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So richtig hat sich Ralph Vaughan Williams alias RVW (1872-1958), in England neben Edward Elgar eine Ikone, in den Konzertsälen des deutschsprachigen Raums bis heute nicht durchsetzen können. Zwar erklingt ab und zu eine seiner insgesamt neun Sinfonien, doch wird sein sonstiges, sehr breit aufgestelltes Schaffen weitgehend ignoriert, sieht man von der Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis und der unvermeidlichen Orchestrierung von Greensleeves ab. Warner Classics bringt nun die nicht weniger als 30 CDs umfassende Box Ralph Vaughan Williams – The New Collector’s Edition (Warner 0190296245374) und versucht damit eine gesamtheitliche Würdigung des englischen Komponisten, der einen eigenen Nationalstil prägte, ohne dabei Gefahr zu laufen, ein Epigone Elgars zu werden.
Dem Kenner fällt sofort auf, dass es sich im Prinzip um eine Neuauflage der älteren, ebenfalls 30 CDs beinhaltenden Collector’s Edition von 2008 handelt, die seinerzeit noch auf dem EMI-Label erschien. Der Anlass für die Wiederauflage ist gewiss im 150. Geburtstag des Komponisten zu suchen, der am 12. Oktober 2022 begangen wird. Der reichhaltige Bestand in den Archiven von Warner bietet die günstigsten Voraussetzungen für eine solche Box. Tatsächlich ist diese optisch ansprechend gestaltet. Die Cover der CD-Hüllen sind bedruckt mit Gemälden aus der Lebenszeit des Komponisten. Weniger vorbildlich ist dafür die sehr magere Textbeilage, die im Prinzip einzig aus einem gerade zweiseitigen kurzen Einführungstext von Stephen Johnson besteht. Inakzeptabel ist die Weglassung der genauen Aufnahmedetails. So sucht man sowohl die Aufnahmejahre als auch die -orte vergebens. Hierzu ist insofern eigene Recherche vonnöten, was bei der Fülle an Musik (etwa 34 Stunden Hörmaterial) an eine Zumutung grenzt.
Dieses ärgerliche Manko wird freilich dadurch abgemildert, dass es letztlich auf den Inhalt ankommt. Dieser ist in der Summe überaus gediegen. Was sofort auffällt, ist, dass nicht der durchaus bei EMI erschienene klassische Sinfonien-Zyklus unter Sir Adrian Boult Berücksichtigung fand, sondern der etwa zwanzig Jahre jüngere unter Vernon Handley mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, was freilich keinen Qualitätsabfall bedeutet, darf sich Handley doch als Spezialist in diesem Repertoire bezeichnen lassen. In der Sea Symphony agieren als Solisten Joan Rodgers und William Shimell. Handley steuert neben kleineren Orchesterwerken auf hohem Niveau auch das Oboenkonzert (Solist: Jonathan Small) sowie das Klavierkonzert (Solist: Piers Lane) bei. Ganz übergangen werden kann Boult, einer der RVW-Interpreten schlechthin, freilich nicht. Seine Referenzeinspielung der Balletmusik Job: A Masue for Dancing ist glücklicherweise inkludiert. Ferner verantwortet Boult u. a. die Serenade to Music, die Suite English Folk Songs, die Norfolk Rhapsody No. 1, die Fantasia on Greensleeves sowie die Tondichtungen In the Fen Country und The Lark Ascending. Mit The Pilgrim’s Progress, Vaughan Williams‘ letzter Oper, steuert Sir Adrian außerdem einen weiteren blendend besetzten Klassiker der Diskographie bei. Unter den Mitwirkenden finden sich u. a. John Noble, Raimund Herincx, Sheila Armstrong, Ian Partridge, John Shirley-Quirk, Robert Lloyd, Norma Burrowes und Alfreda Hodgson.
Auch im Falle der drei anderen Opern des Komponisten darf von Volltreffern gesprochen werden. Riders to the Sea (mit Norma Burrowes, Margaret Price, Helen Watts, Benjamin Luxon) und Sir John in Love (mit Raimund Herincx, Robert Tear, Helen Watts) jeweils unter Meredith Davies sowie Hugh the Drover (mit Robert Tear, Sheila Armstrong, Robert Lloyd, Hellen Watts) unter Sir Charles Groves lassen keine Wünsche offen.
Mit Constantin Silvestris Tallis-Fantasie aus Bournemouth liegt ein weiteres Highlight bei. Unter der begnadeten Stabführung von Sir David Willcocks finden sich idiomatisch besetzt An Oxford Elegy, das Oratorium Sancta Civitas, die Weihnachtskantate Hodie, die Whitsunday Hymn sowie die Flos campi Suite. Für weniger geläufige Orchesterwerke wie die Ouvertüre The Poisoned Kiss, das Ballett Old King Cole, die Prelude on an Old Carol Tune, den Marsch Sea Songs, die von Gordon Jacob orchestrierten Variations for Orchestra sowie die Orchesterfassung der Serenade to Music zeichnet mit Richard Hickox ein weiterer Hochkaräter verantwortlich.
Auch die Kammermusik kommt nicht zu kurz. Das erste Streichquartett kommt mit dem Britten Quartet, das zweite Streichquartett sowie weitere Kammermusikstücke (darunter die Violinsonate, das Fantasiequintett und die Suite für Viola und kleines Orchester) mit der Music Group of London.
Hinsichtlich Liederzyklen finden sich die Songs of Travel sowohl in der Orchesterfassung mit Thomas Allen unter Sir Simon Rattle als auch in der Klavierfassung mit Anthony Rolfe Johnson, begleitet von David Willison. Auch On Wenlock Edge ist sowohl orchestriert mit Robert Tear unter Rattle als auch in kammermusikalischer Fassung mit Ian Partridge und der Music Group of London enthalten. Letztere steuern zudem die Ten Blake Songs und die Four Hymns bei. Zahlreiche Volkslied-Arrangements runden die Kollektion ab.
Trotz der mangelhaften Dokumentation der einzelnen Einspielungen vermittelt die großvolumige Kassette also die mannigfaltige Bandbreite des kompositorischen Schaffens von Ralph Vaughan Williams und darf allen, außer den Besitzern der beinahe identischen Vorgängerbox, ans Herz gelegt werden. Es handelt sich, abgesehen von zwei Ausnahmen (die Romanze Dis-Dur unter Sir Malcolm Sargent sowie das Tubakonzert unter Sir John Barbirolli von Anfang der 1950er Jahre), durchgängig um gut klingende Stereoaufnahmen, so dass hier keine Einschränkungen hinzunehmen sind. Daniel Hauser