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Auch 2022 waren wir bei der Auswahl der vorgestellten Festivals sehr wählerisch und konzentrierten uns – wie bei Live-Aufführungen überhaupt – auf wenige und für uns interessante Aufführungen, von denen wir einige Rezensionen der Wichtigkeit der Operntitel wegen weiterhin stehen lassen . Eine Auflistung alle Festival-Beiträge finden sie hier G. H.
Donizetti-Festival Bergamo 2022: Eine Marien-Prozession zieht über den Sentierone. So wie sie in Bergamo in historischen Stadtteilen seit Jahrhunderten stattfinden. Diesmal wird die auf einem Podest getragene und von Klageweibern geleitete Schmerzensmutter von Musik Donizettis umweht, die von den Klängen der Dudelsackspieler bis zur Musikanlage wandert und geradewegs in die Lobgesängen der Mönchen im spanischen Kloster übergeht. Von der abendlichen Promenade vor dem Teatro Donizetti blendet Valentina Carrasco somit ins Kloster Saint-Jacques de Campostelle über, wo die erste und letzte Szene von Donizettis La Favorite spielt. Kirche und Staatsmacht stehen sich in ihrer Inszenierung unversöhnlich gegenüber. Dunkle Klausen hinter Gittern und lichte Schleierräume. Dem König wird untersagt, sich von seiner Gattin zu trennen und sich seiner Mätresse zuzuwenden, da ihn andernfalls der Bann der Kirche treffe. Die Sichtweise entspricht ganz dem bürgerlichen Moralverständnis des 19. Jahrhunderts, weshalb sich Carrasco und ihre Ausstatter Carles Berga und Peter van Praet und die Kostümbildnerin Silvia Aymonino vage an der Epoche Donizettis und des Bürgerkönigs Louis-Philippe mit Kronleuchtern, Gehröcken und Paradebett orientieren. Der historische Alphonse XI. dagegen durfte sich unbeschadet mit mehreren Geliebten vergnügen. Wie weiße Berglandschaften ragen die Bettengestelle auf, wo, unter weißen Laken versteckt, nun die ehemaligen und alt gewordenen Gespielinnen verharren, bis sie Carrasco im vielteiligen Divertissement des zweiten Akts zu Leben erweckt und wie die Geliebten des Blaubart aus ihrer Enklave befreit. Die Alten steigen von den etagenhohen Betten herunter, tanzen und wiegen sich, fassen sich an den Händen, beschwören vor den Spiegeln einstige Schönheit und umschmeicheln den König, dem die immer heftiger werdenden Zudringlichkeiten und Forderungen seiner Verflossenen merklich unangenehm werden. Ein schöner Einfall aus der Jetztzeit, der die Fallstricke umgeht, wie sie eine solche 20 Minuten lang die Handlung unterbrechende und kaum dramaturgisch sinnvoll in die Handlung einzuflechtende Tanzszene birgt.

Gaetano Donizetti/ Opera Rara Archive
Nach wenigen Jahren ist die 2018 im Teatro Donizetti aufgeschlagene Baustelle geräumt, sind Rekonstruktion und technische Erweiterung des im Jahr 1800 eröffneten Theaters abgeschlossen. Noch auf der Baustelle, die seinerzeit smart als Cantiere del Teatro Donizetti ausgewiesen wurde, war es 2019 zur szenischen Uraufführung des im Jahr zuvor in London erstmals konzertant gegebenen L’Ange de Nisida gekommen. Konsequenterweise folgte jetzt bei Donizetti Opera 2022 die Oper, zu der L’Ange de Nisida die Keimzelle bildete: La Favorite. Zusammen mit der im Oktober 1822 uraufgeführten Semiseria Chiara e Serafina, die sich in das #Donizetti200-Projekt der vor 200 Jahren uraufgeführten Opern Donizettis einreiht, und der Buffa L’aio nell‘imbarazzo von 1824 ergab sich ein rundes Festivalprogramm, wie in Vor-Corona-Zeiten.
Als Donizetti 1838 in Paris ankam, lagen goldene Jahre vor ihm. Alle Opernhäuser wurden zu Donizetti-Theatern: Bald spielten das Théatre des Italiens Roberto Devereux und L’elisir d’amore, die Opéra-Comique La Fille du régiment, die Opéra Les Martyrs. Und das Théatre de la Renaissance im August 1839 die französische Lucie de Lammermoor, nach deren Erfolg der Impresario Anténore Joly seinen Starkomponisten sofort mit einer neuen Oper, der Semiseria L’Ange de Nisida mit einem Libretto von Gustave Vaëz und Alphonse Roger, beauftragte. Donizetti begann umgehend mit der Arbeit. Allerdings mussten die Proben nach dem Bankrott des Theaters im Mai 1840 abgebrochen werden und die Geschichte des Königs von Neapel und seiner leidenschaftlichen Beziehung zu einer ihm anvertrauten Frau, die er mit einem ihm zu Dank verpflichteten Soldaten vermählt, landete in der Schublade. Donizetti hatte dafür auf Material zu einer nie aufgeführten Adelaide zurückgegriffen. Die Aufführung in Bergamo hatte überzeugend dargelegt, dass es sich bei dem 180 Jahre nach der Entstehung erstmals aufgeführten L’Ange de Nisida um mehr als eine simple Vorstudie zu La Favorite handelte. In der für ihn misslichen Lage kam es Donizetti zupass, dass ihn Léon Pillet, der Directeur der Opéra, zu einer neuen Oper für sein Haus drängte. Innerhalb von nur rund drei Monaten wurde der Dreiakter L’Ange rasch für die vieraktige, bereits am 2. Dezember 1840 uraufgeführte La Favorite zurechtgeputzt (daneben arbeitete Donizetti an seiner Adelia für Rom). Das Textbuch zu La Favorite stammt nach wie vor von Gustave Vaëz und Alphonse Roger, die ihre 1470 in Neapel und auf des Königs Liebesinsel Nisida spielende Handlung nach Spanien verlegten. (…) La Favorite wurde, meist in der seit 1841 gebräuchlichen italienischen Fassung als La Favorita, neben Lucia di Lammermoor zur erfolgreichsten und durchgehend gespielten Seria Donizettis.

Donizetti Festival Bergamo 2022: „La Favorite“/ Szene/ Foto Gianfranco Rota
Auf geniale Weise hatte Donizetti alle Spuren verwischt und alle Vorlagen zu einem dramatischen Ganzen verschmolzen, die Stücke aus der italienischen Adelaide, den allergrößten Teil von L’Ange und die für Duc d’Albe konzipierte Tenorarie „Ange si pur“, die dem länglich uninspirierten vierten Akt Glanz verleiht. Neu sind vor allem die großen Arien von Alphonse und Léonor. „Die Umformung der Oper von Ange de Nisida zur Favorite war ein schwieriger gradueller Prozess“, wie Rebecca Harris-Warrick zu ihrer kritischen Ausgabe anmerkte, die jetzt in Bergamo, wie bereits 1991, aufgeführt wurde. Ziel der Edition war es, eine Form zu ermöglichen, „nicht wie sie am Abend der Premiere gesungen wurde. Zur Zeit von Donizettis Abreise nach Rom (14. Dezember 1840) hatte La Favorite die Form der vorliegenden kritischen Ausgabe angenommen“.

