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Mit der Engelbert-Humperdinck-Biographie von Matthias Corvin, die 2021 bei Schott erschien, fand sich Der Blaue Vogel bereits angekündigt. „In Planung“, hieß es in der Diskographie am Ende des Buches an der entsprechenden Stelle. Nun ist die Aufnahme bei Capriccio erschienen (C5506). Bevor Steffen Tast mit dem Rundfunkchor und dem Rundfunk-Sinfonieorchester im RBB-Saal 1 an die Einspielung ging, hatte er die Schauspielmusik bei einem Familien- und Schülerkonzert in Berlin in ihrer Wirkung auf das Publikum getestet. Tast, der in der Gruppe der 1. Violinen des Orchesters spielt, betätigt sich nebenbei als Dirigent und leitet auch Kammerkonzerte. Für Humperdinck und dessen bildhafte Tonsprache hat er ein feines Gespür. Er versteht und interpretiert ihn durch und durch als Spätromantiker. Kinder spielen – wie so oft bei Humperdinck – die Hauptrollen. Der so genannte tänzerische Sternenreigen prägt sich schon beim ersten Hören ein. Nur dieses Stück schaffte es bislang gemeinsam mit der Ouvertüre bei Virgin Classics auf CD, gespielt von den Bamberger Symphonikern unter Karl Anton Rickenbacher.
Die Schauspielmusik umrahmt Maurice Maeterlincks symbolistisches Märchendrama selbigen Namens. Das Sprechstück selbst war erstmals 1908 in Moskau gegeben worden. Max Reinhardt wollte es mit Humperdincks Komposition in deutscher Übersetzung ursprünglich schon 1910 in Berlin auf die Bühnen bringen, was sich aber wieder zerschlug. So fand die Erstaufführung in dieser Form 1911 am Deutschen Volkstheater in Wien statt. Im selben Jahr hatte Maeterlinck den Literaturnobelpreis bekommen, wodurch seine Berühmtheit enorm wuchs. Nun trat auch Reinhardt wieder auf den Plan und brachte seine Inszenierung zu Weihnachten 1912 heraus. Sie wurde ein großer Erfolg.
Der zurückhaltende Umgang der Musikindustrie mit dem Blauen Vogel hat einen handfesten Grund. Wie aus der eingangs erwähnten Biographie und dem Booklet-Text von Steffen Georgi zu erfahren ist, gab es zwischen den Verlagen des Dichters und des Komponisten einen Rechtestreit. Humperdinck wollte durchsetzen, dass Maeterlincks Drama fortan nur mit seiner Musik gespielt werden dürfe, was nicht gelang. So blieb die die Musik ungedruckt liegen und geriet schließlich in Vergessenheit. Erst 1942 wurden die beiden Nummern, die Rickenbacher für seine Einspielung wählte, als Partitur gedruckt. Steffen Tast hat die kompletten Noten laut Booklet in einer namentlich nicht genannten Bibliothek „gefunden und mit Hilfe der Deutschlandfunks für die die CD-Aufnahme wiederbelebt“. Es hat sich gelohnt.
Für die Einspielung haben der Schauspieler Juri Tetzlaff und der Dirigent eine eigene Textfassung erarbeitet, die sich im Booklet findet. Die Geschichte wird nicht gespielt wie bei Maeterlinck sondern erzählt. Dadurch gerät die Komposition in den Mittelpunkt – als Schauspielmusik ohne Schauspiel. „Wir machen uns auf die Suche nach einem magischen Vogel“, hebt der Erzähler an noch bevor der erste Ton des Vorspiels erklingt. Jeder sei ihm schon mal begegnet, aber niemand wisse, wo er lebe. Jeder wolle ihn haben, aber niemand könne ihn besitzen. Er komme und er gehe, sei wunderschön, lebendig und freundlich. Er mache traurige Menschen froh und kranke wieder gesund. „Taucht mit uns ein in die Welt des Blauen Vogels!“ Tetzlaff ist eine gute Wahl. Er stammt aus einer musikalischen Familie, hat als Schauspieler und Moderator Kinderfernsehen gemacht. Er weiß, wie man Jung – und Alt – anspricht und für sich einnimmt. Tetzlaff erzählt die Geschichte so, als trage sie sich gerade zu. Nur mit der Sprache verwandelt er sich in die unterschiedlichsten Figuren und Gegenstände. Sogar Tiere, einen Brotlaib und die dunkle Nacht bringt er zum Sprechen. Es ist das reinste Vergnügen, ihm zuzuhören.
