Archiv für den Monat: Dezember 2022

Ehrenrettung?

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La Femme- A Journey of Female Composers nennt sich eine CD, auf der die aus Albanien stammende Mezzosopranistin Flaka Goranci ausschließlich Stücke von Komponistinnen aller Zeiten und vieler nicht nur europäischer Länder vorträgt. Ein Beethoven, Verdi oder Berlioz ist nicht dabei, es ist vor allem auch die kleine Form, die zu Gehör gebracht wird, obwohl im von gleich vier Frauen gestalteten Booklet davon berichtet wird, dass einige der Damen durchaus auch Opern komponiert hätten, die übliche Klage erhoben wird, das schöpferische Potential von Frauen sei Jahrhunderte lang bewusst unterdrückt worden. Hätten Frauen sich nicht entmutigen und ihre schöpferischen Kräfte walten lassen, dann hätten sie des Schutzes eines männlichen Pseudonyms bedurft wie die Schwestern Bronte, George Sand oder Colette. Nun ja, ein weiblicher Shakespeare oder Voltaire verbarg sich jedenfalls hinter diesen Pseudonymen nicht. Belädt man die angenehm zu hörende CD nicht mit allzu vielen Erwartungen an ein bisher verborgenes  Genie, so kann man sich durchaus an ihr erfreuen.

Es beginnt mit The borrowed Dress, einem Lamento über die sich nicht verändernden Verhältnisse, denen eine syrische Familie ausgesetzt ist, die Komponistin heißt Suad Bushnaq, stammt aus Jordanien, und Sängerin Flaka Goranci setzt sie effektvoll mit einem üppigen, farbigen Mezzo  in Szene. Aus Syrien stammt die Komponistin und Sängerin Dima Orsho, die einen Zyklus von Liedern mit dem Titel Those Forgotten on the Banks oft the Euphrates ihrem Geburtsland widmete, vom Mezzo vollmundig und effektvoll vorgetragen. In Berlin lebt Jasmin Reuter, die, beeinflusst vor allem von Strawisnky,   Filmmusik komponiert, so für den Kurzfilm Salomea’s Nase.

Natürlich darf auch eine Ukrainerin nicht fehlen. Zoryana Kushpler, die allerdings nur als Arrangeurin auf der CD in Erscheinung tritt, und zwar als die eines alten Volkslieds aus ihrer Heimat. Mit Ilse Weber, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde, wird an eine Komponistin erinnert, die für die Kinder in Theresienstadt u.a. das auf der CD verewigte Wiegenlied schrieb. Eine Klaviervirtuosin, für die auch Mozart komponierte, war Maria Theresia von Paradis, die mit einer  Sicilienne vertreten ist. Viele internationale Preise errungen hat bereits Niloufar Nourbabakhsh, Gründungsmitglied der iranischen Female Composer Association, die mit einem Lied auf ein Gedicht einer Landsmännin, The Window,  vertreten ist. Die Sängerin selbst ist mit The Speach of Love auch als Textdichterin und Komponistin vertreten, Sprechgesang und am Schluss aufbrausend Pathetisches miteinander verbindend. Ein romantisches Blumenstück hat die Kroatin Dora Pejadevic komponiert, der Erinnerung an einen toten Freund ist Zeh Hayofi von Ella Milch-Sheriff gewidmet. Die älteste Komponistin ist Kassia, die im 9.Jahrhundert lebte und eine Hymne auf die Heilige Pelagia in einer Zeit schrieb, in der die Verehrung von Ikonen heiß umkämpft war. Für dieses Stück erhält die Mezzostimme einen interessant herben Anstrich. Die große Stimme wird dann gebändigt für Albena Petrovic Vratchanskas Peperuga, verinnerlicht und volksliedhaft klingt danach ein mazedonisches Volkslied, von Valentina Velkowska-Trajanowska arrangiert. Francesca Caccini ist Florentinerin im 17. Jahrhundert und schrieb sogar eine Oper, La Liberazione di Ruggero, mit Pauline Garcia-Viardot und ihrem Hai Luli kommt Bekannteres auf die CD, und die Sängerin trifft das Volksliedhafte des Stücks sehr gut. Den Schluss bilden Kompositionen von Eriona Rushiti, Cosuelo Velazquez und Miriam Makeba, deren jeweiliger Besonderheit die Sängerin  durchaus gerecht wird, die eher noch als die Komponistinnen der Entdeckung wert ist . Begleitet wird sie vom World Chamber Orchestra unter Konstantinos Diminakis, da ging es wohl doch nicht ohne das andere Geschlecht (Naxos 8.551470). Ingrid Wanja