Donizetti Festival Bergamo 2022: „La Favorite“/ Szene/ Foto Gianfranco Rota
In der von Riccardo Frizza energisch zusammengehaltenen Aufführung erscheint La Favorite als spannende Grand Opéra. Frizza und das Orchestra Donizetti Opera spielen die Musik fetzig und laut auftrumpfend, unterstreichen den großen dramatischen Bogen, gewaltig aufrauschend in den weiten Räumen, die Donizettis große und kunstvolle Orchesterbesetzung eröffnet, und mit viel Sinn für die Architektur der Szenen und Tableaux, insbesondere im Finale des dritten Aktes. Der vierte Akt fällt ab. Da können auch der präzise Maestro und das mit Gusto spielende Orchester nichts retten. In seiner Romance „Un ange, une femme inconnue“ klingt Javier Camarena als Fernand anfänglich merkwürdig angestrengt, der Ton ist harsch, der Klang in der oberen Mittellage grell und die Emission uneben, nur die absolute Höhe ist frei, es gelingen aber schöne demi-teintes und Schwelgereien im Pianobereich. Wunderbar feurig klingt sein Tenor bereits in der den ersten Akt abschließenden Arie, dann in den Duetten und Ensembles, wohingegen „Ange si pur“ im vierten Akt etwas müder und prosaischer ausfällt. Seine Geliebte, die er sich mit dem König teilen soll, gibt Annalisa Stroppa mit resolutem Zugriff. Ihr halsig-opaker Mezzosopran ist eher streng als charmant, eher robust als sinnlich, doch in den Duetten mit Fernand und Alphonse zeigt sie Feuer und dramatisches Kalkül; erwähnenswert, dass in dem auf Alphonses Arie „Léonor! Viens, j’abandonne“ folgenden Duett mit Léonor erstmals die Cabaletta erklingt, die bei der Uraufführung wegen ihrer gegen die Kirche gerichteten Worte gestrichen worden war – „In Bergamo, the cabaletta will finally receive its presumably first modern performance“, so Frizza. Wohltuend, wie Florian Sempey, der einzige native speaker der Produktion, das bei der Mezzosopranistin stark italienisch eingefärbte Französisch zum Klingen bringt. Sempey entzückt durch die formidable Diktion, aber auch durch Eleganz und Ausdruckskraft, die sein nicht ganz einheitlich durchgeformter, aber charaktervoll lasierter Bariton gewonnen hat, seit er vor drei Jahren die gleiche Partie, also den Don Fernand, in L’ange de Nisida gesungen hatte. Der schöne, schlanke Bass von Evgeny Stavinsky (Balthazar) ist eine Entdeckung. Edoardo Milletti brachte seinen Tenor als Don Gaspar vorteilhafter ins Spiel als Caterina Di Tonno (Inès) ihren luftigen Sopran.
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Donizetti Festival Bergamo 2022: „Chiara e Serafina“/ Szene/ Foto Gianfranco Rota
Bis zum Ende seiner Karriere schuf Donizetti gleichermaßen erfolgreich sowohl ernste wie heitere Werke, zu einer Zeit, als eine solche Vielseitigkeit italienischer Maestri längst aus der Mode gekommen war. Im Teatro Sociale in der Oberstadt folgte mit dem melodramma giocoso Chiara e Serafina, ein Werk, in dem der 25jährige dem Standard der Semiseria folgend, beide Gattungen vereint. Die neunte von Donizettis zur Aufführung gebrachten Opern war seit dem Misserfolg an der Mailänder Scala nie wieder gespielt worden. Den Text zur zweiaktigen Semiseria Chiara e Serafina (oder I Pirati) lieferte ihm Felice Romani, damals Hauptlibrettist des Hauses, nach dem französischen Melodram La Cisterne (1809) des zu Beginn des 19. Jahrhunderts ungemein populären „Corneille der Boulevards“ René Charles Guilbert de Pixérécourt. Das weitschweifige Verkleidungs- und Intrigenstück ist kompliziert, dreht sich aber im Kern um die beiden Sopran-Schwestern Chiara und Serafina, die vor zehn Jahren getrennt wurden. Sie sind die Töchter spanischen Kapitäns Don Alvaro. Während Chiara mit dem von Piraten verschleppten Vater auf einer Insel festgehalten wird, verbleibt Serafina in der Obhut von Don Alvaros Feind Don Fernando. Don Fernando will sein Mündel heiraten, um an ihr Vermögen zu kommen. Serafina jedoch liebt den Bürgermeister-Sohn Don Ramiro. Als Don Fernando erfährt, dass die Piraten Don Alvaro und Chiara freigelassen haben, muss er rasch handeln und heuert den Piraten Picaro an, der in die Rolle des Don Alvaro schlüpfen und die widerstrebende Serafina zur Heirat überreden soll. Don Alvaro und Chiara kommen tatsächlich auf die Insel, landen zusammen mit Serafina und einigen anderen in der Zisterne der Piraten usw. Das Happy End der naiven Theaterschurkerei, die von allem und für jeden etwas bot, ist absehbar und muss nicht ausgeführt werden. Die gut besetzte und von dem berühmten Alessandro Sanquirico ausgestattete Oper, die zusätzlich mit zwei Balletten von Gaetano Gioja gegeben wurde (wobei Donizetti das Gabrielle di Vergy-Thema des einen Balletts später zu einer Oper inspirierte), war kein Erfolg. Kein Wunder, wenn man liest, unter welch immensem Zeitdruck die Oper in zwölf Tagen fertig gestellt und parallel dazu die improvisierte Probenarbeit durchgeführt wurde. Donizetti schrieb seinem Lehrer Mayr, „Ich empfehle ihnen, ein Requiem mitzubringen, da ich erwarte umgebracht zu werden.“ Umgebracht wurde Donizetti nicht, aber nach zwölf Aufführungen verschwanden Chiara e Serafina für immer von der Bildfläche. Ihre Mailänder Schlappe merzen Donizetti und Romani erst 1830 mit Anna Bolena am Teatro Carcano und drei Jahre später mit der Lucrezia Borgia an der Scala aus. Heute hören wir das anders, mäkeln weniger an dem Versuch des jungen Donizetti herum. Die Rezitative sind langatmig, die Strukturen und Arienmuster Schablone, doch bereits die Ouvertüre, die einen Seesturm illustriert, bereitet auf den Ernst und die Dramatik der Rettungsoper vor. Die Instrumentation ist gewitzt und teilt den Protagonisten hübsche Details der Soloinstrumente zu, das Englischhorn in Chiaras Arie, die Harfe für die Arie der Lisetta, die Violine in Serafinas Arie, Violine und Fagott im Duett Serafina-Picaro und das Horn in der Cavatina des Piraten Picaro. Die handlungstreibenden Ensembles, das erste Finale und das Sextett gegen Ende des zweiten Aktes, sind kunstvoll verschachtelte und warten mit immer neuen Wendungen auf. Auffallend, wie Donizetti der Musik seinen eigenen Stempel aus Melancholie und Zärtlichkeit aufdrückt. Ein bisschen Rossini-Drive, doch weniger als erwartet. Immer etwas länglich und gedrechselt, wie auch das nie zu einem Ende findende Rondo der Chiara am Schluss der Oper. Alle Beteiligten laufen während dieser langen Nummer von der Bühne, die Matrosen stützen sich gelangweilt auf ihre Besen, bis die Musik endlich auf den Punkt kommt.

Donizetti Festival Bergamo 2022: „Chiara e Serafina“/ Szene/ Foto
Der Bühnen- und Kostümbildner Gianluca Falaschi, der im Vorjahr in Mainz mit Adriana Lecouvreur sein Regie-Debüt gegeben hatte, lässt sich von solchen Längen nicht ausbremsten. Seine große Spielwiese aus Inselfleck und Palmen, heruntergekommenem Kreuzfahrtschiff, schaumgekrönten Wellen, duftigen Wölkchen vor blauem Himmel, windschiefer Ritterburg und kruschteligem Kerker bevölkert er mit Tanz-Girls in blauen Glitzer-Petticoats, fleißigen Matrosen (Coro dell’Accademia Teatro alla Scala) und Menschen, die allesamt ihre grotesk langen und spitzen Nasen und ausladenden Kinnpartien auszeichnen, ein kunterbuntes Revue-Völkchen, das sich nur zu unserer Pläsir eingefunden hat. Mit aufgeblasenem Pathos, Ironie und Komik mischt Falaschi die halbernste Geschichte auf, die denn eindeutig der komischen Seite zuneigt, schlägt einen Bogen vom Boulevardtheater des 19. Jahrhundert zum Varieté der 1940er und 50er Jahre, vom Märchen zur Karikatur. Der retrospektive Touch und nostalgische Blick entspricht dabei gut Donizettis Musik, die unter Sesto Quatrini und dem Originalklangmusikern des Orchestra Gli Originali spitzfingerig, scharf und kantig, doch auch rhythmisch sehr wendig und situationsbezogen erschien. Es sangen die Solisten der Accademia di perfezionamento per cantanti lirici del Teatro alla Scala, denen Pietro Spagnoli den letzten Schliff gegeben hatte. Er selbst musste sich bei Premiere, wo er die zentrale Buffopartie des närrischen Don Meschino singen wolle, durch Giuseppe de Luca vertreten lassen. Der junge Bariton mit dem berühmten Namen nutzte seine Chance. In der Hosenrolle der Chiara zeigte Greta Doveri gleich in der vierteiligen Cavatina einen auffallend gut durchgebildeten dunkelschweren lyrischen Sopran, während Fan Zhou die Serafina als zuckersüßes Gegenstück gab und in ihrer Gran scena zu kleinstimmig bleibt. Die vom großen Tamburini kreierte Partie des Picaro bot Hyun-Seo Damien Park viele Möglichkeiten, seinen geschmeidigen strahlkräftigen Bariton perlen zu lassen, während Davide Park den Don Ramiro auch stimmlich ein wenig zu kabarettistisch anlegte und Matias Moncade den Don Alvaro und Don Fernando mit gutmütigem Bass gestaltete. Am besten gefiel Valentina Pluzhnikova als drollige Lisetta, die mit tieffarbigem und eigenwillig üppigem Mezzosopran großen Effekt machte, ebenso komödiensicher überdreht Mara Gaudenzi als skurrile Agnese.
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Donizetti Festival Bergamo 2022: „L´Aio nel´ imbarazzo“/ Szene/ Foto
Nicht ganz so unbekannt wie Chiara e Serafina ist die zwölf Monate später, am 4. Februar 1824 am Teatro Valle in Rom uraufgeführte Buffa L’aio nell’imbarazzo, die schönste und erfolgreichste der frühen Opern Donizettis, der bis dahin kaum einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Nach den Kleinkunst-Etüden, die für jeden etwas boten, katapultiert der künstlerische Leiter des Festivals Francesco Micheli zum Abschluss des Premieren-Trios Donizetti in eine nahe Zukunft, die ohne soziale Nähe auskommt, was nicht eben günstig für einen Theatermann sein dürfte. Der Zweiakter Der Erzieher in Verlegenheit, zu dem Jacopo Ferretti das Libretto nach dem gleichnamigen Lustspiel (1807) des Giovanni Giraud verfasste, erzählt sich von selbst. Der sittenstrenge Marchese Don Giulio hält seine Söhne Enrico und Pippetto in halsstarriger Abhängigkeit. Widerstand wagen sie nicht, gestehen auch nicht die heimliche Heirat Enricos mit Gilda bzw. Liebe des jüngeren Pippetto zur ältlichen Haushälterin Leonarda. Der Hauslehrer Don Gregorio, dessen Part Donizetti in seiner revidierten Fassung zwei Jahre später für Neapel als Don Gregorio ins lokale Idiom übertrug, wird zum Verbündeten der jungen Leute. L’aio ist eine allerliebste Buffa. Ernst und konventionell im Zuschnitt freilich, doch mit liebevoller Feinzeichnung der Figuren, durchzogen von romantischer Melancholie und sanftem Pathos sowie schnurrender Plapperlaune und süßen Schwärmereien der jungen Amorosi à la Rossini. Insgesamt zeichnen ihn viele Qualitäten sowie die theatralische Verve aus, die auf Donizettis große Komödien L’elisir d’amore und Don Pasquale hinweisen. In ihrer in Bergamo vorgestellten kritischen Edition klamüsert Maria Chiara Bertieri die Fassungen auseinander und zeigt den L’aio so, wie er in Rom uraufgeführt wurde, denn die bekannte Aufführung unter Bruno Campanella von 1984 in Turin (mit der Serra, Paolo Barbacini als Enrico und Enzo Dara als Gregorio), an die ich mich noch gut erinnere, hatte offenbar eine Mischfassung verwendet. Einiges zu Beginn des zweiten Aktes fällt weg, also das Duett des Pippetto mit Gregorio und das Duett der Leonarda mit Gilda, wodurch der jüngere Sohn (Lorenzo Martelli) und die Haushälterin (Caterina Dellaere) zu Stichwortgeber in den Ensembles degradiert sind. Dagegen erhält Marchese Giulio in der Cavatina „Basso, basso il cor mi dice“ eine zusätzliche Arie und wird auch sonst in jeder Hinsicht zur eigentlichen Hauptfigur aufgewertet. Der 70-jährige Alessandro Corbelli, der bereits in Turin den Marchese gegeben hatte, gefällt gleich in dieser Auftrittsarie mit fein nuancierter Buffokunst, präzise ziselierten Koloraturen, pointierter Deklamation und der Eleganz eines klanglich ebenmäßigen Baritons. Man bedenke, dass Donizetti die Partie für seinen Lieblingsbariton Tamburini konfektionierte. Im Lauf der Aufführung entwickelt Corbelli auch einen kräftigren Ton, so dass Jahrzehnte wie weggeweht scheinen. Mit dezenter und geschmackvoll zurückhaltender Komik nimmt er sich wie ein Bruder des Monsieur Hulot beim Besuch im futuristischen Haus seiner Verwandten aus. Dabei erwartet Francesco Micheli in seiner Inszenierung nicht viel Charakterisierungskunst. Während der Introduzione wird Giulio Antiquati als aufstrebender Politiker vorgestellt: Das Bild der perfekten Familie geht nach dem Seitensprung der Gattin in die Brüche. Don Giulio erhält das alleinige Sorgerecht für seine beiden Söhne, denen er seine unüberwindlichen Vorbehalte gegen alle Frauen aufdrängt. Die Oper spielt zwanzig Jahre später, also 2042: Don Giulio ist in höchste politische Sphären aufgestiegen. Nach wie vor hält er seine Söhne von Frauen fern. Das fällt nicht schwer, da sich die Figuren ohne soziale Begegnungen in ihren Kojen abkapseln und die Kommunikation über Chats stattfindet. Jede/r besetzt ein farbliches Feld, wodurch sich auf der oberen Bühnenhälfte die Kommunikation mit Emojis, bewegten Piktogrammen und Schriftzeichen mit- und nachverfolgen lässt, jeder ist sein Avatar: Probleme in der Familie Antiquati lassen sich gut unter den Tisch kehren. Don Gregorio, kurz Greg, fungiert als Influencer, moderner Heilsversprecher und Don Giulios Propagandachef. Wie futuristische Büro-Container werden die Räume verschoben, in denen die anämischen Figuren in ihren minimalistischen Outfits und farblich entsprechenden Brillen wie Gäste von der Raumpatrouille Orion wirken. Die musikkomödiantische Interaktion wirkt reduziert. Im zweiten Akt kappt Micheli den futuristischen Zierrat weitgehend. Auf der leeren Bühne bedürfen die verqueren Situationen der Klärung, denn Donizettis Musik macht ernst und entrückt seine Figuren im klärenden Quintett vor dem Finale in eine Sphäre wärmender Menschlichkeit.

