Die andere Salome

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Wer Florent Schmitts Drama Salomé und überhaupt diese Musik hört, der wird sich fragen (müssen), warum der Komponist Florent Schmitt so sträflich vernachlässigt wird, nicht nur hierzulande. In unseren Konzertsälen wird seine Musik nur ausnahmsweise aufgeführt. Dabei hätte sie es verdient, auch aufgrund der ungewöhnlichen künstlerischen Position ihres Schöpfers.

Schmitts Oeuvre besteht aus 138 mit Opuszahlen versehenen Kompositionen und einigen nicht veröffentlichten Werken. Er komponierte für fast alle Gattungen der Musik. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war Schmitt einer der führenden Komponisten Frankreichs. Trotz seines eigenen und eigenwilligen Stils, trotz der Unabhängigkeit von Trends und Moden in der Musik der 1920-er bis 1950-er Jahre und trotz der Originalität und Qualität seines Komponierens spielte er nicht nur im französischen, sondern auch im internationalen Musikleben kaum eine Rolle.

Der Kritiker Pierre Petit hat Schmitt und sein Komponieren sehr treffend charakterisiert: Schmitt „hätte auch ein Anhänger von Strawinsky oder gar von Schönberg werden können. Stattdessen gelang es ihm, er selbst zu bleiben. Für den Musikwissenschaftler ist er daher ein einzigartiger Fall, ähnlich wie Paul Dukas. Schmitts Werk ist von den ersten Takten an unverkennbar. Es lässt sich in keine Schublade stecken, nicht einmal in eine Tendenz, trotz unvermeidlicher Ähnlichkeiten mit anderen zeitgenössischen Werken… Es gibt absolut nichts Außergewöhnliches oder Unerhörtes in seinem Vokabular: dennoch ist die Art und Weise, wie er es einsetzt, ganz persönlich – und in diesem Sinne ist Florent Schmitt wirklich klassisch… Seine Tragédie de Salome nimmt zwar spätere Werke anderer Komponisten vorweg, aber das war nicht beabsichtigt. Er war ein Einzelgänger und ist ein Einzelgänger geblieben. Die Bezeichnung ‚revolutionärer Anarchist‘ wurde mit böser Absicht auf ihn angewandt, ist aber in Wirklichkeit ziemlich zutreffend, da ein Anarchist ein Einzelgänger ist und die Revolution keine Sache der Nachahmung ist.“

La Tragédie de Salomé wurde als Ballett komponiert und am 9. November 1907 im Theâtre des Arts unter Leitung von Désirée Émile Inghelbrecht uraufgeführt, allerdings in einer kleinen Orchesterbesetzung. Die endgültige Form erhielt es 1910, um die Hälfte gekürzt und für großes Orchester instrumentiert als symphonische Suite. Deren Uraufführung fand 1911 in den Concerts Colonne unter Leitung von Gabriel Pierné in Paris statt. Das Werk basiert auf einem Gedicht von Robert d’Humières. Ihm liegt die bekannte Handlung zugrunde: Salome, die Tochter der Herodias, verführt ihren Onkel Herodes, um den Kopf des Propheten Johannes des Täufers zu fordern und büßt am Ende für ihre wahnsinnige Idee mit ihrem Leben.

„Schmitt nutzt dieses Thema, um ein Porträt zu zeichnen, das eine vor Sinnlichkeit strotzende Exotik mit einer Brutalität verbindet, die in den dunklen Instinkten der menschlichen Psyche wurzelt. Ein üppiges „Prélude“ beschreibt die Landschaft von Judäa, die den Palast des Herodes umgibt. Allein die Arabesken und die berauschende Klangfülle dieser Nummer machen Schmitt zu einem der führenden französischen Orientalisten. In „Les enchantements sur la mer“ (Die Verzauberungen des Meeres) erklingt eine eindringliche Threnodie („am Ufer des Toten Meeres aufgenommen“, wie es in der Partitur heißt) für einen Solosopran (oder Oboe). Nach dem „Danse des éclairs“ (Tanz der Blitze), der die Enthauptung von Johannes dem Täufer darstellt, bricht der „Danse de l’effroi“ (Tanz des Schreckens) mit unerwarteter Gewalt aus. Diese Nummer sollte bis zum Erscheinen eines gewissen Sacre du printemps (Frühlingsritus) sechs Jahre später einzigartig bleiben, dessen innovative rhythmische Merkmale ohne die großartige Tragédie de Salomé nicht denkbar gewesen wären.“ (Bru Zane)

Schmitts Werk vorangestellt – gleichsam als zeitgenössisches Präludium – ist die 2021 entstandene zweiteilige Komposition Loie des Zeitgenossen Fabien Touchard. Das passt zwar gut, zumal das Werk sehr atmosphärisch ist. Freilich kommt es doch nicht an die Wirkmächtigkeit der Schmitt‘schen Komposition heran. Les Apaches nennt sich ein Instrumentalensemble mit variabler Besetzung, das von dem Dirigenten Julien Masmondet gegründet und geleitet wird. Ziel des Ensembles ist es, Aufführungen zu kreieren und zu verbreiten, die Werke des Repertoires mit Uraufführungen heutiger Komponisten zu aktuellen Themen mischen und dabei Künstler mit unterschiedlichem Hintergrund zusammenbringen: Komponisten, Sänger, Regisseure, Schriftsteller, Dichter, Videokünstler, Tänzer, Schauspieler, Architekten und Free-Runner. Dabei knüpfen sie an jene Künstlergruppe des frühen 20. Jahrhunderts an, die sich ebenfalls Les Apaches nannte – Maler, Schriftsteller, Musiker und andere Künstler, darunter die Komponisten Manuel de Falla, Maurice Ravel, Igor Strawinsky und eben Florent Schmitt.

So verdienstvoll und eindrucksvoll der Einsatz aller Beteiligten ( darunter die Sopranistin Sandrine Buenda) für das Werk ist, so sehr man von Schmitts Musik gepackt wird, so sehr bedauert man zugleich, dass die Texte des als „Booklet“ fungierenden Faltblatts nur in Französisch und Englisch abgedruckt sind, aber wie immer nicht auch auf Deutsch, was man doch als Diskriminierung des potenten deutschen Marktes werten kann (b.records LBM 049/ 15. 08.23).  Helge Grünewald