In schwerer Zeit

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Mit traurigem Blick dem Betrachter ernst in die Augen schauend, ungeschminkt und in schwarzem, hochgeschlossenem Kleid präsentiert sich Lena Belkina auf dem Cover zu ihrer CD mit dem Titel Passion for Ukraine. Zwar in Taschkent geboren, aber aufgewachsen auf der Krim und ukrainische Staatsbürgerin, nahm die Mezzosopranistin den Einfall Russlands in ihr Land zum Anlass nicht wie zuvor vor allem Mozart und Belcanto zu singen, sondern das Liedgut der Heimat zu ihrem Repertoire zu machen. Fünfzehn Volks- und Kunstlieder künden von unerfüllter Liebe, von der Schönheit der Natur, von Blumen und Sonnenuntergängen. Der bis dahin der Tatsache, dass die Ukraine mit nach UNESCO 15500 Beispielen das an Liedern reichste Land der Erde ist, unkundige Musikfreund stellt zunächst einmal fest, dass Volkslieder und Kunstlieder weit mehr dem mittel- und westeuropäischen Kulturraum zugehörig erscheinen als dem russischen, also auch  Zeugnis dafür ablegen, dass die Ukraine kulturell eher zum Westen als zu Russland gehört. Während die Volkslieder vorwiegend im 9. Jahrhundert entstanden, wurden die Kunstlieder im 19. Und 20. Jahrhundert komponiert, und die Tradition lebt weiter, wie der letzte Liedblock mit Kompositionen eines erst 1989 geborenen Musikers beweist.

Das Booklet zur CD schildert nicht nur die Bedeutung, die jedes einzelne Lied für die Sängerin hatte, sie zum Beispiel zum Gewinn eines Wettbewerbs führte, sondern bringt auch englische Übersetzungen zusätzlich zu den Originaltexten auf Ukrainisch und außerdem den Titel auf Deutsch im Inhaltsverzeichnis. Dreisprachig sind auch der Artikel der Sängerin und die Vitae beider Solistinnen.

Das Volkslied Mond am Himmel lässt eine apart timbrierte, fein flirrende Stimme, leicht melancholisch klingend, vernehmen, die hier noch viel von einer Naturstimme zu haben scheint. Wie dunkles Kristall klingt sie in Ich weide vier Ochsen, vom Liebesleid einer Verlassenen kündend. Um Zwangsheirat geht es in Wär ich nicht ein Virbunum, in dem die obertonreiche Stimme schön zart verklingt.

Es folgen drei Lieder von Gregory Alchevskiy, in denen es um ein zartes Maiglöckchen, den Mond im Frühling und um qualvolle Gedanken in einer Sommernacht geht. Im ersten verbindet die Sängerin Gefühlvolles mit Schlichtem, im Letzteren wird die schöne Stimme effektvoll vom Klavier umspielt (Violina Petrychenko).

In Kyrylo Stetsenkos drei Liedern hat der Mezzosopran die Gelegenheit wie die besungene Sonne zu leuchten, aber auch verhalten dunkel im letzten der drei Lieder zu klingen. Mykhailo Zherbin lässt besonders in Meine Seele schwebt die Mezzoqualitätn der Stimme zur Geltung kommen, einen beinahe opernhaften Ausbruch gibt es in Letzte Blumen.

Auf Deutsch, wenn auch nicht besonders gut verständlich, wird Illia Razumeikaos Widmung auf einen Text von Rückert gesungen. Eher wild bewegt als einschläfernd wirkt das Wiegenlied, und ganz schrecklich aktuell wird es mit dem Agnus Dei aus dem Requiem für Mariupol (Solo Musica 418). Ingrid Wanja

Authentizität in historischem Klang

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Von einem Komponisten selbst dirigierte Einspielungen seiner Werke genießen ein besonderes Maß an Authentizität. In relativ wenigen Fällen liegen der Nachwelt derartige Beispiele von im späten 19. Jahrhundert sozialisierten Tonschöpfern vor, denkt man beispielsweise an Richard Strauss, Jean Sibelius oder Edward Elgar. Ralph Vaughan Williams, geboren 1872 und gestorben 1958, fällt fraglos in diese Kategorie. In England einer der beliebtesten Komponisten und häufig auf den Konzertprogrammen, fristet er auf dem Kontinent bis heute eher ein Schattendasein. An Aufnahmen besteht freilich kein Mangel, was maßgeblich an der hohen Wertschätzung in der angelsächsischen Welt seit der Frühzeit der elektrischen Tonaufnahme liegt. Das britische Label Somm bringt nun, pünktlich zum 150. Geburtstag von RVW, eine weitere Disc in ihrer Reihe Vaughan Williams Live (SOMM Ariadne 5019-2).

