Archiv für den Monat: Oktober 2022

Preiswürdig

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Hätten sich die in die Historie eingegangenen Herrscher der Vergangenheit nur halb so viel mit  amourösen Angelegenheiten befasst, wie uns Opernlibrettisten glauben machen wollen, dann wäre die Menschheitsgeschichte weit weniger blutrünstig verlaufen, als es leider der Fall ist. So wissen die Geschichtsbücher von einem König Xerxes I. zu berichten, der Aufstände gegen die Herrschaft der Perser in Ägypten und Babylonien niederwerfen ließ, dessen Heere bei den Thermopylen die Griechen („Wanderer, kommst du nach Sparta…“) besiegten und in der Seeschlacht von Salamis von ihnen besiegt wurden, der die Meerenge bei den Dardanellen mit 300 Peitschenhieben bestrafen ließ, weil eine gerade fertiggestellte Brücke einstürzte.

In Händels Oper Xerxes ist der Herrscher ausschließlich damit befasst, die Liebe der schönen Rodelinda zu gewinnen, die seinen Bruder Arsamene liebt, was sie mit ihrer Schwester Atalanta gemeinsam hat, während Xerxes‘ Gattin Amastre  (historisch beglaubigt) erfolgreich versucht, den Gatten zurück zu gewinnen. Daraus ergeben sich natürlich viele heikle Situationen, Missverständnisse und Anlässe für Arien und Duette.

Die Oper verschießt ihr treffsicherstes Pulver gleich zu Beginn mit Xerxes‘ Arie „Ombra mai fu“, die vor dem Bild eines reich beblätterten Baumes  vor dem Vorhang gesungen wird, ehe das Bühnenbild ( Karoly Risz) für die ersten beiden Akte sichtbar wird: eine reich gedeckte Tafel, an der die Protagonisten sich den Freuden des Essens und Trinkens hingeben, ehe allmählich mit den immer stärker aufwallenden Gefühlen die guten Sitten verloren gehen und schließlich pasta mista und insalata verde sowie alles andere den Partnern und besser Gegnern an den Kopf geworfen werden. Bis zu Beginn des dritten und letzten Akts ist dann die Tafel so demoliert, dass nur noch die Stühle nach Wiederaufgehen des Vorhangs auf der Bühne stehen. Das klingt alles nach brutalstem Regietheater, ist aber so fein spielerisch, so ironisch, so wenig provozierend, dass es eher zum Schmunzeln als zur Empörung animiert. Auch die Kostüme von Susanne Uhl sind nicht die Sänger und Sängerinnen bloßstellend, sondern eher ironisch charakterisierend, aber das in der allerfeinsten Art, deren sich auch die Personenführung (Regie Tilmann Köhler) befleißigt, indem sie bei allem Jux und aller Tollerei die Figuren nie der Lächerlichkeit preisgibt.

Mehr als zufrieden sein kann man auch mit der Leistung der Sänger. Gaelle Arquez ist ein androgyner Xerxes, dem das vokale Zupacken wie die zartesten vokalen Gespinste gleichermaßen zur Verfügung stehen, der die Rezitative fein modelliert, weitgehend von sanftem Klang ist und über ein schönes Legato verfügt. Die Sängerin brilliert auch in den Duetten wie dem mit Romilda  („L’amerete?“) oder mit dem zweiten Mezzosopran in „Gran pena é gelosia“. Tanja Ariane Baumgartner hat für die verlassene Amastre eine warme und corporeiche Stimme, für die in Liebesdingen unschlüssige Romilda setzt Elizabeth Sutphen einen geschmeidigen, vor Schärfen nicht zurückschreckenden Sopran ein. Ihre Schwester Atalanta singt Louise Alder mit leichter, heller Sopranstimme. Einen ungewöhnlich reich timbrierten Altus hat Lawrence Zazzo für den doppelt geliebten Arsamene, dem er eine runde, ebenmäßige Stimme und eine generöse Phrasierung zu teil werden lässt. Markant und energisch gibt sich Thomas Faulkner als Elviro, auch Brandon Cedel vertritt als Ariodate die dunklen Stimmen und ist ein würdiger deus ex machina oder besser angelo ex machina mit körnigem Bass. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter Constantinos Carydis spielt schlank, straff und elegant.

Mehrfach und auch für die vergangene Saison wurde die Oper Frankfurt zum besten Opernhaus des Jahres gewählt, was, berücksichtigt man diese Produktion, nicht verkehrt sein kann (C Major 747908). Ingrid Wanja

Im Reich der Feen

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Die Recitals der Schweizer Sopranistin Regina Mühlemann bei ihrer Stammfirma Sony zeichnen sich stets durch interessante Konzeptionen aus. Nach ihrer Sammlung von Cleopatra-Arien erschien jetzt ein Album mit dem Titel Fairy Tales (19439986672). Aufgenommen im November 2021 im schweizerischen Boswil, vereint es Szenen mit Feen, Elfen und Nixen aus der Geisterwelt, begleitet vom Ensemble CHAARTS in speziellen, von Wolfgang Renz gefertigten Arrangements, die ein transparentes Klangbild ergeben.

Mit einem berühmten Titel beginnt die Anthologie – Rusalkas „Lied an den Mond“. In dem filigranen Gewebe kann sich der Sopran von Regina Mühlemann zart und poetisch entfalten, bezaubert mit träumerischem Ausdruck. In der originalen Orchesterbesetzung würde er sich wahrscheinlich noch nicht genügend durchsetzen können, aber für die Zukunft ist die Partie auf jeden Fall eine Option für die Sängerin. Nicht weniger populär ist die folgende Nummer – die Barcarolle aus Offenbachs Les Contes d’Hoffmann, die in Wahrheit aus seinen Rheinnixen  (Les fées du Rhin) stammt und wegen des Misserfolgs dieser Grand Opéra Einzug in den Venedig-Akt des Hoffmann fand. „Komm zu uns und sing und tanze“ ist der wiegende Chor der Elfen betitelt, den die Solistin mit Delikatesse ausbreitet. Später stellt sie noch die Eröffnung dieser Szene vor – das nächtliche Feen-Solo „Alles hüllt sich in Dunkel“, welches die Anthologie gebührend spukhaft beendet.

Der Barcarolle folgen zwei französische Komponisten – Jules Massenet mit seiner Aschenputtel-Oper Cendrillon, aus der die Arie der guten, hilfreichen Fée („Ah! Douce enfant“) erklingt, und Adolphe Adam mit seinem Feen-Ballett La filleule des fées, aus dem ein Flöten-Solo („The Pink Fairy“) vorgestellt wird. Die erste Nummer wird flirrend eingeleitet und bezieht ihren Reiz aus ätherischem Melos und Koloraturgeglitzer. Sie zeigt prägnant die beiden Möglichkeiten der Stimme – feine Lyrik und virtuoses Zierwerk. Das zweite Stück als kurzes instrumentales Intermezzo ist ein huschender nächtlicher Spuk.

Nicht fehlen in einer solchen Zusammenstellung darf Ninettas zauberhafte Arie „Ninfe! Elfi!“ aus dem letzten Akt von Verdis Falstaff. Hier hört man eine ideale Interpretation von verträumter Stimmung mit zarten, duftigen Tönen. Von der Romantik wandert Mühlemann zurück in den Frühbarock und singt aus Monteverdis Achtem Madrigalbuch das Lamento della Ninfa („Amor, amor“). Es ist dies ein besonders feinsinniger Beitrag, der mit seiner sanften Melancholie berührt. Ein halbes Jahrhundert später erlebte eines der erfolgreichsten Werke Purcells seine Uraufführung: The Fairy Queen. Daraus hat die Sopranistin das ergreifende Klagelied „O let me weep“ ausgewählt und ist im munteren Duett „Turn then thine eyes“ sogar in akustischer Verdopplung zu hören. Purcells Landsmann Benjamin Britten ist mit seiner Komödie A Midsummer Night’s Dream vertreten, aus der Mühlemann in zauberischer Stimmung zwei Soli der Elfenkönigin Titania vorträgt. In „Be kind and courteous“ bittet sie ihre Elfen, sie in den Schlaf zu singen, in „Come, now a roundel“, freundlich zu dem verzauberten Zettel zu sein. Auch Felix Mendelssohn Bartholdy widmete sich Shakespeares Sommernachtstraum mit einer Schauspielmusik, doch hat Regina Mühlemann aus dem Oeuvre des Komponisten das geschwind vorbei huschende Lied „In dem Mondenschein im Walde“ aus seinen Sechs Gesängen op. 19a ausgewählt. Als Abschluss erlebt der Hörer noch eine Reise in den Norden mit der Geisterwelt von Edward Grieg. Aus seiner Schauspielmusik zu Ibsens Peer Gynt stellte der Komponist eine Suite zusammen. In diesen Instrumentalstücken haben die elf Instrumentalisten der Kammermusik-Vereinigung Gelegenheit, feinste Stimmungen zu zaubern sowie nordische Schwermut und das Lokalkolorit der geisterhaften Trolle einzufangen. Die Solistin singt aus der Schauspielmusik zwei Lieder der Solveig mit sanfter Tongebung und nimmt danach noch Griegs „En Svane“ nach Ibsens gleichnamigem Gedicht ins Programm. Es beruht auf der Legende, dass ein Schwan nur ein einziges Mal in seinem Leben singt – im Angesicht des Todes. Grieg kleidete das in fragile Töne, welche die Sopranistin stimmungsvoll wiedergibt. Bernd Hoppe

Meyerbeers „Robert le Diable“

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Die Grand opéra Robert le Diable von Giacomo Meyerbeers war dessen erster Beitrag zum Genre; das Libretto wurde von Eugène Scribe und Germain Delavigne verfasst; die Uraufführung fand am 21. November 1831 an der Pariser Oper statt und begründete den Ruhm des Komponisten in Frankreich sowie in weiten Teilen Europas.

Angesichts der vereinzelten, immer noch nicht sehr zahlreichen Aktivitäten in Sachen Meyerbeer heute lohnt sich ein Überblick auf Vorhandenes und neues. Dinorah, die Huguenots und den Prophète haben wir bei operalounge.de ja bereits vorgestellt, sein Robert le Diable ist dieser Tage wieder im Gespräch, sei es durch eine Konzert-Produktion der Opéra de Bordeaux und folgender CD-Einspielung oder sei es wegen der spannenden Bühnen-Aufführungen am Théâtre de la Monnaie in Brüssel. Beide konnten mit – für heutige Standards – befriedigenden  Kräften aufwarten.  

Für den Tenorstar der Zeit, Mario, schrieb Meyerbeer eine Zusatzarie in seinem „Robert le Diable“/ hier ist er als Don Giovanni  (!!!) in Petersburg/ Wikipedia

Nach bislang nur akustisch eher eingeschränkten Live-Mitschnitten ist nun eine unter quasi  Studiobedingungen eingespielte, wenngleich auch nicht wirklich ungekürzte Aufnahme verfügbar, die den Aufführungen unter Minkowski in Bordeaux 2022  (Palazzetto Bru Zane) folgt.

Aber auch ein Blick zu youtube lohnt wegen des dortigen optischen Dokuments aus Brüssel 2022; ebenfalls gibt es da Nur-Akustisches aus Paris 1985, Berlin unter Minkowski aus 2000, New York 1988 unter Eve Queler; Martina Franca/ Palumbo/ Dynamic und Salerno/ Oren/ Brilliant sind dort ebenfalls zu finden, sogar die alte RAI-Aufnahme in italienisch. Zudem bieten die Mitschnitte aus Berlin 2000 und New York 1988 die später, 1843, hinzugefügte Glanzarie für den damaligen Startenor Mario zu Beginn des zweiten Aktes. Die Übernahme aus Bordeaux wie auch Brüssel 2022 haben diese auch (wenngleich sich Dimitri Korchak ebendort ziemlich damit quält).

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Mit dem ersten Hören ist das eben immer so eine Sache. Oder sollte man sagen: Das Bessere ist des Guten Feind? Oder eher: Das Wirkungsvollere ist des Soliden Feind? Ich hatte das unendliche Glück, Meyerbeers Robert le Diable 1985 in der Pariser Oper, der Salle Garnier, in der skandalumwitterten,  orkanartig bebuhten Produktion von Petrika Ionesco zu erleben: Man meinte, der ehrwürdige Saal stürze nach dem Nonnenballett ein und wähnte im Geiste schon die Polstersessel durch die Luft fliegen. Aber musikalisch war´s ein Fest und ist es noch, ein unerreichtes.

Meyerbeer Robert le Diable/ Samuel Ramey und Michele Lagrange/ Paris 1985/ OP/youtube

Denn Samuel Ramey beherrschte als souveräner Bertram die Bühne, stimmlich außerordentlich exzellent und darstellerisch gebührend dämonisch, jeder Zoll ein infamer Teufel. Zudem sang meine französische Sopran-Liebe Michele Lagrange die kraftvolle, energische Alice. Ihre Jenny-Lind-Szene am Kreuz, dem höllischen Bertram widerstehend, geriet für mich zum absoluten Höhepunkt der Aufführung – selbst beim heutigen Hören sträuben sich mir die Härchen auf den Unterarmen  immer noch. Und wegen Erkrankung von Rocky Blake (mit dem es ein späteres und nie gesendetes Video bei youtube gibt) hatte man den Veteran Alain Vanzo (geboren 1928!)  für die Titelpartie reaktiviert, der allen staunenswert zeigte, was eine gutfundierte französische Tenorstimme kann. Trotz gewisser normaler und altersbedingter Verschleißerscheinungen war seine stimmliche Kraft und vor allem seine Rollenidentifikation ungebrochen wunderbar – eine ganz, ganz große Leistung. Was für eine Diktion, welche Präsenz. Französische Oper par excellence. Selbst die von mir nie geliebte, stets maulende June Anderson machte im rein tonalen Bereich viel aus der ohnehin eher blassen Isabella und deren Koloraturen. Und was für Fummel!, unglaublich sie und Ramey in den Gold-Silber-Gewändern. Dazu kam/kommt Thomas Fulton mit einer rasanten musikalischen Leitung des Pariser Klangkörpers:  Man klebte fiebrig an der Stuhlkante. Die Ouvertüre mit ihrem machtvollen Blech, die rasanten Chöre (die Huguenots grüßen schon), die packende Höllenfahrt Bertrams im dritten Akt (Webers Wolfsschlucht ganz zweifellos als Vorbild), das sich wie später in Gounods Faust steigernde Trio des Schlussbildes – atemlos machend kam diese hochexplosive Klangsprache Meyerbeers über mich. Ein Bühnenerlebnis absolut erster Klasse. Unvergessen.

