissimo aufbaut, das entfaltet auch in dieser Aufnahme seine suggestive Wirkung. Mit den in allen Instrumententruppen tadellosen Les Siècles ist  Francois-Xavier Roth eine sehr gute Einspielung gelungen.

Einziger Wermutstropfen ist das sonst instruktive Beiheft, dass das Libretto nur in Französisch und Englisch angefügt wurde, während die übrigen Texte zu Komponist und Interpreten auch in Deutsch angegeben sind. Ein paar Informationen zu den Sängern wären auch hilfreich gewesen, da nicht jeder Kaufinteressent auf google  Zugriff hat (harmonia mundi HMM 905361).  Marion Eckels

Historisches aus Glyndebourne

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Ganz so alt wie Max Reinhardts Hollywood Sommernachtstraum ist Peter Halls Einrichtung von Brittens A Midsummer Night’s Dreamfür Glyndebourne nicht. Doch seine Inszenierung der Oper, die im Sommer 1981 beim Festival in Sussex Premiere hatte, ist auf ihre Weise die ultimative Inszenierung von Benjamin Brittens 20 Jahre zuvor in Aldeburgh uraufgeführten Shakespeare-Oper oder, wie The Guardian meinte, „… the definitive staging of the work“. Die vielfach veröffentlichte Aufnahme ist nun wieder bei Opus Arte greifbar (OA13731 D), wenige Woche nachdem man Peter Halls gleichfalls liebevoll retrospektive Inszenierung des Albert Herring von 1985 wiederbegegnen konnte. Beide Male dirigiert Bernard Haitink, der seinerzeit die musikalische Leitung des Festivals innehatte. Wie stets sind auch für diese Oper einige der bekanntesten britischen Sänger aufs Land gereist, Felicity Lott und Cynthia Buchan singen die Helena und Hermia, Dale Duesing – er freilich ist Amerikaner – und Ryland Davies ihre Liebhaber Demetrius und Lysander. Lott ist überragend als Helena, Duesing verleiht seinen Figuren stets eine besondere Qualität. Alle vier sind in ihren 30ern, wenngleich sie etwas reifer wirken und die Nahaufnahmen ihnen nicht immer zum Vorteil gereichen. Der schwedische Bass Curt Appelgren erlebte den Höhepunkt seiner Karriere offenbar als in Glyndebourne, wo er Rocco, Basilio und bis 1989 den Bottom sang; übrigens immer noch mit Buchan und Davies. Die berühmtesten Namen sind für das Herrscherpaar Titania und Oberon aufgeboten, die durch ihre Eifersüchteleien die Komplikationen im Wald bei Athen mit den beiden verwirrten Liebespaaren heraufbeschwören. Ileana Cotrubas ist eine exquisite Titania, der im März verstorbene James Bowman hatte seine Bühnenkarriere als Oberon begonnen und blieb stets mit dieser Partie verbunden; noch 2021 sang er bei einem allerletzten Auftritt anlässlich eines Gedenkkonzerts für Steuart Bedford Oberons Monolog ‘I know a bank’. Bemerkenswert der 14jährige Damien Nash als Puck. Alle sind mit spür- und hörbarer Freude und Hingabe bei der Sache, so dass die betuliche, betont werktreue und altmodische Aufführung nicht angestaubt wirkt, eher wie ein Erbstück – das in Glyndebourne bis zum heutigen Tag aufpoliert wird (die Presse titelte griffig, „the magic lives on“). Haitink und das London Philharmonic Orchestra lassen den Wald und die Paare flüstern und wispern, dass die Oper, die mir immer ein klein wenig zu lang erschien, selten länglich wirkt. Den Hauptverdienst am Erfolg der Aufführung hat die Mischung aus naturalistischen und phantastischen Elementen in der Ausstattung von John Bury im Stil des populären britischen Märchenillustrators Arthur Rackham. Üppige Renaissancegewänder für die Herrscher, netten Flügelputz für die kleinen Elfen in den Tudor-Kostümen, eine Eselsverkleidung, wie sie heute kein Weihnachtsmärchen mehr hinbekommt, und schließlich ein Landsitz aus der Shakespeare-Zeit. Doch die Hauptfigur scheint der im Mondlicht unmerklich sich bewegende Wald mit seinem weitarmigen Zweigen und geheimnisvollen Blättern zu sein. Es bleibt eine zauberhafte und atmosphärisch dichte Aufführung. Man kann sich sicher sein, dass dieser Traum von einer elisabethanischer Ideallandschaft auch das diesjährige Festspielpublikum, das größtenteils vielleicht noch nicht geboren war, als die Produktion ihre Premiere hatte, entzückt hat.

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Benjamin Brittens Werke wurden regelmäßig in Glyndebourne gegeben. Bereits 1946 fand die Uraufführung von The Rape of Lucretia mit Kathleen Ferrier statt. Erst 2010 rangen sich die Festspiele zu einer Produktion der spröden Männeroper Billy Budd durch, deren Uraufführung 1951 in einer vieraktigen Fassung an Covent Garden stattgefunden hatte. Mark Elder dirigierte in Glyndebourne die heute gebräuchliche Fassung in zwei Akten, die Britten 1964 ebenfalls für Covent Garden erstellt hatte. Es inszenierte der Schauspielregisseur und wenige Male als Filmregisseur hervorgetretene (2022 Der Liebhaber meines Mannes) Michael Grandage, der vielfach für seine Arbeit am dem von ihm damals geleiteten Donmar Warehouse ausgezeichnet wurde. Billy Budd war sein Operndebüt, anschließend hat er mehrfach Opern inszeniert. Grandages vorsichtige und werkdienliche Inszenierung gliedert sich insofern in die Reihe von A Midsummer Night’s Dream und Albert Herring ein als sie versucht, eine historisch getreue Abbildung von Bord der Indomitable während des englisch-französischen Seekriegs 1797 zu bieten. Vor allem die Kostüme des Ausstatters Christopher Oram bilden die strenge Hierarchie und Disziplin an Bord ab, wo Captain Vere mit seinen engsten Vertrauten über die Französische Revolution und deren Bedrohung von Disziplin und Ordnung diskutieren. Die Arbeit wirkt aber fade und uninspiriert und verpackt die Geschichte des zu Unrecht gemobbten und der Meuterei verdächtigten Stotterers Billy in blutleere Aktionen (2 DVD OA 1051 D). Musikalisch ist die Aufführung sehr gut. Der damals 32jährige Jacques Imbrailo erlebte als jugendlich-unschuldiger Billy mit dem herzzerreißenden Abschied vom Vere „Starry Vere, god bless you“ seinen Durchbruch. Mit leichtem, gedankentief einfarbigem Tenor verdeutlicht John Mark Ainsley die Erschütterungen des Captain Vere, den die Ideen der Aufklärung in moralische Bedrängnis bringen. Der kanadische Bass Philipp Ens ist ein wuchtiger Claggart, Matthew Rose und Iain Paterson profiliert als Segelmeister und Erster Leutnant. Mark Elder und das London Philharmonic Orchestra boten Brittens größte Orchesterbesetzung durchsichtig und kreieren vor allem in der Gerichtsszene, in der Billy zum Tod durch Erhängen verurteilt wird, an Spannung. Sehen muss man das nicht. Rolf Fath