Die Doppel-CD umfasst insgesamt vier Werke, darunter zwei der beliebtesten seiner Sinfonien, die London Symphony (Sinfonie Nr. 2) und die Sinfonie Nr. 5, letztere sogar doppelt. Hinzugesellt sich die Kantate Dona nobis pacem. Die dirigentischen Fähigkeiten des Komponisten Vaughan Williams sind heutzutage in Vergessenheit geraten. Die nun erhältlichen Aufnahmen legen von der Qualität Zeugnis ab. A London Symphony hat Vaughan Williams nie im Studio eingespielt, so dass dieser Mitschnitt von den BBC Proms vom 31. Juli 1946 – idiomatisch mit dem London Symphony Orchestra – eine absolute Rarität darstellt. Er beruht auf seiner Letztfassung von 1936, die um etwa 15 bis 20 Minuten kürzer ausfällt als jene der Uraufführung von 1914. Die fünfte Sinfonie liegt in der Weltpremiere vom 31. Juli 1943 sowie in einem neun Jahre später, vom 3. September 1952 erhaltenen Mitschnitt vor, beide Male ebenfalls von den Proms in der Londoner Royal Albert Hall und da wie dort mit dem London Philharmonic Orchestra. Die Unterschiede sind teils ziemlich erstaunlich, wählt der Komponist-Dirigent 1952 in jedem der vier Sätze doch ein langsameres Tempo, so dass sich die Gesamtspielzeit mit gut 37 Minuten insgesamt fast vier Minuten länger ausnimmt. Das Chorwerk Dona nobis pacem schließlich ist in der ersten Rundfunkübertragung aus den BBC Studios in London von November 1936 überliefert, die einen Monat nach der Uraufführung vom 2. Oktober des Jahres mit denselben Solisten Renée Flynn (Sopran) und Roy Henderson (Bariton) erfolgte, zu denen sich BBC Symphony Orchestra & Chorus gesellten.

Ist man des erheblichen Alters des Ausgangsmaterials und der technischen Schwierigkeiten gerade der Live-Aufzeichnung eingedenk, so erscheint die Klangqualität insgesamt brauchbar, wenngleich weit entfernt von audiophilen Ansprüchen und für RVW-Anfänger gewiss nicht geeignet. Die alle vier bis fünf Minuten notwendig gewordenen Plattenwechsel mit dadurch entstehenden kurzen Unterbrechungen bei den Live-Mitschnitten aus den 1940er Jahren sind in den Tracks der ersten CD minutiös abgebildet. Für das Remastering zeichnet der auf Klangrestauration spezialisierte Toningenieur Lani Spahr verantwortlich, der auch die 1952er Aufnahme der Sinfonie Nr. 5 mit neuem Material vervollständigen konnte. Die informativen Einführungstexte von Simon Heffer, Alan Sanders und Andrew Neill werden durch den abgedruckten Text der Kantate vervollständigt. Ein kleiner Wermutstropfen ist die Tatsache, dass keine deutschsprachige Übersetzung beigegeben wurde. In Summe eine Neuerscheinung für fortgeschrittene Bewunderer des Komponisten (und Dirigenten) Ralph Vaughan Williams. Daniel Hauser

Festivals 2022/ 23

Auch in diesem Jahr (2022) sind wir bei der Auswahl der vorgestellten Festivals sehr wählerisch und konzentrieren uns – wie bei Live-Aufführungen überhaupt – auf wenige und für uns interessante Operntitel, zumal die Corona-Lage unklar bleibt. G. H.

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In Erl: Zum ersten Mal auf österreichischem Boden präsentieren die Tiroler Festspiele Erl eine absolute Rarität: Francesca da Rimini von Saverio Mercadante. Diese Oper wurde von Mercadante 1830 für Madrid komponiert, aber nie zur Aufführung gebracht, weil sein spanischer Rivale Ramòn Carnicer mit der Oper Christoph Kolumbus den Vorzug bekam. Als Mercadante nach Italien zurückkehrte, war von einer Inszenierung an der Scala die Rede, aber ein Streit um das Honorar und der plötzliche Tod des Impresarios Crivelli verhinderten auch dieses Debüt.