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Meyerbeer „Robert le Diable“/ Szene mit John Osborn und Nicolas Courjal/ Pierre Planchenault/ Opéra de Bordeaux

Bühnenerlebnis? – das ist für mich der Kritikansatz für die neue Aufnahme aus Bordeaux. Sie wurde konzertant eingespielt, aber ohne hörbare Publikumsreaktionen und ganz sicher mit einigen (!) Korrekturen (der Akustikwechsel ist mit Kopfhörern merkbar). Ob so kalt aufgenommen wie die von cpo so geschätzten Ausgaben kann ich nicht beurteilen, aber es fehlt für mich eben diese Bühnenspannung, die Paris bietet. Denn gesungen wird gut, wobei ich da Einschränkungen hätte. John Osborn hat natürlich alle Noten und ist mit gut eingesetzter voix mixte ein  höhenstarker Robert, der im Forte-Bereich punkten kann. Im Piano und Mezzoforte klingt er für mich oft ein wenig weinerlich und auch – namentlich in besagter, zugegeben mörderischer Zusatzarie – recht amerikanisch-weiß (in der Stimme, man traut sich ja schon nicht, keinen Zusatz bei weiß zu machen). Ich stelle mir Robert le Diable heroischer, eben ritter-licher, männlicher vor und bedaure, dass man nicht Spyres verpflichten konnte. Aber Osborn macht (vor allem in der stratosphärischen Zusatzarie zu Beginn des zweiten Aktes) im akrobatischen Bereich einen wirklich tollen Job wenngleich einen insgesamt etwas blanden. Das kann man von Nico Darmanin als sehr präsentem, hellstimmigern Raimbaud nicht sagen – sehr toll. Seine Szene mit Courjals Bertram bleibt in Erinnerung.

Mein Held: Alain Vanzo war mit sechzig (!) Jahren der Robert 1985 an der Pariser Oper – seit dem Krieg der einzige Franzose bislang in dieser Rolle, die eine Domäne der internationalen Tenöre  geworden ist.

Die Damen klingen zwar in der jeweilig geforderten Höhenattacke eindrucksvoll, bleiben für mich jedoch im Rezitativ und in den Ensembles blasser, unengagierter. Wenngleich Erin Morley/ Isabella mit  bemerkenswertem, etwas herbem und interessanten Timbre eine Entdeckung ist, bei der man sich auf Mehr freut – eine  gutgeführte Stimme mit eigenem, wiedererkennbarem Klang. Amina Edris/Alice ist absolut kapabel, aber für mich nicht so überzeugend als lebendiger, greifbarer Opern-Charakter. Gerade in der Jenny-Lindszene mit Bertram hätte ich gerne mehr Umpf, mehr Gewicht gehört. Daraus machen Ihre Kolleginnen Lagrange oder Mimms ungleich mehr. Zudem ist ihre Wortverständlichkeit nicht immer gegeben (naja, bei Mimms auch nicht). Die Nuancen des Librettos fallen manchmal durch den Rost. Und beide Stimmen (Isabella und Alice) sind mir in Bordeaux für diese berühmten Primadonnenpartien einfach zu lyrisch und zu klein. Meyerbeer ist nichts für junge Stimmen – vielleicht liegt da auch die Fehleinschätzung. Erfahrene Opernsänger machen meist mehr aus den Partien als ihre jungen Kollegen, die dieses Repertoire zum ersten Mal singen.

Star der durchaus (im Libretto angezeigten) nicht strichlosen Palazzetto-Aufnahme ist für mich Nicolas Courjal, der die Partie des Bertram vorher bereits in Brüssel gesungen hatte und der einen bewegend intensiven, fies-zerrissenen Schurken-Vater abgibt, stimmlich rau-souverän, und vor allem in Diktion und Gestaltung unerreicht – das genau ist französische Oper vom Feinsten. Chor und Orchester beteiligen sich bestens an dem guten Job. Es ist dies eine sehr solide Konzertaufführung, sans doute, zudem endlich eine in gutem Sound mit einem werkdienlichen Ensemble rundherum.

Meine milde Kritik gilt dem von mir stets geschätzten Dirigenten  Mark Minkowski, der hier zum Zerfasern des musikalischen Flusses neigt und mir oft zu langsam scheint. Mal braust es auf, und die Chöre (toller Chor!) schmettern, und mal zerfällt die Spannung durch Dehnen der Passagen bei Einleitungen, Rezitativen oder Ensembles. Mal sind die Einleitungen sehr gedehnt und mal donnert das Blech. Mir will dabei das Ganze zu lyrisch, zu klein formatiert, zu wenig bühnenwirksam scheinen, ist es dies doch eine bühnenorientierte Oper wie kaum eine andere. Die Konfrontationen der Charaktere bleiben mir zu konzertant-lyrisch, deren doch opernhaft proklamierte große Gefühle zu papiern.

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Aber gilt nicht Oper wie das Theater überhaupt als der Ort für Pathos und große Gefühle? Pathos? Was ist es an den älteren Sängern (wie hier Courjal), dass sie uns zuhören und Anteil nehmen lassen, während wir bei vielen Jüngeren eher die sportlichen Leistungen bewundern? Neben Ramey oder Lagrange ergreift mich Alain Vanzo in seiner totalen Identifikation mit dem zwiespältigen, komplizierten Charakter des Robert, der ziemlich töricht in prekäre Situationen schliddert und erst am Schluss sich auf sich selbst besinnt. So bleibt für mich in der neuen Palazzetto-Aufnahme die große Arie Isabellas im 4. Akt zwar technisch gut gesungen aber ist nicht das brillante showpiece vieler großer Sängerinnen – man höre Gertrude Grob-Prandl damit, deutsch zwar, aber welche Emotionen! Bei Osborn bin ich sehr zufrieden mit seiner artistisch-musikalische Leistung, sehe das Bemühen um sanfte Töne und lyrische Phrasen, aber erst seine furchtlose Akrobatik der (oft zu weißen) hohen Noten lässt mich aufsitzen, und das bei inzwischen entschieden weniger „schöner“ Stimme. Er war lange Zeit einer der herausragen Rossini-Tenöre: Man hört, dass Rossini eben nicht Meyerbeer ist. Ähnlich geht es mir bei Amina Edris als Alice: tolle Topnoten und das interessante Organ stimmlich nicht allzu unruhig. Aber im Gegensatrz zur Kollegin Erin Morley/Isabella und im Vergleich zu Michele Lagrange oder Francis Ginsberg und Marilyn Mimms (letztere bei Eve Queler) doch eine andere Ketegorie, wenn die ihrerseits eben nicht nur ein vokales Feuerwerk loslassen, sondern Pathos und Emotionen zum Greifen herüberbringen. Es liegt vielleicht an meinen Hörerfahrungen, dass ich bis auf den Interpreten des Bertram von den Sängern aus Bordeaux nicht so wirklich angerührt werde …

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Sänger sind heute die Crux vieler moderner Aufnahmen oder Aufführungen. Daran scheitert auch der Internationalismus, der auf so gut wie allen heutigen Meyerbeer-Aufnahmen anzutreffen ist, denn rein französisch besetzte Einspielungen und Dokumente sind inzwischen mehr als rar. Ich weiß, der geneigte Leser zieht jetzt die Augenbrauen hoch und denkt: Jetzt ist er/ich schon wieder bei seinem Generalthema der nationalen/idiomatischen Stimmen. Aber im Gegensatz zu Berlioz und zu Massenet ist Meyerbeer wirklich mehr als empfindlich, was die Diktion/Kommunikation angeht. Es wird Inhalt transportiert und weniger Musik, zumal musikalisch vieles auch redundant ist und sich – bei schlechten/ upgedateten/ banalen Produktionen der Gegenwart – auch hinzieht. Meyerbeer hat sozusagen cinematographisch komponiert: Palmen, Treppen, Interieur,  Münster in Flammen, einstürzende Kathedralen, und das Ballett der „sündigen“ Nonnen erregte und verstörte die Zuschauer 1831 und ist auch heute noch ein Anstoß – das ist Show, das ist Bühne, das ist blanke Unterhaltung wie in einem Musical (der Kronleuchter im Phantom etwa). Das bedarf der inszenierten funktionalen Musik, nicht etwa einer langweiligen Bühnenmusik, sondern der illustrativen, die ohne das zu illustrierende Objekt eben auch langweilig und nur funktional wirkt (wie oft auf einer Nur-CD). Das hatte es vorher noch nicht gegeben – und der Schlüssel zu Meyerbeer liegt eben in diesem fast operetten-/musicalhaften Zugang zu der von ihm geschaffenen Grand Opéra, die absolut alles an Bühnentechnik nutzte. Und das war in Paris 1831 so überwältigend, wie es sich unsere sparsam besetzten Häuser gar nicht mehr vorstellen können. Die Pariser Produktion von 1985 versuchte eben diese Anforderung – für mich höchst erfolgreich – sozusagen „over the top“ umzusetzen. Ein Projekt für Barry Kossky vielleicht?

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Kaum etwas hört man zum ersten Mal – so gibt´s auch hier weitere, Dokumente der Oper. Das frühste (neben unzähligen Version en der „Gnadenarie“ und Nonnenballetten) in moderner Zeit kommt aus Italien (wo sich die Oper länger hielt als in Frankreich), aus Florenz vom Maggio Musicale 1968, damals unbekannt und sicher aufregend, zudem ein Ruhmesblatt in der Geschichte des stets risikofreudigen Hauses. Aber die alte italienische Bastardversion (ehemals Myto und viele andere) mit der dünnen Scotto, Malagu und dem schimpfenden Boris Christoff (der da was verwechselt) macht keinen Spaß, einzig Giorgio Merighi bleibt schlank und italienisch-ordentlich, aber in dieser Sprache verliert die Oper enorm und klingt wie von Mascagni.

Die nachfolgenden originalsprachigen Dokumente halten mich ebenfalls bei Besinnung. Weder die Berliner Georg-Quander-Produktion an der Berliner Staatsoper 2000/01 (die es als illegale Mitschnitte gibt/eine bei youtube) konnte mit Nelly Miricioiu oder der stoischen Marina Mescheriakova glänzen (Brigitte Hahn war da cremig-seelenlos in der Reprise), noch sind die restlichen etwas, wovon man seinen Kindern erzählen möchte (einzig der Tenor Zhang und das Dirigat von Minkowski).

Andere Mitschnitte wie etwa das nur auf DVD erschienene Opus-Arte-Objekt aus London 2013 mit dem brüllenden Bryan Hymel und der schlafmützigen Marina Poplavskaja, dem blassen John  Relyea oder der hochneurotischen Patricia Ciofi (das wurde mit jedem Jahr schlimmer) bestätigen nur das Gesagte, zumal Daniel Oren am Pult von Covent Garden Meyerbeer mit Puccini verwechselt – nein, das macht weder Spaß, noch wird es dem Werk gerecht. Die neuere Aufnahme bei Brilliant ist wirklich nicht zu empfehlen: Mit erneut Bryan Hymel, Patricia Ciofi (noch zerquälter als sonst) und Alastair Miles hat man die üblichen Verdächtigen der von Covent Garden geprägten Gegenwartsszene vor sich, zumal Daniel Oren – diesmal in Salerno (!!!) – rumst und macht und tut, nur eben kein elegantes französisches Flair erzeugt. Wir leben – wie der ehemalige Papst Benedikt so richtig sagte – im Zeitalter der Abbilder, nicht der Originale. In Abwesenheit derselben blinkt hier nur Talmi, sorry.

Die wirkliche Erstaufführung der Originalfassung in moderner Zeit (wenngleich noch nicht in der neuen Ricordi-Edition von Wolfgang Kühnhold und Peter Kaiser) fand wie vorstehend beschwärmt in Paris 1985/86 statt, mit den genannten Mitwirkenden. Der Mitschnitt vom Pariser Radio 1985 kam in bestem Stereo-Radio-Sound als graue LP-Box heraus (nebenstehend, immer noch die beste Quelle), aber dann auch auf CD bei Gala, Adonis und anderen Mitstreitern des illegalen und leider wegen der heutigen Copyright-Restriktionen verschwundenen Angebots.

Die tapfere Eve Queler gab die Oper etwas breit dirigiert konzertant und sinnvoll gekürzt in New York 1988 mit dem furchtlosen Chris Merritt und besagter Zusatzarie für Mario (ein Sammlerschatz bei youtube, zumal auch Samuel Ramey hier wieder die Szene beherrscht, dazu singen Francis Ginsberg und Marilyn Mimms wirklich toll – die besten neben den Damen von Paris 1985!).

Aus dem italienischen Martina Franca gibt es eine wirklich nicht empfehlenswerte Aufnahme von 2000 unter Renato Palumbo mit Warren Mok (dto. tapfer) in der Titelrolle, kein Gewinn (Dynamic).

Eve Queler dirigierte 1988 die originalfranzösische Aufführung des „Robert“, mit interpolierter Zusatzarie, von Chris Merritt glanzvoll, gesungen (youtube hat´s)/ Foto OBA

Zuletzt nun sehr wirkungsvoll Evelino Pido in Brüssel 2022 (aus Erfurt 2011 gibt´s kein Dokument) mit einem virilen, nicht immer unangestrengten (und auch nicht immer schönstimmigen)  Dimitry Korchak in der Titelrolle und erstmals Nicolas Courjal als fabelhaftem Bertram. Julien Dran war der flotte Raimbault. Die Damen finden meine Liebe nicht so wirklich. Lisette Opresa ist als Isabella nicht unrecht, aber stimmlich zu unruhig. Und die Carmen-geschulte Yolanda Auyanet ist dem Vibratös-Verwaschenen verpflichtet (lässt aber in der „Grace, grace“-Arie bislang ungehörte Variationen hören, interessant). Immerhin: komplett in der neuen Ricordi-Edition und von Evelino Pido flott, aber gekürzt dirigiert – wo kann man´s erleben? youtube hat´s mal wieder. Aber vom Sitz reißt mich das alles nicht. Das tut immer noch Thomas Fulton in Paris 1985, ob nun gekürzt oder nicht. Geerd Heinsen

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Meyerbeer: „Robert le Diable“/ das berühmte Gemälde von Lepaulle vom Schluss-Trio der Uraufführung mit Nicolas-Prosper Levasseur (Bertram), Adolphe Nourrit (Robert) und Julie Dorus-Gras (Alice)/ Wikipedia

Zum Opernereignis Robert le Diable nun Berthold Warnecke: Für mehr als sechs Jahrzehnte war Robert le Diable eines der Zug­pferde der großen Oper in Paris, bis zum Ende des 19. Jahrhun­dert verzeichnete man dort über 750 Vorstellungen! Louis Véron, seit Februar 1831 Direktor des Hauses in der Rue le Peletier, hatte es verstanden, die besten Kräfte der Zeit für den Auftakt seiner Intendanz zu verpflichten: Edmond Duponchel zeichnete als „chef du service de la scène“ verantwortlich, Pierre Luc Charles Cicéri für das Bühnenbild, die Inszenierung lag in den Händen des Robert-Darstellers Adolphe Nourrit und des Librettisten Eugène Scribe, Filippo Taglioni choreografierte die aufwändige Ballettmusiken – im berühmten „Nonnenballett“ präsentierte er dem Publikum sogar erstmals den Spitzentanz auf der Opernbühne –, die musikalische Leitung schließlich, da Meyerbeer als Gast nicht an der Opéra dirigieren durfte, lag in den Händen von Antoine Habeneck, der bereits die ersten maßstabsetzenden Beethoven-Interpretationen in der Seine-Metropole geleitet hatte. Kein Komponist konnte sich der Wirkung von Meyerbeers Musik ent­ziehen. Bereits kurz nach der Uraufführung am 21. November 1831 publizierte Frédéric Chopin sein Grand Duo in Es-Dur für Cello und Klavier über Themen aus Robert le Diable. Sigismund Thalberg, Henri Herz und Friedrich Kalkbrenner folgten ebenfalls mit Fantasien und Va­riationen, Liszts Réminiscences de Robert le Diable (1841) avancierte gar zu einer Art Virtuosen-Visitenkarte in dessen Konzerten. In Wien sprang Johann Strauß gleich nach der Erstaufführung des Robert im Juni 1833 auf den Erfolgszug auf und lieferte bereits einen Monat später seine Walzerfolge Robert-Tänze (op. 64) – natürlich versäumte er es dabei nicht, Raimbauts Ballade in einen ¾-Takt zu verwandeln! Jacques Offenbach schließlich wählt Meyerbeers Grand Opéra zur, gleichwohl bewunderten, Zielscheibe seiner bissigen Operetten – und der solcherart Angegriffene „wußte genau, daß die Parodien Offenbachs zuletzt doch den Ruhm seiner Opern erhöhten und war überdies als Mann von Welt zu gewitzt, um es mit dem Spaßmacher zu verderben.“ (Siegfried Kracauer)