Robert Hale

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Am 22. August 1933 in Kerrville, Texas, geboren, machte der US-amerikanische Bassbariton Robert Hale bereits früh auf sich aufmerksam. Seine Studien beschloss er am Bethany-Peniel College sowie an der University of Oklahoma in Oklahoma City. Zu einen Lehrern gehörte kein Geringerer als Léopold Simoneau. Hales Operndebüt erfolgte 1967 an der New York City Opera, bevor sich seine Karriere nach Europa und vor allem in den deutschsprachigen Raum verlagerte. Engagements an der Oper Frankfurt, am Opernhaus Zürich sowie am Staatstheater Wiesbaden machten den Anfang. Zunächst im Belcanto-Fach gefragt, erfolgte Ende der 1970er Jahre der Wechsel ins Wagner-Fach, in welchem Hale sich internationales Renommee erarbeitete. Besonders als Wotan brillierte er an der Deutschen Oper Berlin, an der Wiener Staatsoper, in München, Hamburg, Köln, Paris, Tokio, Sydney, San Francisco, Washington sowie an der Metropolitan Opera in New York. Ferner sang er am Royal Opera House in London, an der Scala von Mailand, am Liceu in Barcelona, am Teatro Colón in Buenos Aires sowie am Bolschoi-Theater in Moskau. Dazu gesellten sich Auftritte bei den Festspielen in Salzburg, Wien, Ravenna, Lausanne, Bregenz, Bergen, Orange, Bordeaux, München, Savonlinna, Tanglewood, Ravinia, Cincinnati und beim Hollywood Bowl. Seine Diskographie ist beachtlich und dokumentiert neben Wagner-Partien auch Richard Strauss, Massenet, Händel und Schumann. Privat war er bis 2005 mit der dänischen Sopranistin Inga Nielsen verheiratet, ab 2012 mit amerikanischen Sopranistin Julie Davis. Am 23. August 2023, einen Tag nach seinem 90. Geburtstag, ist Robert Hale in seinem Haus in Kalifornien verstorben (Foto oben: Robert Hale als Wotan/Deutsche Oper Berlin/Kranichphoto). Daniel Hauser

Milka Stojanović

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Die serbische Sopranistin Milka Stojanović ist in Belgrad gestorben. Sie gehörte zu den großen Verdi-Interpretinnen des 20. Jahrhunderts und gastierte im Osten wie im Westen. Milka Stojanović ist im Alter von 86 Jahren in Belgrad gestorben. Die serbische Sopranistin zählte zu den Stars ihrer Generation. Zwischen 1960 und 1993 sang sie auf den großen Bühnen der westlichen und östlichen Welt, etwa an der New Yorker Met oder dem Moskauer Bolshoi Theater. Auch in der Wiener Staatsoper sowie in München, Berlin, Hamburg und Köln hatte sie Engagements. Ihr Kernrepertoire waren dabei die großen Titelrollen der Opern von Guiseppe Verdi, von der Villa Verdi, dem von Verdis Erben betriebenen Museum in Italien, wurde Stojanovic in die Liste der bedeutendsten Interpreten des Komponisten aufgenommen. Milka Stojanovic wurde am 13. Januar 1937 in Belgrad geboren. Zunächst hatte sie Literatur studiert. Ihr Gesangsstudium absolvierte sie dann unter anderem an der Schule der Mailänder Scala und mit Zinka Milanov in New York. 1993 verabschiedete sie sich von der Bühne im Nationaltheater Belgrad. Am 1. September 2023 ist sie in Heimatstadt Belgrad gestorben. (Quelle: BR Klassik)

Spätromantisches aus Europas Norden

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Viel haben wir in operalounge.de bereits über das schwedische Label Sterling in Einzelrezensionen berichtet. Die Vertriebsfirma Naxos war so liebenswürdig uns weitere Aufnahmen zur Besprechung zu schicken, weil der Katalog von Sterling besonders reichhaltig ist an eben schwedischen Titeln, die es woanders nicht oder kaum gibt -. so Brendlers Oper Ryno, aber auch viele andere – durch die Nähe zur Leipziger Komponistenwerkstatt assoziierten – Komponisten auch deutsche, von denen wir nachstehend einige vorstellen, um den Blick auf schwedische, skandinavische und europäische zu schärfen. G. H.

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Mit der Oper Ryno von Eduard Brendler (1800-1831) legt STERLING die wohl erste in schwedischer Sprache komponierte Oper vor. Der Musikhistoriker und Dirigent Anders Wiklund hat Anfang der 90er Jahre zu Brendlers Ryno geforscht und das Ergebnis mit Solisten, Chormitgliedern des Stora Theaters Göteborg sowie dem Sinfonieorchester Göteborg für den Hörfunk 1992/93 eingespielt. Der in Dresden geborene Eduard Brendler kam als Einjähriger mit seiner Familie nach Stockholm, wo sein Vater eine Stelle als Flötist in der Königlichen Hofkapelle antrat. Dieser bildete seinen Sohn im Flötenspiel aus, so dass Eduard 1823 eine Stelle im Orchester der Harmonischen Gesellschaft erhielt. Brendlers kompositorisches Schaffen fiel in die Jahre 1827 bis zu seinem überraschenden Tod im August 1831. Es umfassst neben Liedern, Klavierstücken, einigen Kammermusikwerken und einem Sinfoniesatz wenige Schauspielmusiken sowie acht auskomponierte von 14 geplanten Nummern der Oper Ryno, die im Herbst 1831 Premiere haben sollte. In der Harmonischen Gesellschaft freundete er sich mit Kronprinz Oskar und dessen Privatsekretär Bernhard von Beskow an, die ihn sehr unterstützten. So waren es von Beskow, der das Libretto verfasste, und Prinz Oskar, der die fehlenden sechs Nummern ergänzte und darüber hinaus noch drei passende Ballettmusiken seines Lehrers Edouard Du Puy der damaligen Sitte folgend in den ersten beiden Akten unterbrachte. Stilistisch sind die Nummern Brendlers eher in der deutschen Romantik wie z.B. bei Webers Freischütz verortet, während bei Prinz Oskar, der vor allem die dramatischen Nummern und die Finali geschrieben hat, besonders die Rossini-Affinität erkennbar wird. Das ergänzt sich in der Aufnahme passend und ist eine runde Sache geworden. Anders Wiklund ist auch für das hervorragende Beiheft zu loben: Das gesamte schwedische Libretto ist ebenfalls in Englisch abgedruckt, wie auch die Anmerkungen zu den Solisten und Dirigent. Der sehr informative, intelligente Artikel zu Brendler und Ryno ist zusätzlich in Deutsch und Französisch, also sogar viersprachig vorhanden!

Kurz zu Vorgeschichte und Inhalt: Um 1500 kehrt der Ritter Thure Stenson nach einer Pilgrfahrt nicht zurück, weil er angeblich nach einem Schlaganfall verstorben ist. Sein ganzes Erbe – verbunden mit der Hand seiner Tochter Agnes – geht an Arnold, seinen Pflegesohn. Die Oper beginnt bei den Hochzeitsvorbereitungen für die beiden. Als im Volk gemunkelt wird, Thure sei ermordet worden und dafür käme eigentlich nur Arnold in Betracht, hört der fahrende Ritter Ryno auch davon und möchte Arnold zum Duell zwingen, um ihn von den Anklagen zu erlösen. Ryno gelingt es, als Wahrsager verkleidet mit durchziehenden Zigeunern in Arnolds Schloss zu gelangen und Agnes auf Befehl Arnolds einen Hinweis auf den Verdacht zu geben. Da spitzt sich das Unheil zu: Agnes will Arnold nicht mehr heiraten, Ryno wird eingesperrt und nur durch die Hilfe seines Knappen Snap wird das Ganze schließlich zu einem guten Ende geführt. Nun taucht Thure wieder auf, Arnold wird im Duell von Ryno tödlich verwundet, und Thure gibt dem Paar Agnes/Ryno seinen Segen.

Man merkt, dass Anders Wiklund diese Musik mit dem in allen Gruppen frisch aufspielenden Orchester sehr engagiert angeht: Da werden die elegischen Seiten klangvoll und ruhig ausgeleuchtet, aber dramatische Aufschwünge kommen ebenfalls nicht zu kurz, wenn man sich auch manchmal noch schärfere kompositorische Konturierung vorstellen könnte, was aber eine zu hohe Erwartung an einen Opernerstling ist. Als Titelheld Ryno präsentiert Anders Lundström seinen gut durchgebildeten Tenor zunächst sehr lyrisch und zeigt im weiteren Verlauf, dass er auch dramatische Steigerungen beherrscht. Im Ganzen gelingen ihm Rezitativ und Arie Det är ej samma sol jag skadar mit Violinsolo (hervorragend gespielt von Per Enoksson), wenn ihm auch in der mit Koloraturen gespickten Arie leichte Intonationstrübungen unterlaufen. Dagegen sind die Koloraturen der Sopranistin Ann-Christine Göransson lupenrein und locker; ihre leichte, auch für Naturbeschreibungen ideale Stimme spricht in Naturen hvilar sina andedrag (gut 9 Minuten) sehr gut an und gipfelt in der wunderbaren Kadenz. In ihrer Szene mit Arnold und Chor (Är du ej oss nära) kommt David Aler mit weichem, flexiblem, fast Bass-lastigem Bariton besonders zur Geltung. Rune Zetterström als Thure Stenson erfüllt mit vollem Bass seine wenigen sängerischen Aufgaben, nachdem er vorher zweimal ein als vermeintlicher Geist auftrat. Vier veritable Baritone als Knappen, Gärtner u.a. – Ake Zetterström, Carl-Gustaf Holmgren, Jonas Landström und Charlie T. Borg – ergänzen das Ensemble sicher und passend.

