Archiv für den Monat: August 2023

Judas eine Stimme geben

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„Als ich meine erste Matthäus-Passion gesungen habe, fiel es mir schwer, das Rezitativ über den Tod des Judas zu gestalten“, räumt der aus Island stammende Tenor Benedikt Kristjánsson im Booklet seiner neuen CD ein. Nicht, weil es gesangstechnisch größere Schwierigkeiten bereite als die anderen Rezitative. Er habe die Interpretation von vielen anderen Evangelisten im Ohr gehabt und sei ohne darüber nachzudenken in deren Fußstapfen getreten, nämlich den „Judas als Verräter, Feigling, Bösewicht und einen Mann, der einen grässlichen Tod verdient hat, darzustellen“. Kristjánsson weiter: „Das wolle ich aber nicht tun.“ Er spricht von seinen Versuchen, für dieses Rezitativ eine andere Interpretation anzubieten und den daraus folgenden Auseinandersetzungen mit Dirigenten. „Das Thema hat mich immer weiter beschäftigt, schicksalhaft kam es auf mich zu.“ Als eine Quelle der Inspirationen erwies sich für den jungen Sänger der Roman Judas von Amos Oz – in Deutschland bei Suhrkamp erschienen. „Weil Judas in der Passionsgeschichte eben keine eigene Stimme hat und man den Ablauf nie aus seiner Perspektive hört“, interessierte es Kristjánsson, eine solche Geschichte zu entwickeln. Sie ist auf der bei Coviello herausgekommenen CD mit dem Titel Judas zu hören (COV 92307). Es begleiten das Ensemble Continuum und Sergey Malov mit der Violine.

Es ist nur konsequent, dass bewusste Rezitativ „Und er warf die Silberlinge in den Tempel, hub sich davon, ging hin und erhängete sich selbst“ aus dem zweiten Teil der Passion wegzulassen. Stattdessen kommt Jesus beim letzten Abendmahl zu Wort und eröffnet seine Perspektive. Der Tenor muss in die tiefe Bass-Lage wechseln, was seine emotionale Wirkung nicht verfehlt und einen Höhepunkt der Interpretation beschert: „Trinket alle daraus, das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden. Ich sage euch, ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken, bis an den Tag, da ich’s neu trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.“ Mich euch! Also auch mit Judas, der seine dreißig Silberlingen – den Lohn für den Verrat von Jesus – bereits in der Tasche hat, als mit den anderen am Tisch Platz nahm. Ich hole mir den Essay Der Fall Judas des Literaturhistorikers und Schriftsteller Walter Jens (1923-2013) aus dem Regel und lese nach, was ich mir vor vielen Jahren in der Ausgabe von Reclams Universalbibliothek Band 1300 auf Seite 144 angestrichen: … hätte er (Judas) sich seiner Bestimmung entzogen und die Tat verschmäht, die um unser aller Erlösung willen getan werden musste, er wäre an Gott zum Verräter geworden. Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans.“ Jens gelangt zu dem Schluss, dass es „ohne diesen Mann“ keine Kirche gegeben habe.

Kristjánsson kennt sich aus bei Johann Sebastian Bach. Zu der bereits erwähnten Stelle aus der Matthäus-Passion hat er Rezitative und Arien aus insgesamt zehn Kantaten (BWV 3, 12, 55, 76, 97, 131, 154, 157, 179 und 183) ausgewählt, die der Autor Thomas Jakobi in einen inhaltlichen Bezug zur anderen, zur tragischen Seite von Judas stellt, der den undankbarsten Part in der Passionsgeschichte auf sich nahm. Sie finden sich im Booklet abgedruckt, was auch unbedingt nötig ist. Am Sänger ist es, die musikalische Ausdeutung vorzunehmen, indem er Judas mit seiner Auswahl die Stimme gibt, der er immer vermisst hat. Das funktioniert verblüffend gut und überzeugen.

„Es mag mir Leib und Geist verschmachten“ oder „Ich fürchte nicht des Todes Schrecken“. Bei welchem Zitat man immer auch innehält, es könnte auch von Judas sein. Was Kristjánsson vorschwebt, teilt sich aber nicht automatisch mit. Es will entdeckt und erfahren werden, stellt die Hörer vor besondere Herausforderungen. Die CD ist nichts für nebenbei. Man wird sie wieder und wieder spielen müssen. Dabei erweist es sich als ungemein hilfreich, dass der Sänger mit großer emotionaler Bandbreite so deutlich und genau singt. Rüdiger Winter

Berit Lindholm

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Die schwedische Sopranistin Berit Lindholm, am 18. Oktober 1934 als Berit Maria Jonsson in Stockholm geboren, wollte zunächst Volksschullehrerin werden und hatte auch bereits ihr Examen abgelegt, bevor es sie an die Königlich Schwedische Opernschule in ihrer Geburtsstadt zog. Ihre Lehrerinnen waren Britta von Vegesack und Käthe Sundström. Im Mai 1963 erfolgte Lindholms Debüt an der Stockholmer Oper als Gräfin in Mozarts Figaro. Bis 1972 sang sie dort Elisabeth (Tannhäuser), Aida, Tosca, Leonore (Fidelio) und Chrysosthemis (Elektra). Auf Empfehlung ihrer Landsmännin Birgit Nilsson erfolgte 1966 Lindholms Engagement an der Wiener Staatsoper, im selben Jahr auch am Royal Opera House, Covent Garden, in London. Spätestens ab diesem Zeitpunkt galt sie als eine der wichtigsten Wagnersängerinnen ihrer Generation. Es folgten 1967 Gastspiele in München und Zürich sowie ihr erster Auftritt bei den Bayreuther Festspielen als Venus (Tannhäuser). Dort übernahm sie in der Folge auch die dritte Norn (1968 und 1969), vor allem aber alle drei Brünnhilde-Partien im Ring (zwischen 1968 und 1973). Weitere Gastspiele führten sie nach Barcelona, Amsterdam und New York. 1973/74 und ab 1977 war sie an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg verpflichtet. Bereits 1976 zur Königlich Schwedischen Hofsängerin ernannt, folgten weitere Auszeichnungen wie der Orden Litteris et artibus (1988). Nach ihrem 1993 erfolgten Rückzug von der Bühne wirkte sie als Gesangspädagogin. Ihre offizielle Diskographie ist überschaubar und vermittelt nur ansatzweise ihren Rang. Berit Lindholm ist am 12. August 2023 im 89. Lebensjahr in ihrer Heimatstadt Stockholm verstorben. Daniel Hauser

Wer kennt Paul?

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Bühnenmusik steht im Mittelpunkt des nächsten Teils, bereits Vol. 6 der Paul Wranitzky gewidmeten Edition bei Naxos (8.574454). Mittlerweile ist es fast unnötig, die verantwortlich Zeichnenden, das Tschechische Philharmonische Kammerorchester Pardubice unter der Stabführung des Dirigenten Marek Štilec, zu erwähnen. Das eingespielte Team erzielt auch diesmal ausgezeichnete Ergebnisse bei diesen abermaligen Weltersteinspielungen.

Konkret sind diesmal Werke der Jahre 1795 bis 1797, gleichsam zum Höhepunkt des Wirkens Wranitzkys, berücksichtigt worden: Mit August von Kotzebues fünfaktiger Tragödie Die Spanier in Peru, oder Rollas Tod (1795) wird der Anfang gemacht. Es handelt sich um die Fortsetzung des beliebten Stücks Die Sonnenjungfrau und setzt die Geschichte um den berühmt-berüchtigten spanischen Konquistador Francisco Pizarro und die Eroberung des Inkareichs 1532/33 fort. Drei der fünf Ouvertüren zu den einzelnen Aufzügen sind inkludiert, wobei die Introduktion zum dritten Akt vom Komponisten als Adagio in seiner Sinfonie C-Dur op. 33 Nr. 2 (bereits erschienen auf Vol. 3) wie auch die für eine weitere Folge aufgesparte Einleitung zu Akt 5, die wiederum als langsamer Satz einer weiteren Sinfonie Neuverwendung fand, nicht willkürlich ausgelassen wurden. Hinzukommt ein durchaus hörenswerter Marsch. Nur wegen des Fehlens der beiden genannten Ouvertüren kommt diese Bühnenmusik lediglich auf gut 19 Minuten Spielzeit.

Von der Bühnenmusik zu Jolantha, Königin von Jerusalem (1797), einer Tragödie in vier Akten von Friedrich Wilhelm Ziegler, sind hingegen alle vier Akteinleitungen enthalten. Die fiktive Handlung ist in der Heiligen Stadt Jerusalem im Jahre 1135 angesiedelt. Neben dem Auftreten rivalisierender Brautwerber um die Hand der jungen Herrscherin spielen angreifende Sarazenen und die Wahl eines neuen Großmeisters des Templerordens eine Rolle. Tatsächlich hat Wranitzky auch Schlachtenlärm in die Ouvertüre zum zweiten Aufzug eingebaut. Ein Trauermarsch gedenkt der christlichen Opfer der Walstatt. Insgesamt wird der Komponist den religiösen, militärischen und dramatischen Erfordernissen der Bühnenhandlung gerecht. Die Spieldauer fällt hier 24-minütig aus.

Mit Achmet und Zenide (1796) tritt ein weiteres fünfaktiges Drama, dieses Mal von August Wilhelm Iffland, auf den Plan. Es spielt im Gouverneurspalast einer türkischen Provinz. Die Dreiecksbeziehung des Paschas, seiner Lieblingskonkubine und eines europäischen Besuchers sorgt für eine ereignisreiche Handlung. Freilich steht des Sujet damit unter dem Eindruck der seinerzeit sehr populären Türkenoper; der letzte Krieg Österreichs gegen das Osmanische Reich lag nur wenige Jahre zurück. Hier wurden tatsächlich alle fünf Ouvertüren der jeweiligen Aufzüge eingespielt. Gleichsam als Bonus ist der Marsch aus dem vierten Akt beigegeben, was zu einer Spielzeit von gut 25 Minuten führt. Die sinfonisch angelegte Konzeption Wranitzkys wird gerade bei dieser Bühnenmusik deutlich.

Es bleibt auch beim sechsten Male bei Worten des Lobes für die Ausführenden und die Tontechnik (aufgenommen im bewährten Haus der Musik zu Pardubice im Februar 2022). Das englischsprachige Booklet kommt gewohnt gediegen und ausreichend informativ daher. Man darf sich auf weitere Teile dieser bereits jetzt erfolgreichen Reihe freuen. Daniel Hauser

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Nun also der Rest. Die noch ausstehenden beiden Teile der Wranitzky-Reihe bei Naxos, Vol. 3 (8.574289) und Vol. 5 (8.574399), runden das großangelegte und begrüßenswerte Projekt auf dem gewohnten hohen Niveau ab. Wie könnte es anders sein, dass auch dort Marek Štilec und das Tschechische Philharmonische Kammerorchester verantwortlich zeichnen. Eingespielt wurde abermals im Haus der Musik in Pardubice (Juni/Juli 2020 und September 2021).

Im Mittelpunkt stehen in der dritten Folge der Serie jeweils zwei Ouvertüren und zwei Sinfonien, wobei ein Zeitraum von gut zehn Jahren (komponiert zwischen 1793 und 1804) abgedeckt wird. Während sich die zweiaktige Oper Die gute Mutter (1795) mit einem kurzen Vorspiel von kaum vier Minuten begnügen muss, stellte Wranitzky dem sogenannten Liederspiel Mitgefühl (1804) eine doppelt so lange Orchesterintroduktion voran. Das einaktige Werk stellt eine Unterart des Singspiels dar, in welches existierende Gedichte mit neuer Musik untermalt wurden und eine schlichte bäuerliche Geschichte darum gestrickt wurde. Beide Stücke repräsentieren den publikumswirksamen Stil des heute zu Unrecht vergessenen Komponisten.

Gewichtigeren Charakters sind naturgemäß die Sinfonien, wobei diejenige in C-Dur op. 33 Nr. 2 (1798), knapp 33-minütig, nunmehr die Drey grossen Sinfonien beschließt; die beiden anderen waren in Vol. 1 bzw. Vol. 2 enthalten. Die C-Dur-Sinfonie stellt eine Art Wiederverwertung zuvor komponierter Musik für die Bühne dar. Der Kopfsatz beruht auf der Ouvertüre zu Siri Brahe oder Die Neugierigen (1794), das darauffolgende Adagio auf dem Vorspiel zum dritten Akt von Die Spanier in Peru, oder Rollas Tod (1795) und das Finale schließlich auf der Ouvertüre zum Ballett Die Weinlese (1794). Lediglich das Menuett scheint komplett neu geschrieben worden zu sein. Bei der anderen hier inkludierten Sinfonie D-Dur op. 25 La Chasse (1793) begegnet der seit Haydn geläufige Typus der Jagd-Sinfonie, was durch die Hörner verdeutlicht wird. Ursprünglich waren keine Trompeten vorgesehen, doch fügte Wranitzky solche anlässlich einer Aufführung für Ferdinand III. von Toskana, der im Exil in Wien lebte, hinzu, wie im als La Caccia bezeichneten Schlusssatz auch eine große Kesselpauke (timpanone). Glücklicherweise entschied sich Štilec für diese reizvollere Fassung. Ebenfalls viersätzig, jedoch zehn Minuten kürzer, folgt in der Jagd-Sinfonie das Menuett an zweiter und der langsame Satz erst an dritter Stelle, was bereits in die Zukunft weist.

In der fünften Folge der Reihe steht die über 50-minütige Ballettmusik Das listige Bauernmädchen (zwischen 1795 und 1805) im Zentrum. Diese fand sich im Nachlass der musikbegeisterten Kaiserin Maria Theresia, gebürtiger Prinzessin von Neapel-Sizilien und zweiter Gemahlin Kaiser Franz‘ II., und umfasst eine attraktive Ouvertüre und 17 nachfolgende Nummern. Diese untergliedern sich in ländliche Tänze und komplexere Pantomimen. Hinzugesellt sich ein Marsch mit Cello-Solo (Solist: David Matoušek). Beschlossen wird das Werk festlich und fröhlich mit einer Contredanse.

Die beiden anderen auf der CD enthaltenen Stücke entstanden im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten anlässlich des Kaisergeburtstag des besagten Franz II. am 13. Februar 1803. Das Divertissement Vorstellungen dauert 17 Minuten und besteht nach einer kurzen Introduktion aus sechs weiteren Nummern. Eine szenische Darbietung ist absolut naheliegend, auch wenn sich kein Szenarium erhalten hat. Nach dieser Balletteinlage, die interessanterweise ruhig ausklingt, schloss sich mit dem sogenannten Quodlibet ein zweiter Teil an. Hieraus wählte Naxos die abschließende, neunminütige Contredanse zur passenden Abrundung des Ganzen. Dieser Kontratanz ist tatsächlich in mehrere Teile untergliedert, welche folgende Bezeichnungen tragen: Krankheit, Arbeit, Fröhlichkeit, Galopp, Laune, Lastthier, Bär und Beurtheilung. Fanfaren in D-Dur sorgen für einen festlichen Abschluss.