Meyerbeer: „Robert le Diable“/Piere Charles Cicéris Dekoration für das Nonnenballett/ WikipediaNonnen/Illustration zur Uraufführung/OBA

Auf Anfrage des Musikverlegers Maurice Schlesinger publizierte Honoré de Balzac 1837 seine Novelle Gambara, mit einer aus­führlichen Analyse von Meyerbeers Oper, eingebettet in einen span­nenden (musik-)psychologischen Diskurs um den irren Komponisten Gambara. Auch Heinrich Heine versäumt es nicht, seine Angélique „in die Oper zu führen alsdann: / Man gibt Robert-le-Diable. / Es ist ein großes Zauberstück / Voll Teufelslust und Liebe / Von Meyerbeer ist die Musik, / Der schlechte Text von Scribe.“ Noch zehn Jahre nach der Uraufführung führt der Graf von Monte Chris­to in Dumas‘ gleichnamigem Abenteuerroman (1844 – 46) höchst persönlich die griechische Prinzessin Haydée in die Grand Opéra, natürlich in eine Vorstellung des Robert. Dass sich die Zustände während der Aufführung in der großen Oper keineswegs sonderlich von denen der übrigen Pariser Theater unterschieden, erfahren wir ebenfalls im 53. Kapitel des grandiosen Romans: „Der Vorhang ging wie gewöhnlich vor einem fast leeren Haus auf. Das ist auch eine von den Gewohnheiten unserer modebewussten Pariser, ins Theater zu kommen, wenn das Theater bereits begonnen hat. Die Folge davon ist, daß der erste Akt vorübergeht, ohne daß die be­reits angekommenen Zuschauer das Stück sehen oder hören, son­dern die ankommenden Zuschauer eintreten sehen und nichts hören als den Lärm der Türen und Gespräche.“ Teuflische Verstrickungen

Meyerbeer: „Robert le Diable“/ die berühmte Kreuzszene im 3. Akt mit Jenny Lind und Nicolas-Prosper Levasseur nun als Frontespiece-Schmuck des Klavierazuszugs/ BNF Gallica

„Auf solch eine kalte berechnete Phantasieanstalt kann ich mir nun keine Musik denken“, schrieb Felix Mendelssohn Bartholdy im Januar 1832 abschätzig an Carl Immermann, den späteren Leiter des Düsseldorfer Theaters, „und so befriedigt mich auch die Oper nicht; es ist immer kalt und herzlos“. In Verkehrung des späteren Verdikts Wagners führt er noch den Nachsatz an: „und dabei empfinde ich nun einmal keinen Effect.“ Doch das viel geschol­tene Libretto Eugène Scribes zu dieser „Phantasieanstalt“ scheint in der Fokussierung auf den Vater-Sohn-Konflikt einerseits und Ro­bert im Liebesdreieck von Mutter, Alice und Isabelle andererseits durchaus geradlinig und packend. Der Text greift auf Versatzstü­cke aus der mittelalterlichen Volkssage von Robert dem Teufel und der romantischen Schauererzählung Das Petermännchen (1793) von Christian Heinrich Spieß (1820 von Henri de Latouche ins Französische übersetzt) zurück, auch E.T.A. Hoffmanns Elixire des Teufels (1815/16) scheinen in der Gestalt der Heiligen Rosalia aus der Ferne nachzuwirken.

Sieht man von den „Effekt“ machenden Elementen der Schauer­romantik ab, bleiben in der Tat ein durchaus „kalter“ und „herz loser“ Kern, der verstörend und deshalb so reizvoll für die Bühne erscheint, und Figuren zurück, hinter deren typenhaften Wesen wahre Abgründe aufscheinen.

Meyerbeer: „Robert le Diable“/ Jenny Lind am Kreuz/ Wikipedia

Ein dichtes motivisches Netz ist vor allem um Bertram gezogen. Fagotte, tiefes Blech und die solistisch geführten Pauken charakteri­sieren seine Sphäre, die immer wieder auch die heiter-beschwing­ten Chorszenen und Solonummern unterwandert, gleich zu Beginn Raimbauts Erzählung: Naiver Hörnerklang über einem harmlosen 6/8-Rhythmus leitet die Ballade von „Robert dem Teufel“ ein, doch mit jeder Strophe verdunkelt sich der Orchestersatz mehr und mehr, gleitet das lichte C-Dur ins dämonische c-Moll ab – Sentas Balla­de aus dem Fliegenden Holländer oder auch Hoffmanns Lied von „Klein Zack“ in Les contes d’Hoffmann haben hier ihren Ursprung.

In einer Dramaturgie, die auf Bilder anstelle von erzählerischer Stringenz und Entwicklung setzt, wirft die Figur Bertrams aber auch große Fragen auf, gerade mit Blick auf die verwendeten literarischen Versatzstücke. Warum offenbart er sich erst als Vater Roberts, wenn es eigentlich zu spät ist? Verheimlicht er Robert bewusst eine Lebenslüge? Verschweigt er bewusst die teuflischen, gar gewaltsamen Umstände, denen Robert sein Leben verdankt?

Meyerbeer: „Robert der Teufel“  bei Liebig/Finaltrio mit Julie Dorus-Gras (Alice), Adolphe Nourrit (Robert) und Nicolas-Prosper Levasseur (Bertram)

Was bedeutet es für Robert, wenn die Volkssage von einem Ere­miten erzählt, der ihm aufträgt, zur Buße für seine Untaten „als ein Narr und Stummer“ unter den Hunden zu leben? Gibt es eine Be­ziehung zwischen Bertram und Isabelle, auch wenn sich das Text­buch darüber ausschweigt? Immerhin bleibt ihr Vater, der König von Sizilien, gleichfalls nur eine Art Trugbild wie später der Prinz von Granada. Und aus dem letzten Kapitel der französischen Volkssage – 1783 publiziert in der Reihe Bibliothèque bleue – erfahren wir außerdem, dass er vor der Heirat mit Mathilde (= Berta in der deutschen Version) eine Liaison mit Mélisandre von Poitiers gehabt hat: „Sie sprach ihm tausend kleine Neckereien zu, auf die Hubert mit Höflichkeit antwortete, ohne jemals weiter zu gehen, und nahm das Ganze mit Scherzen auf …“

Spannend auch ein Blick auf das Dreigestirn Mutter – Alice – Isabelle, das Robert schützend umgibt. Durch Alice verleiht Meyerbeer der toten Mutter (Berthe) eine Stimme. In ihrer Romanze des 1. Aktes („Va, dit-elle“) liest sie Robert einen Brief ihrer Mutter vor, der ihn vor dunklen Mächten warnt. Das rhythmisch-drängende Motiv, mit dem sie das Versprechen der Mutter vorträgt, bei Gott für ihren Sohn zu beten wird („sa mère qui priera pour lui“) – eine dreifach wiederholte Folge einer punktierten Achtel- und einer Sechzehntelnote) – taucht kurz vor Schluss des 4. Aktes wieder auf zu den Worten „toi que j’aime, toi que j’aime“ („du, den ich liebe“), in der jener berühmten „Grace“-Passage Isabelles, in der diese Robert anfleht, ihr keine Gewalt anzutun, da sie ihn wahrhaft liebe. Bereits zu Be­ginn jener Cavatine – im Orchester nur von Harfe und Englischhorn begleitet – gesteht Isabelle Robert zu denselben Worten

Der Autor: Berthold Warnecke/ bis 2013 Dramaturg am Theater Erfurt, danach bis heute Operndirektor  am Mainfrankentheater Würzburg/Foto Nik Schoeltzel

ihre Liebe, eingefasst in eine sehnsuchtsvolle f- Moll-Kantilene. Dieses Motiv wiederum knüpft an das Accompagnato-Rezitativ vom Beginn desselben Aktes an, als Alice zu Isabelle kommt, um von ihr Abschied zu nehmen und ein letztes Mal Robert aufzusu­chen, da auch sie ihn so sehr liebe. Während Isabelle also in ihren vorausgehenden hochvirtuosen Koloraturnummern an den „teuflischen Elan“ Roberts anknüpft, ihn damit jedoch nicht von der Wahrhaftigkeit ihrer Liebe überzeugen kann, gelingt dies in dem Moment, da Isabelle ihn mit Alices lyrischer Musik an die Liebe der sterbenden Mutter erinnert. Aus dem anfänglichen Konflikt zwischen „Gut“ und Böse“ wird so am Ende für Robert eine Entscheidung zwischen dem Vater, als der sich Bertram zu erkennen gibt, und der Mutter, deren Testament Robert nun selbst in Händen hält und dessen Sinn er jetzt begreift – er erahnt die finsteren Umstände seiner Herkunft. (…) Berthold Warnecke

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Der Beitrag, als Teil seines Artikels, „Phantasieanstalt ‚Grand Opéra“, von Berthold Warnecke entstand für das Programmheft zu den  Aufführungen am Theater Erfurt 2011/ Dank an den Erfurter Chefdramaturgen Arne Langer/ Abbildung oben: Das Nonnenballett in einer Aufführung der Pariser Opéra (Salle Le Peletier) 1831/ Wikipedia.

Die deutsche Palazzetto-Presseagentur ophelias hatte „aus Spargründen“ kein Belegexemplar verfügbar. Ein Download in mp3 (!) sollte aushelfen, der lässt natürlich keinen wirklichen Eindruck auf die Klangqualität zu. Französische Kollegen halfen da aus …

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier

Pathos und Heldenverehrung

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Musikfreunde, die in die Jahre gekommen sind, dürften sich noch genau an die feierliche Inbesitznahme des wiederaufgebauten Münchner Nationaltheaters am 21. November 1963 erinnern. Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen waren dabei und berichteten ausführlich. Der Tag war auch ein Medienereignis, das bis jetzt im Internet nachhallt. Von den ersten beiden Opernaufführungen – Frau ohne Schatten und Meistersinger von Nürnberg – haben sich offizielle Mitschnitte erhalten. Noch bevor sich der Vorhang hob, erklang als erste Musik bei einem Festakt im prachtvollen Bau die Ouvertüre zum Schauspiel Die Weihe des Hauses von Ludwig van Beethoven, dirigiert von Hans Knappertsbusch. Konservativ gewandet trat er ans Pult, das weise Haupthaar zur hochindividuellen Wasserwelle gelegt, den Blick nach oben gerichtet. Ein Mann, der ganz genau wusste, was es bedeutet, ein solches Haus der Kunst zu weihen. Wird heute eine x-beliebige Einrichtung – und sei es ein Jugendclub oder ein Supermarkt– eröffnet, ist zwar immer noch von Einweihung die Rede. Seinen ursprünglichen feierlich-erhabenen Sinn aber hat der Vorgang verloren. Die Beschäftigung mit dem Werk hat durchaus auch einen etymologischen Aspekt.

Eine neue Aufnahme von Beethovens Schauspielmusik Die Weihe des Hauses hat Profil Edition Günter Hänssler auf den Markt gebracht (PH22012). Besonderer Wert wird durch einen entsprechenden Hinweis auf dem Cover darauf gelegt, dass es sich um die vollständige Musik handelt. Unterschiede zur bislang einzigen und komplettesten Einspielung von Claudio Abbado, die 1996 bei Deutsche Grammophon entstand, können auch musikalischen Laien nachvollziehen. Mit dem Werk wurde am 3. Oktober 1822 der Neubau des Theaters in der Wiener Josefstadt eröffnet. Das alte Haus war zu klein geworden und hatte den Anforderungen nicht mehr genügt. Schon bald wird auch den Hörern, die nicht sattelfest sind im Umgang mit den weniger bekannten Vokalwerken Beethoven klar, dass es sich bei dieser Schauspielmusik um einen Rückgriff auf die Ruinen von Athen handelt. Letzte Zweifel verfliegen, wenn der Türkische Marsch erklingt. Deren Entstehung ist ebenfalls einer Theatereröffnung zu verdanken, nämlich des neuen Theaters in Pest. Beide Städte trennen an die dreihundert Kilometer. Die Pester Premiere lag zehn Jahre zurück. Solche Zweitverwertungen dürften damals – wenn sie denn überhaupt auffielen – nicht so ins Gewicht gefallen sein wie heute, wo sich durch die weltweit vernetzten Medien alles sofort herumspricht. Carl Meisl (1775-1853), im Hauptberuf hoher Beamter im österreichischen Staatsdienst und nur nebenher als Dramatiker tätig, passte das Original von August von Kotzebue den neuen Bedürfnissen an und fügte auch Verse hinzu. Beethoven lieferte im letzten Moment noch zusätzliche Musik wie die Ouvertüre, die bald ein Eigenleben führte, den Tanz für Sopran und Chor „Wo sich die Pulse jugendlich jagen“ und den Schlusschor „Heil unserem Kaiser! Heil! Heil unserem Öst’reich! Heil!“ Gehuldigt wurde damit Franz I., der 1804 das Kaisertum Österreichs begründete hatte.

Die neue Aufnahme von Beethovens „Weihe des Hauses“ kommt als Mitschnitt aus der Potsdamer Friedenskirche,  vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV., der in der Krypta seine letzte Ruhestätte fand, selber entworfen. Foto/Wikipedia

Im Booklet finden sich lediglich die Texte der Musiknummern. Das vollständige Libretto hat Seltenheitswert. Fabian Enders, der Dirigent der Aufnahme, fasst den Inhalt – versehen mit Zitaten – zusammen. Er ist in seinen Grundzügen schnell erzählt. Thespis, in dem der griechische Gelehrte Aristoteles den entscheidenden Wegbereiter des Dramas gesehen habe, gelangt „in eine unwirtliche Gegend, der die Musen zunächst abhold scheinen“. Die Göttin Minerva kann den Dichter zum Bleiben überreden. Allegorische Figuren bevölkern die Szene. Begleitet von Beethoven groß instrumentierter Musik, so Enders, böten unterschiedliche Stationen „Gelegenheit zur Betrachtung des werdenden Tempels der Musen und seines schönen Scheins“. Zu Wort kommt im Booklet auch Peter Berg aus Leipzig, dem nach den erhaltenen Quellen „die vollständige Rekonstruktion von Partitur und Aufführungsmaterial“ gelang. Und zwar mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Gestalt“, in der das Werk 1822 unter Beethovens eigener Leistung erklungen ist. Mit der neuen CD schließt sich eine Lücke in der Beethoven-Rezeption. Sie beruht auf einem Konzertmitschnitt in der Potsdamer Friedenkirche vom 19. November 2021. Für ein Werk, in dem die römische Göttin Minerva auftritt, ist der Ort gut gewählt. Die Kirche am Rand des Schlossparks Sanssouci ist von italienischen Vorbildern inspiriert und geht auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zurück. Der hatte schon als Kronprinz 1839 einen ersten Entwurf vorgelegt, der sich an der Basilica San Clemente in Rom orientierte. Der Monarch war von Italien, das er auch selbst bereist hatte, regelrecht besessen und sei – wie er selbst einräumte – von einem „Romfiber“ erfasst gewesen. Gemeinsam mit seiner Gemahlin Elisabeth fand er in der Krypta der Kirche auch seine letzte Ruhestätte.