Neben den guten Solisten und dem stets stilsicher begleitenden Orchesters spielt der Chor in der Einstudierung von Martin Andersson eine entscheidende Rolle, der er ausdrucksstark und in allen Stimmen ausgeglichen mehr als nur gerecht wird; als Volk und Zigeuner geben alle ihr Bestes (STERLING CDO-1031/2-2). Marion Eckels                                                                                                                     

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Die CD mit dem Titel Ouvertüren an königlichen Theatern enthält gleich sieben Ouvertüren von sechs schwedischen Komponisten, die alle als Dirigenten oder Instrumentalisten mit dem 1782 von König Gustav III. eröffneten Stockholmer Opernhaus, der späteren Königlich Schwedischen Nationaloper Stockholm, verbunden waren. Das St. Petersburg Eremitage Orchester, 1988 von Saulius Sondeckis unter dem Namen Kammerorchester des Leningrad Konservatoriums gegründet, spielt unter der anfeuernden Leitung von Mats Liljeford die Konzertouvertüre Nr.3 A-Dur des in Italien geborenen Jacopo Foroni (1825-1858, dazu auch unsere Besprechung von seiner Oper Cristina), der 1850 als Hofkapellmeister Nachfolger von Franz Berwald (1796-1868) wurde. Von diesem sind das wirbelige Vorspiel zur Operette Der Modemacher, ebenfalls vom St. Petersburger Eremitage Orchester flott musiziert, und die gefällige Ouvertüre zur Operette Ich gehe ins Kloster, gespielt wie die übrigen Ouvertüren vom Orchester der Königlichen Schwedischen Nationaloper Stockholm unter dem souveränen Stig Westerberg. Hierzulande weitgehend unbekannt ist der schwedische Komponist und Hofkapellmeister Ludvig Norman (1831-1885), der zum 100-jährigen Jubiläum des Stockholmer Opernhauses 1892 die wahrhaft feierliche Festouvertüre op. 60 komponiert hat, die auch die schwedische Nationalhymne anklingen lässt und ein Thema aus der Oper Gustav Wasa des deutschen Komponisten Johann Gottlieb Naumann enthält, die damals lange Zeit als schwedische Nationaloper galt. Zwei weitere Ouvertüren stammen von vergessenen schwedischen Komponisten: Andreas Randel (1806-1864), Konzertmeister des Opernhauses Stockholm und Professor für Violine, schuf  die Oper Das Volk von Värmland, deren Ouvertüre mit einem auffälligen Horn-Solo ziemlich festlich daher kommt. August Söderman (1832-1876), ab 1862 Kapellmeister am Opernhaus Stockholm, komponierte zu seiner Operette Des Teufels erste vorsichtige Versuchungen eine Ouvertüre, die mit schöner Melodieführung durch alle Instrumentengruppen gefällt. Schließlich ist auf der CD auch der Mozart-Zeitgenosse Joseph Martin Kraus (1756-1792/ oft erwähnt bei operalounge.de, namentlich wegen seines opus summum, Aeneas i Carthago) mit der Ouvertüre zu seiner Oper Proserpine vertreten, die noch deutlich in der Klassik verhaftet ist (STERLING CDS-1009-2).

Der wohl bedeutendste schwedische Opernkomponist war Ivar Hallström (1826-1901/ seine Oper Den Bergtanan haben wir einzeln vorgestellt). Nach sehr frühen Klavierstudien studierte er bis 1849 in Uppsala Jura und war zunächst drei Jahre lang im Staatsdienst tätig, bis er seine Beamtenkarriere abbrach, um sich ganz dem Komponieren und Unterrichten zu widmen. Da er ein ausgezeichneter Pianist und Begleiter gewesen sein muss, wurde sein Name bald allgemein bekannt, auch durch erste Kompositionen. Von 1861 bis 1872 stand er einem Musikinstitut vor; in den Jahren 1881 bis 1885 arbeitete Hallström an der Stockholmer Oper als Korrepetitor. 1861 wurde er Leiter der Königlich Schwedischen Musikakademie und erhielt 1881 den Professorentitel. In seinem Schaffen sind vokale Werke vorherrschend; so schuf er neben Liedern, Kantaten und Chorkompositionen an die sechzehn Opern und Operetten. Hallström komponierte aber auch die drei Ballette En dröm (Ein Traum, 1871), Ett äfventyr i Skottland  (Ein Abenteuer in Schottland, 1875) und Melusina (1882). Bemerkenswert ist, dass die beiden Erstgenannten schon eine Zeitlang vor den großen Handlungsballetten Tschaikowskis erschienen sind. Das Ballett Skottland  spielt in einem Gasthaus im schottischen Hochland, wohin Lord Drummond eine Balletttruppe um die von ihm verehrte Ballerina Mlle. Tourbillon  eingeladen hat. Nach aufregenden Ereignissen bei einem Ausflug in die Berge kommt es zwischen der Ballerina und einem schmucken jungen Schotten unter dem Schutz des Lords zu einem Happyend, das mit fröhlichen Divertissements gefeiert wird. Die Komposition stammt nicht allein von Hallström; auch der schwedische Komponist Conrad Nordqvist (1840-1920) war beteiligt. Das Ballett-Idyll in einem Akt En dröm ist eine hochromantische Geschichte, in der eine Elfenkönigin und ihre Begleiterinnen dafür sorgen, dass ein junges Paar, das durch gesellschaftliche Vorurteile getrennt ist, schließlich doch zueinander findet. Beide Ballette  haben beim munter aufspielenden Malmö Opernorchester unter der Leitung von Michael Bartosch Interpreten gefunden, die die eleganten, teilweise auch schottische Folklore enthaltenden Ballettmusiken kompetent ausdeuten (STERLING CDS-1043-2).

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Aus den 1960er-Jahren stammen die Aufnahmen von sechs Ouvertüren, die STERLING unter dem Titel Romantische Dänische Ouvertüren zusammengefasst hat. Was haben die Komponisten Edouard du Puy (1773-1822), Christoph Ernst Friedrich Weyse (1774-1842), Friedrich Kuhlau (1786-1832), Johan Peter Emilius Hartmann (1805-1900), Peter Heise (1830-1879) und Christian Frederik Emil Horneman (1840-1906) mit Dänemark  zu tun? Alle waren länger oder kürzer am dänischen Königshof als Musiker beschäftigt, vornehmlich als Komponist, obwohl jeder von ihnen Auslandsbezüge aufweist: sie sind in der Schweiz (du Puy) und Deutschland (Weyse, Kuhlau) geboren oder deutschstämmig (Hartmann); Heise und Horneman haben in Leipzig studiert.Das Royal Danish Orchestra deutet unter Johan Hye-Knudsen die unterschiedlichen Stile der Ouvertüren effektvoll aus. So wird die Anlehnung an Rossini in Ungdom og galskap (Jugendsünde) von Edouard du Puy ebenso deutlich wie die Leichtigkeit in Sovedrikken (Das Schlafmittel) von C.E.F. Weyse. Anklänge an die Romantik Carl Maria von Webers finden sich in der Ouvertüre zu William Shakespeare von Fr. Kuhlau; angemessen und durchaus passend ist, dass der Einakter Liden Kirsten nach einem Märchen von Hans Christian Andersen und auch dessen Ouvertüre Volksliedhaftes aus Dänemark enthalten. Schließlich hört man die großformatige Ouvertüre zur dänischen Nationaloper Drog og Marsk (König und Marschall) von Peter Heise und die kompositorisch bereits in die Zukunft weisende Ouvertüre zur Märchenoper Aladdin von C.F.E. Horneman (STERLING CDS-1018-2).