Die informative Textbeilage (auf Englisch) besorgte in beiden Fällen Daniel Bernhardsson. Eine geglückte Abrundung der Reihe und eine weitere diskographische Großtat hinsichtlich eines Komponisten der sogenannten zweiten Reihe. Daniel Hauser

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Mittlerweile bereits bei Vol. 4 angelangt ist man in der Reihe der Orchesterwerke des tschechischen Komponisten Paul Wranitzky (Naxos 8.574290). Abermals zeichnet die bewährte Kombination, bestehend aus dem Tschechischen Philharmonischen Kammerorchester Pardubice unter Dirigent Marek Štilec, verantwortlich und hält das gewohnte hohe Niveau, das durch idiomatischen Zugriff kennzeichnet ist, unterstützt durch den sehr gut eingefangenen Klang (Aufnahme: Haus der Musik, Pardubice, 13.-16. Juli 2020).

Diesmal steht die Musik zur Ballett-Pantomime Das Waldmädchen im Zentrum. Dieses Ballett, das am 23. September 1796 im Wiener Kärntnertortheater seine Premiere feierte, entwickelte sich rasch zum Publikumsliebling und erfuhr in den darauffolgenden Jahren über 130 Aufführungen (selbst Beethovens Geschöpfe des Prometheus lagen mit gerade 28 Vorstellungen weit abgeschlagen zurück). Für die Choreographie sorgte Giuseppe Traffieri. Die Popularität des Stoffes führte 1799 gar zu einer Romanadaption. Kammermusikalische Arrangements besonders des russischen Tanzes, einer Variation der Kamarinskaja, wirkten sich inspirierend auf andere Komponisten aus, darunter den genannten Beethoven, dessen Zwölf Variationen über den russischen Tanz aus Das Waldmädchen WoO 71 1797 entstanden. Die erste, 1800 vollendete Oper des blutjungen Carl Maria von Weber trägt gewiss nicht allein zufällig denselben Titel wie das Werk Wranitzkys. Noch in den 1870er Jahren war Das Waldmädchen nicht vergessen. Auf solch ungewöhnlich langanhaltenden Beliebtheitswerte deutet heutzutage freilich nicht mehr das Geringste hin, wofür schon der Umstand spricht, dass es sich hier tatsächlich um die Weltersteinspielung handelt. Die Handlung dreht sich um den polnischen Fürsten Floresky, der auf die als Kleinkind in den litauischen Wäldern ausgesetzte Azémia stößt, bei der es sich eben um das titelgebende Waldmädchen handelt. Der Fürst nimmt dieses auf sein Schloss mit, wo man sich an den Tanzkünsten der vermeintlich Wilden erfreut. Schließlich wird die wahre Identität des Waldmädchens enthüllt, welches sich als Prinzessin aus dem Hause Floresky entpuppt. Bereits zuvor hatte Fürst Lovinsky, der Bruder der Fürstin Floreska, Gefallen an Azémia gefunden. Am Ende hält Lovinsky um ihre Hand an, worauf die Verlobung der beiden von allen Anwesenden freudig gefeiert wird. Dem Charme, den diese liebliche Musik auch ohne die szenische Umsetzung ausstrahlt, kann man sich auch nach über zwei Jahrhunderten schwer entziehen und ist nun dankenswerter Weise in der Lage nachzuvollziehen, warum dieses Ballett einst so beliebt war.

Gleichsam als kleine Zugabe hat Naxos die Pastorale und Allemande beigesteuert, ein gerade sechsminütiges Stück, das Wranitzky für Maria Theresia von Neapel-Sizilien, die Gemahlin von Kaiser Franz II., schrieb. Tatsächlich hat sich das Werk einzig im Nachlass der Kaiserin erhalten. Die rustikal-dörfliche Pastorale imitiert einen Leierkasten, die Allemande gerät sehr tänzerisch und höfisch.

In der Summe also abermals ein gelungener Beitrag des Naxos-Labels zur Repertoire-Erweiterung der Hörerschaft. Daniel Hauser

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Wenige Monate nachdem Vol. 1 erschienen ist, folgt nun bereits Vol. 2 der Orchesterwerke von Paul Wranitzky bei Naxos (8.574255). Diesmal ist neben drei zwischen 1791 und 1798 entstandenen Sinfonien noch die Opernouvertüre Der Schreiner von 1799 inkludiert (sämtlich Weltersteinspielungen), die auch den Anfang macht. In ihrer Farbigkeit zeigt das nur gut vierminütige Stück den Komponisten auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Wiederum fühlt man sich zu Vergleichen mit Haydn, Mozart und Beethoven bemüßigt und muss letztlich doch eine eigenständige Tonsprache Wranitzkys konstatieren.

Die d-Moll-Sinfonie mit dem Titel La Tempesta entstand vor 1795, ist als einzige der hier enthaltenen Sinfonien bloß dreisätzig, mit knapp 28 Minuten aber trotzdem am längsten, was sowohl am gewichtigen Kopfsatz wie auch am titelgebenden Finale liegt (beides etwa elfminütig). Die Grundstimmung ist tatsächlich stürmisch und gemahnt an Mozarts Don Giovanni. Die drei Sätze erklangen als Teil der Bühnenmusik zum Schauspiel Die Rache, was ihren in den Ecksätzen ungemein theatralischen Charakter erklärt. Man ahnt bereits den nicht mehr allzu fernen Schritt zur Romantik.

Die vergleichsweise leichtgewichtige viersätzige Sinfonie A-Dur op. 16 Nr. 2 wurde 1791 veröffentlicht und stellt insofern das früheste auf der CD versammelte Werk dar. Ihre Grundstimmung ist von gänzlich anderer Natur, fröhlich und teils verspielt. Stilistisch ist sie noch stark an die Sinfonik Wranitzkys Mitte der 1780er Jahre angelehnt, absolut klassizistisch und ohne revolutionäre Anflüge.

Mit der charaktervollen Sinfonie F-Dur von 1798, ebenfalls viersätzig, wird diesmal die dritte Nummer des bereits aus Vol. 1 geläufigen op. 33 beigesteuert. Allein äußerlich überragt sie die A-Dur-Sinfonie, ist mit 23:30 Spieldauer fünfeinhalb Minuten länger. Schon durch die langsame Einleitung im Kopfsatz entsteht ein feierlicherer Charakter, der sich im Allegro-Teil fortsetzt, ohne ins Pompöse abzugleiten. Im langsamen Satz variiert Wranitzky Hans Georg Nägelis Freut euch des Lebens, ein beliebtes Volkslied von 1795; im Menuett folgen schließlich Variationen des populären Wiener Volksliedes O du lieber Augustin. Der Finalsatz steht in Sonatensatz-Rondo-Form und klingt in der Coda lebensbejahend und strahlend aus.

Wie bei der ersten Folge kam auch diesmal das Tschechische Philharmonische Kammerorchester Pardubice unter Marek Štilec zum Zuge. Die präsent und klar klingenden Einspielungen entstanden wie zuvor im Dukla Kulturhaus in Pardubice in der Tschechischen Republik (25.-29. November 2019). Die nur englischsprachige Booklet-Beigabe ist recht spartanisch, aber ausreichend. In Sonderheit die d-Moll- sowie die F-Dur-Sinfonie machen diese Neuerscheinung besitzenswert. Daniel Hauser

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Dem ging die Rezension der ersten CD voran: Der im k. k. Mähren als Pavel Vranický geborene tschechische Komponist, der zwischen 1756 und 1808 lebte, galt als eine der wichtigen Gestalten der Wiener Klassik, obwohl er heutzutage nahezu vergessen ist. Auch als Dirigent erlangte er großen Ruhm, wurde 1785 Konzertmeister des kaiserlichen Hofopernorchesters in Wien und übernahm 1795 die Direktion der Wiener Hofoper im Theater am Kärntnertor. In der zweiten Hälfte der 1790er Jahre galt er in Wien als der fraglos wichtigste Sinfoniker, also in der Zeit, als Haydn keine Sinfonien mehr schrieb und Beethoven noch nicht am Start war.

Naxos startet nun eine neue Reihe mit seinen Orchesterwerken. Den Anfang macht Vol. 1 (Naxos 8.574227), welches zwei Sinfonien, zwei Ouvertüren und eine Serenade enthält. Verantwortlich zeichnet einmal mehr das bewährte Tschechische Philharmonische Kammerorchester Pardubice unter der Stabführung von Marek Štilec. Tatsächlich handelt es sich sämtlich um Weltersteinspielungen, welche die doch sehr überschaubare Wranitzky-Diskographie ergänzen. Im Mittelpunkt steht ohne Frage die auch historisch interessante, knapp halbstündige Grosse Sinfonie bei Gelegenheit der Erhebung Franzens zum Deutschen Kaiser C-Dur op. 19, die anlässlich der Wahl von Franz II. zum (letzten) Kaiser des Heiligen Römischen Reiches im Jahre 1792 entstand.

Paul Wranitzky/ wranitzky.com

Paukenstark und mit Fanfaren entfaltet sie, gemessen an der Entstehungszeit, durchaus imperialen Glanz. Etwas später, nämlich 1798, wurde die etwa gleichlange Sinfonie B-Dur op. 33 Nr. 1 veröffentlicht, zusammen mit zwei weiteren. Sie ist etwas leichtgewichtiger. Anklänge sowohl an Haydn wie auch an Mozart sind unverkennbar. Besonders der Schlusssatz lässt an ersteren denken. Die restlichen auf der Compact Disc enthaltenen Stücke entstanden zwei im selben Jahre 1794 entstandenen Opern. Zum einen die Ouvertüre zu Die Poststation, zum anderen die Ouvertüre sowie die dreiteilige Serenade aus dem zweiten Akt von Das Fest der Lazzaroni, alles jeweils etwa fünfminütig. Musikalisch am innovativsten wohl die letztgenannte Ouvertüre, in welcher mittels Piccoloflöten heulender Wind und mit einem sogenannten Timpanone Donnergrollen dargestellt wird. Hier fließt unverkennbar auch der Einfluss Glucks mit ein. Entstanden sind die Aufnahmen von 25. bis 28. November 2019 im Dukla Kulturhaus Pardubice in Tschechien; am Klang gibt es nichts zu beanstanden. Das Beiheft (nur auf Englisch) fällt Naxos-typisch recht mager aus. Eine hübsche, nicht weltbewegende Repertoireerweiterung in sehr gediegener Präsentation. Daniel Hauser

Nachrichten

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HERE IS THE PROGRAMME  OF THE ROSSINI OPERA FESTIVAL 2024
During the second ROF Talks 2023, the programme of the 45th edition of the Rossini Opera Festival was announced. The Festival, which will take place in the year that Pesaro will be the Italian Capital of Culture, will offer five operas for a total of thirty performances from August 7th to 23rd 2024. A new production of Bianca e Falliero, directed by Roberto Abbado and staged by Jean-Louis Grinda, will open the festival. The opera has been absent from the ROf since 2005. It will be followed by another new production, Ermione, conducted by Michele Mariotti and directed by Johannes Erath. The title has not been performed at the Festival since 2008.

Two operas will be revived: L’equivoco stravagante, created for ROF 2019 by Moshe Leiser and Patrice Caurier and directed by Michele Spotti, and Il barbiere di Siviglia by Pier Luigi Pizzi, created for ROF 2018 and this time directed by Lorenzo Passerini.

The festival will close with the celebration of the 40th anniversary of the first modern performance of Il viaggio a Reims, with Diego Matheuz conducting.

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Klaus Heymann als Kommandeur des Rio-Branco-Ordens ausgezeichnet. Hongkong, 26. Juni 2023: Klaus Heymann, Gründer und Geschäftsführer der Naxos Music Group, wurde von der brasilianischen Regierung mit dem Auszeichnung „Kommandeur des Rio-Branco-Ordens“ für seinen Beitrag zum klassischen Musikerbe Brasiliens durch die preisgekrönte Reihe „The Music of Brazil“ des Plattenlabels Naxos geehrt.
„Als ich jung war, war Brasilien das Land meiner Träume, und ich hatte vor, auszuwandern und dort zu leben.“ Der Traum, in Brasilien zu leben, wurde nicht Wirklichkeit, aber das Interesse an dem Land blieb. „Die brasilianische Musik muss in der Welt mehr gehört werden. Die Musikverlage, die die Werke der großen Komponisten kontrollieren, müssen sich stärker dafür einsetzen, dass die Musik aufgeführt wird. Und wir brauchen mehr brasilianische Musikerinnern und Musiker auf internationaler Ebene, die dazu beitragen können, die Musik des Landes bekannt zu machen“, betonte Heymann, der das Projekt vom ersten Moment an befürwortete.