Die Kirche klingt mit auf dieser CD. Und das macht einen Teil ihrer Wirkung aus. Die Tontechniker haben den Umgang mit den schwierigen akustischen Verhältnissen eindrucksvoll organisiert – und Hall auch Hall sein lassen. Der Chor, der viel zu tun hat, kann sich räumlich gestaffelt entfalten, klingt nicht übersteuert und ist dazu noch sehr gut zu verstehen. Für die Aufführung haben sich Vocalconsort Berlin und Sächsischer Kammerchor zusammengetan. Die Philharmonie Brno spielt unter der Leitung von Fabian Enders. Solistisch eingesetzte Instrumente verleihen der Aufführung bei aller feierlichen Pracht auch intime kammermusikalische Momente. Als Solisten wirken Evelin Novak (Sopran) und Klaus Mertens (Bariton) mit. Sie treten zunächst im Duett „Ohne Verschulden Knechtschaft dulden“ gemeinsam auf. Anstrengende Höhen hat der Sopran in dem bereits erwähnten Tanz mit Chor „Wo sich die Pulse jugendlich jagen“, der im Werkverzeichnis Beethovens auch einzeln als WoO (Werke ohne Opuszahl) 98 geführt wird, zu bestehen. Sie gelingen der Sängerin vorzüglich. Gleich drei schwierige Einsätze warten auf den Bariton – und zwar das pathetische Melodram des Apollo über die Harmonie auf dem Theater, ein Rezitativ und schließlich noch eine große Arie, die ebenfalls melodramatisch gespickt ist. Mertens entledigt sich dieser Aufgaben mit der ihm eigenen Professionalität.

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Für einen genauen Vergleich mit der Schauspielmusik Die Ruinen von Athen bietet sich die jüngste Aufnahme von Naxos an (8.574076) an. Sie unterscheidet sich von anderen Einspielungen durch ihre Vollständigkeit. Zur Musik gibt es auch den gesprochenen Text. Zudem hatte Naxos das musikalische Festspiel König Stephan (8.574042) komplett vorgelegt. Damit war das Eröffnungsprogramm für das neue Theater in Pest, das seinerzeit noch eine selbstständige Stadt war und erst 1873 mit den ebenfalls eigenständigen Buda zu Budapest zusammengelegt wurde, eingeleitet worden. Die für Oktober 1811 in Aussicht genommene Eröffnung musste auf den 9. Februar 1812 verschoben werden. In dem Haus, das über dreitausend Plätze verfügt haben soll, wurde ausschließlich in deutscher Sprache gespielt – neben Schauspielen auch Opern und Operetten. Zwischenzeitlich nahm es bei einem Brand Schaden, wurde aber umgehend wieder aufgebaut. Mit der Revolution 1848/1849 kam der Betrieb zum Erliegen. 1889 brannte das Gebäude vollständig ab. Es existiert also nicht mehr.

Die Initiative zu diesem Theaterneubau – und hier gibt es wieder eine historische Verbindung zur Weihe des Hauses – war 1804 gleichfalls von Franz I. ausgegangen. Damit sollte die Treue Ungarn zur österreichischen Monarchie demonstriert werden. Deshalb wurde bei der Premiere König Stephan als „Vorspiel mit Chören“ gegeben.  Als Textdichter war ebenfalls der in hohem Ansehen stehende Kozebue gewonnen worden. Dem Publikum der Uraufführung waren die Libretti gedruckt gereicht worden. Digitalisiert stehen sie bei der Library of Congress in Washington – der größten Bibliothek der Welt – kostenlos über das Netz zur Verfügung. Nicht in den Booklets, wohl aber auf der eigenen Internetseite bietet Naxos moderne Abschriften an.

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Revolutionäre Theaterstücke, die dem Freiheitsgedanken huldigen wie Fidelio oder die 9. Sinfonie, sind nicht zu erwarten. Im Gegenteil. Dem Anlass gemäß werden Pathos und Heldenverehrung historisch verbrämt und mit antiker Garnierung gereicht. Auch das ist Beethoven. Er lebte von Aufträgen. In den Ruinen von Athen erwacht die Göttin Athene – hier ebenfalls als Minerva auftretend – nach tausenden von Jahren. Getrieben von der Sehnsucht, die ihr geweihte Stadt mit dem Parthenon wiederzusehen, findet sie sich in Ruinen wieder. Athen steht unter osmanischer Herrschaft, der legendäre Turm der Winde ist eine Moschee. Derwische huldigen ihrem großen Propheten und der Kaaba, was Minerva ihrerseits als „barbarisches Geschrei“ wahrnimmt. Ein türkischer Marsch, der wie in der Weihe des Hauses zu den Zugnummern des Werkes gehört, verbreitet mehr eingängig-flotte Folklore als Schrecken. Nachdem die Göttin ein in Musik gesetztes Gespräch eines griechischen Mädchen und eines Griechen mit angehört hatte, bei dem diese Menschen aus dem Volke beklagen „ohne Verschulden Knechtschaft dulden“ zu müssen, entschließt sie sich zur Flucht. Sie begibt sich auf die Suche nach einer neuen Heimat, wo „Wissenschaft und Künste blühen“. Denn wo man die holden Musen feiere, da „steht gewiss auch mein Altar“. Von Merkur geleitet, gelangt sie nicht ganz zufällig nach Pest. Von einem Greis erfährt das mythologische Paar, bei einem Volk angelangt zu sein, dem „die alte Treue für seinen König nie erstarb“. Dieses Volk nun schickt sich an, das Theater, diesen neuen Tempel der Musen, in Besitz zu nehmen. Und Merkur ruft Minerva zu: „Vergiss dein Griechenland, es ist gewesen, das Alte schwand, das Neue begann.“ Die Musik- und Theatermusen Thalia und Melpomene werden enthusiastisch gefeiert. Und so schließt das Festspiel damit, dass sich Zeus, der Vater Minervas, dazu herablässt, ein Bildnis des Kaisers Franz auf dem Altar der Kunst zwischen die beiden Musen zu stellen. Mit dem Chor „Heil unserm König! Heil! Vernimm uns Gott. Dankend schwören wir aufs Neue alte ungarische Treue bis in den Tod!“ endet dieses Spiel.

Zu danken sind die Ausgrabungen bei Naxos dem finnischen Dirigenten Leif Sergerstam, dem Chorus Cathedralis Aboesis und dem Turku Philharmonic Orchestra. Es war eine glückliche Wahl, deutschsprachige Schauspieler zu verpflichten. Sie garantieren die Textverständlichkeit. Angela Eberlein spricht die Minerva, Claus Obalski den Merkur, Roland Astor unter anderen den Greis. Die drei Gesangspartien in den Ruinen voin Athen, das griechische Mädchen und der Grieche sowie der Hohepriester, der am Schluss in Erscheinung tritt, sind mit Reetta Haavisto und Juha Kotilainen besetzt. Insgesamt vier Sprechrollen – wieder sind es Claus Obalski, Roland Astor, Ernst Oder und Angela Eberlein – sieht der Komponist für König Stephan vor. Gewiss können die ambitionierten Einspielungen die Werke als Ganzen nicht retten.  Wer sich aber tiefer hineinhört, findet einen Einfallsreichtum, wie ihn nur ein Beethoven hervorbringen kann. Als ob sich die Musik über den abstrusen Inhalt erhebt. Dreimal gehört, und bestimmte Passagen gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. So ist es vielleicht auch Richard Strauss ergangen, der eine tiefe Neigung zu antiken Stoffen hatte. Der benutze nämlich Beethovens Musik für seine neue Bearbeitung nach einem Schauspiel von Hugo von Hofmannsthal, das genauso in der Versenkung verschwunden ist wie das Original.

Ohne die Einbettung in das Gesamtwerk bleiben die musikalischen Nummern aller drei Schauspiele unverständlich. Andererseits ist es kaum vorstellbar, Schöpfungen wie diese einem heutigen Publikum bei einer öffentlichen Aufführung komplett zuzumuten. Das Wissen um die Mythologie und ihre Gestalten sowie sehr spezielle historische Ereignisse sind nicht mehr so verbreitet wie einst. Aspekte, die als islamfeindlich wahrgenommen werden könnten, ließen sich auch mit Mitteln des zeitgenössischen Theaters schwerlich relativieren. Umso verdienstvoller ist es, die Stück wenigstens in dieser Form zugänglich zu machen, wie das Naxos und nun auch Hänssler ermöglichten. Rüdiger Winter

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Die Abbildung oben zeigt den 1822 fertiggestellten Neubau des Theaters in der Wiener Josefstadt. Bei der Eröffnung wurde das Schauspiel Die Weihe des Hauses mit der Musik von Ludwig van Beethoven uraufgeführt. Foto/Wikipedia

Nachschöpfungen

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Glossa veröffentlicht eine weitere CD mit dem italienischen Countertenor Filippo Mineccia (GCD 923534), die im September 2021 im Teatro Municipale von Piacenza aufgenommen wurde. Nach der Orientierung auf das Barock-Repertoire wendet sich der Sänger nun Wolfgang Amadeus Mozart und dessen für Kastraten geschriebenen Arien zu. Die CD mit dem Titel „Mozart Italian Arias“ beginnt mit einer Aria der Betulia, „Parto inerme“, aus dem Oratorium Betulia Liberata, das 1771 als Auftragswerk für Padova komponiert, aber wahrscheinlich zu Lebzeiten des Komponisten nie aufgeführt wurde. Es ist ein sehr bewegtes, pulsierendes Stück, in dem der Sänger die obere und untere Lage attraktiv ausstellen kann. Gelegentlich hat die Stimme einen heulenden Beiklang, der bei seinen Barock-Interpretationen nicht zu bemerken war. Später folgt noch eine weitere Aria der Titelheldin,„Prigionier che fa ritorno“, bei der Mineccias Stimme klangvoll und emotional stark beteiligt ertönt.

Der junge Mozart erhielt noch weitere Aufträge aus Italien – für das Mailänder Teatro Ducale die Oper Mitridate, re di Ponto (1770) und die Serenata Ascanio in Alba (1771). In der Oper waren drei Partien mit Kastraten besetzt, dem berühmtesten, Giuseppe Cicognani, war der Farnace anvertraut. Zwei seiner Arien stellt Mineccia vor: „Già dagli occhi il velo“ und

„Venga pur“. Erstere ist von kantablem Melos und stellt mit anspruchsvollen Verzierungen hohe technische Anforderungen an den Solisten. Die zweite ist das Bravourstück des Programms, in welchem Mineccia sein virtuoses Können zeigen kann. Die Titelrolle des Ascanio komponierte Mozart für den gefeierten Virtuosen Giovanni Manzuoli. Hier erklingt seine Aria „Al mio ben“ in starker emotionaler Beteiligung des Solisten.

Überraschend finden sich in der Anthologie auch Arien anderer Komponisten. Wolfgang Amadeus und Vater Leopold wohnten im Januar 1770 im Teatro dell’Accademia von Verona der Aufführung von Pietro Alessandro Guglielmis Ruggiero bei, in welcher der gefeierte Kastrat Gaetano Guadagni in der Titelrolle reüssierte. Mineccia singt dessen Aria „Nel suo dolor ristretto“ und bietet damit eine der Weltpremieren des Programms. Sie fordert dem Interpreten gewagte Registerwechsel ab, denen sich der Sänger furchtlos stellt. Guadagni wirkte auch in Wien bei Glucks Orpheus und Eurydike mit. Der Counter wählte für sein Recital aber ein anderes Werk dieses Komponisten, Le feste d’Apollo, und daraus die Aria des Aristeo, „Numi offesi“. Der Interpret dieser Partie bei der Uraufführung 1769 in Parma war der Kastrat Vincenzo Caselli, den Mozart 1770 in Mantova in Hasses Demetrio hörte. Die Arie ist getragen und wird von Mineccia empfindsam wiedergegeben.

Das Arien-Programm wird komplettiert mit der des Tobia Padre, „Quando il vaso in colmo“ aus Mysliveceks Oratorium Il Tobia, das 1769 in Padova seine Premiere erlebte. Mozart schätzte diesen  Komponisten wegen seines raffinierten Stils, wovon die ausgewählte Nummer zeugt. Mineccias Stimme klingt hier sanft und eindringlich.

Den Sänger begleitet das Orchestra Farnesiana unter Leitung von Luca Oberti, das mit Mozarts Sinfonia in G-Dur  KV 74 (Mailand, 1771) auch in einem wirkungsvollen orchestralen Beitrag zu hören ist (21.10.22). Bernd Hoppe

Festival-Echo

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Es handele sich, so die Ankündigung des Festival Verdi, um das „schwedische“ Libretto, wie es Verdi für die Uraufführung 1859 Rom einreichte, bevor die Zensur die Verlegung der Handlung aus König Gustavs Stockholm ins ferne Boston verlangte. Deshalb also: Gustavo III.; ergänzend dazu in Klammer gesetzt dazu Un ballo in maschera (Dynamic Bluray 57937 und 3 CD CD579327.03). Das Teatro Regio, wo die Aufnahmen im Rahmen des Verdi Festivals 2021 vor genau einem Jahr (24. September 2021) entstanden, hatte es noch umgekehrt gehandhabt. Das ist egal. Die textlichen Änderungen sind minimal (Opera Lounge berichtete darüber). Roberto Abbado wandelt auf den Spuren seines großen Onkels Claudio Abbado, der sich mehrfach beispielhaft für Un ballo in maschera eingesetzt hatte und dabei die Stockholmer-Version bevorzugte. Roberto benutzt die kritische Ausgabe von Ilaria Narici und dirigiert die Filarmonica Arturo Toscanini und den am oberen Rand des Bühnenhalbrunds posierten Chor des Teatro Regio mit schwelgerischer Finesse und schwarz-schwerem Glanz als Requiem, der dem Abend in der geschärften Rhythmik der Ensembles eine bezwingende Sogkraft verleiht. Leider konnte der an Covid verstorbene Garham Vick, dem man in Parma immer noch für seinen Stiffelio wenige Jahre zuvor in Teatro Farnese dankbar war, seine Inszenierung nicht fertig stellen, weshalb der eingesprungene Jacopo Spirei für das halbgare Machwerk verantwortlich zeichnet. Die Trauerzermonie hat sich sicherlich noch Vick ausgedacht. Der Hof trägt seinen König zu Grabe. Eine würdevolle 19. Jahrhundert- Gesellschaft, wie aus Verdis Zeit. Ein großer Prunksarg, eine alles dominierende Hermes-Figur, drückend schwarz vor Richard Hudsons hellem Halbrund. Spirei fügt dem Trauergesang und den Klagen über eine aufgegebene Liebe allerleimascheramenti“ und „travestimenti“ hinzu, macht aus dem Hof und Ulricas Salon ein Männerbordell mit gutaussehenden jungen Männern in Kleidern und Stiefeln, die sich anbieten, die Kleider und Beine hochwerfen und später vor mörderischen Ausschweifungen nicht Halt machen. Alles nur Pose, alles nur Behauptung und dekorative Halbnacktheiten, schließlich ein Maskenball mit Discokugel und Trapezkünstler, ohne die Figur des möglicherweise homosexuellen Königs näher zu beleuchten. Eigentlich ärgerlich, weil handwerklich so lasch ungesetzt. Der korrekte Piero Pretti ist als Gustavo kein charismatischer Darsteller und kein Mann, der alle Ohren auf sich zieht, er singt aber geschmackvoll und mit klarer Höhe. Mehr gesangliche Statur besitzt Anna Pirozzis dunkel schwer timbrierte, in allen Lagen ausgeglichene und mit leuchtenden Höhen aufwartende Amelia. Betörend das Timbre von Amartusvin Enkbat, der den Anckarstrom mit beispielhafter Kultur und prächtiger Höhe singt. Ein wenig unruhig ist Anna Maria Chiuris Mezzosopran, doch sie singt eine effektvolle Ulrica, die scharfstimmig quicke Giuliana Gianfaldoni ist ein gefälliger Oscar. Rolf Fath

Römische Verwirrungen

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Max Emanuel Cencic sorgte in diesem Spätsommer für eine Sensation beim Festival Bayreuth Baroque mit seiner Produktion von Leonardo Vincis Alessandro nell’Indie in einer reinen Männerbesetzung, womit an die mitwirkenden Kastraten bei der Uraufführung erinnert wurde. Mit dabei und besonders erfolgreich war der Sopranist Bruno de Sá in der Rolle der Cleofide.  Jetzt veröffentlicht Erato eine CD mit dem Sänger, die Roma Travestita betitelt ist, also jene Arien für Frauen-Rollen vorstellt, die im 18. Jahrhundert auf Roms Bühnen von Kastraten en travestie interpretiert wurden. Das Konzept für die im Frühjahr 2021 im italienischen Lonigo produzierte CD erstellte Max Emanuel Cencic höchstpersönlich, Leider ist das Booklet mit seinen Textbeiträgen in winziger Schrift auf hellfarbigem Fond eine Zumutung für den Leser (0190296619809).

