Archiv für den Monat: Oktober 2022

„Und jetzo bist du elend“

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„Und jetzo bist du elend.“ Ian Bostridge hat für seine neue Aufnahme des Schwanengesang von Franz Schubert sein Äußeres wieder inhaltlichen Botschaften und Stimmungen angepasst. Sie ist bei Pentatone erschienen (PTC 5186 786). Diesem eigenwilligen ästhetischen Konzept ist er schon bei der Winterreise und der Schönen Müllerin gefolgt. Der smarte Tenor, auch in seiner äußeren Erscheinung durch und durch Engländer, scheint sich in der digitalen Verwandlung zu gefallen. Er scheut sich nicht, alt, verfallen und regelrecht ausgemergelt auszusehen. Als sei er jetzo elend. Die nach heutigem Verständnis altertümliche Bezeichnung für unmittelbarste Gegenwart, nämlich das Jetzt, findet sich im Lied Der Atlas, gedichtet von Heinrich Heine. Es ist dem Buch der Lieder entnommen, wo es keine Überschrift hat. Schubert vertonte die Verse eins zu eins.  Atlas gilt als eine seiner bedeutendsten Schöpfungen. Im Schwanengesang, der erst nach Schubert Tod diesen Titel bekam, steht es an achter Stelle und hebt sich gewaltig aus seinem musikalischen Umfeld empor wie der namensgebende Titan in der griechischen Mythologie. Der begleitende Pianist Lars Vogt schlägt entsprechende hämmernde Töne aus seinem Instrument. Schöngesang ist von Bostridge nicht zu erwarten. Seine Stimme ist noch charaktervoller und individueller geworden. Der Beginn gerät sprachlich unbestimmt. Es hört sich nach „unglücklichsel’ger Atlas“ an. „Unglücksel’ger Atlas“ wäre richtig gewesen und hätte entsprechend korrigiert werden können bei der Aufnahme. Einen hohen Wiedererkennungswert besitzt die Stimme nach wie vor. Lyrische Lieder wie Ständchen, Die Stadt oder Am Meer gelingen besser. Dramatische Passage enden hier und da in Sprechgesang. Im Abschied findet sich der Sänger gemeinsam mit seinem Begleite in das federnde, nach vorn drängende Tempo. Fast zum Stillstand kommt der gemeinsame Vortrag im Doppelgänger, was seine Wirkung nicht verfehlt.

Ergänzt wird der Schwanengesang mit Einsamkeit, einer Art Liederkantate in sechs Teilen, die 1818 entstand und im Deutschverzeichnis die Nummer 620 führt. Vom selben Jahr an bewohnten der Textdichter Johann Mayrhofer und der Komponist ein gemeinsames Zimmer in Wien. Die schwermütigen Verse – Mayerhofer stürzte sich 1836 aus einem Fenster und starb – vermag der Sänger am besten auszugestalten. Wohl auch deshalb, weil er sie ernst nimmt und sich in sie hineinzuversetzen vermag. Die Spannung – woran auch der Begleiter seinen beträchtlichen Anteil hat – lässt über die mehr als achtzehn Minuten nie nach. Es kann allerdings nicht verkehrt sein, den Text im Booklet mitzulesen. Nicht alles ist bei Bostridge zu verstehen.

Die Einspielung, die im November 2021 in der Londoner Wigmore Hall entstand, darf auch als Vermächtnis des deutschen Pianisten Lars Vogt verstanden werden. Er starb mit einundfünfzig Jahren am 5. September 2022 nach schwerer Krankheit. Am 24. September 2021 hatten Bostridge und Vogt das CD-Programm in London auch live gegeben. Die selten zu hörende Einsamkeit war dabei als Interludium in den Schwanengesang eingefügt worden. Rüdiger Winter