Botschafter Manuel Innocencio de Lacerda Santos Jr, brasilianischer Generalkonsul in Hong Kong and Macau und Klaus Heymann/ Naxos

In Anerkennung des Engagements von Herrn Heymann und seiner Bemühungen, die klassische Musik Brasiliens einem weltweiten Publikum vorzustellen und zu fördern, hat der Generalkonsul Brasiliens in Hongkong und Macau, Botschafter Manuel Innocencio de Lacerda Santos Jr., Herrn Heymann letzte Woche die Insignien des Ordens verliehen. Der Orden von Rio Branco zeichnet verdienstvollen Einsatz und bürgerliches Engagement aus, indem er zu Handlungen und Taten anregt, die einer ehrenvollen Erwähnung würdig sind. Zu den früheren Empfängern gehören Laurindo Almeida, Ryuichi Sakamoto, Toots Thielemans und Ban Ki-moon. Generalkonsul Lacerda Santos Jr. sagte: „Im Namen der brasilianischen Regierung und des brasilianischen Volkes gratuliere ich Herrn Heymann zur Verleihung des Ordens „Kommandeur des Rio-Branco-Ordens“, einer der höchsten Auszeichnungen, die Brasilien an einen ausländischen Bürger vergeben kann. Wir feiern nicht nur seine außergewöhnlichen Leistungen, sondern danken ihm auch von ganzem Herzen für seinen unschätzbaren Beitrag zur kulturellen Bereicherung unserer Gesellschaft. Diese Anerkennung zeugt von seinem unerschütterlichen Engagement für die Künste, seinem unermüdlichen Einsatz für die Förderung des kulturellen Verständnisses und seiner tiefen Wertschätzung für das klassische Musikerbe Brasiliens. Er ist ein Beispiel dafür, wie ein einzelner Mensch durch seine Arbeit und seine Ideale die Welt verändern kann. Er ist eine Inspiration für uns alle, die wir an die Kraft der Musik glauben, Menschen zusammenzubringen und unsere Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ In seiner Dankesrede sagte Herr Heymann: „Brasilien ist ein Land mit 220 Millionen Einwohnern, und die meisten von ihnen sind Musikliebhaber. Es ist ein musikbegeistertes Land, wahrscheinlich mehr als jedes andere Land in der übrigen Welt. Ich hoffe, dass dieses Projekt nicht nur dazu beitragen wird, die brasilianische Musik in der Welt bekannter zu machen, sondern auch, Brasilien als ein Land der Kultur und mit einem großen musikalischen Hintergrund zu präsentieren.“

Das ehrgeizige Projekt Brasil em Concerto, das vom brasilianischen Außenministerium entwickelt wurde und zu dem auch die Reihe „The Music of Brazil“ gehört, fördert die Musik brasilianischer Komponisten, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Die Reihe hat bereits die Hälfte der 100 Orchesterwerke des 19. und 20. Jahrhunderts fertiggestellt, die vom São Paulo State Symphony Orchestra, dem Minas Gerais Philharmonic Orchestra und dem Goiás Philharmonic Orchestra aufgenommen werden, sowie eine Auswahl an Vokal- und Kammermusik mit brasilianischen Künstlerinnen und Künstlern, etwa der mit dem Latin Grammy ausgezeichneten Pianistin Sonia Rubinsky. Die meisten der waren außerhalb Brasiliens noch nie auf Tonträger erhältlich; viele andere sind und werden Weltersteinspielungen sein. Ein wichtiger Teil des Projekts ist die Vorbereitung von Neu- oder sogar Erstausgaben der aufzunehmenden Werke, von denen viele trotz ihrer Bedeutung bisher nur in den Manuskripten der Komponisten verfügbar waren. Diese Arbeit wird von der brasilianischen Musikakademie und von Musikwissenschaftlern in Zusammenarbeit mit den Orchestern durchgeführt. (Quelle Naxos)

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Eine neue Franchetti-Gesellschaft schreibt:  Nachdem wir uns zuvor als loser Haufen definiert hatten, sind wir nun zum Entschluss gelangt, die Freunde Franchettis künftig als eingetragenen gemeinnützigen Verein zu betreiben. Zu diesem Zweck fand am 15. Juli 2017 in Berlin Charlottenburg die Gründungsversammlung statt. Weiterhin gilt: die Mitgliedschaft wird durch formlosen Antrag per Mail erworben, Verpflichtungen entstehen keine. Die Vorsitzende der Freunde Franchettis e.V. ist Cornelia Wolter, Sachsenwaldstraße 3, 12157 Berlin; 0176-20506296; freundefranchettis@web.de

Wenn Sie den Freunden Franchettis helfen wollen, so freuen wir uns darüber. Auf Wunsch kann jedem Spender eine CD mit Musikbeispielen aus dem Schaffen Franchettis zugesandt werden. Alle Spender, es sei denn, sie möchten anonym bleiben, werden namentlich unter den Freunden Franchettis erwähnt.

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“IL BELCANTO RITROVATO”: la nascita di un festival a Pesaro II^ Edizione
24 agosto – 3 settembre 2023

L’Italia è il Paese per eccellenza della musica lirica, ma del suo periodo più fertile, la prima metà dell’Ottocento che comunemente va sotto il nome di “Belcanto”, si eseguono oggi solamente Rossini, Bellini, Donizetti e il primo Verdi, che rappresentano però la punta di un grande iceberg.

Questo periodo è stato, infatti, popolato anche da tantissimi altri compositori, che all’epoca erano importanti e famosi ma che poi la storia ha messo ingiustamente da parte. Contando solo i più noti si arriva ad oltre 60 nomi per un’imponente produzione di oltre 1300 opere praticamente tutte dimenticate o mai eseguite in tempi moderni. Questi compositori con le loro musiche infiammavano i teatri italiani, europei e spesso anche d’oltremare, contribuendo così largamente alla diffusione ed alla fama internazionale dell’opera lirica italiana. Solo per citarne alcuni, in rigoroso ordine alfabetico, vorremmo ricordare Carafa, Coccia, Fioravanti, Generali, Mercadante, i fratelli Mosca, Pacini, Pavesi, Persiani, Pucitta, Raimondi, i fratelli Ricci, Rossi e Vaccai.

Nel 2021 nacque l’idea di riscoprire e riproporre questo prezioso patrimonio italiano della musica; a partire da Rudolf Colm, passando per Daniele Agiman e arrivando a Saul Salucci, l’idea prese vita e si trasformò in un vero e proprio progetto intitolato “Festival Nazionale Il Belcanto ritrovato”.
Da subito l’Orchestra Sinfonica G. Rossini si è messa a disposizione per inserire nelle proprie iniziative questa nuova ed affascinante impresa.
Fu chiaro fin dall’esordio che le Marche e più in particolare il territorio pesarese caratterizzato da numerosi festival musicali e tanti riconoscimenti nell’arte, tra i quali quelli dell’UNESCO, offrivano le premesse ideali per la straordinaria disponibilità di competenze artistiche ed organizzative. La prima edizione ha previsto spettacoli a Pesaro, Fano, Urbino, Arcevia e Montemarciano.
Era però anche chiaro, fin dall’inizio, che questo festival avrebbe dovuto affrontare, rispetto a tutti gli altri, una sfida più complessa che prevedeva oltre all’esecuzione pubblica attraverso gli eventi del festival, una fase propedeutica di ricerca storica e musicologica e la selezione del materiale da eseguire attraverso la produzione di revisioni critiche.
In questa grande “caccia al tesoro” delle bellezze nascoste dell’opera lirica italiana è stata determinante la possibilità di collaborare localmente con istituzioni straordinarie come il Rossini Opera Festival, la Fondazione Rossini, l’Accademia Rossiniana Alberto Zedda, la Fondazione Teatro della Fortuna ed altre ancora. Il primo lavoro di riscoperta è stato il recupero dopo 199 anni di oblio della farsa in un atto del 1810 “Cecchina suonatrice di ghironda” del piemontese Pietro Generali. I Sovrintendenti Rudolf Colm, Saul Salucci/ https://youtu.be/FUuUBS2Ev-s?list=PLi2jd34Xa07eKOZn76lcH7SstT5pn4Dvi

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“LE INTERVISTE IMMAGINARIE”: introduzione

Il nuovo Festival Nazionale “Il Belcanto ritrovato” (IBR) che ha aperto i battenti al Teatro Rossini di Pesaro il 23 agosto 2022, vuole essere il primo palcoscenico integralmente ed esclusivamente dedicato a quei compositori più sopra citati che con le loro opere hanno infiammato all’epoca i teatri italiani, europei e spesso anche d’oltremare, contribuendo largamente alla diffusione e alla fama internazionale dell’opera lirica italiana.

Abbiamo quindi deciso di pubblicare, in occasione di questa prima edizione del Festival, alcune interviste immaginarie, realizzate dal Team IBR, con un primo gruppo di 14 compositori – circa un quarto della sessantina che abbiamo individuato – che sono stati riscoperti insieme al pubblico nelle serate del Festival. La prima intervista di questa serie è dedicata a Pietro Generali, il “main composer” della prima edizione del Festival, e per questa ragione anche più approfondita delle altre. Di Generali sono state eseguite nella prima edizione la farsa “Cecchina suonatrice di ghironda” del 1810 e una serie di brani tratti da sette delle sue opere più belle che coprono l’intero arco della sua produzione. Abbiamo così l’opportunità di mettere particolarmente a fuoco il profilo artistico di questo grande musicista piemontese. Tramite le interviste a questi compositori conosceremo particolari della loro vita, dei loro successi e delle loro traversie e, in generale, alcuni aneddoti che faranno sentire più attuali e a noi vicini questi artisti che, con le loro musiche, dimostrano di trasmettere emozioni in musica oggi come allora.
Rudolf Colm

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Die andere Salome

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Wer Florent Schmitts Drama Salomé und überhaupt diese Musik hört, der wird sich fragen (müssen), warum der Komponist Florent Schmitt so sträflich vernachlässigt wird, nicht nur hierzulande. In unseren Konzertsälen wird seine Musik nur ausnahmsweise aufgeführt. Dabei hätte sie es verdient, auch aufgrund der ungewöhnlichen künstlerischen Position ihres Schöpfers.

Schmitts Oeuvre besteht aus 138 mit Opuszahlen versehenen Kompositionen und einigen nicht veröffentlichten Werken. Er komponierte für fast alle Gattungen der Musik. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war Schmitt einer der führenden Komponisten Frankreichs. Trotz seines eigenen und eigenwilligen Stils, trotz der Unabhängigkeit von Trends und Moden in der Musik der 1920-er bis 1950-er Jahre und trotz der Originalität und Qualität seines Komponierens spielte er nicht nur im französischen, sondern auch im internationalen Musikleben kaum eine Rolle.

Der Kritiker Pierre Petit hat Schmitt und sein Komponieren sehr treffend charakterisiert: Schmitt „hätte auch ein Anhänger von Strawinsky oder gar von Schönberg werden können. Stattdessen gelang es ihm, er selbst zu bleiben. Für den Musikwissenschaftler ist er daher ein einzigartiger Fall, ähnlich wie Paul Dukas. Schmitts Werk ist von den ersten Takten an unverkennbar. Es lässt sich in keine Schublade stecken, nicht einmal in eine Tendenz, trotz unvermeidlicher Ähnlichkeiten mit anderen zeitgenössischen Werken… Es gibt absolut nichts Außergewöhnliches oder Unerhörtes in seinem Vokabular: dennoch ist die Art und Weise, wie er es einsetzt, ganz persönlich – und in diesem Sinne ist Florent Schmitt wirklich klassisch… Seine Tragédie de Salome nimmt zwar spätere Werke anderer Komponisten vorweg, aber das war nicht beabsichtigt. Er war ein Einzelgänger und ist ein Einzelgänger geblieben. Die Bezeichnung ‚revolutionärer Anarchist‘ wurde mit böser Absicht auf ihn angewandt, ist aber in Wirklichkeit ziemlich zutreffend, da ein Anarchist ein Einzelgänger ist und die Revolution keine Sache der Nachahmung ist.“

La Tragédie de Salomé wurde als Ballett komponiert und am 9. November 1907 im Theâtre des Arts unter Leitung von Désirée Émile Inghelbrecht uraufgeführt, allerdings in einer kleinen Orchesterbesetzung. Die endgültige Form erhielt es 1910, um die Hälfte gekürzt und für großes Orchester instrumentiert als symphonische Suite. Deren Uraufführung fand 1911 in den Concerts Colonne unter Leitung von Gabriel Pierné in Paris statt. Das Werk basiert auf einem Gedicht von Robert d’Humières. Ihm liegt die bekannte Handlung zugrunde: Salome, die Tochter der Herodias, verführt ihren Onkel Herodes, um den Kopf des Propheten Johannes des Täufers zu fordern und büßt am Ende für ihre wahnsinnige Idee mit ihrem Leben.

„Schmitt nutzt dieses Thema, um ein Porträt zu zeichnen, das eine vor Sinnlichkeit strotzende Exotik mit einer Brutalität verbindet, die in den dunklen Instinkten der menschlichen Psyche wurzelt. Ein üppiges „Prélude“ beschreibt die Landschaft von Judäa, die den Palast des Herodes umgibt. Allein die Arabesken und die berauschende Klangfülle dieser Nummer machen Schmitt zu einem der führenden französischen Orientalisten. In „Les enchantements sur la mer“ (Die Verzauberungen des Meeres) erklingt eine eindringliche Threnodie („am Ufer des Toten Meeres aufgenommen“, wie es in der Partitur heißt) für einen Solosopran (oder Oboe). Nach dem „Danse des éclairs“ (Tanz der Blitze), der die Enthauptung von Johannes dem Täufer darstellt, bricht der „Danse de l’effroi“ (Tanz des Schreckens) mit unerwarteter Gewalt aus. Diese Nummer sollte bis zum Erscheinen eines gewissen Sacre du printemps (Frühlingsritus) sechs Jahre später einzigartig bleiben, dessen innovative rhythmische Merkmale ohne die großartige Tragédie de Salomé nicht denkbar gewesen wären.“ (Bru Zane)

Schmitts Werk vorangestellt – gleichsam als zeitgenössisches Präludium – ist die 2021 entstandene zweiteilige Komposition Loie des Zeitgenossen Fabien Touchard. Das passt zwar gut, zumal das Werk sehr atmosphärisch ist. Freilich kommt es doch nicht an die Wirkmächtigkeit der Schmitt‘schen Komposition heran. Les Apaches nennt sich ein Instrumentalensemble mit variabler Besetzung, das von dem Dirigenten Julien Masmondet gegründet und geleitet wird. Ziel des Ensembles ist es, Aufführungen zu kreieren und zu verbreiten, die Werke des Repertoires mit Uraufführungen heutiger Komponisten zu aktuellen Themen mischen und dabei Künstler mit unterschiedlichem Hintergrund zusammenbringen: Komponisten, Sänger, Regisseure, Schriftsteller, Dichter, Videokünstler, Tänzer, Schauspieler, Architekten und Free-Runner. Dabei knüpfen sie an jene Künstlergruppe des frühen 20. Jahrhunderts an, die sich ebenfalls Les Apaches nannte – Maler, Schriftsteller, Musiker und andere Künstler, darunter die Komponisten Manuel de Falla, Maurice Ravel, Igor Strawinsky und eben Florent Schmitt.