Das Programm beginnt mit zwei Arien der Titelheldin aus Alessandro Scarlattis Griselda (1721). In „Di, che sogno“ aus dem 1. Akt zwitschert der Sänger munter wie ein Vögelchen und wagt sich hinauf in Extremhöhen mit beachtlichem Ergebnis. Phänomenal ist seine Kunst, staccati perfekt und stets klangschön anzutippen. „Mi rivedi“ aus dem 2. Akt ist eine getragene Nummer, auch sie mit einem stratosphärischen Spitzenton gekrönt. Nie klingen solche Noten bei de Sà grell oder gar schrill, sie sind stets eingebunden in die Gesangslinie und wirken immer organisch.

Danach folgt eine Arie der Berenice aus Vincis Farnace (1724), also des Komponisten, mit dessen Alessandro in Bayreuth ein so immenser Erfolg errungen wurde. „Lascerò d’esser spietata“ ist die erste der insgesamt acht Weltersteinspielungen – bei dreizehn Titeln der Anthologie ein beachtliches Verhältnis. Sie ist von lieblichem Duktus und mit vielen Koloraturen und Trillern geschmückt. Zwei unterschiedliche Charaktere stellt De Sá aus Vivaldis Giustino (1724) vor. Ariannas „Per noi soave e bella“  ist eine jubilierende Arie nach ihrer Rettung von einem Felsen durch den Titelhelden. Ganze Serien von staccati sind hier zu absolvieren – für den Solisten eine leichte Übung, die sogar lustvoll klingt. Leocastas „Senza l’amato ben“  ist die schmerzliche Klagearie einer Frau, die mit ihrem Geliebten sterben will. Der Sänger formt sie mit eindringlicher Gefühlsskala und leuchtenden Spitzentönen.

Weniger bekannt sind die Komponisten Rinaldo Di Capua (1705 – 1780) und Giuseppe Arena (1713 – 1784). Ersterer ist mit seiner Oper Vologeso, re de’ Parti (1739) vertreten, aus der eine Arie der Berenice, „Nell’orror di notte oscura“, erklingt. Sie schildert den Konflikt der armenischen Königin zwischen der Freude über die Rettung ihres Gatten und der Verzweiflung, dass dieser zum Tode verurteilt wurde. Ein wiegendes Melos im Orchester steht für den aufgewühlten Seelenzustand dieser Frau, während der Singstimme virtuoses Zierwerk zugeordnet ist. Der Sänger bewältigt dieses bravourös, vermag aber auch die hybriden Gefühle der Figur plastisch zu umreißen. Aus dem Oeuvre des zweiten wählte der Sänger Achille in Sciro (1738) mit der Arietta der Deidamia „Del sen gl’ardori nessun mi vanti“ aus, ein schelmisches Stück in Menuett-Form, in welchem der Interpret eine kokette Stimmung einbringt.

Kein Unbekannter ist Baldassare Galuppi, aber seine Oper Evergete von 1747 dennoch eine Rarität. Die Arie des Candace „Qual pellegrino erante“ stellt im Programm eine Ausnahme dar, handelt es sich dabei doch um das Solo eines männlichen Helden, dem Vater der Titelfigur. In dieser Gleichnisarie wird die Arie eines Pilgers, der sich im dunklen Wald verirrt, geschildert. De Sá setzt hier sogar einige Effekte in der unteren Lage ein, die eigentlich nicht seine Stärke ist, sondern sonst eher schmal klingt.

Danach folgen wieder weniger populäre Tonsetzer mit Gioacchino Cocchi (1712 – 1796) und seiner Adelaide (1743) sowie Nicola Conforto (1718 – 1793) mit Livia Claudia Vestale (1755) und Francisco Javier García Fajer 1730 – 1809) mit Pompeo Magno in Armenia (1755). Die Titelheldin der Adelaide wird mit zwei Arien porträtiert: In „Timida pastorella“  vergleicht sie sich mit einer trauernden Schäferin, in „Nobil onda“ hofft die Gefangene auf Befreiung durch den germanischen König Ottone. Der Sopranist vermag die unterschiedlichen Stimmungen der beiden Titel eindringlich zu malen. Dazu verblüfft er im ersten mit sich immer höher schraubenden Skalen, im zweiten mit einem Koloraturfeuerwerk  der Extraklasse. Die Vestalin Livia Claudia hat vermeintlich ihr Keuschheitsgelübde gebrochen und singt in der dramatisch aufgewühlten Arie „Vadassi pure a morte“ von dem zu erwartenden Tod. De Sá klingt hier ungewöhnlich präsent in der Mittellage und eher wie ein Counter – eines der beeindruckendsten Porträts der Sammlung. Aus dem Pompeo erklingt Giulias Kavatine „Grato oblio“, in der Tochter des Giulio Cesare hofft, dass der Schlaf sie die vermeintliche Untreue ihres geliebten Pompeo vergessen lässt.

Zum Schluss noch einmal ein bekannter Titel mit der Arie der Marchesa Lucinda, „Furie di donna“, aus La buona  figliuola (1760) von Niccolò Piccinni (1728 – 1800). Es ist das Bravourstück der Anthologie schlechthin und wurde der Vergangenheit von vielen Sängerlegenden interpretiert. Hier entfacht der Solist das geforderte staccato-Geglitzer mit solcher Virtuosität, dass die Nummer völlig zu Recht am Schluss der Sammlung steht und diese krönt.

Das renommierte Barockorchester Il Pomo d’Oro, auch bei Bayreuth Baroque immer wieder im Einsatz, begleitet den Solisten unter Leitung von Francesco Corti, der interessante Akzente setzt, den Sänger aber auch zuverlässig trägt.

Bruno de Sá stellte das Programm der CD auch im Markgräflichen Opernhaus von Bayreuth im Rahmen des Festivals vor und wurde dabei von Il Pomo d’Oro unter Corti begleitet. Bernd Hoppe

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PS.: Allerdings muss auch klargestellt werden, dass heutige Falsettisten (und das sind die Counterstimmen) nicht über die Fertigkeiten und Reichweiten der damaligen Kastraten verfügen und nicht von Vivaldi oder Händel für diese Hauptpartien eingesetzt worden wären. In absentia der Kastraten, die mit dem letzten in Rom, Alessandro Moreschi (nebenstehend), ausstarben, behilft man sich heute eben mit Falsettisten, die im Barocken nur zu Nebenrollen eingesetzt wurden. Das wird gerne vergessen (oder mangels Kenntnisse nicht erinnert). In dem Film über den Kastraten Farinelli (1994) von Gérard Corbiau wurden moderne Möglichkeiten digitaler Klangmanipulation angewandt, um aus den Stimmen einer Koloratursopranistin Ewa Małas-Godlewska und eines Countertenors Derek Lee Ragin eine synthetische „Kastratenstimme“ zu mischen. Grundlage dafür waren Tondokumente des letzten Kastraten Moreschi und zeitgenössische Beschreibungen (Wiki). Für mich eine der überzeugendsten Demonstrationen. Denn in meinen Vorstellungen klangen Kastraten wie eine Mischung aus Marilyn Horne, Joan Sutherland und Mady Mesple. G. H.

Zweigeteilt

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„Felsen in der Brandung nennt Autor Wolfgang Herles sein Buch über die Familien Hildebrand und Braunfels, die, so zeigt es der Stammbaum zu Beginn und am Ende des gut dreihundertseitigen Bandes, durch die  Ehe zwischen dem Komponisten Walter Braunfels und die Tochter des Architekten Adolf von Hildebrand namens Bertel zusammengeführt wurden, deren Mitglieder aber nicht nur auf ganz unterschiedlichen Gebieten des Geistes- und künstlerischen Lebens aktiv waren, sondern auch ihre Beharrlichkeit gegenüber sehr unterschiedlichen Zumutungen beweisen mussten. Widmet sich der Verfasser in Bezug auf die bereits verstorbenen Mitglieder der Familie in sehr ausgewogener Weise ihrem oft konfliktreichen Verhältnis zu ihrer Umgebung, so nehmen Auseinandersetzungen des 1950 geborenen Architekten Stephan Braunfels mit dem Auftrags- und Geldgeber Staat bzw. seinen Vertretern und mit den Kollegen, in allen Einzelheiten vor dem zunehmend auf Distanz gehenden Leser einen unverhältnismäßig breiten Raum ein, scheinen fast die Ausführungen über die Vorfahren zu verdunkeln, zu überdecken und in ihrem Wert zu mindern.

Als „unangepasste Traditionalisten“ bezeichnet der Autor die herausragenden Mitglieder der Familie, was seine Bestätigung in ihrem teilweise nicht der Zeitströmung entsprechenden intensiven Katholizismus ebenso findet wie in ihrer Orientierung , sei es Architektur oder Musik, an den bewährten Mustern, sei es die italienische Renaissance-Stadt oder die Tonalität, was die Musik betrifft.

Eigene Kapitel sind den im Stammbaum rot markierten Mitgliedern beider Familien gewidmet, als erstem dem noch als Juden geborenen Bruno Friedrich Hildebrand, weniger künstlerisch tätig, aber Jurist, Journalist, Unternehmer und Literat, von dem der Sohn meint, der Übertritt zum Christentum sei vor allem ein Bekenntnis zum Deutschtum gewesen.

Sein Sohn Adolf von Hildebrand, geadelt durch den bayerischen Kronprinzen Ruprecht von Bayern und kritisch gegenüber den Hohenzollern, ist Bildhauer und „der Schönheit verpflichtet“, Schöpfer des Wittelsbacher Brunnens in München und des einzigen Reiterstandbilds von Bismarck in Bremen, weist dem Relief eine besondere Bedeutung zu. Die Besucherliste, die vielleicht in einem seiner Häuser ausgelegen hat, vor allem im „Stammsitz“ der Familie in Florenz, liest sich wie ein Who is who der europäischen Geisteswelt, auch wenn Richard Wagner gehasst wird.

Bis hierhin und auch noch weiter kann der Leser einen zwischen Fiktionalem und vorwiegend Nichtfiktionalem angesiedelten Text genießen, fühlt sich manchmal direkt angesprochen und stellt mit Erleichterung fest, dass die Fülle von Frage- und Ausrufezeichen nur zu Beginn um Anteilnahme buhlt. Die wissenschaftliche Legitimation bezieht der Text nicht zuletzt aus den vielen Zitaten, seien es Bekenntnisse seiner „Helden“ oder Aussagen von Zeitgenossen, auch auf die im Anhang verzeichnete Sekundärliteratur, besonders auf das Buch von Isolde Kurz, wird gern und mit Gewinn Bezug genommen. In angenehm engen Grenzen hält sich der Hochmut des Spätgeborenen gegenüber dem Nationalsozialismus nach Meinung des Verfassers zu unkritisch Gebliebenen.

Des Bildhauers Tochter Bertel, mit 15 mit Furtwängler verlobt, wird mit neunzehn Jahren die Braut von Walter Braunfels, dessen Vater Ludwig Lazarus und dessen Halbbruder Jesaias Otto Braunfels ebenfalls in die Betrachtungen von Herles einbezogen wurden. Grotesk will es erscheinen, dass Hitler sich 1922 eine Hymne für seine aufstrebende Bewegung von dem Komponisten wünschte. In diesem Kapitel wird es natürlich für den Opernfreund äußerst interessant, wenn der Autor ihn nachvollziehen lässt, wie sich Braunfels aus Glaubensgründen von atonaler und amerikanischer Musik abwandte, von Wagner zu Verdi fand und nach ersten Erfolgen mit Opern wie Prinzessin Brambilla oder Ulenspiegel ein Te Deum und eine Große Messe komponierte. Dem Vergleich der Oper Die Vögel (nach Aristophanes) mit Meistersingern, Tristan und Zauberflöte mag man zustimmen oder nicht, zeitgenössische Kritiken werden, und das ist sehr hilfreich, reichlich zitiert. Interessant ist die Beschreibung des Wirkens in Köln (Adenauer hat seine Hand im Spiel), Lust auf das Hören einer der Opern, so gibt es auch einen Don Gil von den grünen Hosen oder eine Johanna-Oper, wird geweckt.

Dietrich von Hildebrand, dem Moralphilosophen,   Michael Braunfels, dem Pianisten, der sich um des Vaters Werk nach 1945 bemüht, sowie Wolfgang Braunfels, dem Kunsthistoriker sind weitere Kapitel gewidmet, auch des letzeren „Kleine italienische Kunstgeschichte“ wird gewürdigt. Und dann beginnt das Schlusskapitel,  in dem abgerechnet wird mit den bösen Politikern und Architektenkollegen, die verhinderten, dass  Stephan Braunfels alle seine wunderbaren Pläne, die ihm dann zum Teil sogar von Mitbewerbern bei Ausschreibungen indirekt entwendet wurden, verwirklichen konnte. So kann man zwar in München seine Pinakothek der Moderne und in Berlin die Parlamentsgebäude bewundern, aber Kulturforum, Flughafen Tempelhof  oder Dresdner Vorhaben blieben Pläne, die dank des Unverständnisses von Stoiber, Strauß, der jeweiligen Baudirektoren, da werden viele Namen genannt, nie verwirklicht wurden. Irgendwie wirkt dieses Kapitel wie ein Fremdkörper, besonders hier vermisst man zudem Fotos, da man sich keine Vorstellung davon machen kann, ob wirklich ein verkanntes Genie schnöde und schlecht behandelt wurde.