Donizetti Festival Bergamo 2022: „L´Aio nel´ imbarazzo“/ Szene/ Foto
Begrenzt witzig und komisch. Vincenzo Milletari und das Orchestra Donizetti Opera (und die zwei Handvoll Sänger des Coro Donizetti Opera) versetzten das Publikum in Begeisterung. Bei seinem Heimspiel sang Alex Esposito den Lehr- und Hofmeister Greg mit kerniger bassbaritonaler Überpräsenz und guter Beweglichkeit in den Plappergesängen, wie in seiner Arie „Zitta, zitta non piangete“. Esposito fungierte auch als Schul- und Gesangsmeister für die aus 135 Bewerbern ausgewählten Absolventen der Bottega Donizetti, allesamt ziemlich gut: besonders der 26jährige Francesco Lucii als Enrico, dessen Tenor in der unermüdlichen Höhe nicht an Strahlkraft verliert, die gleichaltrige Marilena Ruta als brillante Gilda, die zur neuen politischen Leitfigur aufsteigt und im abschließenden Rondo das feministische Credo „Siamo nate a comandar“ verkündet, und der 28jährige Lorenzo Liberali mit strammem Bassbariton als Diener Simone. 2022 war ein gutes Jahr für Donizetti und das Festival. Im kommenden Jahr, wenn Bergamo im Zusammenspiel mit Brescia als italienische Kulturhauptstadt firmiert, darf man auf Il diluvio universale gespannt sein. Rolf Fath
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David und Halevy beim Wexford Festival Opera 2022. Das 71. Wexford Festival Opera wurde am 21. Oktober eröffnet, und zwar wie üblich mit faszinierenden Werken, die aus dem Repertoire verschwunden sind (oder nie dazu gehörten), die aber musikalisch wertvoll sind. Das diesjährige Festival stand unter dem Motto „Magie und Musik“, und die Werke sollen Magie beinhalten – und hervorrufen. Die wichtigsten Opern in diesem Jahr waren La tempesta von Fromental Halévy, Lalla-Roukh von Félicien David und Armida von Antonin Dvorák.

Halevys „La Tempesta“/ Henriette_Sonntag war die erste Miranda/Gemälde von Carl Christian Vogel von Vogelstein 1830 /Blechen Gesellschaft /Wikipedia
La tempesta, mit der das Festival eröffnet wurde, hat eine interessante, wenn auch kurze Geschichte. In den 1840er Jahren befand sich das Her Majesty’s Theater, das lange Zeit der Schauplatz der italienischen Oper in London war, im Niedergang: Viele der Hauptsänger hatten das Haus verlassen, um ein neues Ensemble zu gründen, aus dem Covent Garden hervorging, und die Zuschauerzahlen am Her Majesty’s Theater gingen zurück. Der Impresario Benjamin Lumley wollte eine neue Oper produzieren, die Aufsehen erregen und das Publikum zurückbringen sollte: Er brauchte einen „Hit“. Er wollte ein Thema aufgreifen, das den Engländern sehr am Herzen lag, indem er das neue Werk auf ein Stück von Englands größtem Dramatiker, William Shakespeare, stützte. Es sollte in italienischer Sprache sein, der Sprache der meisten Opern, die seit Händel in London aufgeführt wurden. Lumley wollte auch einen bedeutenden Librettisten und Komponisten, und er plante, einige der größten Starsänger der damaligen Zeit zu engagieren. Der von ihm bevorzugte Librettist war Felice Romani (Autor von Norma, La sonnambula, Anna Bolena und vielen anderen Werken in den 1820er und 30er Jahren), und der gewünschte Komponist war Felix Mendelssohn. Mendelssohn bevorzugte jedoch Eugène Scribe, den größten französischen Librettisten seiner Zeit, und so beauftragte Lumley Scribe mit der Abfassung des Librettos, das von Pietro Giannone aus dem Französischen ins Italienische übersetzt wurde. Mendelssohn war unbeeindruckt – und verärgert darüber, dass Lumley ihn als Komponisten bekannt gemacht hatte, bevor jemand einen Vertrag unterschrieben hatte, und er starb ohnehin unerwartet im November 1847, bevor die Arbeit beginnen konnte. Lumley wandte sich daraufhin an Halévy, der bereits für La Juive (1835) und viele andere große Opern und Opéra-comiques berühmt war, von denen einige in London zu hören gewesen waren, und Halèvy erklärte sich bereit, Scribes Libretto zu vertonen. Als Starsänger hatte Lumley Jenny Lind für die Rolle der Miranda ins Auge gefasst, die damals auf dem Höhepunkt ihrer Popularität in England stand, und Luigi Lablache für die Rolle des Calibano. Schließlich ließ Linds Popularität nach, und sie zog sich 1849 im Alter von 29 Jahren von der Opernbühne zurück. Lumley wandte sich an Henriette Sontag, die sich 1829 aus der Oper zurückgezogen hatte, als sie den Grafen Rossi heiratete, und Sontag willigte ein, wieder zu singen, weil sie und ihr Mann das Geld brauchten. Filippo Coletti war der Prospero und Michael Balfe dirigierte.

Halevys „La Tempesta“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda
Ursprünglich sollte die Rolle der Ariele, Prosperos Zauberin, eine Sängerin sein, und Halévy komponierte die Vokalmusik für sie, doch als die verzögerte Inszenierung 1850 auf die Bühne kam, war Ariele zu einer stummen Rolle geworden, die der Tänzerin Carlotta Grisi, der wohl berühmtesten Ballerina der damaligen Zeit, übertragen wurde. Ein Teil von Halévys Gesangsmusik ging an einen „Air Sprite“, während für Grisi eine neue Tanzmusik komponiert wurde. Die Aufführung, die schließlich am 6. Juni 1850 im Her Majesty’s Theatre stattfand, war ein großer Erfolg und lief etwa dreizehn Vorstellungen lang, bevor Grisis Abgang die Show zur Schließung zwang. Dies reichte jedoch nicht aus, um das Her Majesty’s Theatre zu retten, das ein paar Jahre später geschlossen wurde. Als nächstes übernahm Lumley die Leitung des Thèâtre Italien in Paris und führte dort bald La tempesta ein. Bei der dortigen Erstaufführung stürzte eine neue Tänzerin, Carolina Rosati, die die Rolle der Ariele spielte, durch eine offene Falltür in der Bühne, und obwohl sie die Aufführung beendete, überschatteten der erschreckende Unfall und die dadurch verursachte Verzögerung alle anderen Aspekte der Aufführung, und die Oper fiel durch. Danach wurde La tempesta bis heute nicht mehr aufgeführt und nicht mehr gehört.
Die Story in Scribes Libretto folgt zunächst getreu Shakespeare, weicht dann aber im letzten Teil des Werks davon ab. Prospero, der Herzog von Mailand, wurde von seinem Bruder Antonio mit dem Einverständnis von Alonso, dem König von Neapel, gestürzt, der Prospero mit seiner kleinen Tochter Miranda in einem Boot ausgesetzt hat. Sie haben sich auf einer Insel in Sicherheit gebracht, die von Calibano und seiner Mutter, der Hexe Sicorace, bewohnt wird. Prospero hat mit seiner Magie Sicorace in einem Felsen eingesperrt und den guten Geist Ariele von seiner Macht befreit, während Calibano sein Sklave geworden ist. Die Oper beginnt mit einem Prolog, der den titelgebenden Sturm“ schildert, der von Prospero und Ariele angezettelt wurde, um das Schiff mit Alonso und Antonio sowie Alonsos Sohn Fernando zu zerstören. Diese Männer werden zusammen mit den Matrosen auf Prosperos Insel an Land geworfen. Im ersten Akt erfährt Miranda von ihrem Vater, wie es auf der Insel aussieht, und sie sieht zum ersten Mal Fernando und verliebt sich in ihn. Im zweiten Akt befiehlt die unsichtbare Stimme von Sicorace Calibano, einige magische Blumen zu sammeln, die ihm drei Wünsche erfüllen sollen. Sie möchte, dass ihr Sohn einen Wunsch benutzt, um sie aus dem Felsen zu befreien, aber er weigert sich. Stattdessen wird der erste Wunsch verwendet, um Ariele einzuschläfern und in einen Baum zu sperren; der zweite wird verwendet, um Miranda in einen Schlaf zu versetzen, weil Calibano sie begehrt und eine Vergewaltigung plant. Als er ihren schlafenden Körper trägt, trifft er auf die Matrosen des Schiffes, die ihn mit Rum betrunken machen; er schläft ein. Im dritten und letzten Akt stiehlt Miranda die Blumen und benutzt den letzten Wunsch, um die Matrosen schlafen zu lassen; sie entkommt. Prospero befreit Ariele vom Baum (in dieser Inszenierung durch einen riesigen Steinkopf ersetzt) und schickt sie auf die Suche nach Miranda. Miranda begegnet der körperlosen Stimme des in einem Felsen gefangenen Sicorace, die ihr sagt, sie solle Fernando töten, den sie als Feind bezeichnet. Miranda bereitet sich darauf vor, den schlafenden Fernando zu töten, aber er erwacht rechtzeitig und seine glühende Liebe überzeugt sie, dass er kein Feind ist. Prospero, Ariele und die reumütigen Antonio und Alonso treffen ein, und alle versöhnen sich für das Happy End. Sie segeln nach Italien und lassen Calibano und Sicorace auf der Zauberinsel zurück.