So verdienstvoll und eindrucksvoll der Einsatz aller Beteiligten ( darunter die Sopranistin Sandrine Buenda) für das Werk ist, so sehr man von Schmitts Musik gepackt wird, so sehr bedauert man zugleich, dass die Texte des als „Booklet“ fungierenden Faltblatts nur in Französisch und Englisch abgedruckt sind, aber wie immer nicht auch auf Deutsch, was man doch als Diskriminierung des potenten deutschen Marktes werten kann (b.records LBM 049/ 15. 08.23).  Helge Grünewald

Geistliches Polnisch

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Bei MDG ist unter dem Titel Requiem Aeternam eine interessante CD mit viel zu selten gespielten geistlichen Werken von Stanislaw Moniuszko herausgekommen: Kernstück der Aufnahme sind drei der vier Litaneien von Ostra Brama, die mit vier einzelnen kürzeren Stücken von Gesangssolisten, Sängern und Sängerinnen des Gellert Ensembles sowie dem Goldberg Baroque Ensemble unter der kompetenten Leitnung von Andrzej Szadejko erfrischend munter vorgetragen werden. Obwohl Moniuszkos kompositorischer Schwerpunkt die Oper war, beschäftigte er sich als gläubiger Mensch ebenfalls mit geistlicher Musik und begann um 1860 herum mit der Veröffentlichung eines Kirchen-Gesangbuches. Die Litaneien von Ostra Brama entstanden in den Jahren 1843 – 1855, als er noch in Vilnius lebte, bevor er 1858 mit seiner großen Familie nach Warschau übersiedelte. Für die inständigen Bitten und Gebete entwickelte er einen großen Melodienreichtum, der durch den häufigen Wechsel von intensiv ruhig und unruhig drängenden Gebeten stets lebendig bleibt und so große Spannungsbögen schlägt. Damit wirken die Litaneien ein wenig wie ein Vorläufer der 1863 verfassten Petite Messe Solennelle von Giacchino Rossini, der von Moniuszko sehr geschätzt wurde.

In der ersten Litanei eröffnet der Chor nach einem kurzen Vorspiel das tänzerische Kyrie, in dem die Dringlichkeit der Bitte durch Drive und ansteigende Tonlagen deutlich gemacht wird; erst dann treten die Solisten insistierend hinzu: Ingrida Gápová mit schlankem Sopran, die voll-timbrierte Altistin Marion Eckstein, der solide Tenor Sebastian Mach und Maximilian Argmann mit grundiertem Bariton. In dem getrageneren  Sancta Maria agieren sie als Vorsänger. Das pulsierende Salus infirmorum wird vom ruhigen Agnus dei abgelöst, bevor die Litanei nach einem eindringlichen Aufschrei des Chores Christe audi nos leise erlischt.

Eingefügt ist hier Sub tuum praesidium (Unter deinem Schutz), eine am Karfreitag 1857 in Vilnius uraufgeführte Antiphon zur Verehrung der Heiligen Jungfrau Maria von der Ostra Brama. Ursprünglich für Bariton und Orgel geschrieben, ist sie auf dieser CD in einer von Moniuszkos Schüler Zygmunt Noskowski erstellten Fassung mit Orchester eingespielt. Maximilian Argmann gibt der eher schlichten Melodie mit leichten Verzierungen ausdrucksvoll Gestalt.

Die beiden übrigen Litaneien ähneln im Aufbau und mit ihren Tempowechseln der ersten. Es seien hier nur einige Dinge hervorgehoben: In der zweiten Litanei zieht das melodiöse Kyrie mit positivem Schwung klangvoll vorbei; Solisten und Chor sind besonders ausgewogen. Mit Nachdruck werden die Bitten im Christe audi nos vorgetragen. Mit dem fast walzerartigem Agnus Dei endet die zweite Litanei gefällig. Ebenfalls von Noskowski instrumentiert wurde die Motette Ecce lignum crucis für Bariton, Chor und Orchester, die – obwohl erst 1868 komponiert – an dieser Stelle der CD eingesetzt wurde; der gut durchgebildete Bariton klingt hier in den Höhen allerdings angestrengt. Der folgende instrumentale Trauermarsch zu Ehren von Antoni Orlowski scheint nicht unbedingt von Moniuszko zu sein. Es ist möglicherweise ein Marsch von dem Verstorbenen selbst, den Moniuszko nur instrumentiert und bei der Beerdigung dirigiert hat. Witzig ist, dass der Marsch im Verlauf Tempo aufzunehmen scheint, als ob man es eilig hätte; dann wird das Tempo wieder eingefangen und führt über eine grandiose Steigerung zum ruhigen Schluss.

Das kurze, titelgebende Requiem Aeternam ist eine Kantate für 11 Solostimmen, Chor und Orchester. Ungewöhnlich durch die Kürze – nur 4’42 Minuten – ist es ein besonders eindringliches Werk, das mit intensiver Interpretation beeindruckt. Besondere Melodieführung und chromatisch auf- und absteigende Linien gelingen sehr gut.

Die dritte Litanei beschließt die Aufnahme; im Kyrie besticht abermals der homogene und ausgewogene Chorklang. Sehr flott akzentuiert kommt das Sancta Maria daher, schlichte Melodik beherrscht das Janua caeli. Das abschließende Agnus Dei überzeugt ebenso in den dramatischen Phasen wie in den ruhigeren Teilen bis zum eindrucksvollen Schluss.

Die ausgezeichnete Gesamtleistung aller Akteure macht diese Aufnahme besonders, so dass man gerne mehr von Moniuszko hören möchte (MDG 902 2278-6). Marion Eckels

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Darf sich ein Rezensent bei der Beschäftigung mit einer CD zunehmend mehr für das Leben des Komponisten interessieren als für das ihm vorliegende Werk?  So geschehen mit Feliks Nowowiejskis Oratorium Der verlorene Sohn, dessen 1877 im Ermland geborenem Schöpfer der ihn sein ganzes Leben begleitende Konflikt bereits in die Wiege gelegt worden war mit einer deutschen Mutter und einem polnischen Vater. Der junge Nowowiejski konnte besser Deutsch als Polnisch, sich schriftlich nur im Ersteren äußern, als er nach den Stationen Wartenberg und Allenstein nach Berlin ging, um seine musikalischen Studien zu vollenden, nachdem er bereits als Geiger und Komponist für das Preußische Grenadier-Regiment in seiner Heimat gewirkt hatte. In Berlin wurde Max Bruch sein Mentor, wirkte er als Organist an der St.-Hedwigs-Kathedrale und danach an St. Paulus in Moabit, wo eine Tafel an ihn erinnert. Gleichzeitig verkehrte er in polnischen Emigrantenkreisen, ging 1909 nach Krakau und schrieb 1910 zur Feier des Jahrestags der Schlacht von Tannenberg ein patriotisches Lied gegen die Germanisierung ursprünglich slawischer Gebiete. Davor hatte er bereits erste Erfolge als Komponist, für Der verlorene Sohn den Giacomo-Meyerbeer-Preis erhalten, und sein Oratorium Quo Vadis wurde in ganz Europa und sogar in der Carnegie Hall aufgeführt. 1914 zog er wegen der Anfeindungen durch seine polnischen Landsleute nach Deutschland und tat als Musiker Dienst im deutschen Militär, 1918 siegte die polnische Seele in ihm, seine davon diktierten propolnischen Äußerungen kosteten ihn die Freundschaft Max Bruchs, 1939 floh er vor den Deutschen nach Krakau, kehrte 1945 nach Posen zurück und verstarb dort 1946. In Polen wird seiner an vielen Orten und oftmals gedacht, in Berlin fanden immerhin 2009 und 2014 Festivals zu seinen Ehren statt.

Das Libretto zum Verlorenen Sohn stammt von Theobald Rehbaum, ist also in deutscher Sprache verfasst, in der es auch in der vorlegenden Aufnahme aus Allenstein, heute Olsztyn, gesungen wird. Die polnischen Solisten bemühen sich um eine gute Diktion, was ihnen nicht immer gelingt, so dass man den Text nicht durchgehend versteht,  beim Chor ist ein Verstehen völlig ausgeschlossen. Deshalb wäre ein Abdrucken des Librettos in der Originalsprache und natürlich in Polnisch eigentlich unverzichtbar. Auch demjenigen, der bibelfest ist und die Geschichte vom verlorenen Sohn aus dem Lukas-Evangelium gut kennt, ist nicht viel geholfen, denn sie wird hier mit den Protagonisten Vater-Mutter-Sohn und einem Chor erzählt, womit der Konflikt zwischen den Brüdern ausgespart wird, der Komponist wohl zugunsten der vokalen Vielfalt darauf verzichtete.

Das eher spröde Thema hindert den Komponisten nicht daran, im Vorspiel ungeheure spätromantische Klangwogen zu entfesseln, virtuose Soloeinlagen voller Raffinesse anzubieten, mit Orgel- wie Harfenklängen den Eindruck ungebändigter Naturgewalten oder  ungebremster erotischer Ergüsse zu erwecken, als nahe der Welt Ende, ehe die Vokalsolisten zu Wort kommen. In den Kapiteln Der Sohn, Die Mutter und Der Vater, wird also wohl Zerknirschung, Bitte um Vergebung und der Sieg mütterlicher und väterlicher Liebe dargestellt, ehe sich der Chor, ca. 70 Personen umfassend, noch einmal in monumentaler Weise eindrucksvoll zu Wort meldet. Die Solisten können mit robusten, gesunden Stimmen aufwarten: Agnieszka Rehlis mit sattem, tragfähigem Mezzosopran, Arnold Rutkowski mit frischem, slawisch herbem Tenor und Lukasz Konieczny mit kraftvollem, manchmal  etwas dumpfigem Bass. Der Szymanowski Philharmonische Chor Krakau unter Piotr Piwko ist mit viel Drive bei der Sache und weiß zu imponieren, das Sinfonieorchester der Feliks-Nowowiejski-Warmia-und-Masuren-Philharmonie unter Piotr Sulkowski kann man für die die Bewältigung der anspruchsvollen Partitur nur bewundern. Gut kann man sich die Ouvertüre als Teil eines Sinfoniekonzerts vorstellen (Dux 1693). Ingrid Wanja

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PS.: Zu Nowowiejski gibt es bei operalounge.de ebenfalls zwei sehr ausfühlichen Artikel zu Leben und Werk anläßlic seiner Oper Quo vadis (Die vergessene Oper 62) und seiner Baltischen Legende (Die vergessene Oper 123), diese nun in Polnisch, weshalb man Dux und Piotr Piwko nicht genug Anerkennung zollen kann, den Verlorenen Sohn im  originalen Deutsch herausgebracht zu haben. Das ist auch im heutigen Polen immer noch keine Selbstverständlichkeit. G. H.

Aus Warschau zum Dritten

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Unermüdlich setzt das Label Château de VERSAILLES seine Bemühungen um die Katalog-Erweiterung des französischen Barock-Repertoires fort. Im Falle von Jean-Marie Leclairs Tragédie-lyrique Scylla et Glaucus handelt es sich allerdings nicht um eine Ersteinspielung, denn 1986 nahm John Eliot Gardiner das Stück mit seinen English Baroque Soloists für Erato auf und sorgte damit viele Jahre für die einzig verfügbare Aufnahme. Erst 2016 kam bei Alpha eine neue Version unter Leitung von Sébastien D’Hérin heraus. Die aktuelle, hier vorliegende Produktion entstand im April 2021 in Warschau als Bestandteil der Collection Château de Versailles Spectacles (CVS068, 3 CDs).

Die Tragédie kam 1746 an der Pariser Opéra heraus, kurz vor dem 50. Geburtstag des Komponisten, dessen einzige Oper sie blieb. Das Libretto von d’Albaret folgt Ovids Metamorphosen und schildert das Schicksal der Nymphe Scylla, die die Annäherungsversuche des Halbgottes Glaucus zurückweist, worauf dieser sich an die Zauberin Circé wendet mit der Bitte, die Nymphe zu verzaubern. Circé jedoch verliebt sich in Glaucus und verwandelt Scylla in ein monströses Ungeheuer. An der Meerenge von Messina versetzt dieses künftig die Seeleute in Angst und Schrecken.

Das Werk in fünf Akten beginnt gemäß der Tradition mit einem Prologue, in welchem dem König gehuldigt wird. Sodann trägt der 1. Akt den Charakter einer Pastorale, der 3. wird bestimmt von einem maritimen Divertissement, der 4. mit dem Feuer speienden Vesuv schildert eine veritable Höllenszene und der 5. schließlich die finale Katastrophe. Dass Leclair ein Geigenvirtuose war, spiegelt sich auch in seiner Komposition wider. Sie ist einfallsreich und vielfältig, zeugt von dramatischem Gespür und den technischen, vor allem kontrapunktischen Fähigkeiten ihres Schöpfers.

Der ehemalige Musikdirektor der Warschauer Kammeroper Stefan Plewniak gründete 2012 das Ensemble Il Giardino d’Amore, mit welchem er bereits mehrere Projekte für das Label Château de Versailles realisierte. Seine Lesart profitiert vom energischen Zugriff, pulsiert mit furioser Dramatik, lässt aber auch delikate Momente von zauberischer Wirkung vernehmen (wie die Musette und das Menuet im 1. Akt). Die Besetzung weist drei Hauptrollen auf und sie alle sind blendend besetzt. Die Schweizerische Sopranistin Chiara Skerath, eine gestandene Mozart-Sängerin, bewältigt die hohe Tessitura der Scylla souverän, imponiert mit leuchtender, klangvoller Stimme und berührt ungemein in ihrer Todesszene am Ende. Die männliche Titelrolle nimmt der gleichermaßen als Tenor wie haute-contre erfolgreiche Mathias Vidal wahr. Einen jugendlichen Liebhaber vermag er nicht mehr abzugeben, doch ist er bemüht um einen schwärmerischen Klang und stilistisch noch immer erste Wahl. Circé, die ab dem 2. Akt auftritt, wird geprägt von hohem dramatischem Anspruch, besonders in Akt 4. Die Kanadierin Florie Valiquette vermittelt ihre Liebe zu Glaucus mit sinnlich flirrendem Sopran (05.08.23). Bernd Hoppe

Italiens neues Belcanto-Festival

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Nur noch wenige Monate trennen uns von der zweiten Ausgabe des Nationalen Festivals Il Belcanto ritrovato in Pesaro im August 2023, bei dem es möglich sein wird, Werke zu hören, die während einer goldenen Periode der italienischen Oper komponiert wurden, etwa vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, die wir nach fast zwei Jahrhunderten wieder ans Licht gebracht haben.

Spiritus rector und der Mann hinter der Organisation ist Rudolf Colm, Initiator und Superintendent des IBR, der in einem Gespräch seine Vision für das ambitionierte neue Festival ausbreitet:

Seit meiner Kindheit, d.h. seit über fünfzig Jahren, war ich ein echter Fan der Musik von Gioachino Rossini. Daher besuchte ich das Rossini Opera Festival von Anfang an.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Intendant, Gründer und Organisator Rudolf Colm/ Foto IBR

Ich begeisterte mich allgemein für die Musik des italienischen Belcanto und anderer großer Komponisten wie Donizetti, Bellini und dem frühen Verdi. Irgendwann fragte ich mich, ob es nach diesen Musikern keine anderen mehr gäbe, und begann zu recherchieren und entdeckte eine außergewöhnliche Fülle italienischer Komponisten und ihrer Opern, die alle fast völlig vergessen waren. Ich zählte über 60 Komponisten mit insgesamt fast 1.300 Werken. Ich dachte, dass das Beste davon irgendwie den Weg zurück auf die Bühne finden sollte.