Vaughan Williams zum 150. Geburtstag

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So richtig hat sich Ralph Vaughan Williams alias RVW (1872-1958), in England neben Edward Elgar eine Ikone, in den Konzertsälen des deutschsprachigen Raums bis heute nicht durchsetzen können. Zwar erklingt ab und zu eine seiner insgesamt neun Sinfonien, doch wird sein sonstiges, sehr breit aufgestelltes Schaffen weitgehend ignoriert, sieht man von der Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis und der unvermeidlichen Orchestrierung von Greensleeves ab. Warner Classics bringt nun die nicht weniger als 30 CDs umfassende Box Ralph Vaughan Williams – The New Collector’s Edition (Warner 0190296245374) und versucht damit eine gesamtheitliche Würdigung des englischen Komponisten, der einen eigenen Nationalstil prägte, ohne dabei Gefahr zu laufen, ein Epigone Elgars zu werden.

Dem Kenner fällt sofort auf, dass es sich im Prinzip um eine Neuauflage der älteren, ebenfalls 30 CDs beinhaltenden Collector’s Edition von 2008 handelt, die seinerzeit noch auf dem EMI-Label erschien. Der Anlass für die Wiederauflage ist gewiss im 150. Geburtstag des Komponisten zu suchen, der am 12. Oktober 2022 begangen wird. Der reichhaltige Bestand in den Archiven von Warner bietet die günstigsten Voraussetzungen für eine solche Box. Tatsächlich ist diese optisch ansprechend gestaltet. Die Cover der CD-Hüllen sind bedruckt mit Gemälden aus der Lebenszeit des Komponisten. Weniger vorbildlich ist dafür die sehr magere Textbeilage, die im Prinzip einzig aus einem gerade zweiseitigen kurzen Einführungstext von Stephen Johnson besteht. Inakzeptabel ist die Weglassung der genauen Aufnahmedetails. So sucht man sowohl die Aufnahmejahre als auch die -orte vergebens. Hierzu ist insofern eigene Recherche vonnöten, was bei der Fülle an Musik (etwa 34 Stunden Hörmaterial) an eine Zumutung grenzt.

Dieses ärgerliche Manko wird freilich dadurch abgemildert, dass es letztlich auf den Inhalt ankommt. Dieser ist in der Summe überaus gediegen. Was sofort auffällt, ist, dass nicht der durchaus bei EMI erschienene klassische Sinfonien-Zyklus unter Sir Adrian Boult Berücksichtigung fand, sondern der etwa zwanzig Jahre jüngere unter Vernon Handley mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, was freilich keinen Qualitätsabfall bedeutet, darf sich Handley doch als Spezialist in diesem Repertoire bezeichnen lassen. In der Sea Symphony agieren als Solisten Joan Rodgers und William Shimell. Handley steuert neben kleineren Orchesterwerken auf hohem Niveau auch das Oboenkonzert (Solist: Jonathan Small) sowie das Klavierkonzert (Solist: Piers Lane) bei. Ganz übergangen werden kann Boult, einer der RVW-Interpreten schlechthin, freilich nicht. Seine Referenzeinspielung der Balletmusik Job: A Masue for Dancing ist glücklicherweise inkludiert. Ferner verantwortet Boult u. a. die Serenade to Music, die Suite English Folk Songs, die Norfolk Rhapsody No. 1, die Fantasia on Greensleeves sowie die Tondichtungen In the Fen Country und The Lark Ascending. Mit The Pilgrim’s Progress, Vaughan Williams‘ letzter Oper, steuert Sir Adrian außerdem einen weiteren blendend besetzten Klassiker der Diskographie bei. Unter den Mitwirkenden finden sich u. a. John Noble, Raimund Herincx, Sheila Armstrong, Ian Partridge, John Shirley-Quirk, Robert Lloyd, Norma Burrowes und Alfreda Hodgson.