Halevys „La Tempesta“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda
Musikalisch ist Halévys Musik handwerklich einwandfrei und hebt sich gelegentlich von den allgemeinen Klischees ihrer Zeit (oder eigentlich der Zeit von Rossini, Donizetti und Bellini) ab, um in Ensembles und einprägsamen Melodien einen dramatischen Ausdruck zu finden, obwohl die Arien eher aus dem allgemeinen Stoff der Zeit geschnitten sind. Mirandas Auftritt („Parmi una voce il murmure“) spricht von der natürlichen Welt, die Miranda verzaubert, und lässt Insekten singen; die Cabaletta ist stark ausgeschmückt. Prosperos Romanza „Sorge un fiore“ fiel in unserer Aufführung weg, ebenso Fernandos Cavatina „Cara, soave aerea voce“, eine schwierige Arie, die hohe Töne und viel Fioratura des Tenors erfordert. Andererseits war der gesamte Prolog, der den Sturm auf dem Meer schildert und größtenteils aus Chorgesang bestand, gefolgt von dem unvermeidlichen Gebet, eine angemessene Beschreibung des Sturms und des Untergangs des Schiffes mit Alonso, Antonio und Fernando. Ein schönes Duett für Fernando und Miranda, das durch die Hinzufügung von Prospero zu einem Trio wird, beendet den 1 Akt.
Der 2. Akt, in dessen Mittelpunkt Calibans Auffinden der Zauberblumen und seine versuchte Vergewaltigung Mirandas durch das betrunkene Finale stehen, enthält die beste Musik der Oper und ist besonders gut, beginnend mit dem ausgelassenen Trinklied „Ci oppresse abbastanza de‘ mali il pensier“ bis zu der Szene, in der Calibano dem Rum verfällt. Im letzten Akt gibt es ein anmutiges Trio, und Miranda bekommt ein stark verziertes Rondo-Finale („Vinto, la nature e amor“), gerade so, als wäre dies eine Oper von Rossini oder dem frühen Donizetti.

Halevys „La Tempesta“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda
Leider gelang es der Wexford-Produktion (eine Koproduktion mit dem Teatro Coccia in Novara) nicht, das Festivalthema „Magie und Musik“ zu beleben. Die Inszenierung von Roberto Catalano (Regie), Emanuele Sinisi (Bühnenbild), Ilaria Ariemme (Kostüme) und D. M. Wood (Beleuchtung) hatte keine Magie und stand oft im Widerspruch zu dem Gefühl von Magie, das die Partitur haben könnte. Ein kostümierter Stelzenläufer, der die Besucher im Theater begrüßt, und eine als Zauberin verkleidete Dame, die sich im Foyer unter die Besucher mischt, kamen der Magie des Abends noch am nächsten. Das Problem lag sowohl im Gesang als auch in der Inszenierung. Die Sopranistin Hila Baggio (Miranda) und der Tenor Giulio Pelligra (Fernando) waren den Koloraturanforderungen ihrer Rollen einfach nicht gewachsen; insbesondere Pelligra gehört zur „can belto“-Gesangsschule, die vielleicht für den Verismo funktioniert, aber für diese Art von Oper völlig ungeeignet ist. Die junge Jade Phoenix hinterließ als Ariele einen positiven Eindruck, obwohl ihre Perücke und ihr Kostüm eher an eine alternde Witwe als an einen Luftgeist erinnerten, und der georgische Bass Nikolay Zemlianskikh sorgte in seinen beiden Arien für Totenstille. Das Beste an der ganzen Besetzung war der georgische Bass Giorgi Monoshvili als Calibano. Die Inszenierung kam sowohl stimmlich als auch theatralisch nur in den Szenen zur Geltung, in denen er der Hauptdarsteller war. (Die Kritiker des neunzehnten Jahrhunderts hielten Luigi Lalblaches Calibano-Darstellung ebenfalls für das beste Merkmal der ersten Aufführungen). Rory Musgrave, Richard Shaffrey, Gianluca Moro und Dan D’Souza waren gut als Alonso, Antonio, Stefano und Trinculo, und Emma Jüngling sang die unsichtbare Sicorace, wobei ihre Stimme aus zwei verbeulten Lautsprechern kam, die auf einem Metallrohr von oben herabgelassen wurden. Sicorace schien in der Beschallungsanlage eines Highschool-Fußballspiels gefangen zu sein, denn es war kein Rock in Sicht. Francesco Cilluffo, der hervorragende Arbeit mit Verismo-Opern geleistet hat, dirigierte, als ob es sich um ein weiteres veristisches Werk handelte; am Eröffnungsabend war das Festivalorchester laut, ohne viel Subtilität oder Schattierungen, aber es verbesserte sich bei der zweiten Aufführung (24. Oktober).

Der Komponist David in einer eigenen ewigen Wüste – Karikatur aus „Le Monde qui rire“/OBA
Davids Lalla-Roukh. Während La tempesta nicht überzeugen konnte, brachte Davids Lalla-Roukh dem 71. Festival von Wexford die Ehre zurück. Es ist schwer zu verstehen, warum dieses Werk, das so voller kontinuierlicher und einprägsamer Melodien ist, nicht zum Standardrepertoire gehört, und doch war Wexfords Produktion erst die zweite Wiederaufnahme in der Neuzeit und die erste in Europa. Die erste Wiederaufnahme erfolgte durch die amerikanische Opera Lafayette, die Lalla-Roukh 2013 in Washington und New York aufführte; bei einer späteren CD-Aufnahme dieser Aufführung wurden alle gesprochenen Dialoge gestrichen, die von der frankophonen Besetzung in New York gekonnt vorgetragen worden waren.
Lalla Roukh balanciert die Liebesgeschichte mit einer Reihe von komischen Figuren aus: dem Botschafter, der die Prinzessin nach Samarkand bringen soll, Baskir (ein Bass) und der Hofdame der Prinzessin, Mirza. Die Musik ist üppig und melodiös und geschickt instrumentiert. Die „orientalische“ Atmosphäre wird durch den Einsatz bestimmter Instrumente und Harmonien erreicht, wobei keine authentischen indischen oder persischen Melodien verwendet werden. Es ist schwer zu verstehen, warum eine Oper, die einst so beliebt war, nach 1900 so schnell und vollständig von der Bildfläche verschwand, obwohl sie in den letzten 40 Jahren des 19.
Lalla Roukh war auch sehr einflussreich, da sie praktisch die erste der „orientalischen“ Opern war. Man kann Bruchstücke davon in Berlioz‘ Les Troyens (Berlioz war voll des Lobes über das Werk), in Les pêcheurs des perles und Carmen sowie in Lakmé hören. Wenn Davids Werk überhaupt überlebt hat, dann nur durch die Werke anderer, bekannterer Komponisten.

Davids „Lallah Rouk“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda
Wexfords Inszenierung, wie auch die der Opera Lafayette vor einem Jahrzehnt, trug der lautstark geäußerten Kritik Rechnung, dass „orientalische“ Opern Artefakte des Kolonialismus seien (???) und verbannt werden sollten (sogar Madama Butterfly!). Die Musik bietet jedem Hauptdarsteller eine Arie in jedem Akt. Die beiden Arien der Lalla Roukh sind erstaunlich abwechslungsreich und schön: „Sous le feuillage sombre“ und „O nuit d’amour“. Noureddin, der Minnesänger-König, singt im ersten Akt eine Romanze in typischer Couplet-Form („Ma maitresse a quitté la tente“), um die Prinzessin zu unterhalten, und im zweiten Akt singt er außerhalb der Bühne eine Barcarolle („O, ma maitresse“), ein äußerst charmantes Stück, das sicherlich von Ernestos Serenade in Donizettis Don Pasquale inspiriert wurde. In beiden Akten gibt es Duette, und eines davon, ein komisches Duett zwischen Baskir und Noureddin, in dem ersterer darüber lacht, wie er den König überlisten wird, ohne zu wissen, dass er dem König in Verkleidung gesteht, könnte uns an das Schmugglerquintett in Carmen (1875) erinnern, würde aber die frühen Zuhörer von Carmen an Lalla-Roukh erinnern. Das Liebesduett im zweiten Akt endet mit einem Abschnitt, der Ralph Locke, einen Musikwissenschaftler, der über David geschrieben hat, an Edgardos „Tu Che a Dio spiegasti l’ali“ in Lucia di Lammermoor erinnert. In Davids Händen sind all diese Nummern von einzigartiger Schönheit und suggestiver Wirkung.

Davids „Lallah Rouk“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda
Gabrielle Philiponet, ein hervorragender französischer lyrischer Sopran mit einem kraftvollen unteren Register, führte die Besetzung an. Sie war eine wunderschöne und ausdrucksstarke Lalla Roukh, die das Märchen im Märchen überzeugend spielte. Pablo Bemsch, Mitglied des Young Artist Program am Covent Garden, war ihr Nourreddin, der Barde, der in Wirklichkeit ein König war. Seine Stimme war sanft im französischen Stil und hätte für die zarten Melodien, die er singt, ein wenig süßer sein können, aber auch er war überzeugend. Ben McAteer sang und spielte die komische Rolle des Baskir mit viel Humor und einer Stimme, die der Aufgabe leicht gewachsen war. Die vierte bemerkenswerte Rolle ist Mirza, der Diener von Lalla Roukh, dessen Duett mit Lalla an das Blumenduett aus Lakmé erinnert, das zwanzig Jahre später erscheinen wird. Die Mezzosopranistin Niamh O’Sullivan spielte die Rolle mit Bravour. Der bekannte Schauspieler Lorcan Cranitch gab den Erzähler mit gutem Humor und anrührender Empathie. Emyr Wyn Jones und Thomas D. Hopkinson spielten die Nebenrollen von Bakbara und Kaboul gekonnt. Stephen White dirigierte mit absoluter Überzeugung und einem Gespür für die hinreißenden Melodien. Der Wexford Festival Opera Chorus wurde in seinen wilden, zirkusähnlichen Kostümen zu Individuen. Charles Jernigan/ Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator
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Das Festival de Radio France, das doch jedes Jahr für die Wiederentdeckung eines seltenen oder vergessenen Werkes bekannt ist, Hatte diesen Sommer den Hamlet von Ambroise Thomas auf dem Programm. Da war man doch vorher recht skeptisch. Denn die Oper von 1868, die zu ihrer Zeit ein großer Erfolg war, ist einem heutigen dem Publikum keineswegs unbekannt. In letzter Zeit gab es in der ganzen Welt Aufführungen, und an CD-Aufnahmen mangelt es nicht. Die alte EMI-Einspielung mit Thomas Hampson und van Dam ist trotz June Anderson immer noch ein Meilenstein, zudem ungekürzt mit Ballett und Alternativszenen.