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Sehr verdienstvoll ist es, dass sich das schwedische Label STERLING nicht nur um spätromantische Musik aus Skandinavien kümmert, sondern auch Werke unbekannter oder fast vergessener deutscher Komponisten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgegeben hat. In dieser Zeit waren sinfonische Dichtungen besonders beliebt, von denen Lenore von August  (1847-1902) und die Tondichtung Zu einem Drama von Friedrich Gernsheim (1839-1916) nur eingefleischten Spezialisten bekannt sein dürften. Der in Köthen geborene Klughardt erhielt von seinem 10. Lebensjahr an Klavierunterricht; schon in der Schulzeit schrieb er erste Kompositionen. 1863 siedelte er mit seiner Familie nach Dessau über; Nach weiterer musikalischer Ausbildung in Dresden trat Klughardt bereits als 19-Jähriger seine erste Stelle als Hofkapellmeister in Posen an. Nach weiteren Stationen in Neustrelitz und Lübeck ging er für vier Jahre als Großherzoglicher Musikdirektor nach Weimar. In dieser Zeit war die Begegnung mit Franz Liszt für ihn prägend. Nach weiteren neun Jahren als Dirigent in Neustrelitz wurde Klughardt 1882 Hofkapellmeister in Dessau, wo er bis zu seinem Tod wirkte. Neben fünf Sinfonien komponierte August Klughardt eine ganze Reihe sinfonischer Ouvertüren, vier Opern sowie zahlreiche Lieder, Chorwerke und Kammermusik für unterschiedliche Besetzungen. Sein Kompositionsstil ergibt sich aus seiner Begeisterung für die Neudeutsche Schule um Liszt und Wagner. Allerdings hielt er in seinen Opern an der älteren Form der Nummernoper fest, obwohl er wagnersche Leitmotivik verwendete;  auch ist  seinen Werken stets eine Orientierung an den Werken Robert Schumanns spürbar. Mit seiner Richard Wagner gewidmeten Lenore, Symphonische Dichtung nach G.A.Bürgers Ballade (Symphonie Nr.2 d-moll) op.27, einem viersätzigen, halbstündigen Orchesterwerk, komponierte Klughardt eine „Mischform“ zwischen Sinfonie und sinfonischer Dichtung. Jedem der vier Sätze ist ein Zitat aus Bürgers düsterer Ballade vorangestellt; zusätzlich finden sich in der Partitur am Schluss einige Gedichtzeilen. Die in allen Instrumentengruppen ausgezeichnete Anhaltische Philharmonie unter Manfred Mayrhofer gelingt eine solide, Interpretation, indem die dramatischen Entwicklungen plastisch entstehen, die Klangballungen à la Wagner in den Ecksätzen effektiv ausgekostet und die lyrischen Phasen weich ausgebreitet werden. Friedrich Gernsheim stammte aus einer jüdischen Familie in Worms; nach dem Studium in Leipzig bei Ignaz Moscheles und Ferdinand David sowie in Paris war er ab 1865 Lehrer am Konservatorium in Köln und Kapellmeister am Stadttheater. Ab 1874 wirkte er in Rotterdam als Dirigent, und 1890 wurde er an das Stern’sche Konservatorium in Berlin berufen. Gernsheim, den mit Johannes Brahms eine enge Freundschaft verband, war Mitglied der Akademie der Künste; zu seinen Schülern zählte Engelbert Humperdinck. In Friedrich Gernsheims weit gefächertem Schaffen finden sich vier Sinfonien, zwei Violinkonzerte, je ein Klavier- und Cellokonzert sowie zahlreiche Kammermusikwerke und umfangreiche Vokalmusik, allerdings keine Opern. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden seine Werke nicht gespielt und gerieten in Vergessenheit. Seiner 1902 komponierten und acht Jahre später veröffentlichten Zu einem Drama.Tondichtung für großes Orchester liegt wie beispielsweise auch Brahms‘ Tragische Ouvertüre kein konkretes Drama zugrunde. In gekonnter Ausführung stellt das SWR Radiofunkorchester Kaiserslautern unter Klaus Arp in einer Aufnahme von 1995 die knapp zwanzigminütige sinfonische Dichtung mit ihren sehr unterschiedlichen Themen von kraftvoller Dramatik bis zu melodisch weit ausholender Lyrik vor (STERLING CDS 1096-2).

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Orchestermusik von Flotow bei Sterling

Der Komponist Friedrich von Flotow (1812-1883) ist bis zum heutigen Tag fast nur wegen  seines Welterfolgs, der Oper Martha, bekannt geblieben. Vergessen sind die zahlreichen weiteren Opern und seine Instrumentalwerke, von denen STERLING die beiden 1830/31 entstandenen Klavierkonzerte herausgebracht hat. Die Jugendwerke sind mit knapp 15 Minuten (Nr.1 c-Moll) und 18 Minuten (Nr.2 a-Moll) relativ kurz geraten, wobei das zweite Konzert die Besonderheit aufweist, dass es viersätzig wie eine Sinfonie aufgebaut ist, was es erst später bei Brahms gab.  Beide Konzerte sprudeln vor allem in den schnellen Sätzen gefällig dahin, während es kaum kontemplative Phasen gibt. Den jeweils recht virtuosen Klavierpart spielt sicher Carl Petersson, der von der gut aufgelegten Pilsener Philharmonie unter der Leitung des erfahrenen, auf unbekannte Literatur spezialisierten Hans Peter  Wiesheu begleitet wird. Die CD enthält außerdem die 1857 komponierte, reichlich plakative Jubel Ouvertüre F-Dur und die Musik zum Schauspiel Wilhelm von Oranien in Whitehall von Gustav Edler Gans zu Putlitz, die im 3.Akt das bekannte patriotische Rule Britannia zitiert. Auch in diesen Stücken erweist sich die Kompetenz der Pilsener Instrumentalisten und ihres Dirigenten (STERLING CDS – 1077-2).

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Auch Woldemar Bargiel (1828-1897), ein Halbbruder von Clara Schumann und damit Schwager von Robert Schumann, ist heute weitgehend vergessen. Er wirkte ab 1874 bis zu seinem Tod an der Berliner Musikhochschule und galt als einer der angesehensten Kompositionslehrer seiner Zeit. Bei STERLING gibt es eine Live-Aufnahme

aus dem mexikanischen San Luis Potosi aus 2014 mit der teilweise arg lärmenden C-Dur-Sinfonie (1864), den Ouvertüren zu einem Trauerspiel, von Shakespeares Romeo und Julia inspiriert, und zu Medea, inspiriert von Euripides‘ Tragödie (beides eher sinfonische Dichtungen, um 1860) sowie dem Intermezzo für Orchester (1880). Bargiels an Beethoven und Mendelssohn orientierter Kompositionsstil wird in all diesen Werken deutlich, die das Sinfonieorchester San Luis Potosi unter José Miramontes Zapata trotz mancher interpretatorischer Defizite im Ganzen gediegen ausdeutet (STERLING CDS 1105-2). Gerhard Eckels

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Weitere operalounge-Rezensionen zu Aufnahmen bei Sterling: HALLÉNS „WALDEMARSSKATTEN“; LAILA ANDERSSON-PALME ; MEYERBEERS „ALIMELEK“JOACHIM RAFFS „BENEDETTO MARCELLO“ ; Laila Andersson-Palme ; Vogler „Gustaf Adolf och Ebba Brahe“ ; IVAR HALLSTRÖMS „DEN BERTAGNA“; Laci BoldemannSTENHAMMARS „FEST AUF SOLHAUG“; FORONIS „CRISTINA“ 

