Gomes´“Joana de Flandres“

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Nach 142 Jahren wurde Joana de Flandres, die zweite Oper des brasilianischen Nationalkomponisten Antônio Carlos Gomes, „wieder gefunden“ und auf die Opernbühne von Rio de Janeiro zurückgebracht. Unwidersprochen wird Gomes für den größten (unter den zugegebenermaßen nicht sehr zahlreichen) brasilianischen Opernkomponisten gehalten, und auch wenn sein Werk von neun Opern in der Quantität begrenzt sein mag, so ist es doch wegen seiner dramatischen Kraft und vor allem wegen des nationalen Prestiges bedeutend. Zu seinen Erfolgen gehören die Opern Guarany, namentlich Fosca, Maria Tudor, Salvator Rosa und Lo Schiavo.

Der junge Antonio Gomes zur Zeit der Komposition/HeiB

Der junge Antônio Gomes zur Zeit der Komposition/HeiB

Gomes wurde 1836 in der brasilianischen Provinz Campinas geboren, im Inneren des Staates San Paolo. Er war eines von 25 Kindern von Manuel José Gomes, Dirigent des städtischen Orchesters, bei dem er seine Musikstudien begann. Im Alter von 24 Jahren übersiedelte er nach Rio de Janeiro, um seine Ausbildung am dortigen Konservatorium zu vervollständigen. Hier komponierte er auch seine beiden ersten Opern, A noite de Castello und Joana de Flandres. Letztere brachte ihm ein Stipendium des Kaisers Dom Pedro II. ein, um am berühmten Konservatorium von Mailand zu studieren – dem Mekka der italienischen und europäischen Opernausbildung, das viele herausragende Komponisten hervorgebracht hat, darunter eben auch viele Ausländer, die in ihre Heimatländer zurückkehrten und dort gefeierte Nationalkomponisten wurden – Gomes und der Armenier Tschukadian (Arshak II) sind die bedeutendsten davon. Im Jahre 1866 erhielt Gomes in Mailand den Abschlusstitel eines maestro compositore, und vier Jahre später hatte seine Oper Il Guarany an der Scala in Mailand Erfolg. Gomes war angekommen und ein renommierter Komponist von Rang, dessen Fosca selbst Verdi das Fürchten lehrte…

Der Dirigent und Musikwissenschaftler Fabio Gomes de Oliveira /HeiB

Der Dirigent und Musikwissenschaftler Fabio Gomes de Oliveira /HeiB

Von dieser Zeit an vollzog sich seine musikalische Karriere ausschließlich in Italien, mit Ausnahme seiner letzten Oper Lo Schiavo, die er nach seiner Rückkehr nach Brasilien zu Ehren der Prinzessin Isabel, die sich für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt hatte, schrieb. Seine Rückkehr in die nunmehr republikanische Heimat brachte ihm Probleme, besonders wegen der Förderung, die er ehemals durch die kaiserliche Familie erfahren hatte – und das gleichzeitig mit der Ausrufung der Republik. Carlo Gomes entfernte sich aus dem politischen Zentrum Brasiliens und verlegte sein Leben in den nördlichen Landesteil, wo er zum Direktor des Konservatoriums von Belém ernannt wurde. Er starb im Jahre 1896 und gilt heute als der größte Sohn seines Landes, nach dem Münzen und Geldscheine geprägt wurden. Dennoch haben seine Opern kaum noch europäischen Widerhall – von Zeit zu Zeit finden sich einzelne Werke, so der Guarany (wie in Bonn mit Domingo) oder eine Fosca (zuletzt in Wexford) oder Salvator Rosa; die Oper von Sofia gab einige Werke in den 80ern mit so großen Namen wie Krassimira Stoyanova, aber allein schon der CD-Kauf seiner Aufnahmen gestaltet sich schwierig und ist eigentlich nur in Brasilien möglich, wo es eine kurze Renaissance seiner Opern mit sauren Stimmen in den 60er Jahren gab. Erst kürzlich kam der Mitschnitt des Salvator Rosa aus Braunschweig bei Oehms heraus, zwei weitere gibt es bei Dynamic (Martina Franca) und Regis (Dorset), Il Guarany ist in der Bonner Produktion bei Sony erschienen – das ist nicht viel.