Thomas: „Hamlet“/ John Osborne, Jodie Dévos und Philippe Talbot/ Marc Ginot
Die angesagte Originalität des Projekts des Radio France Festivals bestand jedoch darin, die Originalversion der Oper, bevor sie 1868 dem Publikum der Pariser Oper vorgestellt wurde, zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorzustellen. Tatsächlich wurde die Rolle des Hamlet, in der viele Baritone glänzen können, ursprünglich für eine Tenorstimme gedacht und geschrieben. Es waren die Umstände der Uraufführung des Werkes, die über die Änderung der Stimmlage der Hauptrolle entschieden: Für den Direktor der Opéra schien kein ausreichend renommierter Tenor für die Rolle geeignet zu sein, und schließlich wurde der berühmte Bariton Jean-Baptiste Faure ausgewählt. So erklärte sich Thomas bereit, seine Partitur zu überarbeiten, damit sie der Stimme des Sängers, der unter anderem Verdis Posa/Don Rodrigue und Nelusko der Uraufführungen sang, entsprechen konnte.
Aber würde diese Rückbesinnung etwas ändern? Eine neue Ausgabe dieser großartigen Oper kommt zur rechten Zeit, denn alle vorhandenen Partituren stammen aus den 1860er Jahren. Die gedruckten Quellen, eine Gesamtpartitur und eine Gesangspartitur, stimmen weder miteinander noch mit der autographen Partitur überein, und in beiden fehlen bestimmte Szenen, einschließlich des alternativen Endes, das sich Thomas ausgedacht hat, um Hamlet beim letzten Vorhang sterben zu lassen. Die zahlreichen Skizzen und Entwürfe von Thomas sowie die autographe Partitur, die auf die Bibliothèque nationale de France und die Bibliothèque-Musée de l’Opéra, beide in Paris, aufgeteilt sind, liefern weiteres, bisher nicht verfügbares Material. Tatsächlich ist die Rolle, wie sie ursprünglich von Thomas geschrieben wurde, ziemlich furchteinflößend: Der Stimmumfang ist sehr zentral und erfordert einen Interpreten mit einer starken Mittellage und tiefen Tönen. Punktuell ist zu erkennen, dass die Gesangslinien der Tenorpartitur transponiert wurden, um sie an eine Baritonstimme anzupassen, aber einige Passagen sind fast völlig unverändert, und beim ersten Hören scheint es keine Tonartänderung zu geben. Die vielen angespannten Momente in der Höhe, die geschickt geschrieben sind, um dem dramatischen Ausdruck dieser oder jener Szene zu dienen, lassen die Rolle jedoch in eine andere Vokalität oder sogar einen anderen Stil übergehen, der vielleicht belkantistischer wirkt, aber vielleicht eine noch größere dramatische Wirkung birgt. Die Rolle des Hamlet erhält nun eine brillantere Farbe und erscheint kontrastreicher, weit entfernt von der dunklen und etwas monchromen Depressivität, in der die Baritonversion erscheint.

Thomas: „Hamlet“/ Clémentine Margaine/ Marc Ginot
Es war also eine große Überraschung und Freude, eine Musik wiederzuentdecken, die man zu kennen glaubte, nicht nur dank der neuenj Edition des Bärenreiter-Verlages, sondern auch dank Michael Schønwandts feuriger Leitung des Orchestre national Montpellier Occitanie. An manchen Stellen hätte man sich mehr Tiefe und pulsierende Nervosität gewünscht, insbesondere bei den Streichern, aber die Leitung des Dirigenten war bewundernswert.
Und was soll man zu einer nahezu idealen Besetzung sagen, die dem Werk vollkommen gerecht wird und das Publikum zu Begeisterungsstürmen verführt? John Osborn ist Hamlet. Der amerikanische Tenor hat eine große stimmliche Reichweite- aber einiger seine hohen Noten werden hier sehr gefordert. Als großer Künstler nutzt er diese kleinen stimmlichen Schwierigkeiten, um einen Hamlet zu verkörpern, der am Rande der Zerreißprobe steht. Der Sänger bietet ein Französisch von beispielhafter Klarheit und dient Thomas‘ Rolle mit absoluter Musikalität, verleiht der Figur sowohl Zärtlichkeit als auch Feuer.
Jodie Devos als Ophelia beweist sie erneut, dass sie eine der brillantesten Sängerinnen der heutigen Opernszene ist. Die Stimme bleibt über den gesamten Tonumfang üppig, bis hin zu den aufregenden hohen Noten. Die Sängerin ist auch eine exzellente stimmliche Darstellerin von seltener technischer Virtuosität und Musikalität, die den Text mit Genauigkeit und Emotion herüberbringt, um am Ende ihrer Wahnsinnsszene Ophelias geistige und körperliche Verirrung zu verdeutlichen.
Clémentine Margaine war eine Gertrude von einsamer Klasse. Mit ihrem dunklen Timbre beeindruckt diese Königin ebenso wie sie bewegt. Einige Höhen klingen etwas angestrengt, aber das dramatische Engagement der Darstellerin hält alles wunderbar zusammen. Das Duett zwischen der Königin und Hamlet, das den dritten Akt beschließt und vielleicht der dramatische Höhepunkt der Oper ist, wird von Leidenschaft und Verzweiflung erfüllt. Julien Véronèses König zeigt das Alter der gesungenen Person. Die Rolle des Laërte ist recht kurz, aber Philippe Talbot macht viel daraus. Tomislav Lavoie und Rodolphe Briand verkörpern mit Gewinn Hamlets Freunde Horatio und Marcellus sowie die beiden Totengräber am Anfang des letzten Aktes. Dazu kamen Jérôme Varnier als gebührend dräuender Geist sowie Geoffroy Buffière als Polonius Der Chor des Théâtre national du Capitole füllte die Reihen des Chors der Opéra national Montpellier Occitanie auf. Das Konzert kommt wahrscheinlich beim Palazzetto Bru Zane in der Reihe Opéra francais heraus (17. 08. 22). Anja Hanke
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PS: Zur Tenorfassung gibt es einen Appendix der Edition von Hugh McDonald bei Bärenreiter: Appendix IV – The Role of Hamlet for Tenor: Soon after the first production of Hamlet, in the early 1870s, Heugel issued a vocal score of the opera with the title role arranged for tenor (355 pages, plate number H. 5185). This was presumably done with Thomas’s approval and probably arranged by the composer himself. Despite the worldwide popularity of the opera at the end of the nineteenth century, no productions or recordings are known to have cast the central role as a tenor.
The role was originally intended for a tenor voice, and Thomas’s earliest drafts show the part notated on the tenor clef. When it became known that Jean-Baptiste Faure would sing the role, the existing music was adapted for bass-baritone and the remainder written on the bass clef. In the autograph full score the original tenor version has survived in the following passages: / No. 12, bars 1-77, 101-159, 225-236 / No. 16, bars 36-71, 196-236 / No. 21, bars 91-114
The published tenor version coincides in many places with the original vocal line. Where it differs, the original version is shown above the stave as an ossia. For certain sections of the opera Thomas decided to transpose the orchestral part as well as the vocal part in order to preserve the melodic line: 1( Nos. 9 and 10: the music is transposed up a whole tone from bar 56 of no. 9 to the end of no. 10. Cors I-II change to C, Cors III-IV change to F, Cornets à pistons change to C. The Chanson bachique is in C, not B flat. 2) No. 13: at the Adagio (‘Être ou ne pas être’) the tenor version is the same as the baritone version, with a few optional higher alternatives allowed. A footnote says: ‘If the monologue is too low for the tenor, the music may be transposed up a tone and a half at this point so that the Adagio is in E minor, in which case he will sing the lower notes when there are two.’ A supplement at the end of the tenor vocal score shows the complete monologue in the key of E minor. In the event of transposition the cor anglais part will be played on the oboe, and the horns can keep horns in E, transposing up a minor third. A low tenor voice would be better not making such a transposition, the note adds. 3) No. 22: in the tenor version the solo voice and the orchestral part are both transposed up a whole tone from bar 5 to bar 55. Bärenreiter/ Hugh McDonald
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Verliebte Schmetterling: Die Kurtisane und die Geisha – Bregenzer Festspiele 2022: Puccinis Madama Butterfly und Giordanos Siberia Eigentlich war für Dezember 1903 an der Mailänder Scala die Uraufführung der Madama Butterfly geplant, deren Orchestrierung aber erst am 27.Dezember vollendet war. Stattdessen versammelten sich am 19. Dezember die für Madama Butterfly vorgesehenen Sänger und der Dirigent zur Uraufführung von Siberia des von Ricordis Konkurrenten Sonzogno als Kronprinz ins Spiel gebrachten Umberto Giordano. Fast exakt zwei Monate später fanden sich Rosina Storchio, Giovanni Zenatello und Giuseppe de Luca unter Leitung Cleofonte Campaninis am 17. Februar 1904 bei der Uraufführung der Madama Butterfly neuerlich auf der Bühne der Scala zusammen. Siberia erlebte einen flauen Erfolg, Madama Butterfly jedoch „erntete einen Mißerfolg, wie er in dieser Größenordnung in der Operngeschichte selten ist, vergleichbar höchsten dem Skandal bei der Pariser Uraufführung des Tannhäuser“, so Mosco Carner. Die beiden zufällig verbundenen Opern kamen nun im Zuge einer klugen Spielplandramaturgie der 2024 an die Lindenoper wechselnden Intendantin Elisabeth Sobotka bei den Bregenzer Festspielen heraus, Madama Butterfly auf der Seebühne, Siberia im Festspielhaus.
Bald wendete sich das Schicksal der beiden Opern. Nach dem Fiasko der Uraufführung, deren zweite Aufführung bereits durch Faust ersetzt wurde, erstellte Puccini innerhalb weniger Woche eine neue Fassung, am auffallendsten die neue Dreiteilung des ursprünglichen Zweiakters, und stellte die Tragedia giapponese Ende Mai 1904 in Brescia unter Toscanini neuerlich zur Diskussion. Die Erfolgsgeschichte setzte mit Aufführungen in Buenos Aires, London, Paris und an der Met sofort ein. Siberia wurde von Campanini zwar nach Paris und an die Met gebracht, erlebte zahlreiche Produktionen in Italien, doch nach dem Ersten Weltkrieg brach der kurzzeitige Erfolg zuerst außerhalb Italiens und nach den Zweiten Weltkrieg auch dort nahezu komplett ab; zuletzt wurde der Dreiakter 1999 in Wexford, nach 2003 in Moskau und 2021r in Florenz aufgeführt, wo sich Sonya Yoncheva der Stephana bemächtigt hatte (wovon es bei Dynamic eine DVD bzew. CD gibt) . Die von Fürst Alexis ausgehaltene Hetäre Stephana ist quasi die ältere Schwester der Katjuscha, die von Franco Alfano ein Jahr später in seiner Resurrezione nach Tolstois Auferstehung, die in Teilen wie eine Überschreibung von Luigi Illicas Originallibretto für Giordano wirkt, nach Sibirien geschickt wird. Auch Stephana stirbt in Sibirien. Der Abstieg der Kurtisane setzt ein, als sich Stephana in den mittellosen Offizier Vassili verliebt und sich vor dem Fürsten zu ihrem Geliebten bekennt, worauf Alexis selbstverständlich den Degen zieht und von Vassili im Zweikampf getötet wird. Stephana gibt ihr komfortables Leben im St. Petersburger Palais auf, verschenkt ihren Besitz an die Armen und folgt dem nach Sibirien verbannten Vassili ins Straflager, wo sie beim gemeinsamen Fluchtversuch angeschossen wird und sterbend die sibirische Erde preist, „Sibirien, heiliges Land der Tränen und der Liebe“. Ihr Zuhälter Gleby nennt sie einen „verliebten Schmetterling“. Die, ähnlich der Fedora, mit vielen Episoden angereicherte und duchkomponierte Handlung konzentriert sich auf die weibliche Hauptfigur und deren Läuterung.
Ein russisches Team war angetreten, um für Authentizität zu sorgen. Aber was heißt das schon in einer italienischen Oper, bei der Zarenhymne im ersten und das Lied der Wolfgaschlepper im zweiten und dritten Akt, dazu ein Balalaika-Ensemble und das „Cristo è risorto“ des orthodoxen Ostergesangs (mit dem ausgezeichneten Philharmonischen Chor Prag) als stimmungsstarke koloristische Tupfer zwischen die Kleinteiligkeit der Chöre und die kurzen, leidensstarken Szenen der Stephana und ihres Lovers Vassili gesetzt sind. Doch Regisseur Vasily Barkhatov nimmt uns mit auf die Reise einer alten Frau, die in den 1990er Jahren von Rom nach St. Petersburg und schließlich mit der Transsibirischen in die Region jenseits des Baikalsees fährt, an die historischen Orte – damals und in der späten Sowjetzeit. Clarry Bartha, die einstige Opernsängerin, kommt in einem Palast an, in dem die Tapeten von den Wänden blättern und die Bewohner lieber Jogginghosen als Uniformen tragen. Faszinierend, wie Christian Schmidt aus diesen ranzigen Räumen in die Pracht des alten Palais um 1900 blendet und die Gestalten aus der Gegenwart in die Vergangenheit wandern. Giordanos oft gehetzte, kurzatmige, auf ständige Abwechslung und Stimmungsschwankungen bedachte Dramaturgie findet in den Filmsequenzen, die Barkhatov wie eine Folie liebevoll über die Oper legt, ihre Entsprechung. Das ist in den Perspektivwechseln handwerklich souverän gelöst, spannend, sehenswert, so auch im Frühjahr an der koproduzierenden Oper Bonn. Valentin Uryupin dirigierte die Wiener Symphoniker knallig-schwelgerisch, aber auch ein bisschen undifferenziert. Ambur Braid hat zwar alle Töne für die Stephana, ist in diesem Repertoire aber nicht wirklich gut aufgehoben. Mit seinem kleinen, leichten Tenor verschenkt der fehlbesetzte Alexander Mikhailov die beiden kurzen Arien des Vassili, für den es eines echten tenoralen Draufgängers bedarf. Zu unprofiliert auch Omer Kobiljak in der Episodenrolle des Fürsten Alexis. Mit knorrig, interessant gefurchtem Bariton legt Scott Hendricks in die beiden Erzählungen des Gleby dessen gesamte Lebenserfahrung. Frederika Brillembourg singt Stephanas Dienerin Nikona, Bartha übernimmt auch die Partie der Fanciulla, dazu in zumeist zwei Partien Manuel Günther, Michael Mrosek, Unsteinn Arnason, Stanislav Vorybyov sowie Rudolf Mednansky (21. Juli 22).
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Rossini in Wildbad 2022: Man hätte nicht gedacht, dass man sich mal so auf die Trinkhalle am Rande des Kurparks in Bad Wildbad freuen könnte. Nach drei Jahren kehrt Rossini in Wildbad wieder an seine gewohnten Spielorte zurück. Neben dem schmalen langen Saal der Trinkhalle ist das noch das putzige Königliche Kurtheater, in dem Rossinis kleine Lissaboner Farsa Adina zur Aufführung gelangt.
Nachdem das Festival 2020 ausgefallen und im Vorjahr unter Corona-Auflagen in einer scheuerartigen offenen Sporthalle neben einem Fußballplatz am Rande des Ortes Zuflucht gesucht hatte, nun also wieder großes Rossini-Fest in der Trinkhalle, wo das in diesem Jahr mit neun Opernaufführungen an zehn Tagen (15. bis 24. Juli) dichter gewobene Festspielprogramm mit zwei großen ernsten Opern aus Rossinis neapolitanischen Jahren eröffnet wurde, der Kreuzfahrer- und Zauberoper Armida von 1817 (15. Juli) und der Azione tragica Ermione von 1819 (16. Juli).