Meister raffinierter Inszenierung

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Lorin Maazel (1930 – 2014) war eine schillernde Persönlichkeit. Der im Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine geborene Sohn einer russisch-jüdischen Familie studierte schon als Kind Dirigieren und stand bereits mit neun Jahren vor einem großen Symphonieorchester. Maazel war ein universal gebildeter hoch-intellektueller Geist, er studierte 1946 bis 1950 Mathematik, Philosophie und Sprachen, setzte seine musikalische Ausbildung fort und trat danach rasch in den USA, Europa und anderen Ländern auf. 1964 übernahm er als Nachfolger von Ferenc Fricsay für 11 Jahre die Leitung des Radio-Symphonie-Orchesters (RSO) Berlin (heute Deutsches Symphonie-Orchester, DSO). Zusätzlich war er 1965 bis 1971 Generalmusikdirektor an der Deutschen Oper Berlin. Maazel gastierte bei großen und berühmten Orchestern und Festivals, band sich für einige Jahre an die Wiener Staatsoper, er war Chefdirigent des Pittsburgh Symphony Orchestra (1988 – 1996), des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (1993 – 2002) und ab 2002 Nachfolger von Kurt Masur beim New York Philharmonic Orchestra. Seinen 2012 auf drei Jahre abgeschlossenen Vertrag als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker konnte er nicht mehr erfüllen. Er starb am 13. Juli 2014 in seinem US-amerikanischen Wohnsitz Castleton, Virginia. Dort hatte er auch 2008 ein Festival zur Förderung junger Musiker gegründet.

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Lorin Maazel war Dirigent, Geiger und Komponist. Er verfügte über ein unbestechliches Gehör und ein fotografisches Gedächtnis. Sein Dirigieren war klar und präzise, dazu elegant, wirkte gelegentlich aber auch manieriert. Maazel war ein Meister der raffinierten orchestralen Inszenierung – nicht nur, aber doch ganz besonders bei Werken von Strauss, Mahler oder Wagner. Gelegentlich griff er noch zur Geige (auch beim Neujahreskonzert der Wiener Philharmoniker). Noch in höherem Alter überraschte er mit veritablen Aufführungen der Violinsonaten von Johannes Brahms. Als Komponist hatte er nur bescheidene Erfolge. In seinen Werken, u. a. virtuosen Konzerten für befreundete Interpreten oder der Oper „1984“ blieb Maazel epigonal, eklektizistisch.

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Die vorliegende Box mag nichts Neues enthalten, bietet aber wohl die Wiederbegegnung mit vor allem früh entstandenen Aufnahmen, die bleibende diskographische Bedeutung haben. Die gewichtigsten Einspielungen sind dabei frühe, ungewöhnliche, großenteils faszinierende Produktionen mit den Berliner Philharmonikern. Mit diesem Orchester, dem seine besondere Liebe galt und dessen Chefdirigent er in Nachfolge Herbert von Karajans gerne geworden wäre – dem er allerdings auch nach der Wahls Claudio Abbados für einige Jahre die kalte Schulter zeigte – ging Maazel zum ersten Mal am 27. Februar 1957 ins DG-Aufnahmestudio, seine letzte Aufnahme mit den Philharmonikern für das Gelblabel fand 1985 statt. Aufhorchen lassen bereits die ersten Einspielungen, „Romeo und Julia“ Kompositionen von Berlioz, Tschaikowsky und Prokofjew. Wann hat man schon die vier Sätze aus Berlioz‘ „Romeo et Juliette“ so spannungs- und kontrastreich, so mitreißend gehört? In markanten Ausschnitten aus Prokofjews „Romeo und Julia“-Ballett zeigen sich entscheidende Qualitäten des Dirigenten: seine Aufmerksamkeit, ja Liebe zum Detail, zu Klarheit und Transparenz, das Gespür für die Dramaturgie, die Fähigkeit zu raffinierter Inszenierung.

Von Schubert liegen fast alle Symphonien vor, es fehlen nur die erste und die letzte, die C-Dur-Symphonie D 944. Die Werke werden nie über einen Kamm geschert oder gleichförmig musiziert, sondern ihren Eigenarten gemäß und individuell: vom symphonischen Fast-Beginn (Symphonie Nr. 2), der nichts Unfertiges hat, über die gar nicht „tragisch“ gedeutete Vierte und die zu Unrecht vernachlässigte Sechste bis zur „Unvollendeten“, die hier große, klassische, Symphonie, frei von falscher Romantisierung ist. Schuberts bewegte Sätze sind nicht übertrieben schnell, sondern kraftvoll, energisch bis drängend, die langsamen bleiben nie auf der Strecke. Besondere Merkmale sind bei allen Interpretationen die Klarheit und Durchsichtigkeit. Man hört immer die Struktur der Musik, Themen, Gegenthemen das Miteinander und Ergänzen von Soli, die kammermusikalischen Momente, klanglich wird nicht aufgetrumpft. Solche Eigenschaften bewähren sich auch in den Interpretationen von Beethovens Fünfter und Siebter Symphonie, von Mendelssohns Vierter und Fünfter, Brahms‘ Dritter (der freilich das Leidenschaftliche fehlt) und Tschaikowskys Vierter Symphonie (virtuos, äußerst präzise, oft drängend, aber nie lärmend). Unter den in der Box versammelten Tongemälden stechen vor allem Respighis „Pini di Roma“ (1959) hervor. Was für eine großartige Klang- und Farbenpalette entfalten die Philharmoniker hier!

In den 1980er-Jahren entstanden unter Maazels Leitung exemplarische Einspielungen der drei Symphonien, der Tondichtungen „Der Fels“ und „Die Toteninsel“ sowie der symphonischen Tänze von Sergej Rachmaninow. Maazel nimmt Rachmaninow ernst als symphonischen Komponisten in der klassischen Tradition, als Schöpfer raffinierter Orchestermusik mit vielen Facetten und Stimmungen. Das ist eben nicht (vermeintlicher) Breitwand- oder Hollywoodstil, nicht ein Baden Klang und Schwelgerei, sondern farbige, oft raffinierte, virtuose Musik, leidenschaftlich und auch melancholisch. In der gleichen Zeit kam Berlioz‘ Symphonie „Harold in Italien“ mit dem als beredtem Erzähler fungierenden Solo-Bratscher Wolfram Christ heraus, ferner Tschaikowskys Violinkonzert mit Gidon Kremer (der nicht mit Virtuosentum protzt), Bartóks Konzert für Orchester, in dem die Berliner Philharmoniker ihre Virtuosität, Spielfreude und Reaktionsfähigkeit demonstrieren. Maazel war einer der wenigen Dirigenten, die sich Alexander von Zemlinskys Lyrischer Symphonie annahmen, diesem zwischen Symphonie und Orchesterliederzyklus changierenden Pendant zu Mahlers „Lied von der Erde“ und Schönbergs „Gurreliedern“. Das Orchester entfaltet die Farben und den Zauber der von Chinoiserien geprägten Musik. Das Vokale überzeugt weniger. Dietrich Fischer-Dieskau trifft den Ton der Lieder deutlich besser als Julia Varady. Da ist dann doch die unter Leitung von Bernhard Klee entstandene Aufnahme mit dem RSO Berlin und den Solisten Glenys Linos und Dale Duesing besser gelungen!

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In den frühen Aufnahmen Maazels mit dem Radio-Symphonie-Orchesters Berlin (RSO) kommen seine dirigentischen und überhaupt künstlerischen Qualitäten besonders eindrucksvoll zur Geltung. Dazu gehören sorgfältige Vorbereitung und meisterhafte Präzision, die Tully Potter in seinem lesenswerten Booklet-Essay als besondere Eigenschaften des Dirigenten hervorhebt. Die DG-Box vermittelt zwar nur einen Ausschnitt von der künstlerischen Potenz und dem hohen Rang des RSO – das zum größten ernstzunehmenden Konkurrenten der Berliner Philharmoniker wurde. Das liegt allerdings daran, dass viele Aufnahmen bei Philips erschienen. Doch was wir hörend erleben, ist exemplarisch. Erstaunlich, zu welch idiomatischer Aufführung das Orchester mit Maazel in Manuel de Fallas „Liebeszauber“ und Tänzen aus „Der Dreispitz“ findet. So subtil inszeniert, farbig, temperamentvoll, zugleich sehr kultiviert hört man diese Werke selten. Exemplarisch sind die Einspielungen der „Feuervogel“-Suite und des „Gesangs der Nachtigall“ von Igor Strawinsky: im Klang, in der Ausdruckspalette, vor allem aber auch, weil hier Geschichten erzählt werden! César Francks einzige Symphonie in d-Moll wird spannend, mit Verve, klangsatt, aber nie schwer musiziert.