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Ziel der Wünsche: die Mailänder Scala/Wiki

Ziel der Wünsche: die Mailänder Scala/Wiki

Der Belcanto-Spezialist Alex Weatherson schreibt dazu:Erstaunlich ist, dass Gomes` Komposition Einflüsse seiner europäischen Kollegen zeigt, obwohl er noch nicht in Europa gewesen war. Der Plot der Joanna de Flandres ist ganz eindeutig dem Nabucco nachempfunden – dieser war erstmals in Brasilien am 18.11.1848 am Teatro Sao Paolo de Alcantara aufgeführt worden und liegt damit ein wenig zu früh, als dass Gomes ihn gesehen hätte, aber er kannte ganz sicher den Klavierauszug; und das Teatro Lirico Fluminense in Rio (wo Joanna und A noite do castello uraufgeführt wurden) brachte Verdis Macbeth bereits am 25.3.1852 – diese Oper hat Gomes ganz sicher gesehen (und sein Librettist de Mendonca war von schottischer Abstammung!). Ganz sicher spielte Verdi in der formativen musikalischen Ausbildung Gomes´ eine große Rolle, aber es gab noch einen anderen Komponisten von Bedeutung für ihn – Giovanni Pacini, dessen Einfluss leicht in der Joana de Flandres zu entdecken ist. Zwei Partituren Pacinis waren vor der Entstehung der Joana nach Brasilien geschickt worden: L’alleanza war eine Kantate, die für den Geburtstag des Kaisers Dom Pedro von Brasilien von der Kaiserin Teresa Cristina (einer ehemaligen Schülerin Pacinis in Neapel) in Auftrag gegeben worden war und die in Rio am 1.9.1851 aufgeführt wurde. Die zweite von 1862 fiel in die Entstehungszeit der Joanna und war eine frühe Version von Pacinis Nicolo de‘ Lapi, Dom Pedro zwar zugeeignet, aber nicht aufgeführt. Diese umfangreiche melodramatische Oper weist einen eingekerkerten abtrünnigen Vater, eine tragische Tochter und weiteres bekanntes Personal auf. Und da der Kaiser sowohl als Patron wie auch persönlich an Gomes interessiert war, kann es keinen Zweifel geben, dass Gomes dieses Manuskript studierte (das immer noch in Rio liegt). Ich denke, dies ist eine der entscheidenden Informationen für die Genesis der Joana de Flandres.“

Zeitgenössische Karikatur von Gomes/HeiB

Zeitgenössische Karikatur von Gomes/HeiB

Zurück ins Jahr 2005 zur Aufführung im Teatro Alfa in Rio. Das Orchester bestand aus nur 45 Instrumenten und war eigens für diese Neuproduktion 2005 zusammengestellt worden. Natürlich konnte es nicht ein Niveau wie ein festes, ständig gemeinsam arbeitendes Orchester erreichen. Aber unter der Führung von Fabio Gomes de Oliveira sorgte es für Ausgewogenheit zwischen Bühne und Podium. Das Solistenensemble hatte sich der Musik angemessen angenommen, die voluminöse Stimmen mit viel Dramatik verlangt. Nicht alle Sänger repräsentierten diesen Stimmtyp, aber mit Sensibilität, angenehmen Stimmfarben und korrekten Interpretationen bewältigten sie die technischen Schwierigkeiten der Partitur – namentlich der Bass Savio Sperandio in der Partie des Grafen Balduin, der Sopran Marcia Guimares (Margarida) und der Tenor Fernando Portari (Raul). Die Sopranistin Julianne Daud war die Titelsängerin, der Bariton Paulo Szot als der Adlige Huberto de Courtray sowie der Tenor Sergio Wintraub in der kleinen Rolle des Burg vervollständigten das Ensemble. Anständig war auch die Teilnahme des Chores, auch dieser extra für diese Produktion zusammen gestellt. Auch die optische Seite von Chris Daud/Renato Scripilliti/Wagner Freire war mehr als ansprechend – konservativ und das Drama tragend. Nach den Vorstellungen in Rio begann die Oper ihren Zug über 14 Bühnen der großen brasilianischen Städte, so dass alle Opernfans der Nation etwas davon hatten.