Rossinis „Armida“ in Wildbad/ Szene/ Foto Foto Pfeiffer
Letztere eine Bad Wildbader Erstaufführung. Das ist eine Ansage. Alle hatten sich offenbar auf diesen Start gefreut. Eine Ansage gleich auch die schleudernde Geschmeidigkeit, mit der Moisés Marin als Goffredo seine Kreuzritter auf dem Schlachtfeld versammelt und den Ton für das mit martialischen Einwürfen gespickte Liebesdrama zwischen der Zauberin Armida und dem Ritter Rinaldo vorgibt, das José Miguel Pérez-Sierra, der die Oper bereits im Vorjahr in Marseille dirigiert hatte, mit dem Philharmonischen Chor und Orchester Krakau kenntnisreich und mit Leidenschaft und Poesie entwickelte. Liebevoll nahm sich Pérez-Sierra auch der langen Ballettmusik am Ende des zweiten Aktes an, eigentlich ein veritables Flötenkonzert. Die bereits von Mozart, der ein halbes Jahrhundert zuvor Jommellis Oper in Neapel gehört hatte, als „zu altvätterisch fürs teatro“ bezeichnete Episode aus Tassos Epos Das befreite Jerusalem ist hinlänglich bekannt und war zur Rossinis Zeiten ein alter Hut. Die Aktionen um Armida auf der Liebesinsel mit herbeigezauberten prächtigen Palästen, Nymphen und Amoretten und schließlich dem Drachenwagen, in dem die Enttäuschte in die Lüfte entschwebt, boten aber genug Theater- und Sinnenreize, um die Kulissen- und Verwandlungsmöglichkeiten des durch Brand zerstörten und gerade wiedereröffneten Teatro San Carlo auszureizen. Zudem war die nach Elisabetta d’ Inghilterra und Desdemona dritte Partie, die Rossini der Diva maßschneiderte, ein wunderbares Gebinde für seine spätere Gattin Isabella Colbran. Keine andere Frau stand neben ihr auf der Bühne. Die Behauptung, die Oper sei aufgrund der erforderlichen sechs oder sieben Tenöre, die der Diva in den drei Akten assistieren, kaum zu besetzten, lässt sich schwer aufrechterhalten. Bereits bei der Uraufführung teilten sich drei Tenöre sechs Rollen – Armidas Geisterführer Astarotte kann sowohl von einem Bass wie einem Tenor gesungen werden – da die diversen Ritter nur im ersten oder dritten Akt auftauchen. Rossini in Wildbad setzte, wie die wenigen Bühnen, welche die Oper heute spielen, seinen Ehrgeiz selbstverständlich dran, alle Tenorpartien einzeln zu besetzten und kann aus einem nie versiegenden Reservoir junger Stimmen schöpfen, darunter auch der vielversprechende Neuling Manuel Amati als Eustazio. Die einzige durchgehende Tenorrolle ist Rinaldo, für den sich Michele Angelini geradezu aufopferte. Angelini kann ein „Cara“ liebevoll verzieren, singt mit Inbrunst, Hingabe, Feuer, entfesselt nach dem Terzett dreier Tenöre „In quale aspetto imbelle“ mit Chuan Wang als Carlo und César Arrieta als Ubaldo, die das Duett z Beginn des dritten Aktes mit Biss versehen hatten, auch im Publikum südländische Leidenschaft und reibt sich in der letzten Auseinandersetzung mit Armida geradezu auf. Ruth Iniesta hat vieles, was die Partie ausmacht, die fast rauchige und anmacherische Tiefe und resolute Mittellage, die Armida als manipulatives Luder zeigen, das die Kreuzfahrer für seine Mittel einspannt, vor allem aber einen schön durchgebildeten interessanten Sopran für die Liebesszenen und das imperiale „D’ amor al dolce impero“ der Liebesgöttin, aber auch genügend Pfeffer für Hass und Enttäuschung der Zauberin, die am Ende Macht und Verführungskunst eingebüßt hat, worauf Iniesta ihren fast entgleisenden Sopran mit der Wucht eines Fallbeils setzt. Angelini und Iniesta machen aus Rossinis Tongirlanden großes Theater, das in Momenten geradezu spontan und improvisiert und wie aus dem Stegreif erfunden wirkt. Die einzige geschlossene Arie gehört dem Ritter Garnando, der in Eifersucht auf Rinaldo vergeht; Patrick Kabongo singt diese Vorstudie zum Jago („Non soffrirò l’ offesa“) mit zarter Eleganz und Nonchalance. Die Bässe Jusung Gabriel Park als Idraote und Shi Zong als Astarotte und der Tenor Manuel Amati als Eustazio komplettierten das Ensemble, das Festspielleiter Jochen Schönleber in weiser Voraussicht, dass eine szenische Aufführung die Möglichkeiten in der Trinkhalle überfordern könnte, auf der Konzertbühne versammelte.