Auch im Falle der drei anderen Opern des Komponisten darf von Volltreffern gesprochen werden. Riders to the Sea (mit Norma Burrowes, Margaret Price, Helen Watts, Benjamin Luxon) und Sir John in Love (mit Raimund Herincx, Robert Tear, Helen Watts) jeweils unter Meredith Davies sowie Hugh the Drover (mit Robert Tear, Sheila Armstrong, Robert Lloyd, Hellen Watts) unter Sir Charles Groves lassen keine Wünsche offen.

Mit Constantin Silvestris Tallis-Fantasie aus Bournemouth liegt ein weiteres Highlight bei. Unter der begnadeten Stabführung von Sir David Willcocks finden sich idiomatisch besetzt An Oxford Elegy, das Oratorium Sancta Civitas, die Weihnachtskantate Hodie, die Whitsunday Hymn sowie die Flos campi Suite. Für weniger geläufige Orchesterwerke wie die Ouvertüre The Poisoned Kiss, das Ballett Old King Cole, die Prelude on an Old Carol Tune, den Marsch Sea Songs, die von Gordon Jacob orchestrierten Variations for Orchestra sowie die Orchesterfassung der Serenade to Music zeichnet mit Richard Hickox ein weiterer Hochkaräter verantwortlich.

Auch die Kammermusik kommt nicht zu kurz. Das erste Streichquartett kommt mit dem Britten Quartet, das zweite Streichquartett sowie weitere Kammermusikstücke (darunter die Violinsonate, das Fantasiequintett und die Suite für Viola und kleines Orchester) mit der Music Group of London.

Hinsichtlich Liederzyklen finden sich die Songs of Travel sowohl in der Orchesterfassung mit Thomas Allen unter Sir Simon Rattle als auch in der Klavierfassung mit Anthony Rolfe Johnson, begleitet von David Willison. Auch On Wenlock Edge ist sowohl orchestriert mit Robert Tear unter Rattle als auch in kammermusikalischer Fassung mit Ian Partridge und der Music Group of London enthalten. Letztere steuern zudem die Ten Blake Songs und die Four Hymns bei. Zahlreiche Volkslied-Arrangements runden die Kollektion ab.

Trotz der mangelhaften Dokumentation der einzelnen Einspielungen vermittelt die großvolumige Kassette also die mannigfaltige Bandbreite des kompositorischen Schaffens von Ralph Vaughan Williams und darf allen, außer den Besitzern der beinahe identischen Vorgängerbox, ans Herz gelegt werden. Es handelt sich, abgesehen von zwei Ausnahmen (die Romanze Dis-Dur unter Sir Malcolm Sargent sowie das Tubakonzert unter Sir John Barbirolli von Anfang der 1950er Jahre), durchgängig um gut klingende Stereoaufnahmen, so dass hier keine Einschränkungen hinzunehmen sind. Daniel Hauser

Zigeunerliebe

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Ruggero Leoncavallos Pagliacci sind ein Repertoire-Hit, auch seine Bohème wird gelegentlich gespielt, kaum aber die Zingari. Im Rahmen ihrer Aktivitäten, unbekannte oder vergessene Opernwerke vorzustellen, hat die britische Firma Opera Rara dieses Dramma lirico Ende 2021 in Croydon aufgenommen und auf einer CD mit illustriertem Booklet veröffentlicht (ORC61). Das Stück in zwei Episoden, die durch ein Intermezzo verbunden sind, basiert auf einer Dichtung von Alexander Puschkin, die von Enrico Cavacchioli und Guglielmo Emanuel zum Libretto geformt wurde. 1912 fand die Uraufführung im Hippodrome von London statt, OR hat die Originalversion für die vorliegende Einspielung rekonstruiert.

Am Pult des Royal Philharmonic Orchestra steht der im italienischen Repertoire versierte Dirigent Carlo Rizzi, der in der kurzen Ouverture einen munteren, tänzerisch orientierten Ton anschlägt. Der Opera Rara Chorus (Eamonn Dougan) nimmt diese Stimmung mit lebhaftem Gesang auf. Dem Intermezzo gibt Rizzi zunächst eine elegische Tönung, lässt die Musik aber dann rauschhaft aufblühen. Die gespenstische Dramatik der Schlussszene mit der Brandstiftung malt er in grellen Farben aus.

