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„Und jetzo bist du elend.“ Ian Bostridge hat für seine neue Aufnahme des Schwanengesang von Franz Schubert sein Äußeres wieder inhaltlichen Botschaften und Stimmungen angepasst. Sie ist bei Pentatone erschienen (PTC 5186 786). Diesem eigenwilligen ästhetischen Konzept ist er schon bei der Winterreise und der Schönen Müllerin gefolgt. Der smarte Tenor, auch in seiner äußeren Erscheinung durch und durch Engländer, scheint sich in der digitalen Verwandlung zu gefallen. Er scheut sich nicht, alt, verfallen und regelrecht ausgemergelt auszusehen. Als sei er jetzo elend. Die nach heutigem Verständnis altertümliche Bezeichnung für unmittelbarste Gegenwart, nämlich das Jetzt, findet sich im Lied Der Atlas, gedichtet von Heinrich Heine. Es ist dem Buch der Lieder entnommen, wo es keine Überschrift hat. Schubert vertonte die Verse eins zu eins. Atlas gilt als eine seiner bedeutendsten Schöpfungen. Im Schwanengesang, der erst nach Schubert Tod diesen Titel bekam, steht es an achter Stelle und hebt sich gewaltig aus seinem musikalischen Umfeld empor wie der namensgebende Titan in der griechischen Mythologie. Der begleitende Pianist Lars Vogt schlägt entsprechende hämmernde Töne aus seinem Instrument. Schöngesang ist von Bostridge nicht zu erwarten. Seine Stimme ist noch charaktervoller und individueller geworden. Der Beginn gerät sprachlich unbestimmt. Es hört sich nach „unglücklichsel’ger Atlas“ an. „Unglücksel’ger Atlas“ wäre richtig gewesen und hätte entsprechend korrigiert werden können bei der Aufnahme. Einen hohen Wiedererkennungswert besitzt die Stimme nach wie vor. Lyrische Lieder wie Ständchen, Die Stadt oder Am Meer gelingen besser. Dramatische Passage enden hier und da in Sprechgesang. Im Abschied findet sich der Sänger gemeinsam mit seinem Begleite in das federnde, nach vorn drängende Tempo. Fast zum Stillstand kommt der gemeinsame Vortrag im Doppelgänger, was seine Wirkung nicht verfehlt.
Ergänzt wird der Schwanengesang mit Einsamkeit, einer Art Liederkantate in sechs Teilen, die 1818 entstand und im Deutschverzeichnis die Nummer 620 führt. Vom selben Jahr an bewohnten der Textdichter Johann Mayrhofer und der Komponist ein gemeinsames Zimmer in Wien. Die schwermütigen Verse – Mayerhofer stürzte sich 1836 aus einem Fenster und starb – vermag der Sänger am besten auszugestalten. Wohl auch deshalb, weil er sie ernst nimmt und sich in sie hineinzuversetzen vermag. Die Spannung – woran auch der Begleiter seinen beträchtlichen Anteil hat – lässt über die mehr als achtzehn Minuten nie nach. Es kann allerdings nicht verkehrt sein, den Text im Booklet mitzulesen. Nicht alles ist bei Bostridge zu verstehen.
Die Einspielung, die im November 2021 in der Londoner Wigmore Hall entstand, darf auch als Vermächtnis des deutschen Pianisten Lars Vogt verstanden werden. Er starb mit einundfünfzig Jahren am 5. September 2022 nach schwerer Krankheit. Am 24. September 2021 hatten Bostridge und Vogt das CD-Programm in London auch live gegeben. Die selten zu hörende Einsamkeit war dabei als Interludium in den Schwanengesang eingefügt worden. Rüdiger Winter