Die Oper blieb daher bis zur ersten modernen Aufführung am 30. Juli 2016 im Palazzo Ducale in Martina Franca, in der Heimat des Komponisten, in der Schublade.

Francesca da Rimini, meisterhaft dirigiert von Giuliano Carella, bietet mehr als nur einen interessanten Aspekt. Tatsächlich ist das Werk überwiegend im Belcanto-Stil des frühen 19. Jahrhunderts angelegt, mit einer majestätischen Struktur und einem frischen und abwechslungsreichen melodischen Erfindergeist, der zwar nicht an Bellini heranreicht, sich aber durchaus behaupten kann. Andererseits gibt es auch dramaturgische und musikalische Lösungen, die die Oper einen Schritt vor Verdis Revolution stellen, die kurz darauf beginnen sollte. So finden wir den dramatischen Einsatz von Terzetten und Concertati in Kombination mit der häufigen Anwesenheit des Chors, mit großen Ensemblestücken, die einige Jahre später das Markenzeichen des jungen Verdi sein werden.

Mercadantes „Francesca da Rimini“ in Erl/ Szene/ © Xiomara Bender

Eine interessante musikalische und dramaturgische Wiederentdeckung also, hervorragend inszeniert von Regisseur Hans Walter Richter, der für das Bühnenbild von Johannes Leiacker und für die Kostüme von Raphaela Rose unterstützt wurde. Zwei große weiße Wände rahmen die Szene ein, an deren Öffnung die Ruine einer gotischen Kirche im rein romantischen Stil erscheint. Der Handlungsverlauf wird in die Zeit der Komposition der Oper verlegt und die Regie folgt die Geschichte immer angemessen und kohärent. Anlässlich der gefühlvollsten Arien öffnet sich das große Portal und enthüllt zwei oder mehr Tänzer, die die Gefühle der Protagonisten tänzerisch interpretieren. Eine einfache Lösung, aber von großer poetischer Wirkung.

Der Chor, der immer hervorragend organisiert ist, kommentiert und folgt fast im griechischen Stil die tragische Geschichte von Paolo und Francesca. Der Regie kommt daher das Verdienst zu, dass man der Oper mit Vergnügen und Aufmerksamkeit folgt, auch über einige unvermeidliche Stockungen hinaus, die für Opernprodukte des frühen 19. Jahrhunderts typisch sind, in einer Zeit, in der das Theatererlebnis ganz anders war als heute.

Die musikalische Leitung von Giuliano Carella, einem wahren Spezialisten für dieses Repertoire, war üppig, aufmerksam und kalibriert. Die Gesangsgruppe ausgezeichnet. Vor allem Karolina Makula präsentiert uns einen glaubwürdigen Paolo en transvestì, hervorragend gesungen und mitreißend gespielt. An seiner Seite ist Anna Nekhames eine zitternde und tragische Paola, unterstützt von einer wichtigen und gut geführten Stimme. Theo Lebow nimmt die schwierige Tenorpartie des Lanciotto mutig in Angriff und macht sich durch seinen Stil und seine stimmliche Klarheit bemerkbar. Erik van Heyningen ist ein imposanter und hieratischer Guido. Karolina Bengtsson (Isaura) und Francisco Brito (Guelfo) vervollständigen die Besetzung auf hervorragende Weise. Großer Erfolg im Finale mit zahlreichen Aufrufen. Raffaello Malesci (28. 12. 22)

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Mozarts Mitridate an der Berliner Staatsoper: Verwunderlich ist die Einbeziehung von Mozarts Mitridate, re di Ponto in das Programm der diesjährigen Barocktage an der Staatsoper, denn die Opera seria von 1770 ist natürlich ein Werk der Wiener Klassik. Ihre Zugehörigkeit zur Gattung der seria stellt allerdings durchaus den Bezug zur Barockoper her, ein anderer ist der virtuose Anspruch der Komposition, der dem in Barockwerken vergleichbar ist. So war die Verpflichtung von Marc Minkowski und seinem Orchester Les Musiciens du Louvre nahe liegend, zumal der Barock-affine Dirigent mit dem Stück seit Jahren vertraut ist, es bei den Salzburger Festspielen dirigiert und für ERATO auch aufgenommen hat. Seine Interpretation war durchweg dramatisch pulsierend, was sich schon in der straff musizierten Ouverture ankündigte, war geprägt von einem vielfältigen Farbspektrum und reich differenzierter Dynamik. Furor und Delikatesse hielten sich in ausgewogener Balance.