Die Handlung bedient einen klassischen Dreieckskonflikt. Die junge Zigeunerin Fleana wird von dem Dichter Tamar geliebt, geht aber eine Beziehung mit einem Fremden, Radu, ein. Nach einem gemeinsamen Jahr ist ihre Liebe zu ihm abgekühlt, sie trifft sich mit Tamar in einer Hütte, die Radu in Brand steckt. Alle fordern seinen Tod, doch ein alter Zigeuner plädiert für dessen Freiheit angesichts seines verwirrten Geisteszustandes.

Die bulgarische Sopranistin Krassimira Stoyanova versucht sich mit der Fleana an einer Verismo-Partie – nach ihren Erfolgen im Belcanto-Repertoire sowie als Verdi- und Strauss-Interpretin ist das ein Schritt in ungewohntes Terrain. Im Liebesduett mit Radu in der ersten Episode weiß ihr Sopran mit visionären, blühenden Tönen zu betören und sich mit der schwelgerischen Stimme des Tenors zu rauschhaftem Gesang zu vereinen. Ihren Tanz vor dem Hochzeitsfest untermalt sie mit verführerischen Vokalisen. In der zweiten Episode quält sie Radu, zu dem die Liebe erloschen ist, mit höhnischem Gelächter und einem temperamentvollen Gesang, der ganz die Zigeunerin erkennen lässt. Insgesamt zeigt ihre Interpretation einen gelungenen Einstieg in dieses Genre.

Der armenische Tenor Arsen Soghomonyan machte in der letzten Saison in Baden-Baden als Herman in Pique Dame auf sich aufmerksam. Die heldische Stimme (vom Bariton zum Tenor gewechselt) von enormem Potential ist auch für den Radu eine stimmige Besetzung. Schon in der schwelgerischen Auftrittsarie „Principe! Radu io son“ prunkt er mit strömender Kantilene und glänzenden Spitzentönen. Seine Verzweiflung, Fleana verloren zu haben, äußert sich in erregtem, hektischem Gesang  und leidenschaftlichen Ausbrüchen, führt dann noch einmal in kantable Zonen. Der anschließende Monolog „Perduto! Tutto!“ erinnert in seiner Zerknirschtheit an den Otellos und der existentielle Schluss an die Tragik Canios.

Der amerikanische Bariton Stephen Gaertner ist ein viriler Tamar, der in seiner Auftrittsszene „Ah! taci! Non lo dir“ eine düstere Stimmung verbreitet, die an den Michele in Puccinis Il tabarro erinnert. Mit sehnsüchtiger Inbrunst besingt er in „Ah! Canto notturno“ seine Liebe zu Fleana. In der zweiten Episode hat sich diese erfüllt, wovon das schwärmerische Duett „Bella! Bella!“ kündet. Der polnische Bassbariton Lukasz Golinski komplettiert die Besetzung als Der alte Mann, der für einen starken Effekt in der dramatischen Schlussszene sorgt. Bernd Hoppe

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PS.: Man kann sich allerdings fragen, ob die Ausflüge von Opera Rara in Nicht-Belcanto-Gefilde zu begrüßen sind. Opera Rara verlässt ihr Kernrepertoire. Es war stets das Markenzeichen des englischen Labels, Seltenes aus eben diesem Feld zu entdecken – namentlich Donizett, Rossini et al. Die Firma begibt sich in Gefahr, ihr Image für eben dieses Repertoire zu verlieren, denn diese Ausweitung zum Allgemeinen auch auf dem Gebiet der Mitwirkenden scheint planlos  (oder anderen Interessen verpflichtet), nachdem Belcanto-Opern bei Opera Rara mit so etwas wie einer „Hausbesetzung“ erfolgreich eingespielt wurden .Schade eigentlich. G. H.