Ich sprach über diese Idee mit einigen Freunden in Mailand und Pesaro. So entstand im Jahr 2021 die Idee, ein Festival zu veranstalten, das ausschließlich diesen so genannten „kleinen Komponisten“ (compositori minori)und ihren Werken gewidmet ist.

Unsere Initiative „Il Belcanto ritrovato“ („Der wiederentdeckte Belcanto“) zielt darauf ab, vergessene italienische Komponisten, Opern und Musikstücke aus der Belcanto-Periode (1800-1850) wiederzuentdecken und wieder zum Leben zu erwecken.

Jedes Jahr hat das Festival „Il Belcanto ritrovato“ einen „kleineren“ Komponisten als Hauptthema („Hauptkomponist“) mit eigenen Konferenzen, auch wenn viele Stücke und Arien anderer italienischer Komponisten der Belcanto-Periode zu hören sind. Der Hauptkomponist des Jahres 2022 war Pietro Generali mit der farsa Cecchina suonatrice di ghironda nach 199 Jahren der Vergessenheit. In diesem Jahr wird Luigi Ricci mit seiner Oper Il birraio di Preston an der Reihe sein, nachdem sie 149 Jahre lang von den Bühnen verschwunden war.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Pietro Generalis farsa „La Cecchina di Ghironda“ 2023/ Foto Luigi Angelucci/IBR

Das IBR ist eine Initiative des Orchestra Sinfonica Rossini (OSR), eines Orchesters mit Sitz in Pesaro und Fano, das vom Ministerium für kulturelles Erbe, Aktivitäten und Tourismus (Mibact) und von der Region Marken anerkannt ist. OSR ist Initiator, Organisator und Ausführender von Sinfonica 3.0, einer landesweit bekannten Sinfoniekonzertreihe. Neben den großen italienischen Theatern trat es international in Japan, China, Südkorea, Malta, der Türkei, Österreich, Frankreich, Deutschland, Schweden und der Schweiz auf. Neben der regelmäßigen Teilnahme am Rossini Opera Festival nahm es auch an renommierten Konzertsaisons und Festivals wie dem Ravello Festival oder dem Festival delle Nazioni teil. Im Jahr 2014 gewann OSR den Oscar della Lirica („Oscar der lyrischen Musik“) mit der DVD der Oper „Aureliano in Palmira“ von Gioachino Rossini, einer Produktion des Rossini Opera Festivals, die live auf Rai1 (dem wichtigsten italienischen Fernsehsender) aufgeführt wurde. Im Jahr 2016 trat OSR erneut im italienischen Fernsehen (auf Canale5) für die B&Z Night (Bocelli and Zanetti Night) auf.

Unser Festival findet dieses Jahr vom 24. August bis zum 4. September in der Region Marken (Mittelitalien) statt, hauptsächlich in der Stadt Pesaro und in anderen Städten in der Nähe (Urbino, Fano, Recanati und Matelica), an absolut einzigartigen Orten.

Das Programm für 2023 besteht aus vier verschiedenen Aufführungen und zwei Konferenzen. Alle Aufführungen werden aufgezeichnet.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Pietro Generali/ IBR

Am 24. August eröffnen wir in Fano die zweite Ausgabe unseres Festivals mit einem ganz besonderen Konzert I Nostri per Rossini mit berühmten Arien aus Rossinis Opern, die eigentlich nicht von Rossini selbst stammen, sondern von einigen seiner Kollegen und Freunde, wie Michele Carafa, Stefano Pavesi, Luca Agolini und einigen anderen. Zum ersten Mal in der Musikgeschichte werden diese Stücke unter dem Namen ihres eigentlichen Komponisten aufgeführt!

Am 25. August wird in Pesaro das melodramma giocoso Il birraio di Preston des Neapolitaners Luigi Ricci aufgeführt. Luigi Ricci ist der Autor der berühmtesten neapolitanischen Tarantella; leider weiß niemand, dass diese Musik Teil des Finales einer anderen Oper von Luigi Ricci La festa di Piedigrotta ist.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Michele Caraja/IBR

Wir werden auch zwei Konzerte mit regionalem Akzent präsentieren. Das eine ist Il Belcanto marchigiano mit Arien von wichtigen Komponisten der Region Marken wie Nicola Vaccaj, Lauro Rossi, Giuseppe Persiani und einigen anderen. Das andere wird In viaggio col Belcanto sein: Napoli mit Arien aus Opern der neapolitanischen Belcanto-Schule wie Nicola Zingarelli, Michele Carafa, Carlo Coccia und einigen anderen.

Alle Konzerte werden von einer Einführung und Erläuterung der Komponisten/Arien begleitet – ein Format, das sowohl Experten als auch Neueinsteiger ansprechen soll.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Rudolf Colm und seine Kollegen (u. a. der Sovrintendenti Saul Salucci, der direttore artistico Daniele Agiman und Paolo Rosetti)/IBR

Außerdem veröffentlichen wir die zweite Ausgabe der Broschüre „Imaginäre Interviews“, die kurze „Interviews“ mit den vergessenen italienischen Komponisten der Belcanto-Periode enthält, um ihr Leben und ihre Werke besser kennen zu lernen.

Schließlich werden alle Veranstaltungen der zweiten Ausgabe von 2023 aufgezeichnet, und die ersten beiden werden auf dem YouTube-Kanal „Il Belcanto ritrovato“ live gestreamt. Bei Bongiovanni kommt die erste CD (Generalis Cecchina vom vergangenen Jahr) heraus. Weitere Informationen und Details über das Programm und das Festival sind auf der Website der Organisation https://www.ilbelcantoritrovato.it/ zu finden. (Quelle IBR; das Programm des IBR für 2023 s. unsere News-Seite)

Entstaubt: Die Salzburger Karajan-Opern

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Als „eine der denkwürdigsten Opernaufführungen der jüngeren Operngeschichte“ preist C-Major die Blu-ray-Ausgabe mit Verdis Don Carlo in Salzburg von 1986 unter der Stabführung und in der Regie des späten Herbert von Karajan an (die zusammen mit ebenfalls den Achtzigern entstammenden Aufnahmen von Don Giovanni, dem Verdi-Requiem und Falstaff nun Blu-ray-mäßig aufgepeppt auf dem Markt erschienen ist). Allerdings ist sie denkwürdig leider auch in einem Sinne, den das Label sicherlich nicht meinte. Musikfreunden war dieser Don Carlo immer recht verdächtig wegen der Unterschlagung von einer knappen halben Stunde Musik, so der jeweils zweiten Strophe der Canzone di Velo, Elisabettas Abschied von der Aremberg, und auch Posa muss vokale Federn lassen. Wurde bei den Herren das Beste vom Verfügbaren engagiert, so lässt die Besetzung der beiden großen Frauenpartie sehr zu wünschen übrig, denn die Elisabetta verfügt nur über das, was man in Italien una vocetta nennt, die Eboli über einen sogenannten soprano corto.

Optisch ist erst einmal alles in den Dekorationen von Günther Schneider-Siemssen historisch getreu, üppig und der berühmten Visconti-Inszenierung mit edlen Vierbeinern, die von Kleinwüchsigen (Darf man Zwerg noch sagen?) an der Leine geführt werden, recht ähnlich. Personenregie findet nicht statt, das heißt, sie erschöpft sich in überlieferten Standardgesten. Die Kostüme von Georges Wakhevitch könnten Gemälden von Goya oder Velasquez entsprungen sein.

Heikel schien zunächst die ad-hoc-Besetzung des Filippo mit Ferruccio Furlanetto, der ganz kurzfristig für den erkrankten José van Dam eingesprungen war, zu sein, denn er war immerhin ein Jahr jünger als sein Bühnensohn José Carreras. Aber auch optisch nicht aus der Altherrenrolle fallend, macht der Friaulaner seine Sache sehr gut mit so machtvollem wie kultiviertem Bassgesang. Piero Cappuccilli lässt sein Bora-gestähltes Stimmmaterial triumphieren über optische Alterserscheinungen und ist wie immer ein wahrer Fels in der Opernbrandung. José Carreras hat nicht mehr ganz die frische Tenorstimme der ersten Opernjahre, aber immer noch sein kostbares Timbre, reiche Sfumature, und er arbeitet sich auch darstellerisch ab an der statuarischen Elisabetta. Angemessen hohl und fahl lässt sich der Gran Inquisitore von Matti Salminen vernehmen, Franco de Grandis muss als Mönch hinter seinen Basskollegen, was vokale Potenz betrifft, kaum zurückstehen. Unter den Deputati befindet sich immerhin ein Roberto Servile und der Araldo soll auch erwähnt werden, denn immerhin sang Volker Horn einst den Hirtenknaben in Bayreuth und war dann jahrzehntelang ein leider unterschätztes Ensemblemitglied der Deutschen Oper Berlin.

Immer noch und immer wieder betörend: José Carréras als Don Carlo/ Foto Unitel/C-Major

War es die Autorität Karajans, die Fiamma Izzo D’amico vor einem Buhorkan in Salzburg rettete? Sie ist die pure Ausdruckslosigkeit, singt streckenweise wie nur markierend, und wenn sie über eine mezza voce hinausgeht, klingt sie scharf-säuerlich. Außer einer Mimi ist von ihr nichts weiter überliefert, ihre Karriere war extrem kurz, und sie und ihre drei Töchter führten später ein erfülltes Leben als Synchronsprecherinnen. Streckenweise wie eine Karikatur der Eboli wirkt Agnes Baltsa, stimmlich brustig-vulgär in der Parkszene, mit veristischen Anklängen im Don fatale und selten sich zu großen Gesangslinien, zu großzügiger Phrasierung aufschwingend.

Drei Chöre sorgen für ein ausdrucksvolles Autodafé, darunter natürlich der der Wiener Staatsoper unter Walter Hagen-Groll. Lage darf man Herbert von Karajan zu Beginn beobachten und bewundert die Modulation des Orchesterklangs, die absolute Konzentration. Damals wurde von einem zu langsamen Dirigat gesprochen, das sich bei dieser insgesamt und wegen der Herren Sänger sehr sehens- und hörenswerten Aufnahme nicht bemerken lässt.

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Don Giovanni: Zwei Jahre nach der Studioaufnahme von Mozarts Don Giovanni gab es in Salzburg das Werk wieder mit lediglich das Orchester und die Elvira betreffend geänderter Besetzung. Anstelle der Berliner Philharmoniker sind 1987 die Wiener Philharmoniker zu erleben und anstelle von Agnes Baltsa nun Julia Varady. Für pünktliche Auftritte und Abgänge sorgte Michael Hampe, die viel schwarzen Marmor vortäuschenden Dekorationen von Mauro Pagano für eine angemessen düstere Stimmung, wenn nicht ein Postkartensevilla Urlaubsfreude aufkommen lässt. Der Commentatore erscheint direkt vom Himmel kommend zum Abendmahl und Donna Anna muss nicht eine falsch verstandene Emanzipation vortäuschen, indem sie Don Giovanni nachgiert und Don Ottavio, der hier noch edel und nicht dämlich ist, betrügt. Von unvorstellbarer Opulenz sind die Kostüme Paganos, allein der mehrfach wechselnde Kopfputz der Donna Anna dürfte die Salzburger Putzmacherinnen auf Monate beschäftigt haben.

Mit seidigem Klang breiten die Wiener unter Karajan sich alle Zeit nehmend, einen wunderbaren Klangteppich aus, auf dem sich die Sängerstimmen optimal entfalten können. Der Leporello von Ferruccio Furlanetto ist der einzige Muttersprachler unter den Solisten, und man hört es, denn das Italienisch seines Herrn Samuel Ramey ist alles andere als perfekt. Der Italiener singt eine bravouröse Registerarie und ist optisch wie akustisch die Beweglichkeit in Person. Der Amerikaner trägt mit viel Anstand seine wunderbaren Kostüme, die in Virtuosität rossinigeschulte Stimme tut auch der Champagnerarie gut, die Serenade allerdings klingt recht grob, die Spitzentöne manchmal offen. Kein Schwächling ist der Don Ottavio von Gösta Winbergh, sondern nobel und im Dalla sua pace nicht anämisch, sondern empfindsam, kein Säusler, sondern mit einem besonders schönen Piano für die zweite Strophe von Il mio tesoro, und nicht einmal ein derbes „lo tschuro“ anstelle von „lo giuro“ kann den guten Eindruck ernsthaft beeinträchtigen. Alexander Malta bleibt ein eher unauffälliger Masetto, Paata Burchuladze ist ein Furcht einflößender Commendatore mit Grabesstimme.

Die beiden prime donne übertreffen einander an szenischer Präsenz und beglückendem Gesang. Anna Tomowa-Sintow hat für die Namensvetterin das tragische Timbre einer Rachegöttin, das Verständnis für die Bedeutung der Rezitative  und die Virtuosität für „non mi dir“. Mit leichtester Emission der Stimme ist Julia Varady eine Donna Elvira der sich aus Virtuosität, Ebenmaß der Tongebung und Identifikation mit ihrer Partie ergebenden Perfektion. Allein im È mio marito spiegelt sich eine Vielzahl von Empfindungen. Eigentlich ein Plädoyer für die Besetzung mit einem Mezzosopran ist die Zerlina von Kathleen Battle, die vokal allzu püppchenhaft bleibt. Insgesamt aber kann man einer solchen Aufnahme nur nachweinen, bzw. glücklich darüber sein, dass man sie besitzt.

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Auf dem Papier oder vielmehr dem Cover der Bluray mit Verdis Falstaff scheint sich der Himmel für den Opernliebhaber zu öffnen: die ideale Besetzung in fast allen Partien, die Wiener Philharmoniker in Salzburg und natürlich mit Herbert von Karajan, der auch Regie geführt hat. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1982, als man generell noch vor Regieabstrusitäten sicher war.

Optisch wirkt die Bühne von Günther Schneider-Siemssen mit ihren naturalistischen Pappkulissen doch recht verstaubt und altmodisch, dazu kommt zumindest für den Park von Windsor noch Karajans Vorliebe für eine dunkle Bühne zum Tragen, die einst eine Birgit Nilsson zum Scherz mit der Grubenleuchte trieb. Eine Spur zu kostbar sind die Kostüme von Georges Wakhevitch, so könnte die Alice gut und gern auch als Maria Stuart oder Elisabetta aus Don Carlo durchgehen, und auch Falstaffs Festkleidung scheint im Wirtshaus zum Hosenbandorden gut gepflegt worden zu sein. Insgesamt aber erfreut man sich an der liebevollen Sorgfalt, mit der Falstaffs Behausung wie Fords Heim ausgestattet wurden, und an der Phantasie, mit der die Kostüme des Elfenvolks im letzten Bild bedacht wurden.