Mozarts „Mitridate“ an der Berliner Staatsoper/ Foto Bernd Uhlig

Auch gesanglich war die Aufführung fast durchgängig auf einem Ausnahme-Niveau. Zwei Sänger aus der gefeierten Einspielung waren auch in dieser Staatsopern-Produktion vertreten, so der französische Countertenor Paul-Antoine Benos-Djian in der Partie des Farnace, was für die Aufführung einen Glücksfall bedeutete. Sogleich in seinem Auftritt, der Aria „Venga pur“, kam seine farbige Stimme mit schmeichelndem, sinnlichem Timbre zu starker Wirkung, wie auch die energischen Triller und eine effektvolle Kadenz bis in die tiefe Lage. Gegen Ende des ersten Teils bewies er in der Aria „Son reo“ gleichermaßen lyrische Kultur wie dramatische Attacke. Betörend sang er sein Solo im 3. Akt, „Già dagli occhi il velo“. Auch Adriana Bignagni Lesca als Mitridates Statthalter Arbate hatte in der CD-Aufnahme mitgewirkt. Ihr reizvoll androgyner Mezzo mit Substanz und Aplomb, einem Countertenor zum Verwechseln ähnlich, brachte eine faszinierende Farbe ein. Farnaces Bruder Sifare war mit der amerikanischen Mezzosopranistin Angela Brower en travestie besetzt. Die leicht herbe Stimme überzeugte mit ihrer Verve, dem dramatischen Nachdruck und den fein getupften staccati. Exquisit gesungen bis in die höchste Lage, dazu erfüllt mit innigem, schmerzlichem Ausdruck, war die ausgedehnte Aria „Lungi da te“.  Eine weitere fordernde Partie ist die der Aspasia. Als Verlobte Mitridates wird sie von seinen beiden Söhnen begehrt, was für genügend Konfliktstoff sorgt. Die rumänische Sopranistin Ana Maria Labin ließ in ihrem Auftritt, „Al destin“, noch eine matte Tiefe hören, bewies in den flinken Koloraturen jedoch ihr virtuoses Vermögen. Dieses führte die AriaNel grave tormento“ mit brillanten staccato-Girlanden und langen legato-Bögen zu einem der vielen Höhepunkte des Abends. Den zweiten Teil eröffnet sie mit Sifare im Duett („Ah, che tu sol“), in welchem sich beide Stimmen mit virtuosem Zierwerk effektvoll umschlangen. Enormen Eindruck machte sie in ihrer ombra-Cavatina „Pallid’ombre“, welche das Orchester mit düsteren Figuren untermalte, differenzierte zwischen verhaltenem Schmerz und existentiellen Ausbrüchen. Für seine stupenden Spitzentöne wurde Pene Pati als Titelheld vom Publikum in der 2. Aufführung am 7. 12. 2022 lautstark bejubelt. Der lyrische Tenor bewältigte die horrend schwierige Partie mit ihren extremen Sprüngen technisch souverän, doch ließ sein Timbre in lyrischen Passagen einen larmoyanten Beiklang hören und insgesamt fehlte ihm vor allem in den Rezitativen die herrscherliche Autorität. In der rasanten Aria „Quel ribelle“ , vom Orchester mit vehementen Affekten begleitet, kam die Stimme zu stärkerer Wirkung, wie auch in der Aria im 3. Akt, „Vado inontro“, wo er fulminant auftrumpfte und einmal mehr mit seinen acuti brillierte. Der zweite Tenor des Werkes, der römische Tribun Marzio, ist eine Nebenrolle, doch hat er im 3. Akt eine schwierige Aria („Se di regnar“) zu bewältigen, was Sahy Ratia mit engagiertem Einsatz überzeugend gelang. Nicht das Ausnahmeniveau der Besetzung erreichte Sarah Aristidou als Prinzessin Ismene, die Mitridate von seinem Kriegszug gegen die Römer mitgebracht und Farnace als Braut zugedacht hat. Der lyrische, im Klang anonyme und schmale Sopran irritierte vor allem durch die grellen Spitzentöne.