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Die auf 10 CD dokumentierte Zusammenarbeit Maazels mit den Wiener Philharmonikern fällt weniger gewichtig aus. Den zwischen 1982 und 1984 aufgenommenen Symphonien Nr. 7, Nr. 8 und Nr. 9 von Antonín Dvořák fehlt insgesamt die böhmische Färbung, die Wärme und Individualität, der Klang ist nicht ideal, meist stark höhenbetont. Wie anders und eindrucksvoller sind da die Einspielungen einiger Orchesterwerke von Richard Strauss. Hier zeigt sich Maazels Kunst der musikalischen Inszenierung besonders gut. Die „Sinfonia domestica“ erlebt man als detail- wie abwechslungsreiche liebevolle musikalische Schilderung des Strauss’schen Familienlebens in Berlin-Charlottenburg. Was in der Tondichtung „Also sprach Zarathustra“ steckt, zeigen die Wiener Philharmoniker unter Maazels Dirigat schlagend – vom äußerst zarten, kaum hörbaren Beginn mit seinen tief(st)en Orgel-Pedaltönen bis zu hymnischen orchestralen Ausbrüchen, die indes nie vulgär oder erschlagend wirken. Der Klang ist brillant, satt, dabei sehr differenziert und durchsichtig, die Dynamik weit gespannt, die von Soli geprägten Passagen werden liebevoll ausmusiziert. Nie gehen wichtige Details verloren. Fünf CDs mit Musik aus Wiener Neujahrskonzerten fallen demgegenüber nicht ins Gewicht.

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Die Einspielungen von Maurice Ravels Operneinaktern „L’heure espagnole“ und „L’enfant et les sortilèges“ mit fabelhaften, zumeist französischen Sängerinnen und Sängern sowie dem Orchestre National de la Radiodiffusion Française sind immer noch wahre Schätze. Wie auch in der Aufnahme von Verdis Oper „Luisa Miller“ mit prominenten Solistinnen und Solisten (Placido Domingo, Katia Ricciarelli, Elena Obratzsova, Renato Bruson) sowie Chor und Orchester des Royal Opera House Covent Garden, zeigt sich der Operndirigent Maazel von seiner besten Seite.

Sehr gelungen ist schließlich eine ebenso anschauliche wie persönliche Einführung Maazels in die Welt des Symphonieorchesters mittels Benjamin Brittens „Young person’s guide to the orchestra“, an der Alt und Jung, erfahrene und neue Hörer ihre Freude haben können (vorausgesetzt, sie sind des Englischen mächtig!). Und Sergej Prokofjews „Peter und der Wolf“ erzählt der Schauspieler Alec Clunes manchem vielleicht etwas nüchtern, ohne Übertreibungen oder übertrieben affektgeladenem Ton – zu Recht, denn für genügend Spannung und Dramatik sorgt schon die Musik! Helge Grünewald

Renata Scotto

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Genau drei Zentimeter vor dem Matinée-Radio-Mikrophon starb Manon Lescaut in der stimmungsvoll-konservativen Inszenierung an der Met 1979 – Renata Scotto hatte sich durch Pappe und Wüstenersatz genau zu diesem strategischen Punkt der Riesenbühne hindurchgerobbt, um vor dem diskret aufragenden Mikrophon von Texaco unendlich wirkungsvoll an 3 Millionen Radiozuhörer ihre letzten Töne  zu verhauchen. Das war Kunst, das war Chuzpe, das war Können und Raffinement. Publikum wie  auch ich erstarrt, mesmerisiert, sprachlos, um dann in frenetischen Jubel auszubrechen. Diese zierliche Gestalt, die da ebenso gekonnt wie gerührt ihren unendlichen Applaus entgegen nahm („Wie? Ich? Wirklich?“ „Aber nein…“), schien nicht aus dieser Welt zu sein. Und dennoch hatte sie, Renata Scotto, uns drei Stunden lang Magie vorgeführt (Pausen an der Met sind lang), hatte uns glauben machen, sie sei ein junges Ding voller Sehnsucht nach dem Leben, voller Unschuld bis zum Schluss, voller Kraft in der in diesem Stück stark geforderten Stimme.

Renata Scotto und Placido Domingo in „Francesca da Rimini“ an der Met/Met Opera Archive

Ich werde auch nicht ihre Francesca da Rimini vergessen, wie sie in dieser unendlich luxuriösen Produktion (dto. 1984 recht reif an der Met und auf DVD bei DG) neben dem extrem sexy Domingo eine Jugendstil-Elfe gab, voller Poesie, voller rollengerechter Manier und erneut voller Sehnsucht nach der Liebe, nach Sterben auf höchstem Niveau, stimmlich von einer Perfektion der kleinen Noten, der schimmernden Valeurs, die sie mit sparsamen, mädchenhaften Gesten unterstrich.

Ihre Desdemona neben Domingo oder Vickers am selben Haus hatte für mich diese Modena-Entschlossenheit, dieses unglaublich Italienische, das ans Resolute grenzt und gleichzeitig mit festem Glauben am Fatalen festhält – eine wunderbare Charakterstudie einer Frau, die offenen Auges in ihr Verderben stürzt, die wie Carmen weiß, was ihr passieren wird.

Merkwürdiger Weise habe ich bei der Scotto selten nach dem Wie oder Womit gefragt – natürlich, die Stimme als solche wäre eigentlich fast immer zu klein für diese großen Partien gewesen, und die Höhe konnte auch sehr scharf klingen, manchmal auch sauer, zumal zu Beginn der Karriere. Aber die Scotto kompensierte ihre sehr lyrische Herkunft (wie man sie auf frühen Aufnahmen als Lucia oder Gilda hört) mit ungeheurer Intelligenz der Gestaltung, beherrschte ihr Instrument perfekt und über dessen natürliche Grenzen hinaus und machte aus jeder Phrase ein Ereignis, ein Puzzlestück im funkelnden Ganzen. Keine wie sie, möchte man sagen, folgte der Callas dichter nach. Keine wie sie beherrschte die Diktion so unglaublich raffiniert zur Gestaltung eines Charakters, keine wie sie machte beim Singen einen solchen Zauberladen an Illusion und Kunst auf. Sie war eine Magierin. Andere wucherten vielleicht mit mehr Kraft oder runderen Stimmen – die Scotto überzeugte durch Überzeugung. Ihr Illusionstheater war einfach perfekt.

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Renata Scotto als Marschallin in Catania/ Foto Teatro Bellini Catania/Th. Voigt

Über ihren Werdegang kann man alles bei Wikipedia nachlesen  – eine Frau ohne Skandale, privat immer eine Dame und immer eine Künstlerin, immer eine ebenso charmante wie entzückende Person (wie ich selber sie bei mehreren Gesprächen und in Meisterkursen in Italien  in Erinnerung habe). Dazu eine neugierige, die die Grenzen ihres Mediums vor allem gegen Ende ihrer Gesangskarriere auslotete mit der Femme von Poulenc, sogar mit Straussens Marschallin (in Palermo) und Klytämnestra (in Schwerin – che coraggio!) und Wagners Kundry (dto., mit Robenwechsel für den Mittelakt), letztere sehr eindrucksvoll konzentriert und erstaunlich wortdeutlich, selbst wenn dies nicht wirklich ihr Metier war zollte man doch der Künstlerin Bewunderung.