Mytyl und Tyltyl, Tochter und Sohn eines armen Holzfällers haben einen traurigen Weihnachtsabend hinter sich. Die Großeltern sind gestorben, das Geld reichte nur für ein karges Mahl. In der Nacht wachen die Kinder auf, öffnen das Fenster ihrer Kammer und hören aus der Ferne einen schönen Gesang: „O du fröhliche, o du selige gnadenbringende Weihnachtszeit … Christ ist erschienen, uns zu versühnen.“ Plötzlich erscheint eine alte Fee, die die Kinder vage an die Nachbarin erinnert, in der Stube und bitte die Kinder um Hilfe. Ihre Tochter sei schwer krank. Nur der Blaue Vogel könne sie retten. Die Alte zückt einen Zauberhut, mit dem sie sich in eine wunderschöne Fee verwandelt. Alles ringsumher verändert sich mit ihr. Katze und Hund können reden. In der Küche gibt es Brot satt. Im Reich der Erinnerung erwachen auch die Großeltern wieder zum Leben. Mytyl und Tyltyl müssen viele Abenteuer und Prüfungen bestehen, sich sogar vor den Seelen der Bäume dafür verantworten, dass ihr Vater sie gefällt hat. So geht es fort. Den Vogel aber finden sie nicht. Nach einem Jahr kehren sie zu den Eltern zurück, um festzustellen, dass lediglich eine einzige Nacht vergangen ist – sie alles nur geträumt haben. Am Ende entdecken sie in dem Vogel, den der Knabe schon lange bei sich hat, den gesuchten Blauen Vogel und bringen ihn zum kranken Nachbarskind. Als es wieder gesund ist, fliegt der Vogel davon.
Humperdinck hat für einzelnen Stationen und Situationen prägnante Musik gefunden. Der Klang ist üppig, glanzvoll und verschwenderisch, pointiert, geheimnisvoll und naiv zugleich. Ein Motiv jagt das andere. Wieder erweist er sich als Meister der Instrumentation. Als er sein Werk 1910 vollendete, war die Aufregung um Salome und Elektra fast verflogen. Zwischen beiden Komponisten lagen die Welten ihrer Zeit. Während bei Strauss im Schein des Mondes über Galiläa eine Kindfrau nach dem Kopf des Jochanaan verlangt, dürfen sich Humperdincks Kinder des Nachts von tanzenden Sternen verzaubern lassen. Es wird offenbar, wie kühn der nur zehn Jahre jüngere Strauss eine Tür in die Moderne aufgerissen hatte, um sie danach wieder anzulehnen. In der Frau ohne Schatten, die 1917 entstand, meint man dann, gewisse Ähnlichkeiten zwischen beiden Komponisten wahrzunehmen. Mehr noch. Im Blauen Vogel scheinen auch musikalische Stimmungen auf, wie sie Mahler 1902 im Adagietto seiner 5. Sinfonie entwarf. Und wenn Tiere von Humperdinck mit Noten charakterisiert werden, muss man unweigerlich an Prokofjews Peter und der Wolf denken, der zu ähnlichen Lösungen kommt. Die Neuerscheinung, die auf der zweiten CD um Sieben symphonische Bilder aus der Schauspielmusik zu Der Blaue Vogel ergänzt wird, regt zu den unterschiedlichen Betrachtungen an. Auf jeden Fall beleuchtet sie die Stellung des noch immer unterschätzen und zu stark auf seine Oper Hänsel und Gretel reduzierten Engelbert Humperdinck in seiner Zeit wie kaum eine andere Wiederentdeckung. Rüdiger Winter