Die Aufführung besorgte ein japanisches Team mit Satoshi Miyagi als Regisseur, Junpei Kiz als Bühnenbildner, Eri Fukazawa als Wanddesigner und Kayo Takahashi Deschene als Kostümbildnerin. Sie beginnt und endet mit einer Stätte der Verwüstung unter Nebelschwaden – einem Kriegsschauplatz mit Toten auf dem Boden, womit das Inszenierungsteam an den Krieg zwischen Japan und den USA in den 1940er Jahren erinnern wollte. Danach bekommt sie dekorativen Schauwert, vor allem durch die prachtvollen goldenen Kostüme, was die Aufführung in die Nähe einer Turandot rückt, und eine goldene Treppentribüne von vier Etagen mit üppigen Malereien – einer zürnenden Gottheit, Kirschblüten, einem weißen Adler, Bambusstengeln (was an Aida erinnerte) und dem Fuji-Vulkan. Insgesamt war die Ästhetik bestechend, freilich befremdlich in ihrer fernöstlichen Orientierung für ein Stück, das zwischen dem Schwarzen Meer und Rom spielt. Gelegentlich bekommt die Aufführung auch einen kunstgewerblichen Anstrich, wenn der Hornist mit Tüchern und einem goldenen Flügel dekoriert wird, wenn Tänzer das Geschehen illustrieren und kämpferische Posen einnehmen (Choreografie: Yu Otagaki), bemalte Stoffbahnen wandern und von Statisten als Fahnen geschwenkt werden. Am Ende kehrt Mitridate aus der Schlacht zurück als gebrochener, schwer verwundeter und sterbender Mann. Farnace und alle anderen geloben, sich Rom nicht beugen zu wollen. Unvermittelt und heftig setzt daher ihr  Schlussgesang, „Non si ceda al Campidoglio“, ein, der signalisiert, dass der Kampf nicht zu Ende und Frieden eine Utopie ist. In der Staatsoper beendete euphorischer Jubel des Publikums diesen denkwürdigen Abend. Bernd Hoppe

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Vivaldis Il Giustino bei den Barocktagen der Berliner Staatsoper: 1984 hatte die Neuproduktion von Händels Giustino an der Berliner Komischen Oper einen Sensationserfolg. Jetzt präsentiert die Staatsoper im Rahmen ihrer Barocktage Vivaldis Version des Stoffes, die bereits 13 Jahre vor jener Händels ihre Uraufführung erlebte (1724 in Rom). Das Dramma per musica Il Giustino mit dem Text von Antonio Maria Lucchini (nach Nicolò Beregan und Pietro Pariati) erzählt von dem Bauern Giustino und seinen Heldentaten, die ihn schließlich zum Kaiser aufsteigen lassen. Auf seiner Wanderung begegnet ihm die Liebe in Gestalt von Leocasta, Schwester des byzantinischen Kaisers Anastasio, was ihn erkennen lässt, dass das Glück der Liebe mehr wert ist als das Bewusstsein von Macht und der Besitz von Reichtum.

Die tschechische Regisseurin Barbora Horáková und Bühnenbildner Thilo Ullrich inszenierten das Stück als ausuferndes Barock-Spektakel mit vielen albernen Gags und Slapstick-Einlagen. Schauplatz ist die Hinterbühne einer Theateraufführung mit Kulissenteilen, viel Gestänge und Treppenaufbauten, der barocken Theatermaschinerie zur Erzeugung von Wellen und dem rotierenden Glücksrad Fortunas. Eva-Maria Van Ackers Kostüme bedienen den bekannten Stilmix von zeitgenössischen Klamotten mit historischen Attributen, Camouflage-Anzügen, Sportkleidung und karikierenden Elementen.

Vivaldis „Giustino“ bei den Barocktagen 2022 an der Berliner Staatsoper/ Szene/ Foto Matthias Baus

Zu Beginn stürmt eine Schar schreiender Kinder mit Schulranzen auf die Bühne und greift immer wieder ein ins Geschehen, ob mit Transparenten, beim Malen einer Friedenstaube, beim Rudern eines imaginären Bootes und am Ende gar als Regisseure, indem sie per Fernbedienung alle Figuren zu zappelnden Marionetten degradieren. Das Publikum der Premiere am 20. 11. 2022 amüsierte sich köstlich über jeden noch so närrischen oder läppischen Einfall und feierte alle Mitwirkenden am Schluss enthusiastisch mit stehenden Ovationen.