Rossinis „Ermione“/ Szene/ Foto Pfeiffer
Bei Ermione versetzte Regisseur Schönleber den Mythos vom trojanischen Krieg und dessen Folgen in eine nicht näher ausformulierte Gegenwart, indem er Bilder von Kriegszerstörungen über die Spielwürfel laufen ließ, mit denen er die Bühne reichlich verengte, worauf er sich mehr und mehr auf das Arrangement der Auf- und Abgänge zurückzog. Dazu Uniformen, Ledermantel und Gewehr für die sich auf einen Jagdausflug begebende Ermione, eine Krankenschwester für die Station, auf der die Hektor-Witwe Andromache ihren traumatisierten Sohn besuchen darf. Ermione ist ein schweres Stück. Stendal bezeichnete es als Experiment, mit dem Rossini das Genre der französischen Oper erkunden wollte. Anlässlich der 1987 in Pesaro erfolgten Wiederentdeckung der zu Rossinis Lebzeiten so gut wie nie gespielten Oper hielt Philip Gossett fest, „It is a major accomplishment, and must be reckoned one of the findest works in the history of nineteenthcentury Italian opera“. Der unauslöschliche Eindruck, den die Aufführung (mit Caballé, Horne, Merritt und Blake in Pesaro) – trotz gewisser Schwächen – damals für mich hinterließ, ist offenbar schwer zu wiederholen. Das Pathos der rezitativischen Deklamation, der Aplomb der musikalischen Anlage, die Verflechtung von Ariosi, bravouröser Exklamation und brillanten Arien, eingebettet in nur elf, zu musikdramatischen Blöcken verdichteten Nummern. Großartig bereits die Introduzione, in die Rossini die Chorgesänge über den Fall Trojas montierte, worauf er unmittelbar die Klage der Andromache anschließt und somit mitten in das Drama über die Kinder der Helden von Troja führt. Unnötigerweise nahm Schönleber dieser Eröffnung viel von ihrer Wirkung, indem er der Aufführung eine aus dem Off gesprochene Klage der Andromache voranstellte. Pyrrhus/Pirro, Sohn des Achilleus und König von Epirus, verliebt sich in die trojanische Gefangene Andromache, Witwe des Hektor, obwohl er bereits so gut wie verheiratet ist mit Hermione/ Ermione, der Tochter des Menelaos. Nach vielem Hin und Her willigt Andromache in die Heirat mit dem König ein, um ihren Sohn zu retten, dessen Tod von den Königen von Griechenland gefordert wird, damit aus ihm nicht wieder die Macht Trojas emporsteige. Aus Wut, Eifersucht und Enttäuschung fordert Hermione den in sie verliebten Orest auf, Pyrrhus zu töten. Nach der Tat wirft sie ihm vor, ihre wahren Gefühle nicht erkannt zu haben und hetzt die Erinnyen auf ihn. Die wiederstrebenden Gefühle der Ermione legt Rossini in einer ebenso farben- und abwechslungsreichen wie intensiven Gran Scena dar, deren drei Abschnitte zwischen Rezitativ und Arien wechseln, unterbrochen von Einwürfen ihrer Zuträger und Vertrauten, sich im Racheduett mit Oreste steigern und – unterbrochen von einer Verschnaufpause und dem Duettino mit Bass und Tenor – nach dem Mord an Pirro in einem hitzigen Duett „Sei vendicata“ gipfeln. Nach einem wenig interessanten ersten Akt gewann die von Antonino Foglioni mit einer gewissen Kühle und Distanz verwaltete Aufführung in dieser Grand Scena des zweiten Aktes an Spannung und Intensität. Serena Fernacchia ist eine hochprofessionelle und sorgfältige Sängerin, die Ermiones Pein mit einem in allen Lagen ausgeglichenen Ton von gleichbleibender Qualität achtsam umsetzt, sie ist kein Bühnentier, aber ihre Rezitative verfügen stets über Autorität, geraten nur selten flach, und ihr Umgang mit den verzierten Passagen ist beachtlich. Da spürt man etwas von der Grandeur des Werkes. Als Andromaca verfügt die junge Aurora Faggioli über einen dunkel schweren Mezzosopran bzw. Alt mit guter, etwas fahler Tiefe und mauschiger Diktion, der in der Höhe beachtlichen Glanz entfaltet, doch insgesamt etwas lückenhaft ist und erst in ihrer Szene zu Beginn des zweiten Aktes „Ombra del caro sposo“ überzeugt. Sowohl Moisés Martin in der tieferen, von Andrea Nozzari kreierten Tenorpartie des Pirro wie Patrick Kabongo in der höher gelagerten Giovanni David-Partie des Oreste blieben, trotz aller mustergültigen Ausführung, etwas verhalten, waren vielleicht auch etwas ermüdet nach dem Goffredo bzw. Gernando am Vorabend und vermochten ihren Partien nicht den letzten Kick zu geben. Auffallend gut die Nebenpartien mit Mariana Poltorak und Katarzyna Guran als Vertraute von Ermione bzw. Andromaca, Jusung Gabriel Park als Pirros Erzieher Fenicio, Bartosz Jankowski als sein Vertrauter Attalo und Chuan Wang als Orestes Freund Pilade, die mit dem Philharmonischen Chor und Orchester Krakau zum Erfolg der heftig bejubelten Aufführung beitrugen, die mich allerdings mit gemischten Gefühlen zurückließ. Rolf Fath
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Enttäuschenden Eindrücke: Musikfestspiele Potsdam Sanssouci. Inseln lautet das Motto der diesjährigen Festspiele und das Programm bietet eine Fülle von Ausgrabungen und Entdeckungen. Inseln sind Orte der Sehnsucht, der Erinnerung, der Zuflucht und Hoffnung. Im Schlosstheater des Neuen Palais Sanssouci konnte man am 14. 6. 2022 die Bekanntschaft mit Giuseppe Scarlatti machen, vermutlich einem Neffen der weit berühmteren Komponisten Alessandro und Domenico. Sein dramma giocoso per musica I portentosi effetti della Madre Natura von 1752 (uraufgeführt in Venedig) ist eine veritable Rarität, wurde im 18. Jahrhundert in der Orangerie des Schlosses Charlottenburg (1764) und im Schlosstheater des Neuen Palais (1768) aufgeführt, geriet aber dann in Vergessenheit. Das Libretto stammt von keinem Geringeren als Carlo Goldoni und erinnert in seinen Szenen voller Situationskomik an die berühmte Commedia dell’arte. Zentrale Figur ist Celidoro, der während eines Sturmes aus der Isolation, der Inhaftierung auf der Insel Mallorca, ausbrechen kann. Plötzlich erlebt er die Freiheit und lernt die Welt der Menschen kennen, vor allem die rätselhafte der Frauen. Er möchte sie gleich alle besitzen und muss erst lernen, dass hier eine Entscheidung Not tut. So singt er mit seinen beiden Angebeteten Cetronella und Ruspolina dann auch ein Terzett, in welchem von Mäßigung in der Liebe die Rede ist. Rupert Charlesworth gibt ihn mit baritonal getöntem, virilrem Tenor, der gleich in seiner ersten Arie („Donna, vi lascio“) auch mit kraftvollen Spitzentönern imponiert. Wie er angesichts der beiden Damen körperlich in Bedrängnis gerät, spielt er anschaulich aus, und wie er einer jeden ein Stück seines Herzens geben will, macht ihn durchaus sympathisch. Die beiden Damen sind wie alle Figuren in dieser Inszenierung des französischen Filmregisseurs Emmanuel Mouret in einem Büro der 1970er Jahre mit Tischen und Stühlen, Karteikästen und Telefonen tätig (Ausstattung: David Faivre)

Triste Szene: Potsdamer Musikfestspiele mit Scarlattis „I portentosi effetti della Madre Natura“ von 1752/ Foto Stefan Gloede
Also kein arkadisches Schäfer-Idyll wie bei Goldoni, wo von auf Wiesen grasenden Schafen und Lämmern gesungen wird, sondern eine triste Szenerie ohne jeden bukolischen Zauber, ohne Galanterien und Rokoko-Anmut. Cetronella (Benedetta Mazzucato mit klangvoll gerundetem Alt) als Putze mit großem Staubsauger und Ruspolina im Overall als Hausmeisterin sind Konkurrentinnen um die Gunst Celidoros, der noch nicht weiß, dass er ein König ist, am Ende aber doch die Putzfrau zur Gattin wählt. Ruspolina (Maria Ladurner mit lieblichem Sopran) hat das Nachsehen. Alle vereinen sich zum stürmischen Schlusschor „O gran Madre“ als eine Hymne an Mutter Natur.
Natürlich gibt es auch einen Bösewicht im Stück – es ist Ruggiero, der einst seinen Rivalen Celidoro ins Gefängnis bringen ließ, am Schluss aber samt seiner Gattin Lisaura von Celidoro frei gelassen wird und sogar noch die Ostküste der Insel Mallorca erhält. Der renommierte Counter Filippo Mineccia macht in ordensgeschmückter Uniform gute Figur, beginnt stimmlich etwas verhalten in seiner schwärmerischen ersten Arie, die von zärtlicher Lust kündet. Die Soli im 2. Teil der Aufführung liegen ihm besser in der Kehle, so „Sarai felice“ mit furiosem Mittelteil und vor allem sein letzter Auftritt („Ti chiedo la morte“) von rasender Attacke. Eine internationale Größe im Barockrepertoire ist Roberta Mameli, die als Lisaura ein Kleid aus grauer Seide (und damit das einzig elegante Kostüm der Aufführung) trägt. Der Sopran ist im Volumen gewachsen, hat aber nichts an Flexibilität und Virtuosität verloren. Die staccati in ihren Arien sind delikat getupft und glitzern mirakulös. In der Besetzung ohne jeden Schwachpunkt bringen Niccolò Porcedda als Poponcino und João Fernandes als Vater Calimone mit solide Bässen die kontrastierend tiefen Töne ein.
Wieder ist Festspielintendantin Dorothee Oberlinger die Entdeckung eines musikalisch zauberhaften Werkes zu danken. Mit ihrem ENSEMBLE 1700 reizt sie den Charme und Esprit, aber auch die dramatischen Effekte der Musik mitreißend aus. Das beginnt mit der beherzten Ouvertüre, setzt sich fort bei den reizvoll instrumentierten Nummern (oft mit Tambourin und Kastagnetten) und reicht bis zu einigen Affekt geladenen, gesanglich anspruchsvollen Da capo-Arien. Interpolierte Orchesterstücke und Passagen mit Bläserglanz und Trommelwirbel bieten abwechslungsreiche Farben und Stimmungen. Das Publikum dankte mit reichem Applaus für diese Insel musikalischer Glückseligkeit.
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Die Aufführung der seltenen Oper von Giuseppe Scarlatti hatte die Messlatte hoch gelegt, da fiel die konzertante Darbietung von Johann Friedrich Reichardts Singspiel Die Geisterinsel im Niveau eher bescheiden aus. In einem späteren Klavierauszug wurde das Werk auch als Oper bezeichnet und in der Tat bewegt sich die Musik mit ihren Arien, Romanzen, Tänzen und Chören schon in Richtung zum großen Genre. Mit seinem Ensemble Das Kleine Konzert, das er 1977 gegründet hatte, gelang Hermann Max (der die Oper für cpo eingespielt hatte/5915496 ) eine frische, lebendige Wiedergabe der Musik in ihrer Nähe zu Mozart. Schon die Ouvertüre weist mit ihren dramatischen Akzenten Anklänge an die Zauberflöte auf. Im Verlauf der Aufführung gab es allerdings auch Intonationstrübungen bei den Streichern.