Was heute Ambrogio Maestri ist, war zu seiner Zeit Giuseppe Taddei, ohne den beinahe keine hochkarätige Falstaff-Produktion denkbar war. Darstellerisch ist er noch immer die Erfüllung mit seiner Ausgewogenheit zwischen derber Komik und feinem Humor, zwischen Resten von Nobilität und weinseliger Kreatürlichkeit. Vokal ist der Bariton allerdings über den Zenit seiner Fähigkeiten bereits hinaus, wobei man sich immer wieder fragt, ob das häufige Verfallen in den Sprechgesang, das unangenehme Chargieren, die Lautverzerrungen dem Alter oder den Anweisungen der Regie zu verdanken sind. Zumindest bei „Va, vecchio John“, das im ersten Bild zerpflückt, in der Wiederholung im zweiten Akt jedoch mit schönem Legato gesungen wird, neigt man dazu, an Absicht und nicht an Unvermögen zu glauben. Der zweite Star der Aufnahme ist Christa Ludwig, die nicht wie eine Feodora Barbieri ihr „Reverenza“ und „povera donna“ extrem orgelnd ausreizt, sondern die durchweg zwar farbig-vollmundig auftritt, aber sehr geschmackvoll bleibt. Nicht ganz die Tragödin ablegen kann Raina Kabaivanska als Alice, die mit leuchtendem Sopran wie darstellerischer Souveränität die Szene beherrscht. Wie kaum ein anderer Dirigent unterstützt Karajan ihren Hang zu weit ausladender Phrasierung. Eine Luxusbesetzung für die Meg ist Trudeliese Schmidt, mit zartem lyrischem Sopran beschwört Janet Perry als Nannetta das Volk der Elfen.

Einen schmucken Fenton gibt Francisco Araiza mit italienisch geschultem Tenor, Rolando Panerai hat nicht oder hat nicht mehr  das Volumen für einen souveränen Ford, so dass er als ungehobelter Polterkopf mit Timbrespreizung erscheinen muss. Ganz besonders er weicht in Verismogesang aus, wenn die generöse Gesangslinie nicht mehr gelingt. Ungehobelt klingt der Pistola von Federico Davià , als auch vorzüglicher Schauspieler erweist sich Heinz Zednik als Bardolfo, Piero de Palma ist ein wunderbar textverständlicher Dr. Cajus. Walter Hagen-Groll, auch den Berlinern bestens bekannt, hat den im letzten Bild trotz aller Turbulenzen sicheren Chor einstudiert, das Orchester ist überaus freundlich zu den Solisten, um umso mehr entfaltet es luxuriöse Klangpracht, wenn dies ohne vokale Verluste möglich ist.

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Verdi-Requiem: Viele Male hat Herbert von Karajan das Verdi-Requiem aufgenommen oder es wurde mitgeschnitten, so bereits 1949 mit den Wienern und Zadek, Klose, Roswaenge und Christoff, 1958 mit eben diesen und Rysanek, Ludwig, Zampieri und Siepi, 1962  in Salzburg mit Price, Simionato, Zampieri und Ghiaurov, 1972 mit den Berlinern und Freni, Ludwig, Cossutta und Ghiaurov,  dazu Caballé, Janowitz, Cossotto, Bergonzi und einspringend für diesen Pavarotti, sie alle haben mit dem Dirigenten Verdis Totenmesse aufgeführt. Von 1984 aus Salzburg stammt die Aufnahme mit Anna Tomova-Sintow, Agnes Baltsa, José Carreras und José van Dam als DVD-Bluray und ist nicht geprägt durch die Mitwirkung von Clouzot wie die in der leeren Scala, wirkt insgesamt viel weniger theatralisch, sondern eher verinnerlicht, und es ist schön zu sehen und zu hören, wie der Dirigent sich mit Hingabe seiner Aufgabe widmet. Anna Tomowa-Sintow ist souverän in den Intervallsprüngen des Libera me und verfügt über wunderbare Schwelltöne, Carreras beginnt mit einem wunderbaren Pianissimo für das Hostias und sein Timbre ist anbetungswürdig, José van Dams Bass ist so nobel wie markant, Baltsas Mezzo ist recht hell, so dass das Lacrymosa doch einiges an Wirkung einbüßt. Den Gesichtern den Chormitglieder sieht man die Magie an, die das Stück auf sie ausübt, sie singen übrigens ohne Noten, während die Solisten die ihren etwas verschämt unter der Brüstung halten, die Kamera bemüht ist, ihnen dabei behilflich zu sein. Aber was zählt das schon bei einer solchen Aufnahme (das DVD-Coverfoto des Verdi-Requiem zeigt allerdings den Wiener Musikverein, korrekterweise. Nicht Salzburg .../ C-Major 761604, 761504, 761404, 761704)! Ingrid Wanja     

Hochmanieriertes aus dem Wohnzimmer

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Mein Musik-Unterricht wurde von mir nicht geliebt und führte damals zu keinem Erfolg. Die Absicht unseres Musiklehrers war nur die beste. Mittels der Kodály-Methode sollte jedes Kind lernen, zunächst ganz schlichte, dann auch anspruchsvollere Volkslieder quasi vom Blatt zu singen. Abgelauscht hatte Zoltán Kodály seine Lieder den Bauern in den Dörfern im Norden Ungarns und im ungarisch-rumänischen Grenzgebiet, wo er – dem Beispiel seines Freundes Béla Bartók folgend – auf der Suche nach der ursprünglichen Musik der ländlichen Bevölkerung war.

Diesen Spuren folgte kurzzeitig auch der im rumänischen Cluj aufgewachsene, in Budapest ausgebildete György Ligeti bei seiner Untersuchung ungarisch-rumänischer Volksmusik. Ursprüngliche Volksmusik und avantgardistische Formen verband Ligeti in seinem wichtigsten Spätwerk, einem Stück für Mezzosopran und vier Schlagzeuger Síppal, dobbal, nádihegedűvel / Mit Pfeifen, Trommeln, Schilfgeigen, das er Katalin Károlyi widmete.

Ihre von der Pianistin Klára Würtz begleitete Sammlung Hungarian Songs beginnt Katalin Károlyi deshalb mit einer Ligeti-Referenz und ebenfalls mit Liedern nach Gedichten von Ligetis Zeitgenossen Sandor Weöres, den drei Weöres-Liedern/ Három Weöres-dal, die sie bis zum heftigen Aufschrei ausdrucksvoll und kernig gestaltet; gemäßigter im Ausdruck und volksliedhafter in der Anlage sind Ligetis aus den 1950er Jahren stammende fünf Lieder nach Gedichten von János Arany, einem wichtigen ungarischen Dichter des 19. Jahrhunderts.

Die folgenden rund 25 Lieder von Kodály und Bartók stammen aus verschiedenen Sammlungen aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, so auch Bartóks erst 2002 im Druck erschienen Zehn Ungarische Volkslieder BB 43. Károlyi kreischt und schreit, ist wiegenliedhaft sanft, lockend und immer wieder rau und derb und versteht es aus Sprachpartikeln Gesangslinien zu formen. Besonders ausdruckvoll, archaisch hämmernd, rhythmisch grob und grell im Ausdruck sind die 1924 entstandenen Dorfszenen BB 87 nach Liedern, die Bartók wenige Jahre zuvor in der heutigen Slowakei aufspürte und die Károlyi auf Ungarisch singt. Die schöne Auswahl, bei der es Klára Würtz in den manchmal kaum minutenlangen Liedern innerhalb Sekunden gelingt, eine besondere Atmosphäre zu erzeugen, entstand im Juni 2018 im niederländischen Schiedam (Brillant Classics 96926). Der Eindruck ist intensiv und bezwingend.

In eine andere Welt katapultiert Aylish Kerrigan sings Kurt Weill. Im Stile einer frivolen Vortragskünstlerin unternimmt Kerrigan eine kaschemmenschwülstige Reise durch Weills Oeuvre von der Dreigroschenoper bis zu den Broadway-Stücken wie Lady in the Dark, One Touch of Venus und Street Scene. Mutig und unerschrocken. Hochmanieriertes aus dem Wohnzimmer. Auf der Liebhaber-CD (métier 15631) wird sie von Vladimir Valdivia begleitet. Rolf Fath

Pacinis Oper „Gli arabi nelle Gallie“

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Mit Spannung erwartet gab das Rossini-Festival in Wildbad dieses Jahr (2023) eine absolute Welterstaufführung, nämlich Pacinis Oper Gli arabi nelle Gallie, konzertant in der Trinkhalle und ebenfalls sehr verdientermaßen im DLR-Radio (vielleicht dann auf CD bei Naxos, wenngleich das Tenor-Unglück daran Zweifel haben lässt). Man kann Wildbads Initiative – trotz der gelegentlich problematischen  Sängerauswahl – gar nicht hoch genug loben, haben sie doch in der Vergangenheit neben dem Rossini-Kanon immer wieder absolut Seltenes ausgegraben, worüber wir in operalounge.de immer wieder berichtet haben (auch dank der unermüdlichen Besuche unseres Korrespondenten Rolf Fath).

Sein Bericht findet sich unter den diesjährigen Festspielen. Und der englische Musikwissenschaftler und Belcanto-Spezialist Alexander Weatherson, (operalounge.de-Lesern kein Unbekannter wegen seiner vielen klugen Texte, darunter der fundamentale Beitrag zu Donizettis Duc d´Albe und Maria di Rohan), hat uns seinen Artikel zu Pacinis Oper überlassen, den wir mit seiner freundlichen Genehmigung der website der Londoner Donizetti Gesellschaft entnahmen und ins Deutsche übersetzten. Danke Alex

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Die Oper von Pacini ist um so spannender, als sie uns an einen Abschnitt der muslimischen und europäischen Geschichte erinnert, der kaum noch bekannt ist. Natürlich wissen wir von den Arabern in Süd-Spanien und dem sogenannten Goldenen Zeitalter der Toleranz, Kunst und Wissenschaft ebendort. Aber kaum bekannt ist, dass die spanischen Araber bis nach Süd-Frankreich vorgedrungen waren und in der berühmten Schlacht von Narbonne 732 von Karl Martell vernichtend geschlagen und damit zurückgedrängt wurden. Bis heute ist dieser arabischen Einfluss in der Region noch zu finden. Auch wenn der historische Back-drop der Opern-Handlung nur als Staffage für die konventionelle Liebesgeschichte dient (und sich in ähnlichen Werken wie Maometto II, Les Abencerages oder I Normanni a Salerno wiederfindet), so ist sie für uns Heutige von Interesse ob der ethnischen Anklänge an eine vergessene Vergangenheit im Zusammenleben von Europäern und Muslimen (dazu auch der Artikel bei Wikipedia: Der Islam in Europa).

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Giovanni Pacini/ Wikipedia

Nun also Alex Weatherson: Von all seinen unglaublichen Opern (und er behauptete, einhundert geschrieben zu haben) sind Giovanni Pacinis Gli arabi nelle Gallie sicherlich die fantastischste. Aus irgendeinem Grund – und obwohl die ursprüngliche Fassung durchaus gelungen war – betrachtete er sie als ein elastisches Produkt, das nach Belieben erweitert oder verkleinert werden kann. Unzählige Hinzufügungen, Kürzungen, Änderungen und so weiter, so dass es für jeden Hörer mindestens eine Ausgabe gab, die dessen Geschmack entsprach. Zwischen der Uraufführung 1827 und 1855 wurde in einer unendlichen Reihe von Wiederaufnahmen jede Arie, jedes Duett, jedes Ensemble ganz oder teilweise, manchmal auch immer wieder neu geschrieben, ebenso wie jeder Chor, jedes concertato, jedes Finale, jede preghiera – sogar in einer Art obsessione  concertata für Korrekturen. Selbst die hochgelobte introduzione des ersten Aktes war nicht sakrosankt, denn im tragischen finale ultimo, in dem der berühmte Tenor Giovanni David sterbend vor einem weinenden Kreis von Freunden und Feinden stottert, musste sich der maurisch-merowingische Held immer wieder leise davonschleichen, damit die Primadonna, der Sopran oder der Mezzosopran, das Rampenlicht in einem wahren Feuerwerk an Fioritur einnehmen konnte. Es war der Fall der Würfel, dass sowohl die Musik als auch die Handlung von der Laune des Komponisten abhingen.

Und wie launisch konnte man sein? Es gibt ein Alternativmaterial zu dieser Oper, das dreimal so lang ist wie die Originalpartitur! Gli arabi nelle Gallie ist wie ein chinesischer Würfel, dessen Seiten sich drehen lassen, um beliebig viele Abbilder, beliebig viele Bühnenbilder zu erhalten: Für jede neue Besetzung – für jedes neue Theater – gab es eine immer größere Auswahl an Arien und Cabaletten, die Oper konnte Platz für jede Art von Stimme finden, Sopran, Mezzosopran, Tenor oder Bass, jeder der comprimari konnte einen schmeichelhaften Soloplatz in der einen oder anderen der verfügbaren Versionen finden. Keine Tonart und kein Tempo waren jemals festgelegt, die Soloinstrumente waren immer verhandelbar, und mit der Hinzufügung weiterer Stücke wurde die Auswahl immer größer, so dass neue Musik, die für diese oder jene Bühne geschrieben wurde, mit der Musik aller vorangegangenen Aufführungen gekreuzt werden konnte, und zwar bis ins Unendliche…

Sanquirico: Volte_Sotterranee_(Scena“Gli Arabi nelle Gallie“ zur Oper von Giovanni_Pacini)/ Wikipedia

Den Theatern, den Direktionen, den Impressarii und den großen und kleinen Künstlern stand Musik in allen Schwierigkeitsgraden zur Verfügung, sowohl Vokal- als auch Orchestermusik. Pacini scheint seine all-passenden Gli arabi nelle Gallie wie ein Allzweck-Kleidungsstück geschneidert zu haben, mit Anpassungen und Ausstattungen, die kein Komponist zuvor in Erwägung gezogen hatte – oder wieder in Erwägung ziehen würde. Was Jahrhunderte lang oft auf eine einfache Gleichsetzung von einem Mann zwischen zwei Frauen oder einer Frau zwischen zwei Männern hinausläuft, lieferte Achille de Lauzières 1855 (wenn auch unbeabsichtigt) Pacini beide Szenarien auf einmal mit der bemerkenswerten Folge, dass Adelaide Borghi-Mamos „männliche“ Schwangerschaft das Publikum zum Lachen brachte. In diesem Fall bot er ein modernes – radikales – Modell für die Opern-Bühne: nicht nur eine Oper für alle Jahreszeiten, sondern eine androgyne Oper für beide Geschlechter!