Der letzte, Das Schöne und der Trotz, betitelte Absatz scheint davon  zu sprechen, dass der Autor  selbst von dem Gedanken bewegt wurde, das letzte Kapitel seines Buches falle aus dem mit dem Titel „Felsen in der Brandung“  gespannten Rahmen. Literatur- und Personenverzeichnis sowie ein Bildnachweis befinden sich am Ende des Buches (2022 Benevento Verlag München Salzburg: ISBN 978 3 7109 0149 2). Ingrid Wanja

mitreißend und ohrwurmverdächtig

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Von London aus geht es zuerst nach Suez, anschließend nach Indien. Von dort aus über Borneo nach San Francisco und schließlich nach einer abenteuerlichen Reise durch den amerikanischen Kontinent schließlich zurück nach London. Genau. Die Reise um die Erde in 80 Tagen. Das in etwa sind die Stationen, die der englische Gentleman Phileas Fogg und sein französischer Diener Passepartout in Jules Vernes 1873 veröffentlichten Roman Le Tour du monde en quatre-vingts jours besuchten, um den Nachweis zu erbringen, dass es möglich sei, in 80 Tagen um die Welt zu reisen. Robert Ignatius Letellier, der mit seinem schönen Namen geradewegs aus dem Roman kommen könnte, aber aus der Naxos-Veröffentlichung (8.574396) von Franz von Suppès Bühnenmusik stammt, zu der er den Begleittext verfasste, erkennt im Vorspiel, das anschaulich die Atmosphäre im exzentrischen Londoner Club beschreibt, eine Anspielung auf Mozarts Le nozze di Figaro. Das ist so. Der getragene Promenadenduktus wird bei Foggs Abreise aufgenommen. Was nun aber folgt, ist ein musikalischer Bilderbogen, der die Club-Besucher aus ihren Sesseln gerissen hätte, ein exotischer Bilderbogen, in dem die Holzbläser als Trauermarsch den Scheiterhaufen der indischen Witwe umzüngeln, Posaunen Angst und Schrecken im Seesturm verbreiten, Klarinetten und Cello eine Prinzessin begleiten, ein wildes Scherzo wie auf dem Rücken der Pferde den amerikanischen Goldrausch beschreibt, an Bord eines Schiffes eine Barcarolle erklingt und schließlich beim Betreten der britischen Heimat „God save the Queen“ entrollt wird. Alles ist souverän entworfen und mit virtuoser Handwerkskunst dahingeworfen, marschtüchtig, brillant instrumentiert, abwechslungsreich, unterhaltsam, eingängig und nicht einfältig. Einst hatten Franz von Suppès Ouvertüren ganze Langspielplatten gefüllt, die zu Dichter und Bauer, Leichte Kavallerie, Ein Morgen, ein Mittag, ein Abend in Wien, Banditenstreiche sowie zu seiner populärsten Operette Boccaccio. Diese ist fast ebenso in Vergessenheit geraten wie der österreichische Komponist Franz von Suppé selbst, der 1819 im dalmatischen Spalato (heute dem kroatischen Split) geboren wurde, 1895 in Wien starb und neben Johann Strauss zu den Gründungsvätern der Goldenen Wiener Operette gehört. Neben Operetten und Singspielen schuf der Kapellmeister am Theater in der Josefstadt, am Theater an der Wien und anderen Bühnen unzählige Gelegenheitsstücke und umrahmte und lockerte Sprechstücke mit musikalischen Nummern auf. Eine dieser Schauspielmusiken, die 1874 entstandene Musik zu der im März 1875 in Carltheater aufgeführten Bühnen-Adaption von Vernes Erfolgsroman, hat die Janáček-Philharmonie Ostrava im Mai 2021 als World Premiere Recording aufgenommen. Die tschechischen Musiker und ihr schottisch-italienischer Gastdirigent, der für Naxos regelmäßig in Sachen Auber und Meyerbeer tätige Dario Salvi, spielen die 19 Nummern mit dem tiefen Streicher-Pathos, der Bläser-Emphase und der Tutti-Leidenschaft als sei sie bereits für die Leinwand entworfen: von Suppè als John Williams des 19. Jahrhunderts. Funkelnd, spritzig, mitreißend und ohrwurmverdächtig. Rolf Fath

Auf den Spuren der Diva

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Wie traurig, dass Marcello Viotti, mit nur 50 Jahren wenige Tage nach einem während der Proben zu Manon Lescaut in München erlittenem Schlaganfall verstorben, nicht mehr erleben konnte, dass seine vier Kinder allesamt die Musik zu ihrem Lebensinhalt erwählten und inzwischen bereits schöne Erfolge errungen haben. Lorenzo Viotti ist ein vielfach ausgezeichneter Dirigent, Milena Viotti eine Hornistin und Tochter Marina Viotti hat eine CD mit Arien aus den Opern eingespielt, die einst zum Repertoire der berühmten Nicht- nur- Sängerin Pauline Viardot gehörten und nennt sich A Tribute to Pauline Viardot..

Die Tochter des berühmten Tenors Manuel Garcia und Schwester von Maria Malibran war zudem Freundin fast aller berühmten Komponisten ihrer Zeit, aber auch der russische Dichter Iwan Turgenew war ihr eng verbunden, betrachtete sie als seine unverzichtbare Muse. Vielseitig war das Repertoire der Viardot, und das ist es auch die von Marina Viotti besungene CD: neben Rossini buffo wie serio finden sich auf der CD Arien der italienischen Romantik, so Bellini und Donizetti, virtuose Arien von Halévy und Meyerbeer sowie die Bearbeitung von Glucks Orphée und Saint-Saëns Dalila, Gounods Sappho und Berlioz‘ Didon.   

Pauline Viardot im Alter/Foto Nadar/OBA

Es beginnt mit Orpheus‘ „Amour, viens rendre“, in dem sich eine sehr weiblich klingende Mezzosopranstimme vernehmen lässt, die nach verhaltenem Beginn zusehends an corpo gewinnt, geschmeidig geführt wird und sich  leider nur für die Endsilben wenig Zeit nimmt. Virtuos bewältigt die Sängerin die extra für die Viardot komponierte Coda. Für Bellinis Romeo hat Marina Viotti eine farbige tiefe Lage, eine großzügige Phrasierung und viel Empfindsamkeit. Von Massenet stammt die Arie aus Marie-Magdeleine, die für Viardot komponiert wurde und die  hier die Ohren mit viel Süße verwöhnt. Die innere Zerrissenheit von Halevys Jüdin und eine zarte Seele spiegeln sich in der Arie „Il va venir“. Ungemein verzierungsreich wird Rosinas „Una voce poco fa“ gesungen, besonders schnippisch gelingt das „Ma“, die Koloraturen sind von bewundernswerter Leichtigkeit. Auch für den Rossini der Seria, hier mit der Arie der Semiramide „Bel raggio lusinghier“, hat die junge Stimme Virtuosität und vokale Präsenz. Donizettis französische Favorite ergeht sich in schönem canto elegiaco, dem eine Cabaletta mit dem dafür nötigen Aplomb folgt. Hier und auch für den Abschiedsgesang der Didon bietet der Mezzosopran eine kluge Gliederung des langen Rezitativs, hat danach den angemessen schmerzlichen Ton, für die Karthager-Königin eine fast kindhafte  Weltabgewandtheit mit nur noch einem Abglanz der nuits d’ivresse. Mit einem schönen Schwellton auf „immortelle“ kann sich Gounods Sappho schmücken, ätherisch verlöschend, ehe es noch einmal dramatischer wird. Dalila ist, gesungen von Marina Viotti, eher sanften denn aggressiv verführerischen Charakters. Die CD bietet ein interessantes Panorama der Möglichkeiten der jungen Sängerin mit vielen Optionen für eine Karrieregestaltung.

Begleitet wird Marina Viotti von Les Talens Lyriques unter Christophe Rousset, die für Durchsichtigkeit, Eleganz und Spritzigkeit jeweils da, wo es angebracht ist, sorgen. Das Booklet ist informationsreich und mit Bildern der „echten“ Viardot, von Marina Viotti  und Christoph Rousset in Kostümen aus deren Zeit, aber auch modern gewandet illustriert (AP290/ 15. 10. 22). Ingrid Wanja         

 

lieder, lieder, lieder

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Gerade erst, genauer vor exakt einem Jahr, war Erich Zeisls Leonce und Lena am Eduard-von-Winterstein Theater Altenburg-Buchholz für mich eine veritable Entdeckung. Es handelte sich um die deutschsprachige Erstaufführung von Zeisls einziger Oper, deren 1938 in Wien geplante Uraufführung durch den Anschluss hinfällig wurde. Die Zeisl-Wiederentdeckung schreitet voran. Nun präsentiert der Bariton Ulf Bästlein eine CD mit Liedern des 1905 in Wien geborenen jüdischen Komponisten, der 1959 in Los Angeles starb, wo seine Oper wenige Jahre zuvor am City College eine englischsprachige Aufführung erlebt hatte (Naxos 8.551459). Auch die 28 Lieder, die Bästlein im Januar 2022 in Wien aufgenommen hat, zeigen zwischen gebrochener Romantik und Volkston den vielseitigen Komponisten, der die oftmals melancholisch schwermütige Gesänge mit einem aufwendigen Klavierpart umkleidet. Letzteren setzt der eminente Charles Spencer mit begeisterndem Schwung um. 21 Lieder sind Ersteinspielungen. Der vieltalentierte Bästlein, der als Sänger, Rezitator, Gesangsprofessor, Musikfestival-Leiter und Herausgeber, so etwas wie ein Fischer-Dieskau unserer Tage ist, nennt Zeisl einen kompositorischen Prometeus, „Der verschiedene musikalische Stile perfekt beherrschte. Seine teils humorvollen, teils rhythmusorientierten Lieder blieben der Musiksprache der österreichisch-deutschen Romantik verpflichtet, loten aber immer wieder auch deren harmonische Grenzen aus“. Die Lebensdaten umreißen Zeisls Schicksal. Nach der Emigration versuchte er sich in Hollywood vergebens als Film-Komponist, überlebte als Kompositionslehrer. 1938 schrieb er sein letztes Lied in deutscher Sprache, „Zeisls Lieder verstummten im Exil. Ihre Qualität aber bleibt immerwährend: Beeindruckend ist der Reichtum an Melodien, breit die Palette an fein ausgeloteten Gefühlszuständen, die in gleißender Helligkeit ausblitzen gleichwie in düsterstes Dunkel kippen, die seufzen, klagen, toben und schreien“, beschreibt Karin Wagner sehr treffend den Stil. Diese Extreme finden sich im Gesang von Bästlein, der seinen reifen Kavalierbariton schier bis zum Bersten reizt, mit Ausdruck auffüllt und auffahrend singdeklamiert – etwa in „Schrei“ nach Walther Eidlitz – aber auch genügend Zwischentöne für die suggestive Stimmungen in „Ein buckliger Waisenknabe“ findet. „Wanderers Nachtlied“ singt er mit starker Eindringlichkeit, für „Der Briefmark“ nach Ringelnatz findet er gewitzte Zwischentöne, und die Ballade „Letzter Tanz“, das mit Abstand umfangreichste Lied in der Sammlung kurzer Miniaturen, gestaltet er als tragisch-groteske Szene. Zeisl hat Verse von Gottfried Ephraim Lessing, Goethe, Eichendorff und Mörike ebenso vertont wie von Nietzsche und Zeitgenossen, darunter von Alfons Petzoldt und dem Naturalisten Johannes Schlaf. Ein Großteil der Lieder entstand 1931, Wagner spricht vom „Liederjahr 1931“, insofern sind Ausdruck und der bänkelsängerisch harte Duktus oftmals ähnlich. Ganz anders die Spirituals, welche die deutschen Lieder umrahmen, „wann Zeisl diese Arrangements setzte, ist unklar“.

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Als hätte man es geahnt, dass die Zeisl-Wiederentdeckung weitergehen wird, findet sich auch auf der mit der Heymann- und Gilbert- Zeile „Irgendwo auf der Welt“ überschriebenen CD der Sopranistin Pia Davila und der Pianistin Linda Leine gleich zu Beginn Zeisls „Vor meinem Fenster“ auf ein Gedicht von Arno Holz, der mit dem oben bereits erwähnten Johannes Schlaf bei zentralen Dramen des deutschen Naturalismus eine Arbeitsgemeinschaft gebildet hatte (CD ES 2087). Die gezwitscherte Miniatur unterscheidet sich von anderen Liedern Zeisl, zeigt gleichwohl seine stilistische Lust und Wandlungsfähigkeit. „Zwitschern“ heißt die erste Gruppe des Duos. Und so zwitschert Davila, nachdrücklich unterstützt von Leine, soubrettenmunter in den Liedern von Joseph Achron, Arnold Schönberg, Ruth Schonthal, in einem weiteren Zeisl-Lied („Die fünf Hühnerchen“) und in Georg Kreislers gallig walzendem „Frühlingslied“ („Tauben vergiften“). Die Namen der Komponisten zeigen, dass es nicht nur um gefällig arrangierte Liedgruppen geht, bei denen Zeisl zum Thema „Rinnen“ noch „So regnet es sich langsam ein“ und „Regen“ sowie das Klavierstück „Ein Regentag“ beisteuert, sondern um die Musik verfemter, vergessener Komponisten: „Verfemung, Vertreibung und Ermordung „missliebiger“ Künstlerinnen und Künstler waren die Werkzeuge der NS- „Säuberungen“ im Kulturbetrieb. Karrieren wurden zerschlagen, Lebensspuren regelrecht ausgelöscht. Es ist den Betroffenen geschuldet, deren Biografie und Werke in die Gegenwart zu holen“. Neben Rudi Stephan und Othmar Schoeck, die das „Schicksal der Verfolgung nicht“ teilten, finden sich auf der Zusammenstellung Namen wie Ilse Weber, deren „Und der Regen rinnt“ und „Wiegala“ in Theresienstadt entstanden, wo sie 1944 ermordet wurde. Weitere Komponistinnen sind Ruth Schonthal und Ursula Mamlok, denen die Flucht in die USA gelang, die Niederländerin Rosy Wertheim lebte in ihrer Heimat im Untergrund. Spoliansky emigrierte nach London, Schönberg in die USA, Paul Frankenburger nach Tel Aviv, wo er sich fortan Paul Ben-Chaim nannte, Oskar Fried ging in die UDSSR, Stefan Wolpe zunächst nach Palästina und dann in die USA, Werner Richard Heymann sowie Bert Reisfeld nach Paris und dann nach Hollywood, Albrecht Marcuse nach Frankreich, wo er in die Fremdenlegion eintrat; der litauische Komponist Joseph Achron war bereits in den 1920er in die USA emigriert. Unmöglich auf alle einzugehen. Es ist ein enormes Pensum, das sich die Künstlerinnen vorgenommen haben, wobei die Lieder, so unterschiedlich sie auch sein mögen, durch die Zeit ihrer Entstehung erstaunlich sicher zusammengeklammert werden. Manchmal wünscht man Davilas geschmeidig elegantem Vortrag einen energischeren Zugriff, etwa bei Schönbergs Brettl-Lied „Der genügsame Liebhaber“, den Kreisler-Liedern oder Wolpes „Ansprache einer Bardame“ nach Erich Kästner, wo sie wirkungsvoll gestaltet, aber den Text etwa zu flau serviert. Bei Spolianskys „Vamp“ ist sie als verführerische Salondame in ihrem Element, den Comedian Harmonists-Hit „Mein kleiner grüner Kaktus“ singt sie mit ironischer Heiterkeit, “Irgendwo auf der Welt“ mit der Melancholie, die der Suche nach dem kleinen bisschen Glück immer innewohnt. Linda Leine ist ihr nicht nur die stilistisch wandlungsfähige Begleiterin, sondern meistert, so in Kreislers „Waltz, graceful, but not too fast“ oder den sehr anspruchsvollen Zeisl-Stücken, souverän die virtuosen Anforderungen der Solostücke. Ein schönes, klug kompiliertes Programm.