Johann Friedrichg Reichardt/ Stich von Riedel/ Wikipedia schreibt ergänzend: The libretto by Gotter, after an earlier version by his friend Friedrich von Einsiedel, had already been hailed as a masterpiece by Goethe and first set by Fleischmann in 1796. Goethe also promoted Fleischmann’s setting but the opera was not a success. The years 1798-1799 saw six more operas based on The Tempest, of which Reichardt’s, commissioned by August Wilhelm Iffland for the Nationaltheater, Berlin (1798), was both the most successful and the most successful of Reichardt’s operas as a whole.
Das Libretto von Friedrich Wilhelm Gotter & Friedrich Hildebrand von Einsiedel bezieht sich auf Shakespeares Schauspiel The Tempest, das Christoph Martin Wieland 1761 ins Deutsche übersetzt hatte. Der Titel: Der Sturm oder Die bezauberte Insel. 1798 wurde Reichardts Vertonung im Königlichen Nationaltheater am Gendarmenmarkt zu Berlin uraufgeführt.
Ein Erzähler führt durch die Handlung: Michael Tietz missfiel mit aufgesetztem Pathos und verspäteten Einsätzen. Die Besetzung war auf mittlerem Niveau und wurde angeführt von Ekkehard Abele als Prospero, einstiger Herzog von Mailand, der seit Jahren mit seiner Tochter Miranda auf einer einsamen Insel lebt. Der Bass klingt dumpf, der Sopran von Marie Heeschen in der Höhe steif. Auf einer Wolke schwebt der Luftgeist Ariel herbei, der obertonreiche Sopran vonVeronika Winter neigt in der exponierten Höhe zur Grellheit, was die liebliche Arie „Mein Eifer kann dem Schicksal nur erliegen“ trübt. Caliban, Sohn der bösen Zauberin Sycorax, will Prosperos Herrschaft beenden und Miranda zur Frau nehmen. Tom Sols Bass ist schmal im Volumen und matt in der Tiefe. Aufgewühlte Streicherfiguren illustrieren ein in Seenot geratenes Schiff; aus dem Orchestergraben singt die Rheinische Kantorei (Choreinstudierung: Edzard Burchards) mit Nachdruck. Fernando, Prinz von Neapel, kann sich aus den Fluten retten. Martin Platz lässt einen kultivierten jugendlichen Tenor hören. Miranda verliebt sich in ihn und singt die liebliche Arie „Froher Sinn und Herzlichkeit“, die der Sängerin am Ende virtuose Koloraturen abverlangt. Drei weitere Schiffbrüchige erreichen das Land, es sind Fernandos Edelknabe Fabio (Marie Luise Werneburg mit hübschem Sopran), der Küchenmeister Oronzio (Jörg Hempel mit solidem Bassbariton) und der Kellermeister Stefano (Matthias Vieweg mit lyrischem Bariton). Während Fabio seinen Herrn Fernando sucht, ergötzen sich die beiden Anderen an Speise und Trank, haben ein munteres Duett, das Caliban zum Terzett erweitert („Vertrauet meiner Macht“). Er fordert die beiden auf, Prospero zu töten. Aber dessen Zauberstab versteinert sie und Caliban, der sich ins Meer stürzt. Prospero vereint Miranda und Fernando, während Ariel ein Schiff und damit die Rettung für alle ankündigt. In einem großen Finale („Allmächtig ist die Liebe zu dir, o Vaterland“) feiern sie die Liebe zur Heimat (18. 6. 2022).
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Amazonen am Küchentisch: Auch die letzte szenische Produktion der diesjährigen Festspiele im Schlosstheater konnte hohe Erwartungen nicht erfüllen. Gezeigt wurde eine Oper von Carlo Pallavicino, Le Amazzoni nell’isole fortunate, uraufgeführt 1679 in Piazzola in einer spektakulären Vorstellung mit Amazonen hoch zu Ross und unzähligen Statisten. Die aktuelle Inszenierung von Nicola Raab gab sich da weit spartanischer, kam mit einem Einheitsbühnenbild ohne jede szenische Magie und bar jeden exotischen Kolorits aus. Zwei Küchentische, gelegentlich zusammen gerückt, und einige Stühle bildeten das Mobiliar und damit die gesamte Ausstattung. Ein Kostümbildner war offenbar nicht verpflichtet worden, denn die Sänger waren in Privatkleidung von oft zweifelhaftem Geschmack zu sehen. Video-Einblendungen im Hintergrund von Francesco Mancori und Björn Matzen (stürmische Meereswellen, eine erblühende Rose, lodernde Flammen) illustrierten das Geschehen ohne jede Bedeutung.

„L´Amazone“/ Carlo Pallavicino/ originales Libretto/ Europeana
Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, in welchem Il Genio (Clara Guillon mit munterem Sopran) beschließt, zur Lustbarkeit der adligen Gesellschaft in Venedig ein prächtiges Theater zu errichten. La Difficoltà (Eleonore Gagey mit gutturalem Mezzo) und Il Timore (Olivier Cesarini mit prägnantem Bariton) haben Einwände, doch ohne Erfolg. Man sieht die drei Personen am Tisch in einer Konzeptionsbesprechung, Timore schläft, Genio hat die Beine auf die Tischplatte gelegt und Difficoltà hat Probleme mit den vielen Seiten voller Notizen. Sie alle wirken mit in der Handlung, welche auf die Glückseligen Inseln führt, wo sich Amazonen unter ihrer Fürstin Pulcheria niedergelassen haben. In dieser Partie ist die Sopranistin Axelle Fanyo eine der festspielunwürdigen Besetzungen dieser Aufführung. Sie singt durchaus mit Aplomb und Nachdruck (z.B. ihre Schlacht-Arie „A battaglia!“), aber mit keifendem Ton und stilistisch unidiomatisch. Die Koloraturen klingen gegurgelt, gegackert oder gekräht – insgesamt ein mehr als fragwürdiger Auftritt. Ein weiterer ist der des Tenors Marco Angioloni in der Partie des Anapiet, Kapitän des Sultans von Äthiopien (Olivier Cesarini), der an der Küste der Amazonen von seinem Herrn arrangierten Schiffbruch erleidet, und unter dem Namen Numidio von den mächtigen Frauen aufgenommen wird. Die Stimmführung des jungen Sängers wirkt sehr bemüht, zuweilen gar gequält, das Timbre klingt gewöhnlich. Pulcheria schickt ihre Begleiterin Florinda zu Numidio, um ihm ihre Gefühle zu offenbaren. Die ukrainische Sopranistin Iryna Kyshliaruk ist eine solide Besetzung der jungen Frau, singt ihre Arien innig und mit sicheren Spitzentönen. Zwischen ihr und Numidio entbrennt tiefe Zuneigung, was die Eifersucht von Auralba (Clara Guillon) hervorruft, die ihrerseits in Florinda verliebt ist – frühes Beispiel einer homoerotischen Beziehung. Reizend ist Anara Khassenova als Pulcherias Tochter Jocasta mit lieblichem Sopran und feinen Nuancen im Vortrag. Auch schmerzliche Momente gelingen ihr bewegend. Eine junge, träumerische Amazone, Cillene, gibt Eleonore Gagey. Wenn sie in den Kampf zieht („Voglio guerra!“), ruft sie Himmel und Erde energisch zur Schlacht auf.
Im zweiten Teil überstürzen sich die Ereignisse, denn Pulcheria will unter dem Vorwand von Friedensverhandlungen ins feindliche Lager des Sultans gehen und ihn ermorden. Sie weiht Numidio in ihre Pläne ein, der seinerseits den Sultan warnen kann. Pulcheria wird verhaftet, doch der Sultan verzeiht ihr großmütig und hält gar um ihre Hand an. Da denkt man an Mozarts Clemenza und die Milde des Herrschers wird in einem Schlussgesang auch gebührend bejubelt. Danach wiederholt die Regie die stimmungslose Eingangsszene, wenn die drei Macher wieder lustlos am Tisch sitzen.
Pallavicinos Musik zwischen Cavalli und Vivaldi ist empfindsam, delikat und abwechslungsreich. Sie hat virtuosen Anspruch und setzt in dramatischen Situationen auch wirkungsvolle Affekte ein. Man hatte auf einen musikalisch großartigen Abend gehofft, denn das französische Ensemble Les Talens Lyriques unter seinem Gründer und Leiter Christophe Rousset ist spezialisiert auf diesen Stil und hat sich damit weltweit einen Namen gemacht. Nichts davon war am Nachmittag des 26. 6. 2022 zu vernehmen. Rousset wirkte uninspiriert und so klang die Musik über weite Strecken matt. Schlimmer noch war das spielerische Niveau der Musiker, die Unsauberkeiten und Intonationstrübungen hören ließen. Besonders arg betraf es die Trompeten, die quälende Misstöne in Überfülle produzierten, wie ich es in einer Live-Aufführung noch nie gehört habe.
Die Festspiele Potsdam Sanssouci 2023 finden vom 9. bis 25. Juni unter dem Motto „In Freundschaft“ statt und können die enttäuschenden Eindrücke dieses Jahres dann hoffentlich korrigieren (Foto oben Potsdamer Feuerwerk/ Foto Stefan Gloede). Bernd Hoppe
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Foto oben freepic