Dieser konsequente Werdegang von der Lyrischen zur Spinto-Sängerin zeitigte so viele glückliche Auftritte und Platteneinspielungen, dass sie für die Nach-Callas-Ära die ganz bestimmende Sängerin war, auch durch ihren klugen Schachzug, die Nachfolge der Tebaldi unter James Levine an der Met anzutreten, wo sie ihre größten Erfolge hatte. Aber eigentlich trat sie, außer als Einspringerin für die Callas-Sonnambula in Edinburgh 1978 (entzückend-charaktervoll hab ich sie in Erinnerung), mit ihrer allerersten Norma unter Muti 1979 in Florenz ins Rampenlicht der Welt (die bezaubernde Margherita Rinaldi als Sopran-Adalgisa nicht zu vergessen). Von nun ging´s voran. Und es gibt manche ihrer Einspielungen, ohne die ich nicht leben möchte – ihre Abigaille/EMI, Traviata/EMI, Butterfly/EMI und Sony, Francesca da Rimini/DG, Manon Lescaut/DG und Luisa Miller/DG, dazu ihre Lady Macbeth aus London und New York und vielleicht noch die für mich unerreichten Porträts liebender Frauen großen Formats auf den verschiedenen Sony-LPs/CDs. Renata Scotto hat exemplarisch vorgeführt, was man mit Willenskraft, einer bombigen Technik und vor allem größter musikalischer Intelligenz erreichen kann: die künstlerische Wahrheit. Sie starb am 16. August im Alter von 89 Jahren in Savona. Grazie Signora. Geerd Heinsen

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Nicht vergessen werden soll ihre pädagogische Tätigkeit in zahlreichen Meisterkursen, vor allem aber auch nicht ihre bedeutenden Regiearbeiten. Dazu fand sich in unserem Archiv ein Gespräch mit Samuel Zinsli anlässlich von Scottos Arbeit an der Wally Catalanis am Stadttheater Bern von 2005, das wir nachstehend noch einmal in Auszügen bringen./G. H.

Renata Scotto als Verdis Elisabetta an der Met/ Foto Davidson

„Die Oper ist für Emotionen gemacht!“: Gerade mal zwei Stunden vor der Premiere ihrer „Wally“­ Produktion am Stadttheater Bern erschien die Künstlerin blendend aufgelegt im stilvollen Foyer des Theaters und nahm sich viel Zeit für ein Gespräch über’s Regieführen, über Catalanis Wally – und natürlich auch über sich selbst.

Lange sind Sie als Sängerin in allen Opernhäusern zu Hause gewesen – nun kommen Sie als Regisseurin. Ist das ein großer Unterschied? Inszenieren ist schwierig. Als Sängerin habe ich die Musik, die mich führt. Auch beim Inszenieren kann ich mich von der Musik führen lassen, aber als Regisseurin bin ich noch jung … Ich habe nun eine neue Karriere, die ich ebenso liebe wie das Singen, aber es sind zwei sehr verschiedene Dinge – jetzt trage ich die Verantwortung für die ganze Produktion, auch für die Auswahl des Bühnenbildners, des Kostümbildners, des Theaters, der Beleuchtung … Und aufs Bühnenbild lege ich besonderen Wert. „La Wally“ in Bern ist nun meine vierte Produktion mit Carlo Diappi, der mein Lieblingsbühnen- und Kostümbildner ist. Ich mag Theater, das modern ist – und auch wieder nicht modern. Das heißt, ich vertraue auf die Musik, deshalb ziehe ich einfache, stilisierende Bühnenbilder vor, die eine klare Idee von der Handlung vermitteln. Und der romanticismo, den die Musik vorgibt, wird in den Kostümen und der Lichtgestaltung wiederaufgenommen. Mich interessiert das Ganze – da sind die Solisten und der Chor, und alle sind Menschen, die es zu respektieren und zu führen gilt. Die Arbeit mit den Sängern fällt mir verhältnismäßig leicht, weil ich ja selbst Sängerin war – sie vertrauen darauf , dass ich die vokalen Anforderungen verstehe und ihnen Bedingungen schaffe, in denen sie singen und spielen können. Denn für mich ist der perfekte Sänger der, der es schafft, singend darzustellen und darstellend zu singen.

Renata Scotto sings Christmas Songs/Vai

Wie sind Sie Regisseurin geworden? Ach, ganz zufällig! Ich hatte die Butterfly an der Met schon unzählige Male gesungen und wurde wieder dafür angefragt. Aber ich wollte es nicht mehr machen und sagte: „Gebt mir eine andere Oper!“ Und da kam die Antwort von der Met: „Dann geben wir dir die ganze Produktion – mach damit, was du willst!“ Ich hab drei, vier Monate lang überlegt. Das war eine sehr schöne Inszenierung von einem Japaner, in der ich oft aufgetreten war, die ich also sehr gut kannte. Aber im Laufe der Zeit hatten andere Regisseure und Assistenten sie verdorben, lauter unnützes Zeug dazugetan. Deshalb habe ich mir schließlich gesagt: Vielleicht könnte man zurück zum Original gehen – und dann habe ich eingewilligt. Das war ziemlich mühsam, aber an der Met kriegt man ja alle Hilfe, die man braucht. Das war 1986. Ich bin also – mit der Met! – ziemlich weit oben eingestiegen. Dann hat man mir schon für’s nächste Jahr eine neue „Butterfly“ in der Arena di Verona angeboten. 80 Choristen, 45 Geishas, 25 ballerine! Und einen künstlichen See haben wir konstruiert – ein schönes, untraditionelles Bühnenbild. Das war eine Erfahrung… Ich habe dabei fünf Kilo abgenommen. Aber man wächst ja mit seinen Aufgaben.

Von da an habe ich versucht, alle Aspekte des Theaters kennenzulernen, auch die Technik, die Arbeit der Bühnenarbeiter und der Elektriker. Dann kamen auch Regiearbeiten, um die Sängerinnen und Sänger mich gebeten haben, z. B. Deborah Voigts Tosca-Debüt in Miami. Und dann eine Traviata, auch in Miami, eine in New York an der City Opera, wo ich einen Emmy für die Fernsehübertragung gewonnen habe, SonnambulaAdriana Lecouvreur in Santiago, eben komme ich von einer Butterfly in Dallas – Sie sehen, ich bin fürchterlich beschäftigt! Ach ja, ich habe auch einmal Regie geführt und selber mitgesungen, das war im Medium von Menotti – da war ebenfalls Carlo Diappi der Bühnenbildner. Mit ihm habe ich dazu Pirata und Norma gemacht. Norma inszenieren – ah, che lavoro! Aber eine schöne Arbeit! Wir hatten zwei sehr gute Sängerinnen, Serena Farnocchia als Adalgisa und Cynthia Makris als Norma – und ihr Mann Raimo Sirkiä als Pollione. Das war eine unglaubliche Anstrengung, aber ich habe es sehr genossen, denn ich liebe Norma. Diappi hat dafür nur Holz verwendet, finnisches Holz in neoklassischen Strukturen, mit neoklassischen Kostümen.

Gibt es Regisseure, die Ihnen besondere Vorbilder geworden sind? Ja, mindestens fünf! Vor allem John Dexter, der mein großer Maestro an der Met war, ein unvergesslicher Regisseur. Piero Faggioni, Mauro Bolognini, Raf Vallone, Peter Hall, mit dem ich Macbeth gemacht habe – unvergesslich , wie er mit mir die Figur der Lady geformt hat. Mit Franco Zeffirelli habe ich leider nur die Musetta an der Met gemacht. Ich erinnere mich auch gern an Renato Castellani, aber das ist länger her. Von Faggioni, Hall und Dexter habe ich besonders viel gelernt – wie ich mich auf der Bühne bewegen muss, wie ich die Worte verinnerlichen kann und sie nicht nur singe. Ich muss sagen, ich habe immer versucht zuzuhören und zu lernen. Oft kann man auch von nicht besonders guten Regisseuren etwas lernen.