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Kreisler und Schoeck finden sich auch auf der Liedaufnahme der lyrischen Sopranistin Katharina Ruckgaber (Ännchen, Susanna, Zerlina, Nannetta, Musetta, Mélisande), die von Mozart, Schubert und Brahms bis Webern, Schönberg, Webern Eisler und Weill weit ausholt, um ihren von James Bonds Love and Let Die (Leben und sterben lassen) entlehnten Titel zu rechtfertigen. Tatsächlich beginnt sie ihr Vorwort zu der im April 2021 in Pöcking entstanden Einspielung mit dem Pianisten Jan Philip Schulze (CD Solo Musica SM 405) mit eingehenden Erklärungen zum Stellenwert von Krimis in Bücherregalen und TV, der Entwicklung der Kriminalliteratur insbesondere und fragt, „Könnte deshalb eigentlich jeder zum Mörder werden?“ Erklärungen dazu soll die Ich-Erzählerin des Albums liefern. Obwohl Liszt von vergifteten Liedern erzählt, Kreisler von einer Mörder-Verwandtschaft und Weill eindringlich vom bleichen Leib des ertrunkenen Mädchens, der „im Wasser verfaulet war“, lässt sich der 21-teilige Lieder-Krimi nur schwer erahnen. Das macht nichts. Die Auswahl ist auch ohne das unterlegte Programm ein Vergnügen. Ruckgaber ist eine versierte junge Sängerin mit einem klaren, aussagestarken Sopran, der bei leisen und fahlen Passagen nicht an Tragfähigkeit verliert, im spätromantischen Idiom bei Marx und Zemlinsky kernig leuchtet, Süße und Unschuld für Liszts „Es muss ein Wunderbares sein“ aufbietet und eine schöne Festigkeit für Schönbergs brettlliedhafte „Mahnung“ („Mädel, sei kein eitles Ding“) oder Eislers „Horatios Monolog“ besitzt. Feinfühlig begleitet von Jan Philip Schulze wird Ruckgaber der immensen Bandbreite der Stile und Handschriften, die schließlich bis zu Berios „Sequenza III“ reicht, auf vorzügliche Weise gerecht.    Rolf Fath

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Vor einigen Jahren gab es unter dem Titel Wunderhorn einen Film von Clara Pons und dem Bariton Dietrich Henschel: In den Aufführungen erklangen gemeinsam mit einem Sinfonieorchester  alle 24 Wunderhorn-Lieder von Gustav Mahler; die zehn Klavier-Lieder  hatte Detlef Glanert im Stil Mahlers kongenial orchestriert. Bei den Aufführungen in verschiedenen europäischen Städten wurde der tonlose Film, in dem Dietrich Henschel auch als Schauspieler auftrat, auf eine Leinwand im Hintergrund der Bühne projiziert. Davor saß das örtliche Orchester, mit dem der Sänger die Lieder interpretierte. avanticlassics hat nun den im Januar 2017 im Musikforum Ruhr aufgenommenen Soundtrack herausgebracht, in dem Henschel gemeinsam mit den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane die Mahler-Lieder von Das himmlische Leben bis Urlicht ausdeutet. Der erfahrene Liedsänger setzt seinen hellen Bariton in den sängerisch anspruchsvollen Liedern durchweg differenziert ein, was in den witzigen Des Antonius von Padua Fischpredigt, Lob des hohen Verstandes und Ablösung im Sommer besonders deutlich wird; das „Duett“ Verlor‘ne Müh lässt er treffend sozusagen mit zwei Stimmen erklingen.  Die Lyrismen, wie z.B. in Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald singt er mit gekonntem Legato aus. Mit der gebotenen Schlichtheit präsentiert er die volksliedhaften Rheinlegendchen, Selbstgefühl oder Wer hat dies Liedel erdacht. Auch die dramatischen Ausbrüche in Revelge, Lied des Verfolgten im Turm oder Der Tamboursgsell sowie die Gegensätze in  Der Schildwache Nachtlied  stellt er glaubwürdig heraus. Die Bochumer Symphoniker erweisen sich unter dem souveränen Steven Sloane als in allen Gruppen versierte Instrumentalisten, die die Mahlersche Vielfarbigkeit gekonnt zur Geltung bringen (avanti AVA10522).

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Unter dem Titel Urlicht hat der Countertenor Alois Mühlbacher mit seinem Entdecker und Mentor Franz Farnberger, seit vielen Jahren Künstlerischer Leiter der St. Florianer Sängerknaben, Lieder von Gustav Mahler und Richard Strauss aufgenommen. Manch einem, der sich in der österreichischen Musikszene auskennt, mag der Name des Counters, inzwischen ein Endzwanziger, etwas sagen. Denn aus dem einstigen  Sopran-Kinderstar, der als junger Hirte im Tannhäuser in der Wiener Staatsoper und bei weiteren Solo-Auftritten gefeiert wurde, ist ein respektabler Sänger geworden, der sich mit dieser CD über das sonst für Counter übliche Barock-Repertoire herausgewagt hat. Seine Stimme hat insofern ein unverwechselbares Timbre, als sie den Klang eines Knabensoprans behalten hat. Allerdings sind die ausgewählten Rückert-Lieder sowie Urlicht und Wo die schönen Trompeten blasen aus der Wunderhorn-Sammlung, aber auch die Strauss-Lieder für die helle, schlanke Tongebung schwere Kost. Durchweg imponieren die Intonationsreinheit der Stimmführung und der vielfach erforderliche „lange Atem“, wie beispielsweise in Traum durch die Dämmerung oder Ich bin der Welt abhanden gekommen. Auch zeigen schöne Legato-Bögen im Rosenband, leuchtende Höhen in Allerseelen oder geradezu flotte Fröhlichkeit in All mein Gedanken, dass der junge Sänger bereits über beachtliche Gestaltungsmittel verfügt. Weniger gefällt die oft unnatürliche Sprechweise, die manches allzu gekünstelt erscheinen lässt; besonders fällt dies bei dem Umlaut „ei“ auf, wenn der „Sonnenschein“ wie „Sonnenscheun“ klingt und der Schluss von Ich bin der Welt abhanden gekommen unter der Aussprache von „in meinem Himmel, in meinem Lieben, in meinem Lied“ leidet. Franz Farnberger gelingt am Klavier eine sichere, partnerschaftliche Begleitung  (Ars Produktion ARS  38 613). Gerhard Eckels

Mariana Nicolesco

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Mit Bedauern hörten wir vom Tode der rumänischen Sängerin Mariana Nicolesco. Sie war über labge Jahre eine der wichtigen Sopranistinnen im Belcanto-Fach, namentlich in Italien, wo wir sie viele Male erlebten. Sie war zudem über viele Jahre eine interessante und liebenswürdige Freundin. Hier ein Auszug aus dem bewährten Wikipedia über ihr Wirken. G. H.

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Mariana Nicolesco (* 28. November 1948 in Găujani; † 14. Oktober 2022 in Bukarest) war eine rumänische Opernsängerin (Sopran). Mariana Nicolesco studierte zuerst Violine an der Musikhochschule in Brașov, danach, für kurze Zeit, Gesang am Konservatorium von Klausenburg, bevor sie ein Stipendium am Konservatorium Nazionale di Santa Cecilia in Rom erlangte, wo sie bei Jolanda Magnoni Gesangsunterricht nahm. Anschließend studierte sie bei Rodolfo Celletti und Elisabeth Schwarzkopf.

Am Ende ihrer Ausbildung gewann sie 1972 den von der RAI in Mailand organisierten Gesangswettbewerb Voci Rossiniane. Unmittelbar danach kam sie als Mimì in Giacomo Puccinis La Bohème, gefördert und engagiert durch den amerikanischen Dirigenten Thomas Schippers, nach Cincinnati. 1978 debütierte sie an der New Yorker Metropolitan Opera als Violetta in Giuseppe Verdis La traviata, einer Partie, die sie mehr als zweihundertmal gesungen hat und in 1982 an der Mailänder Scala, wo sie in der Welturaufführung von Luciano Berios La Vera Storia, sowie bei vielen weiteren Neuproduktionen, Recitals und Konzerte auftrat.

Sie sang in Rom, Florenz, Parma, Venedig, Palermo, München, Wien, Hamburg, Dresden, Berlin, Barcelona, Madrid, Zürich, Paris, Monte Carlo, Chicago, San Francisco, Philadelphia, Miami, New Orleans, Washington, Boston, Toronto, Tokyo, Pretoria, Caracas oder Rio de Janeiro. Sie trat ebenfalls in angesehenen Konzertsälen auf wie Carnegie Hall in New York, Royal Festival Hall in London, Concertgebouw in Amsterdam, im Wiener Musikverein, Accademia di Santa Cecilia in Rom, Salle Pleyel in Paris, im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums und den Salzburger Festspielen, Maggio Musicale Fiorentino, dem Rossini Opernfestival in Pesaro, Martina Franca Festival, dem Casals Festival in Puerto Rico.

Sie stand im Mittel bedeutender Produktionen von Luchino Visconti, Giorgio Strehler, Patrice Chéreau, Luca Ronconi, Jean-Pierre Ponnelle, Franco Zeffirelli, Gian Carlo Menotti, Pier Luigi Pizzi, Jonathan Miller, unter der Leitung von Carlo Maria Giulini, Wolfgang Sawallisch, Riccardo Muti, Seiji Ozawa, Lorin Maazel, Berislav Klobučar, Peter Maag, Giuseppe Patanè, Alberto Zedda, Colin Davis, Georges Prêtre und Gennadi Roschdestwenski.

Mariana Nicolesco nahm an der Welturaufführung von Krzysztof Penderecki Seven Gates of Jerusalem teil, das der Heiligen Stadt und ihrer 3000-jährigen Geschichte gewidmet ist (1997). Als Gast von Papst Johannes Paul II. sang sie in dem ersten jemals aus dem Vatikan von Mondovisione TV im Fernsehen ausgestrahlten Weihnachtskonzert, das von über 1 Milliarde Menschen gesehen wurde (1993).

1995 gründete Mariana Nicolesco in Rumänien das Hariclea Darclée International Festival and Voice Competition, an dem bisher mehr als 2200 junge Talente aus 47 Ländern und 5 Kontinenten teilgenommen haben. Zwischen den Festivalauflagen bietet sie Meisterkurse für die jungen Künstler an. Für die Darclée Veranstaltungen hat sie das Hohe Patronat der UNESCO erworben.

Sie gründete auch den Romanian National Song Festival and Competition (2003). Für das von der UNESCO ausgerufene George-Enescu-Jahr (2005) präsentierte sie zusammen mit den Preisträgern des Wettbewerbs die Gesamtausgabe der Lieder von Enescu. Diese wurden mit großem Erfolg in Rumänien, bei der Aichi World Exhibition in Nagoya und Tokio, in Prag, Paris, Rom und New York aufgeführt. Diese Gesamtausgabe erschien auch auf CD und DVD.

2014 war sie Mitglied des Internationalen Chinesischen Gesangswettbewerbs mit 430 Teilnehmern aus 41 Ländern.

Mariana Nicolesco wurde der Orden Stern von Rumänien im Rang des Großkreuzes für „ihre außerordentlichen Verdienste, sowie als Zeichen der hohen Anerkennung für ihre gesamte Karriere“ verleihen.

Die Sonderauszeichnung der Europa-Medaille im Rahmen des KulturPreis Europa wurde an Mariana Nicolesco verliehen „für ihre Leistung auf musikalischer Ebene, als Mentorin einer neuen Gesangsgeneration, Europa nach Rumänien zu transportieren und im Gegenzug, rumänische Kultur nach Europa einzubringen“.

Nicolesco, Preisträgerin der UNESCO-Medaille für künstlerische Leistung, ist außerdem UNESCO-Künstlerin für den Frieden und UNESCO Ehrenbotschafterin „in Anerkennung ihres Engagements für das musikalische Erbe, die künstlerische Schöpfung, den Dialog zwischen den Kulturen und ihres Beitrags zur Förderung der Ideale der Organisation.“ Wikipedia

Entdeckt unter Büchern

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Mit der Engelbert-Humperdinck-Biographie von Matthias Corvin, die 2021 bei Schott erschien, fand sich Der Blaue Vogel bereits angekündigt. „In Planung“, hieß es in der Diskographie am Ende des Buches an der entsprechenden Stelle. Nun ist die Aufnahme bei Capriccio erschienen (C5506). Bevor Steffen Tast mit dem Rundfunkchor und dem Rundfunk-Sinfonieorchester im RBB-Saal 1 an die Einspielung ging, hatte er die Schauspielmusik bei einem Familien- und Schülerkonzert in Berlin in ihrer Wirkung auf das Publikum getestet. Tast, der in der Gruppe der 1. Violinen des Orchesters spielt, betätigt sich nebenbei als Dirigent und leitet auch Kammerkonzerte. Für Humperdinck und dessen bildhafte Tonsprache hat er ein feines Gespür. Er versteht und interpretiert ihn durch und durch als Spätromantiker. Kinder spielen – wie so oft bei Humperdinck – die Hauptrollen. Der so genannte tänzerische Sternenreigen prägt sich schon beim ersten Hören ein. Nur dieses Stück schaffte es bislang gemeinsam mit der Ouvertüre bei Virgin Classics auf CD, gespielt von den Bamberger Symphonikern unter Karl Anton Rickenbacher.

Die Schauspielmusik umrahmt Maurice Maeterlincks symbolistisches Märchendrama selbigen Namens. Das Sprechstück selbst war erstmals 1908 in Moskau gegeben worden. Max Reinhardt wollte es mit Humperdincks Komposition in deutscher Übersetzung ursprünglich schon 1910 in Berlin auf die Bühnen bringen, was sich aber wieder zerschlug. So fand die Erstaufführung in dieser Form 1911 am Deutschen Volkstheater in Wien statt. Im selben Jahr hatte Maeterlinck den Literaturnobelpreis bekommen, wodurch seine Berühmtheit enorm wuchs. Nun trat auch Reinhardt wieder auf den Plan und brachte seine Inszenierung zu Weihnachten 1912 heraus. Sie wurde ein großer Erfolg.

Der zurückhaltende Umgang der Musikindustrie mit dem Blauen Vogel hat einen handfesten Grund. Wie aus der eingangs erwähnten Biographie und dem Booklet-Text von Steffen Georgi zu erfahren ist, gab es zwischen den Verlagen des Dichters und des Komponisten einen Rechtestreit. Humperdinck wollte durchsetzen, dass Maeterlincks Drama fortan nur mit seiner Musik gespielt werden dürfe, was nicht gelang. So blieb die die Musik ungedruckt liegen und geriet schließlich in Vergessenheit. Erst 1942 wurden die beiden Nummern, die Rickenbacher für seine Einspielung wählte, als Partitur gedruckt. Steffen Tast hat die kompletten Noten laut Booklet in einer namentlich nicht genannten Bibliothek „gefunden und mit Hilfe der Deutschlandfunks für die die CD-Aufnahme wiederbelebt“. Es hat sich gelohnt.