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Juliana Daud in der Titelrolle neben dem Tenor Fernando Portari/Raul in der Aufführung 2005/HeiB

Juliana Daud in der Titelrolle neben dem Tenor Fernando Portari/Raul in der Aufführung 2005/HeiB

Die Handlung der Oper in portugiesischer Sprache spielt in Flandern zur Zeit der Kreuzzüge im Mittelalter. Balduin, Graf von Flandern, gilt als vermisst im Heiligen Land. Während seiner Abwesenheit übernimmt seine Tochter Joanna die Herrschaft und verliebt sich in den Troubadour Raul de Mauléon, mit dem sie eine verzehrende Liebe zehn Jahre lang verbindet, was eine Revolte der Adligen unter dem Kommando des Ritters Huberto de Courtray verursacht. Da sie sicher ist, dass ihr Vater verstorben ist, beschließt sie, Raul zu heiraten und ihm die Krone Flanderns zu übergeben. Während der Krönung erscheint plötzlich Balduin; obwohl sie den Vater erkennt, erklärt sie ihn zum Betrüger, um Krone und Geliebten nicht zu verlieren. Der Graf, von seiner anderen Tochter Margarida wieder erkannt, wird ins Gefängnis geworfen. Joanna sucht ihren Vater im Kerker auf – wenn er sich retten will, soll er sich als Betrüger be- kennen und damit auf den Thron von Flandern verzichten. Beraten von seiner Tochter Margarida, weist der Graf das Ansinnen zurück. Raul hat Gewissensbisse und rät Joanna, den Vater nicht zum Tode zu verurteilen, aber sie hört nicht auf ihn. An der Spitze des Volkes steht Huberto dem Grafen Balduin im entscheidenden Moment bei, sich die Krone zurück zu erobern. Allgemeiner Tumult entsteht. Joanna versucht ihren Vater zu erstechen, da fällt ihr Raul in den Arm und tötet sie mit demselben Messer, an- schließend sich selber, womit das Drama sein Ende findet. Geerd Heinsen

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Gomes „Joanna de Flandres“ – Paulo Szot/Huberto mit Chor 1995/HeiB

Joana de Flandres: Drama lirico von Antônio Carlos Gomes; Libretto von Salvador de Mendonca
Uraufführung am 15. September 1863 am Teatro Lirico Fluminense von Rio de Janeiro
Personen: Joana de Flandres – Spinto-Sopran, Raul de Manleon – Tenor, Margarida de Flandres (Joannas Schwester) – Sopran, Huberto de Courtray – Bariton, Conde Balduino (Vater der Schwestern) – Bass, Burg (Vertrauter) – Tenor; Höflinge, Kriegsvolk, Volk Ort/Zeit: Flandern im Jahre 1225.

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(Mein Dank geht in erster Linie an den überaus hilfsbereiten und liebenswürdigen Dirigenten Fabio Gomes de Oliveira, der mir das Material gab und mir mit weiteren Informationen ganz selbstlos half, nachdem mich Thomas Lindner auf zwei Clips aus der Aufführung in Rio bei Youtube aufmerksam gemacht hatte. Weiters danke ich Ingrid Wanja und Marcelo Castronuovo für ihre Übersetzungshilfen. Mein Artikel bezieht sich auf die Einleitung des Dirigenten im Programmheft der Aufführung 2005 und u.a. auf die Rezension von Norberto Modena zur Aufführung 2005 im  italienischen Opera sowie auf zahlreiche Einträge im Netz. Und natürlich danke ich Alex Weatherson für seine ebenso klugen wie weiterführenden Beobachtungen auf Grund seines immensen Wissens. G. H.)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.