Aus Warschau zum Dritten

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Unermüdlich setzt das Label Château de VERSAILLES seine Bemühungen um die Katalog-Erweiterung des französischen Barock-Repertoires fort. Im Falle von Jean-Marie Leclairs Tragédie-lyrique Scylla et Glaucus handelt es sich allerdings nicht um eine Ersteinspielung, denn 1986 nahm John Eliot Gardiner das Stück mit seinen English Baroque Soloists für Erato auf und sorgte damit viele Jahre für die einzig verfügbare Aufnahme. Erst 2016 kam bei Alpha eine neue Version unter Leitung von Sébastien D’Hérin heraus. Die aktuelle, hier vorliegende Produktion entstand im April 2021 in Warschau als Bestandteil der Collection Château de Versailles Spectacles (CVS068, 3 CDs).

Die Tragédie kam 1746 an der Pariser Opéra heraus, kurz vor dem 50. Geburtstag des Komponisten, dessen einzige Oper sie blieb. Das Libretto von d’Albaret folgt Ovids Metamorphosen und schildert das Schicksal der Nymphe Scylla, die die Annäherungsversuche des Halbgottes Glaucus zurückweist, worauf dieser sich an die Zauberin Circé wendet mit der Bitte, die Nymphe zu verzaubern. Circé jedoch verliebt sich in Glaucus und verwandelt Scylla in ein monströses Ungeheuer. An der Meerenge von Messina versetzt dieses künftig die Seeleute in Angst und Schrecken.

Das Werk in fünf Akten beginnt gemäß der Tradition mit einem Prologue, in welchem dem König gehuldigt wird. Sodann trägt der 1. Akt den Charakter einer Pastorale, der 3. wird bestimmt von einem maritimen Divertissement, der 4. mit dem Feuer speienden Vesuv schildert eine veritable Höllenszene und der 5. schließlich die finale Katastrophe. Dass Leclair ein Geigenvirtuose war, spiegelt sich auch in seiner Komposition wider. Sie ist einfallsreich und vielfältig, zeugt von dramatischem Gespür und den technischen, vor allem kontrapunktischen Fähigkeiten ihres Schöpfers.

Der ehemalige Musikdirektor der Warschauer Kammeroper Stefan Plewniak gründete 2012 das Ensemble Il Giardino d’Amore, mit welchem er bereits mehrere Projekte für das Label Château de Versailles realisierte. Seine Lesart profitiert vom energischen Zugriff, pulsiert mit furioser Dramatik, lässt aber auch delikate Momente von zauberischer Wirkung vernehmen (wie die Musette und das Menuet im 1. Akt). Die Besetzung weist drei Hauptrollen auf und sie alle sind blendend besetzt. Die Schweizerische Sopranistin Chiara Skerath, eine gestandene Mozart-Sängerin, bewältigt die hohe Tessitura der Scylla souverän, imponiert mit leuchtender, klangvoller Stimme und berührt ungemein in ihrer Todesszene am Ende. Die männliche Titelrolle nimmt der gleichermaßen als Tenor wie haute-contre erfolgreiche Mathias Vidal wahr. Einen jugendlichen Liebhaber vermag er nicht mehr abzugeben, doch ist er bemüht um einen schwärmerischen Klang und stilistisch noch immer erste Wahl. Circé, die ab dem 2. Akt auftritt, wird geprägt von hohem dramatischem Anspruch, besonders in Akt 4. Die Kanadierin Florie Valiquette vermittelt ihre Liebe zu Glaucus mit sinnlich flirrendem Sopran (05.08.23). Bernd Hoppe