Warum hat er das getan? Wir können nur raten. Sein Kampf um die Vorherrschaft mit Bellini begann 1827. Bellini, der Publikumsliebling, war weder vielseitig noch besonders fließend im Stil, Pacini war beides. Bellini musste „Blut schwitzen“, um seine Opern zu schreiben, Pacini wollte seine Rivalen zum Schwitzen bringen. Doch der Änderungswahn hielt noch lange an, nachdem Bellini von der Bildfläche verschwunden war, und gipfelte in der überdimensionalen Pariser Ausgabe von 1855, die auf Wunsch von Kaiser Napoléon III. inszeniert wurde. Natürlich mit einer überbordenden Anzahl neuer Stücke – auf den neuesten Stand gebracht und vom Anheben des Taktstocks bis zum letzten Ton der Partitur märchenhaft neu komponiert.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Der Tenor Giovanni David als Algenor in der Uraufführung/ Gemälde von Hayez/ Wikipedia

Sofern nicht noch frühere, verworfene Partituren auftauchen (was keineswegs unmöglich ist), können Gli arabi nelle Gallie als Pacinis 35. Oper gelten. Er selbst wurde am 11. Februar 1796 in Catania geboren und war zum Zeitpunkt der Komposition 31 Jahre alt. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr komponierte er für die Bühne und hatte auch sechsundfünfzig Jahre später, als er starb, noch immer Lust auf das Theater. Er hörte nie auf, Musik zu schreiben, seine Musik war unaufhaltsam. Jeden Tag verbrachte er Stunden am Schreibtisch, keine Abschweifung, keine Romantik, keine amourösen Verwicklungen (er hatte drei Ehefrauen in Folge und eine Reihe hochkarätiger Mätressen, darunter Pauline Bonaparte) unterbrachen jemals den Fluss. Er schrieb während der Mahlzeiten, in seinem Bad, in seiner Kutsche, im Schlaf (wie seine Kritiker behaupten), in den Pausen zwischen den Aufführungen einer Oper, die er gerade schrieb. Er erzürnte seine Feinde, verblüffte seine Freunde und unterhielt ein großes Publikum mit seinen öffentlichkeitswirksamen Possen und seinem Gespür für Publicity.

Er war auch ein äußerst professioneller Komponist, der seine Verträge pünktlich und schnell erfüllte und eine ganze Reihe von unbestrittenen Erfolgen vorweisen konnte. Sowohl sein Il barone di Dolsheim vom 23. September 1818 als auch sein Il falegname di Livonia vom 12. April 1819, die an der Scala aufgeführt wurden, wurden bei ihrer Premiere mehr als vierzig Mal gespielt; La schiava in Bagdad, das am 28. Oktober 1819 am Carignano in Turin aufgeführt wurde, hatte Giuditta Pasta in der Titelrolle; La gioventù di Enrico quinto, das am 26. Dezember 1820 am Teatro Valle in Rom gegeben wurde, hatte eine proto-shakespearische Handlung und eine lange Lebensdauer.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Brigida Lorenzani sang den Leodate der Uraufführung/ Wikipedia

Im folgenden Jahr feierte Cesare in Egitto dank Pauline Bonaparte Borghese einen römischen Triumph bei der Eröffnung des Karnevals im Teatro Argentina (26. Dezember 1821), wobei die Rolle der Kleopatra allgemein als Darstellung der sich in ihrer Loge räkelnden Prinzessin galt; Amazilia (6. Juli 1825); L’ultimo giorno di Pompei (19. November 1825) und Niobe mit der unübertroffenen Besetzung von Giuditte Pasta, Luigi Lablache und Giovanni Battista Rubini (aufgeführt am 19. November 1826), alle drei für das Teatro S. Carlo in Neapel komponiert und allesamt große Erfolge, wobei das letzte von ihnen die wichtigste Opernmelodie der damaligen Zeit lieferte: „I tuoi frequenti palpiti“, eine unwiderstehliche Cabaletta, die für Rubini geschrieben wurde und später von einem Anwärter nach dem anderen auf den vokalen Ruhm übernommen wurde, um sie in so unpassende Werke wie Semiramide, Norma und Lucia di Lammermoor einzufügen, unabhängig von der Handlung – eine Erkennungsmelodie, die in einer Transkription von Liszt eine Apotheose über den Alpen erreichte, eine Hommage an die pacinische Bravour, die damals wie heute zum Zuhören zwingt.

Es war Niobe, die seinem ersten ehrgeizigen Versuch, berühmt zu werden, unmittelbar vorausging: Die Oper, die am 8. März 1827 auf die berühmte Bühne kam, basierte wie so viele andere der damaligen Zeit auf einer französischen Quelle, in diesem Fall auf der absurden Novelle Le Rénégat des Vicomte d’Arlincourt von 1822 – byronisch, erschütternd, aber anständig und mit nicht existierenden historischen Referenzen. Aus dem Ausgangsfeuilleton wurde eine Folge von Versen abgeleitet, die zwar brauchbar, aber nicht im Geringsten vornehm waren, ja, der schlaffe Text von Gli arabi könnte sogar der fons et origo für das seltsame Schicksal dieser Oper gewesen sein: Pacini, der Texte von fast allen Theaterdichtern mit der gleichen Melodienfröhlichkeit vertonte, scheint geglaubt zu haben, dass einige von ihnen (Angelo Anelli, Andrea Leone Tottola, Gaetano Rossi, Salvadore Cammarano und Francesco Maria Piave) es wert waren, respektiert zu werden, während ein großer Teil aller anderen (einschließlich Giovanni Federico Schmidt, Luigi Romanelli und Felice Romani) es nicht waren. Und er  fühlte sich daher frei, ihre Verse zu ändern, wann und so oft er wollte. Dass dies nicht immer der Hackordnung der zeitgenössischen Vorstellungen von poetischem Verdienst entsprach, beunruhigte ihn überhaupt nicht, sondern war symptomatisch für seine Weigerung, sich anzupassen, was seine Zeitgenossen gleichermaßen verblüffte und bestürzte.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Stefania Favelli sang die Ezilda der Uraufführung/ Wikipedia

Das Ergebnis war, dass der ursprüngliche Text von Romanellis Gli arabi nelle Gallie nach einigen Aufführungen nur noch in einigen wichtigen Teilen erhalten blieb. Die Oper wurde noch vor der Premiere auf den Kopf gestellt (wie ein Manuskript der ersten Strophe in Neapel zeigt), und ein großer Teil der Verse wurde vom Komponisten selbst hinzugefügt. Die ursprüngliche Besetzung war kompetent, wenn auch nicht herausragend: Ezilda, die gallische Prinzessin, wurde von der Sopranistin Stefania Favelli gesungen; Agobar, ihr lange verschollener Kindheitsverlobter, der zum Anführer der Mauren wurde, wurde von dem virtuosen Tenor Giovanni David gesungen; Sein Rivale um ihre Hand, der verwirrte General Leodato, wurde von der Mezzosopranistin Brigida Lorenzani gesungen, während die nicht unbedeutenden Rollen von Gondair, Zarele, Aloar und Mohamud von Vincenzo Galli, Teresa Ruggeri, Lorenzo Lombardi bzw. Carlo Poggiali übernommen wurden.

Die Oper sorgte von Anfang an für Furore, die Weite des Schauplatzes, der neo-stereophone Einsatz der spektakulären Eröffnung (Pacini hatte Il crociato in Egitto mit eifrigem Gehör bearbeitet) brachten das Publikum auf einen Siedepunkt der Begeisterung, der die ganze Zeit über anhielt, aber es war erstaunt zu entdecken, dass die ansteckend synkopierten cabaletten, für die er berühmt war, zum ersten Mal durch eine gewaltige Schlussszene für David in einem orchestral herausragenden Bühnenbild, das wirklich bewegend war, in den Schatten gestellt wurde.

Alle erwarteten ein brillantes envoi, und alle waren überrascht. In dieser Oper, so rühmte sich Pacini stolz, hatte er zum ersten Mal seine Muse über die leichte Publikumsbeschwörung seiner früheren Opern hinausgetrieben und strebte nun nach einem emotionalen Kern. Seine Instrumentierung, die bereits (wie wenige bemerkt haben) eine seiner besten Eigenschaften war, wurde nuancierter, luftiger, bitterer, idiosynkratischer. Und er drängte seine Darsteller in eine neue Arena, indem er sie zwang, affektiv im Einklang mit gut eingesetzten Soloinstrumenten zu singen – insbesondere den unverschämten Giovanni David, dessen Missbrauch seiner Kopfnoten zu stören begann. Dieses Kunststück allein wurde als geradezu wundersam angesehen, und auch Bellini nahm davon Kenntnis. Selbst der feindseligste Kritiker berichtete, dass die Oper „als meisterhafte Inszenierung“ angesehen wurde, dass Pacini als „der große Erneuerer der modernen Musik“ hochgehalten wurde (z. B. Harmonicon in London). Eine Ansicht, die bei seinem Catania-Konkurrenten nicht gerade auf Gegenliebe stoßen dürfte…

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Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Vincenzo Galli war der Gondoir der Uraufführung/ Lithographie von C. Biron, Königliche Bibliothek Stockholm

Die Handlung ist (wenn auch nicht immer) wie folgt: Clodomiro (Tenor), der Thronfolger der Merowinger-Könige, ist mit der kleinen Prinzessin Ezilda (Sopran) verlobt. Nachdem seine Dynastie gestürzt wurde, wurde er nach Spanien verschleppt und von den Mauren zum Islam bekehrt. Nun ist er als Krieger mit Turban zurückgekehrt, um unter dem Namen Agobar Frankreich für seine islamischen Herren zu erobern. Der Vormarsch seiner Truppen zwingt Ezilda, in einer ihrer Burgen Zuflucht zu suchen, unterstützt von ihrem Heerführer Leodato (Mezzosopran), Prinz der Auvergne, der sowohl an ihrer Hand als auch an einem möglichen Sieg über die Mauren verzweifelt. Er wird gefangen genommen, und Agobar droht, ihn zu töten, wird aber von dem klugen Aloar (Tenor) und auch von einem erwachenden Gefühl für seine verschwundene Vergangenheit zurückgehalten. Als er sich in der Gegenwart von Ezilda wiederfindet, die in einer Kirche Zuflucht gesucht hat, werden beide von halb vergessenen Erinnerungen geplagt. Agobar belauscht sie beim Weinen, sie besteht darauf, dass sie um ihren toten Ehemann weint und zeigt ihm den Ring, den Clodomiro ihr als Kind an die Hand gesteckt hat. Agobar zeigt ihr das Paar an seiner eigenen Hand. Ezilda weist ihn wütend als Schwindler, Lügner und Feind ihres Landes zurück. Agobar beschließt in seiner Verwirrung, nach Spanien zurückzukehren, doch Leodato warnt ihn, dass er damit den Verrat durch seine eigenen Soldaten riskiert, und vertraut ihm gleichzeitig an, dass seine Loyalität nicht Karl Martel gilt, sondern seinem lange verschollenen, rechtmäßigen Herrscher (den er natürlich nicht anerkannt hat) Clodomiro. Die Truppen von Karl Martel greifen die Mauren an und fügen ihnen angesichts der Unentschlossenheit von Agobar eine Niederlage zu, aber Ezilda weint – zur Überraschung aller – über die Schande des maurischen Generals aus, den sie zum großen Erstaunen ihrer Damen zurückgewiesen hat. Agobar, der von Aloar über seine Identität aufgeklärt wird, lässt sich von Gondair (Bass) versichern, dass Ezilda bereit ist, ihn zu akzeptieren, und beschließt, mit seinen dezimierten Truppen erneut in die Schlacht zu ziehen. Diesmal jedoch gegen die Truppen von Karl Martel, um die Geschicke seiner eigenen Dynastie (und nicht die seiner muslimischen Herren) wiederherzustellen. Bevor er dies tun kann, wird er von Mohamud (Bass), einem maurischen Loyalisten, niedergestochen. Tödlich verwundet taumelt er zu Ezilda und stirbt in ihren Armen.

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Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Die Trinkhalle in Bad Wildbad/ Rossini in Wildbad

Diese Partitur birgt viele Überraschungen, vor allem in der Erstfassung: Während Leodato eine stattliche entrata hat, tritt Ezilda unauffällig auf (mit einer preghiera in der Fassung der stesura prima; die berühmte Diva Henriette Méric-Lalande fand diese zurückhaltende Ankunft auf der Bühne einfach unzureichend für ihren Status und bestand, als sie die Rolle bei der ersten Wiederaufnahme an der Scala im Karneval 1827/1828 übernahm, darauf, dass Pacini ihr eine brillante Kavatine lieferte, wie sie sie für angemessen hielt). Der erfahrene Pacini hatte eine eiserne Technik im Umgang mit Damen dieser Eminenz – er kapitulierte einfach (eine Philosophie, die Bellini – und später auch Giuseppe Verdi – wütend machte). Was ihn betraf, so konnte er jede noch so unbequeme oder unlogische Änderung durchsetzen, die von ihm verlangt wurde.  Die Kavatine „Quando o Duce, a te ridendo“ wurde ordnungsgemäß geliefert und versetzte alle in Erstaunen.
Was Gli arabi nelle Gallie betrifft, so wurde diese zweite Ausgabe, wie auch die dritte und vierte Ausgabe und so weiter, mit einem crescendo von Beifall bedacht. Niemand scheint diese Änderungen bedauert zu haben, denn sie hielten die eingefleischten aficionados, die jeden Abend in die Oper gingen, auf Trab. Die Ansicht Verdis, dass eine Oper endlich, unveränderlich und in Stein gemeißelt sein sollte, dass die Künstler vertraglich verpflichtet waren, die von ihm komponierte Musik zu singen, wurde vom Publikum im primo Ottocento nicht geteilt. Agobar, der die Hauptrolle hat (Pacini machte von Anfang an klar, dass er diese Oper für seinen Freund Giovanni David schrieb), hatte zunächst eine auffällige arie di sortita „Non è ver, che sia diletto“ (die mindestens fünfmal umgeschrieben wurde), der in der prima eine weitere preghiera für Ezilda „Lo sguardo tuo, Signor“ mit ihrer köstlich-berührenden Melodie folgte. Ein großartiger Moment der Ruhe in einer geschäftigen Partitur und überhaupt nicht brillant.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Duett aus der Oper zum Klavier/Frontespiece/ Sammlung Philipp Gossett