Renata Scotto als Marschallin mit Ruthhild Engert/ Octavian/ Foto Teatro Bellini Catania/Th. Voigt

Singen Sie noch? Es gab Gerüchte über eine Pique Dame: No, cantare basta. Ho chiuso. Nein! Ich mag keine alte Frau spielen, auch wenn ich nun eine bin. Genau, ich bin für die Rolle noch zu jung! Nein, ernsthaft, das wäre auch nicht mein Fach. Gut, ich habe Klytämnestra gesungen, aber dann hab ich gesagt: Jetzt ist Schluss! Man braucht zum Singen Körper und Geist, und – ich singe zwar noch gelegentlich in den zwei Kursen, die ich jährlich an der Accademia Santa Cecilia gebe, aber wenn ich heute eine Mädchenrolle interpretieren soll, fühle ich mich dabei nicht mehr wohl – das passt nicht. Und ich bin zufrieden damit, denn nun stehe ich morgens auf und muss nicht sofort testen, ob die Stimme in Ordnung ist, ich kann plaudern, lang aufbleiben … Ich habe so viele schöne Erinnerungen und Aufnahmen, warum also immer noch singen, jetzt, wo meine Stimme nicht mehr so schön ist wie vor 20 Jahren? Mir gefällt mein Leben, wie es ist. Ich bin Großmutter und genieße die Zeit mit meinem Enkel, der schon dreieinhalb ist, ich unterrichte und inszeniere – und ich gehe für mein Leben gern ins Theater, auch ins Sprechtheater, auch Modemes. Diese Woche war ich in Zürich in „Ariane et Barbe­ Bleu“, das hat mir sehr gefallen! Dagegen fällt es mir schwerer, z. B. in eine „Butterfly“ zu gehen – außer, es singt eine meiner Schülerinnen.

Renata Scortto als Norma an der Met/Publicity Photo/ Norman Mitchel/ Met Opera Archive

Wie stehen Sie zu der verbreiteten Meinung, es gebe heute weniger große Sängerpersönlichkeiten als früher? Wissen Sie, ich spreche nicht gern von der Vergangenheit , mich interessiert die Gegenwart. Wir haben heute großartige Sängerinnen und Sänger wie eine Renée Fleming, eine Deborah Voigt , einen Marcello Giordani und andere, und ich glaube, das sind die Künstler, die die Oper weitertragen. Es ist heute anders – die jungen Sänger glauben, sie hätten nur wenig Zeit zum Wachsen, zum Entwickeln. Es gibt unglaublich viel Konkurrenz, man braucht sofort die Aufmerksamkeit der Medien – und das ist nicht die beste Methode für organisches Wachsen, nicht wahr? Was man schnell, schnell aufbaut, hält meist auch nicht lange. Ich rate den Jungen immer, es adagio anzugehen – sie haben ja so viel Zeit. Ich habe aber Angst für das Genre Oper heute – dass das Publikum sich zu sehr an spektakuläre Effekte gewöhnt. Manche jungen Regisseure kennen und lieben die Musik nicht mehr, bedienen sich des Theaters nur noch. Und das ist kein Dienst am neuen Publikum. Das Publikum braucht Emotionen – wenn es kalt aus der Oper kommt, bringen wir das Theater nicht weiter. Auch manche Dirigenten verderben viel mit der Mode, alles ganz präzis und streng im Metrum und genau wie notiert zu nehmen. Die Oper ist doch für Emotionen gemacht , da muss mal eine Note länger gehalten werden, und dann wird applaudiert. Man applaudiert heute weniger in der Oper – warum? Fehlt da der Enthusiasmus, die Emotion? So. Ich habe alles gesagt – jetzt muss ich gehen (Foto oben Renata Scotto als Francesca da Rimini an deer Met/Foto DG Video).

Gemischtes Obst

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Es ist angerichtet. Der Bariton Benjamin Appl bittet zu Tisch. Gereicht werden verbotene Früchte. Die schmecken bekanntlich besonders gut. Wenngleich streng vegan, können sie durchaus der Fleischeslust förderlich sein. Diese Erfahrung machten schon die ersten Menschen im Garten Eden. Dort ließ sich Eva von der Schlange dazu überreden, den verlockenden Apfel vom Baum der Erkenntnis zu probieren. Die Unschuld war hin. „Wir streben immer zum Verbotenen und begehren das, was uns versagt wird.“ Dieses Zitat des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) aus dessen Amores-Gedichten stellt Appl einem eigenen Text im Booklet seiner neuen CD mit dem verheißungsvollen Titel „Forbidden Fruit“ voran. Sie ist bei Alpha Records erschienen (ALPHA 912). Für die stimmungsvolle Begleitung am Klavier sorgt James Baillieu. Die Ausstattung gelang betont verschwenderisch. Auf theatralisch inszenierten Fotos stechen stilistische Anleihen bei der Renaissance ins Auge. Als seien Caravaccios Obstkörbe geplündert worden. „Auch wir stehen immer in diesem Spannungsfeld, wollen Erfahrungen sammeln, essen ,verbotene Früchte‘, die uns etwas Unbekanntes versprechen“, so Appl. Aber selbst nach dem „Kosten“ keimten Unzufriedenheit und der Wunsch auf, neu auftretende Grenzen zu durchbrechen. Werde das Leben dadurch besser? Erlange man wirklich mehr Freiheit, mehr Glück? „Musik und Poesie zeigen oft einen Weg jenseits dieser ständig sich verschiebenden Grenzlinien.“ Mit Faurés „In paradisum“ beginnend, soll das Album nach den Vorstellungen des Sängers der biblischen Erzählung folgend, einen Bogen spannen, der den Zuhörer zu Beginn ins Paradies hinein“ und am Ende, wenn der Garten Eden verschlossen wird, „wieder herausführt“. Einzelne Bibelzitate würden musikalisch wie mit einem Kaleidoskop beleuchtet. Dabei reiche die Spannweite vom Volkslied über das deutsche Kunstlied hin zum französischen Impressionismus, zu Vertonungen neuer Sachlichkeit und Melodien aus Tonfilmen sowie zeitgenössischen Kompositionen.

Das sollte reichen. Mit einundvierzig Nummern – fünfzehn davon sind kurze gesprochene Einwürfe des Interpreten – gelangt die CD zwar nicht an ihre physischen, dafür aber an ihre intellektuellen Grenzen. Im Booklet braucht es siebzehn Seiten, um die literarischen Vorlagen im Original und in Übersetzungen – darunter auch ins Deutsche – abzubilden. Mitlesen ist Pflicht. Der Wechsel zwischen den Sprachen und Stilen will auch für den Sänger bewältigt sein, was ihm nicht durchgehend gelingt. Immerhin wird sein unverwechselbares einnehmendes Timbre zur Konstante der Interpretation. Viele Titel haben es inhaltlich und musikalisch in sich wie Hanns Eislers Ballade vom Paragraphen 218. Oder Goethes Ganymed in der Vertonung durch Hugo Wolf, der nach gut fünf Minuten mit hartem Schnitt von Kurt Weills Sehnsuchtslied Youkali abgelöst wird. Wolf wird noch mehrfach vorkommen, Robert Schumann auch. Von Franz Schubert sind das Heideröslein und – das ist jetzt kein Tippfehler – Gretchen am Spinnrade im Angebot, jenes Lied also, vor dem selbst Dietrich Fischer-Dieskau in seinem Streben nach enzyklopädischer Vollständigkeit zurückschreckte. Appl, sein letzter Schüler, singt es – womöglich gar als erster Mann in der Aufnahmegeschichte. Es ist ihm vor allem wegen des Schicksals von Gretchen wichtig, die sich Faust in Liebe hingibt und als Kindsmörderin endet.

„Kann denn Liebe Sünde sein?“ Wer auf das Lied, welches Zarah Leander im Ufa-Film Der Blaufuchs zum besten gab und das danach ein unverwüstliches Eigenleben entwickelte, nicht gefasst gewesen ist, soll nur genau hinhören. Es gibt nämlich noch eine Geschichte hinter dem Lied. Dessen Text stammt von Bruno Balz, der dem eigenen Geschlecht zuneigt gewesen ist und deshalb von den Nationalsozialisten verfolgt wurde. Vor diesem Hintergrund kann das Lied auch als sein Outing verstanden werden – als spreche er, Balz, der von der schwulen Community als Aktivist verehrt wird, für seinesgleichen und für sich selbst. Die einzelnen Begründungen des Sängers für seinen Kanon sind zwar plausibel, teilen sich aber nur selten von selbst mit. Zu oft fragt man sich, warum nun dieses oder jenes Lied eine verbotene Frucht sein soll? Über die meisten Verbote ist nämlich die Zeit hinweggegangen. So wird aus verbotenen Früchten schnell gemischtes Obst (16. 08. 23). Rüdiger Winter