Für die Einspielung haben der Schauspieler Juri Tetzlaff und der Dirigent eine eigene Textfassung erarbeitet, die sich im Booklet findet. Die Geschichte wird nicht gespielt wie bei Maeterlinck sondern erzählt. Dadurch gerät die Komposition in den Mittelpunkt – als Schauspielmusik ohne Schauspiel. „Wir machen uns auf die Suche nach einem magischen Vogel“, hebt der Erzähler an noch bevor der erste Ton des Vorspiels erklingt. Jeder sei ihm schon mal begegnet, aber niemand wisse, wo er lebe. Jeder wolle ihn haben, aber niemand könne ihn besitzen. Er komme und er gehe, sei wunderschön, lebendig und freundlich. Er mache traurige Menschen froh und kranke wieder gesund. „Taucht mit uns ein in die Welt des Blauen Vogels!“ Tetzlaff ist eine gute Wahl. Er stammt aus einer musikalischen Familie, hat als Schauspieler und Moderator Kinderfernsehen gemacht. Er weiß, wie man Jung – und Alt – anspricht und für sich einnimmt. Tetzlaff erzählt die Geschichte so, als trage sie sich gerade zu. Nur mit der Sprache verwandelt er sich in die unterschiedlichsten Figuren und Gegenstände. Sogar Tiere, einen Brotlaib und die dunkle Nacht bringt er zum Sprechen. Es ist das reinste Vergnügen, ihm zuzuhören.

Mytyl und Tyltyl, Tochter und Sohn eines armen Holzfällers haben einen traurigen Weihnachtsabend hinter sich. Die Großeltern sind gestorben, das Geld reichte nur für ein karges Mahl. In der Nacht wachen die Kinder auf, öffnen das Fenster ihrer Kammer und hören aus der Ferne einen schönen Gesang: „O du fröhliche, o du selige gnadenbringende Weihnachtszeit … Christ ist erschienen, uns zu versühnen.“ Plötzlich erscheint eine alte Fee, die die Kinder vage an die Nachbarin erinnert, in der Stube und bitte die Kinder um Hilfe. Ihre Tochter sei schwer krank. Nur der Blaue Vogel könne sie retten. Die Alte zückt einen Zauberhut, mit dem sie sich in eine wunderschöne Fee verwandelt. Alles ringsumher verändert sich mit ihr. Katze und Hund können reden. In der Küche gibt es Brot satt. Im Reich der Erinnerung erwachen auch die Großeltern wieder zum Leben. Mytyl und Tyltyl müssen viele Abenteuer und Prüfungen bestehen, sich sogar vor den Seelen der Bäume dafür verantworten, dass ihr Vater sie gefällt hat. So geht es fort. Den Vogel aber finden sie nicht. Nach einem Jahr kehren sie zu den Eltern zurück, um festzustellen, dass lediglich eine einzige Nacht vergangen ist – sie alles nur geträumt haben. Am Ende entdecken sie in dem Vogel, den der Knabe schon lange bei sich hat, den gesuchten Blauen Vogel und bringen ihn zum kranken Nachbarskind. Als es wieder gesund ist, fliegt der Vogel davon.

Humperdinck hat für einzelnen Stationen und Situationen prägnante Musik gefunden. Der Klang ist üppig, glanzvoll und verschwenderisch, pointiert, geheimnisvoll und naiv zugleich. Ein Motiv jagt das andere. Wieder erweist er sich als Meister der Instrumentation. Als er sein Werk 1910 vollendete, war die Aufregung um Salome und Elektra fast verflogen. Zwischen beiden Komponisten lagen die Welten ihrer Zeit. Während bei Strauss im Schein des Mondes über Galiläa eine Kindfrau nach dem Kopf des Jochanaan verlangt, dürfen sich Humperdincks Kinder des Nachts von tanzenden Sternen verzaubern lassen. Es wird offenbar, wie kühn der nur zehn Jahre jüngere Strauss eine Tür in die Moderne aufgerissen hatte, um sie danach wieder anzulehnen. In der Frau ohne Schatten, die 1917 entstand, meint man dann, gewisse Ähnlichkeiten zwischen beiden Komponisten wahrzunehmen. Mehr noch. Im Blauen Vogel scheinen auch musikalische Stimmungen auf, wie sie Mahler 1902 im Adagietto seiner 5. Sinfonie entwarf. Und wenn Tiere von Humperdinck mit Noten charakterisiert werden, muss man unweigerlich an Prokofjews Peter und der Wolf denken, der zu ähnlichen Lösungen kommt. Die Neuerscheinung, die auf der zweiten CD um Sieben symphonische Bilder aus der Schauspielmusik zu Der Blaue Vogel ergänzt wird, regt zu den unterschiedlichen Betrachtungen an. Auf jeden Fall beleuchtet sie die Stellung des noch immer unterschätzen und zu stark auf seine Oper Hänsel und Gretel reduzierten Engelbert Humperdinck in seiner Zeit wie kaum eine andere Wiederentdeckung. Rüdiger Winter

Ut desint vires …

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Ob Denia Mazzola Gavazzeni wohl weiß, dass die Protagonistin aus ihrem letzten Debüt, das in Franco Alfanos Madonna Imperia, vor gar nicht langer Zeit einen wütenden Streit bei den Bürgern der Bodensee-Stadt Konstanz auslöste, als eine Statue der Edelkurtisane im Hafen aufgestellt wurde, sie selbst leicht bekleidet, ganz nackt, aber nicht ohne ihre Herrschaftsinsignien, Papst und Kaiser , die sie in ihren Händen hält. Viele fanden das lustig, einige aber auch schamlos und unangemessen, die Stadt Konstanz zu repräsentieren, die von 1414 bis 1418 Tagungsort eines Konzils war, auf dem unter anderem beschlossen wurde, Jan Hus freies Geleit zu gewähren. Daran hielt man sich, wie bekannt ist, nicht, es kam zu Aufständen in seiner Heimat Böhmen, aus der viele Glaubensflüchtlinge auch nach Berlin kamen, wo es noch heute im sonst gar nicht idyllischen Neukölln das böhmische Viertel gibt. 600 Geistliche waren damals am Bodensee versammelt, für ihr erotisches Wohl sorgte eine große Zahl von Prostituierten, von denen Imperia die schönste und kostspieligste gewesen sein soll.

Honorè Balzac hat ihr in seinen Tolldreisten Geschichten als „La belle Imperia“ ein Denkmal gesetzt, das die Vorlage für das Libretto von Arturo Rossato bildete. Es geht um die Liebe  einer Edelprostituierten zu einem armen Schlucker, der ihr Herz durch die Echtheit seiner Gefühle gewinnt, ein Thema , dessen sich bereits ein Vierteljahrhundert zuvor Mascagni mit seiner Oper Zanetto angenommen hatte und von dem es ebenfalls eine Aufnahme mit der Sopranistin gibt, die wie ihr verstorbener Gatte Gianandrea Gavazzeni dem Verismo besonders zugetan ist. Anders als in Zanetto, der schließlich seines Weges ziehen muss, wo Verzicht am Schluss steht, vergnügen sich Imperia und das arme Priesterlein Filippo sinnenfreudig im Alkoven, während die mächtigen und zahlungskräftigen Freier hinters Licht geführt werden.

Ausgesungen, aber glamourös und verdienstvoll: Denia Mazzola/ youtube

Die Aufnahme aus dem Hause Bongiovanni entstand im Januar 2022 im Konservatorium von Mailand und beginnt mit einem deliziösen Vorspiel in reizvoller Instrumentierung. Die Oper trägt zwar den Titel Madonna Imperia, die jedoch weit weniger zu singen hat als ihr Liebhaber. Die Besetzungsliste zeigt eine Reihe asiatischer Namen, so auch den des Tenors Shohei Ushiroda, der über eine solide Technik verfügt, über ein recht anonym klingendes Timbre, mit delikaten colpi di glottide frappiert und der  sich am besten in „Dama, se tanto siete pietosa“ zur Geltung bringt. Sonor klingt Fulvio Ottelli als Principe wie Vescovo, autoritär dunkel Giorgio Valerio als Cancelliere di Ragusa, angenehm leicht Zhu Junkun als Conte, während der Fante von Duan Linxu recht dunpfig erscheint.

Es gibt Sänger und Sängerinnen, die sich die Frische ihrer Stimme bis ins hohe Alter bewahren. Denia Mazzola Gavazzeni gehört leider nicht dazu, und so muss sich der Hörer abfinden mit einer konsonantenverachtenden Textunverständlichkeit, wenn die Stimme sich von einem Vokal zum nächsten    hangelt, mit teilweisem Verfallen in Sprechgesang. Und da Alfano seine Vorstellungen davon, wie die Partie gesungen werden soll, in das Libretto eingearbeitet hat, bemerkt der Hörer, was alles nicht beachtet, einfach unterschlagen wird. Das  kann man nicht damit entschuldigen, dass sich Imperia in einem Fast-Dauerzustand der Exaltiertheit und Hysterie befindet. Ein unbedingter Gestaltungswille kann halt nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mittel zu einer adäquaten Umsetzung nicht mehr vorhanden sind. 

Sehr ordentlich sind der Coro del Conservatorio di Musica di Vicenza „Arrigo Pedrollo“ und das Orchestra Filarmonica Italiana unter Massimiliano Carraro (GB2601-2 mit informativer Beilage). Ingrid Wanja     

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PS: Das volle Zitat der Überschrift als Echo aus der Lateinstunde lautet „Ut desint vires tamen est laudanda voluntas“, auf Deutsch „Wenn auch die Kräfte fehlen, so ist das Bemühen doch zu loben„. Denn andererseits kämen Opern wie diese sonst vielleicht nicht zur Veröffentlichung. Darin nun  wieder liegt Denia Mazzolas Verdienst, weil sie diese Produktionen sponsort. Immerhin. G. H.

Poems pour toujours

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Nichr nur solistisch, sondern auch als „Duo contraste“ machten die beiden Franzosen, Tenor Cyrille Dubois und Pianist Tristan Raes, bereits mit Wettbewerbserfolgen und Konzerten weit über die Landesgrenzen hinaus auf sich aufmerksam. Mit der Herausgabe der gesamten Liedkompositionen Gabriel Faurés, des führenden Meisters dieses Genres in Frankreich, haben sie nun einen vorgezogenen Beitrag zu dessen 2024 anstehendem 100.Todestag geleistet. Es ist schon wagemutig, die 103 Lieder, die für verschiedene Stimmen und Tonlagen geschrieben wurden, mit nur einem Sänger aufzuführen, fehlen doch bei den Liedern für Frauenstimmen manche charakteristischen Eigenheiten und spezielle Timbren. Auch mussten natürlich Transpositionen mit Folgen für die zusammenhängenden Tonarten bei Liederkreisen vorgenommen werden. In einem ausführlichen Vorwort gehen die beiden Interpreten auf all diese möglicherweise entstehenden Einwendungen der Hörer ein und warum sie diese Aufnahmen gemacht haben. In einem weiteren interessanten Artikel des Beiheftes von Nicolas Southon wird man über den Stellenwert Faurés und seiner Melodies informiert. Für die 3 CDs umfassende Einspielung wurde die Schaffenszeit Faurés in vier Abschnitte eingeteilt: 1.Teil 1861-1878, der kürzere 2.Teil 1878-1886, der lange 3.Teil 1887-1906 und schließlich der 4.Teil 1906-1921.

Gabriel Fauré mit Dolly Bardac, Tochter seiner Geliebten Emma Bardac, nach der er die „Dolly-Suite“ benannte/ Wkipedia

Danach wurde jede CD in sich chronologisch gestaffelt, so dass man jeweils einen „Liederabend“ mit über 30 Liedern hat, an dem man die stilistische Entwicklung der Kompositionen vom Einfachen bis zum Kompliziert-Artifiziellen gut nachvollziehen kann. Von der ersten Liedgruppe der CD 1 überzeugt vor allem das todtraurige L’Absent (Victor Hugo) von 1871; die hier musikalisch verarbeitete Trauer über den Krieg und seine Folgen wird von den Interpreten ausdrucksstark geboten. Cyrille Dubois verfügt über eine kräftige, sicher durch die Lagen geführte Stimme, die eine große Farbpalette abdeckt, beste Schwelltöne und Legato beherrscht und die manchmal notwendige Attacke nicht vermissen lässt. Technisch brillant und einfühlsam passt das stets unterstützende Klavierspiel von Tristan Raes sehr gut dazu. Deutlich moderner ist dann schon der Liederkreis Cinq mélodies „de Venice“ (1891). Zu den variantenreicheren Melodien wird auch die Begleitung spannender, wie z.B. En sourdine, wenn die Singstimme allmählich aus den Arpeggien aufsteigt und schließlich wieder zart verklingt. Aus dem Liederkreis La Bonne Chanson (1892-4) sind besonders gelungen J’ai presque peur, en vérité, das die Angst fast greifbar macht, und das dagegen schlichte Lob einer still-genügsamen Liebe N’est-ce pas?

CD 2 umfasst 20 Lieder und zwei Liederkreise. Bei dem zu durchgehendem Quintmotiv der Begleitung intensiv gesungenen Les Berceaux (1879) wurde das Schaukeln der Kinderwiegen und der Schiffe besonders gut herausgestellt; dagegen huscht La Fée aux chansons (1882) spitzbübisch durch die Büsche, auch im Klavierpart. Der Liederkreis Shylock (1889) umfasst 5 Lieder, die Fauré zu der gleichnamigen Komödie von Edmont Haraucourt schrieb: Bei Madrigal fällt die auffällig eigenständige Klavierbegleitung auf; Dans la forêt de septembre kann man – hoch aktuell – als Lied auf den sterbenden Wald allgemein auffassen. Der weitere Liederkreis La Chanson d’Ève (1906-10) umfasst 10 Lieder zu Eva, dem Paradies und Gott. Der Stil wird insgesamt kantiger, es wird noch mehr Wert auf Sprachmelodie gelegt. Comme Dieu rayonne über Gottes Atem in der Natur wie auch Crépuscule sind Höhepunkte dieses Kreises.

Von den Einzelliedern der CD 3 ist Hymne à Apollon (1884) hervorzuheben, das als Einziges auf einer Übersetzung aus dem Griechischen in das gefälliger singbare Französisch beruht; hier läuft die Melodie noch häufig in der Klavierbegleitung parallel zur Bildung einer Einheit. Eine starke Interpretation ist auch mit En prière (1890) gelungen. Poème d’un jour (1878, drei Lieder) wird mit freier Höhe des Tenors und fließender Klavierbegleitung von den Protagonisten zu einer kleinen Kostbarkeit geformt. In La Messagère aus Le Jardin clos (1914, 10 Lieder) ist die Unruhe des Herzens mit vielen Farben in der Stimme wie mit vorwärts strebendem Tempo des Klaviers wunderbar getroffen worden. Auffällige harmonische Rückungen verdeutlichen in Jardin nocturne aus Mirage (1919, vier Lieder) eine Besonderheit der späten Kompositionen Faurés. Von 1921 stammen die letzten vier Lieder der CD, L’Horizon chimérique, von denen besonders das Lied Diane, Séléné endlose Traurigkeit verströmt. Es sind also durchweg auch die politischen Ereignisse und ihre Folgen in der Musik erkennbar geworden.

Diese Sammlung ist für alle Freunde des französischen Lieds eine Bereicherung (APARTÉ, AP 284, 3 CDs/8. 10. 22).   Marion Eckels