Eine solche Zuflucht war keineswegs nach dem Geschmack eines ganzen Stammes von primedonne, nicht nur von La Méric-Lalande, und wurde bald wieder abgeschafft. Das finale primo des ersten Aktes ist ein concertato, wie es üblich war, mit lebhaften Auseinandersetzungen, die sowohl amourös als auch kriegerisch sind. Es wurde in den folgenden Spielzeiten außerordentlichen Veränderungen unterworfen – mit einer Fülle von verschiedenen stretten jeder Art, jeder Form, jeder Dynamik – mal als piano, mal als fortissimo bezeichnet – mal unisono, mal kanonisch strukturiert, mal mit Arioso-Einschüben wie Johannisbeeren im Kuchen – man kann es sich aussuchen. Die Originalfassung jedoch, mit einem wütenden Agobar, einer klagenden Ezilda, einem verwirrten Leodato und einem Chor des Dissenses von allen Seiten in einer unwiderstehlichen Woge der Melodie, war eine der besten Versionen von allen. Ebenso enthielt der zweite Akt Neuerungen, die zunehmend verschwammen oder brutal ersetzt wurden. Der zweite Akt enthielt Neuerungen, die zunehmend verschwammen und brutal ersetzt wurden. Er begann mit einem düsteren coro und verlief ursprünglich logisch über ein Duett für Tenor und Mezzosopran, dann eine große Arie für Ezilda, gefolgt von einem Trio, einem weiteren Coro, einer gewaltigen Arie für Agobar (von der es mindestens vier Versionen gibt) und dem ergreifenden Höhepunkt seiner Sterbeszene – eine jener langgezogenen, endgültigen Präsentationen des Opern-Ablebens, die fast zu einer Blaupause für das gesamte melodramma romantico des kommenden halben Jahrhunderts wurde.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Niederlage der Muslime in der Schlacht von Narbonne 759/ Wikipedia

In diesem Fall war sie so wirkungsvoll und berührend wie keine andere, und fast zum ersten Mal wurde dieser letzte Ritterschlag einer anderen Stimme als der einer Sopranprimadonna zuteil! Das konnte natürlich nicht von Dauer sein. Pacini lieferte Giulia Grisi am 12. Mai 1832 im Londoner King’s Theatre ein robustes Arienfinale, das ihren Platz einnehmen sollte: „Nel suo rapido passagio“, dessen rasante (Gesangs-)Passagen ihr solche Beifallsstürme einbrachten, dass die gesamte Musik und Handlung, die zuvor stattgefunden hatten, zynisch in den Schatten gestellt wurden.

Es muss sofort gesagt werden, dass wenig von dieser Musik – und nur wenige der Ersatzstücke – nach Rossini klingt, was auch immer behauptet wurde, Pacini war ein Komponist, der die ererbten Formen beharrlich aushöhlte – nicht mit einem kühnen Meisterstreich wie ein Donizetti oder ein Verdi, sondern Schritt für Schritt mit der Umsicht eines Überlebenden. Trotz einer respektlosen Geschichte von Veränderungen, Anpassungen, Zweifeln und regelrechten Widersprüchen behielten Gli arabi nelle Gallie eine Eigendynamik, die von einer atemberaubenden, auf ihre Art einzigartigen Umsetzung abhing – mit einer völligen Verachtung für die vorhersehbaren Tonalitäten und visuellen Klischees der italienischen Bühne.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: In der Schlacht von Tours und Poitiers im Oktober 732 besiegten die Franken unter dem Kommando von Karl Martell die nach Gallien vorgestoßenen muslimischen Araber und stoppten deren Vormarsch im Westen/ Gemälde von Emile Bayard, 1880, Wikipedia

Es gibt also für jeden ein musikalisches Erlebnis. Man treffe seine  Wahl. Es gibt eine Version, in der Leodato der Star ist (geschrieben für Carolina Ungher), in der sie die ganze gute Musik und drei große Arien hat. Zwischen der ersten Besetzung von 1827 und der letzten von 1855 traten die meisten großen Namen der italienischen Oberschicht in diesem melodramma serio auf: Zu den Ezildas gehörten Adelaide Tosi, Violante Camporesi, Luigia Boccabadati, Caterina Lipparini, Carolina Cortesi, Marietta Albini (die Pacinis zweite Frau wurde), Mathilde Kyntherland, Emilia Bonini und Virginia Blasis sowie die bereits erwähnte Henriette Méric-Lalande (die in mehr als einer Wiederaufnahme sang) und Giulia Grisi. Zu den Leodatos gehörten Adele Cesari, Rosa Mariani, Annetta Fink-Lohr, Clorinda Corradi-Pantanelli, Teresa Cecconi und Amalia Schütz-Oldosi; die schräge, aber sympathische Rolle des Agobar wurde von Giovanni David (in mehr als zehn Wiederaufnahmen) gesungen, aber auch von Giovanni-Battista Rubini (in Vicenza), Domenico Reina, Giovanni Basadonna, Napoleone Moriani, Pietro Gentili und Salvatore Patti. Zu den Sängern kleinerer Rollen gehörten (überraschenderweise) Celestino Salvatori und Vincenzo Galli sowie Antonio Tamburini und Luigi Lablache!

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Zu Pacinis „Arabi“: Karte des arabischen Imperiums um 700/ Wikipedia

Die Wiederaufnahme durch das Théâtre Impérial-Italien am 30. Januar 1855 mit Napoleon III. in seiner Loge (als Neffe von Pauline Bonaparte im Exil erinnerte er sich mit Rührung an die Oper im Teatro Apollo in Rom am 17. Januar 1829, als er von den Gedanken an seine Heimat bewegt war) wurde mit angemessener Publizität aufgenommen, nun in Form einer winzigen Grand opéra in vier Teilen, einem wahrhaft radikalen rifacimento, mit Angiolina Bosio als Ezilda und dem wild-emotionalen Carlo Baucardé als Agobar. Jede Nummer wurde umgeschrieben oder neu orchestriert, der Text wurde fast durchgängig überarbeitet, und alle religiösen und patriotischen Elemente wurden zur Freude der Kaiserin Eugénie verdoppelt. (Dieser Höhepunkt der unsterblichen Partitur wurde als Gli arabi nelle Gallie und nicht als L’ultimo dei Clodovei herausgegeben, wie manchmal berichtet wird – dies war nur der Titel einer Zeitungsrezension). Es blieb nicht lange dabei. Pacini war nie ein Favorit in der französischen Hauptstadt, aber es war sein einzige Oper ebendort, die dem lokalen Geschmack entsprach. Gli arabi nelle Gallie waren ein großer Erfolg – ein alter Hut, ungeachtet seinet Umarbeitung unter kaiserlicher Schirmherrschaft. Und sollte nun für immer verschwinden, aber der Komponist wurde mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet.

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Zu Pacinis „Arabi““: Henriette Méric-Lalande sang Ezilda bei der ersten Wiederaufnahme an der Scala im Karneval 1827/1828 (hier in Bellinis „Straniera“)/ BNF Gallica

Die unendlich lange Liste der Wiederaufnahmen in drei Jahrzehnten gibt einen überzeugenden Einblick in die Nachfrage nach diesem tapfer aktualisierten Bühnenspektakel. Seine Unverwüstlichkeit könnte als sinnbildlich für Pacinis gesamte Karriere angesehen werden: Sein Leben drehte sich um ständige Wiederaufführungen. Er überlebte sowohl Bellini als auch Donizetti. Und ungeachtet der glanzvollen Oberfläche seines anfänglichen Schaffens entstanden seine wichtigsten Opern in der glücklichen Zwischenzeit, als der erste von ihnen gestorben war und der zweite sich ins Ausland abgesetzt hatte. In der Mitte seines Lebens, als andere seiner Generation einfach nur maestro di cappella dieses oder jenes Provinzdoms waren, war Pacini immer noch auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Mit seinem Saffo von 1840 begann er eine fast uneinnehmbare Reihe herausragender Kompositionen, von denen viele mit einer Begeisterung aufgenommen wurden, die durch das Aufkommen von Verdi nicht ausgelöscht wurde.

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Auf jeden Fall entstanden so aufsehenerregende und denkwürdige Opern wie La fidanzata corsa (1842), Medea (1843), Lorenzino de’Medici (1845), Bondelmonte (1845), Stella di Napoli (1845) (drei große Opern in einem Jahr), La regina di Cipro (1846), Merope (1847), Allan Cameron (1848) und Malvina di Scozia (1851) verdienen es, ernst genommen zu werden, ganz zu schweigen von dem außergewöhnlichen Il Cid (1853) und dem proto-veristischen Il saltimbanco von 1858 (begann der Verismo am Istituto Pacini in Lucca? ) zusammen mit den beiden Opern, mit denen er seine lange Parabel auf der Bühne abschloss: Don Diego de’Mendoza und Berta di Varnol (beide mit Libretti von Piave und beide von 1867), in dem Jahr, in dem er starb, immer noch an seinem Schreibtisch.

Der Autor: Aleander Weatherson, renommierter Fachmann für Opern des 18. und 19. Jahrhunderts, namentlich des Belcanto sowie Autor vieler Artikel und Bücher über eben dies Feld, zudem auch international gefragter „Lecturer“; er war der Begründer und langjähriger Chef der Londoner Donizetti Society/ AW

Und dann ist da noch der „posthume“ Niccolò dei Lapi, der zwischen 1852 und 1858 in mindestens drei Vorfassungen mit unterschiedlichen Titeln erprobt und nach seinem Tod 1873 als umfassender Abgesang inszeniert wurde, eine gewaltige Zusammenfassung seines gesamten Schaffens, die auf einen modernen Aufbruch wartet.

Alle diese Opern enthalten eine Musik, die nicht zu überhören ist, lebendig, erfinderisch und sich selbst erneuernd. Pacini – und kein anderer Komponist kann das von sich behaupten – war das lebendige Bindeglied zwischen Rossini und dem Realismus, der das 20. Jahrhundert einleitete. Mit seinen rationalen und irrationalen Veränderungen, mit seiner eifrigen Hingabe an die Launen der Interpreten, der Aufführung und des Publikums waren Gli arabi nelle Gallie das Kind einer populären Kultur, die hartnäckig daran festhielt, die Oper als einen lebendigen Organismus zu betrachten, als eine theatralische Erfahrung, die sich vor den Augen und Ohren der Zuschauer weiterentwickelte. Und noch nicht als das unveränderliche Monument, das sie werden sollte. Als solche war sie zweifellos das Sinnbild einer Kunstform, die im Sterben lag, aber dass es in der darauf folgenden Opern-Ära sowohl Verluste als auch Gewinne geben würde, ist ein Faktor, dem man sich stellen muss. In der Jetztzeit. Alexander Weatherso (Übersetzung/ Redaktion G. H.) Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

 

Fabrice Bollons Freiburger Janáček-Projekt

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Ist es ein Kinder- oder ein Covid-19 Projekt? Letztlich trug wohl mehreres zur Entstehung dieses Schlauen Füchsleins bei, das auch so etwas wie der Abschied von Fabrice Bollon als Generalmusikdirektor vom Freiburger Theater war. Letztlich verlängerte Bollon um ein Jahr und verabschiedete sich mit seiner Erasmus von Rotterdam-Oper The Folly von Freiburg, wo er seit 2008 amtierte. Wie er im Beiheft erzählt, fand es Bollon offenbar immer schon schade, dass Janáčeks Oper, die für große wie kleine Zuschauer gleichermaßen funktioniert, aufgrund ihres großen Orchesterapparates nur großen Kompagnien vorbehalten sei und deshalb viele Kinder nicht erreiche.

Dann kam die Pandemie. Da die Arbeit mit großen Orchestern unmöglich geworden war, erarbeitete der französische Dirigent eine Fassung für zwölf Musiker, die im April 2021 in Rostock unter Marcus Bosch erstmals aufgeführt wurde und im Herbst des gleichen Jahres in einer Inszenierung von Kateryna Sokolova an Bollons Stammhaus in Freiburg herauskam.

Diesmal dirigiert von Fabrice Bollon, der in seiner kammermusikalisch durchsichtigen Fassung mit Streichquartett, Kontrabass, Flöte, Oboe, Englischhorn, Klarinette, Fagott, Harfe, Klavier und Schlagwerk die spätimpressionistische Duftigkeit von Janáčeks Musik auskostet, die attraktiven instrumentalen Kombinationen ausspielt und dabei eine reizvolle Dezenz bewahrt, die den Singstimmen stets den Vortritt lässt, darunter Samantha Gaul und Irona Je-Eun Park als Füchslein und Fuchs, Michael Borth als Förster, Anja Jung als Försterin und Eule sowie Hans Gröning als Harašta. Diese orchestrale Zurückhaltung bei gleichwohl waldwebend lockender Farbigkeit kommt vor allem den Kinderstimmen zugute, denn nicht nur die Förster-Kinder Pepik und Frantik sind mit Mitgliedern des Cantus Juvenum Karlsruhe besetzt, sondern auch zahlreiche Waldtiere vom Frosch bis zu den Fuchskindern. Die Naxos- Aufnahme (2 CD 8.660526-27) entstand in Sankt Georgen. Man könnte bedauern, dass die offenbar reizvolle Freiburger Inszenierung nicht festgehalten wurde. Sokolova hatte die Bilderfolge von Stanislav Lolek, die Janáček zur siebten seiner zehn Opern inspirierte, die am Tag seines 70. Geburtstags 1924 in Brünn uraufgeführt wurde, ins Filmmilieu verlegt. Der Förster wirkt als Autor und Regisseur, die Welt des Films wird zum Ort der Träume und Sehnsüchte.

Ergänzt wird diese reduzierte Orchesterfassung des Schlauen Füchsleins, die durchaus Bestand haben könnte, durch Bollons Duo lyrique en trois acts für Violine und Cello, das Janáčeks erste Oper von 1887 über die Amazone Šárka in ein knapp 20minütiges Kammermusikstück fasst. Das spröde Stück wird von Muriel Cantoreggi und Dina Fortuna-Bollon gespielt. Bollons Janáček-Hommage setzt sich in Twelve Lilies for Leoš, einem fünfundzwanzigminütigen Stück in drei Sätzen für die Füchslein-Besetzung fort; unter Bezugnahme auf das zweite Streichquartett, das Bläsersextett, die Orchesterrhapsodie Taras Bulba und die erst posthum uraufgeführte Oper Osud schuf Bollon so etwas wie einen persönlichen Leitfaden durch Janáčeks Oeuvre. Rolf Fath