Für die musikalische Seite der Aufführung mag der Jubel gerechtfertigt sein, auch wenn die Akademie für Alte Musik Berlin zu Beginn der Ouvertüre (aus Caldaras Adriano in Siria) mit Bläsermisstönen und intonationsgetrübtem Streicherapparat aufwartete. René Jacobs, dem Orchester  seit Jahren vertraut und den Barocktagen des Hauses eng verbunden, hat eigens für die Neuinszenierung der Staatsoper eine neue, gekürzte Fassung erstellt. Der Dirigent setzte auf eine gemäßigte, abgeklärte Lesart, der es zuweilen an Drive, rasantem Aplomb und Affekten mangelte. Bis auf Ausnahmen war der musikalische Ablauf gediegen, doch oft zu gefällig und gepflegt.

Ein hohes Niveau hatte die Besetzung, angeführt von dem französischen Countertenor Christophe Dumaux in der Titelrolle. Häufig auf Counter-Bösewichter abonniert (wie Tolomeo in Giulio Cesare und Polinesso in Ariodante), hatte er nun Gelegenheit zur Interpretation einer edlen Figur mit vielen empfindsamen Arien, die ihm ganz neue Farben abverlangten. Eine solche hörte man sogleich in der Kavatine „Bel riposo“, welche seine maskulin-sinnliche Stimme und die sanfte, schmeichelnde Tongebung demonstrierte. Wenn Giustino danach einschläft und träumt, zitiert das Orchester das berühmte Thema aus dem ersten Teil („Primavera“) der Quattro stagioni. Auf einem Roller fährt Fortuna im goldenen Rock, roten Bustier und Flügelhelm herein und ruft ihn zu siegreichen Taten auf. Sogleich macht er sich auf die Reise und kehrt mit blutigen Wunden  und dem Fell eines Bären zurück, vor dem er Leocasta gerettet hat.

Vivaldis „Giustino“ bei den Barocktagen 2022 an der Berliner Staatsoper/ Szene/ Foto Matthias Baus

Wunderbar resonant sang Dumaux die Arie „Ho nel petto un cor si forte“ am Ende des 2. Aktes, bei der ihn Franziska Fleischanderl am Psalterium virtuos begleitete und zupfend überirdische Klänge erzeugte. Im 3. Akt hat er weitere lyrisch getragene Arien von starker Empfindung zu singen, im finalen Quartetto („In braccio a te“) aber auch jubilierende Töne des Glücks. Hier sind Leocasta sowie der Kaiser Anastasio und die Kaiserin Arianna seine Partner. Letztere gab die ukrainische Sopranistin Kateryna Kasper mit noblem Sopran, der gleichwohl zu energischer Attacke fähig war, wie er auch nicht vor keifenden Tönen zurückschreckte, wenn es galt, den sie bedrängenden Tyrannen Vitaliano in die Schranken zu verweisen. Aber häufig konnte man sich an den reichen Valeurs und brillanten Spitzentönen der Stimme erfreuen. In trauter Zweisamkeit war sie mit ihrem Gatten im Duettino „Mio bel tesoro“ vereint, im Madrigale „Dalle gioie del core“ wartete sie mit delikatesten Farben auf. Als Anastasio trat der zweite Counter der Besetzung an – der Italiener Raffaele Pe. Vom Inszenierungsteam ist er oft als hüpfender Spaßmacher in Turnhosen und mit nackten Beinen verzeichnet. Die Stimme hat ein stärkeres Vibrato, eine strengere Höhe und gelegentlich die Tendenz zur Larmoyanz und heulendem Klang. Seine Arie „Vedrò con mio diletto“ zählt zu den berühmtesten Nummern des Werkes und findet sich auf vielen Counter-Recitals. Am besten aber gelang ihm das stürmische „Taci per poco ancora“, wo er mit vehementer Attacke imponierte. Als Leocasta, der zweiten Sopranpartie der Oper, ließ die Amerikanerin  Robin Johannsen anfangs eine liebliche, doch recht kleine Stimme aus dem Soubrettenfach hören, was den Kontrast zu Arianna schuf. Mit kokettem Ausdruck, flexiblen Koloraturen und feinen staccati in ihrer Arie „Senti l’aura“ vermochte sie zu gefallen. In der Arietta „Senza l’amato ben“ im 3. Akt fand sie sogar zu inniger Lyrik. Der südafrikanische Tenor Siyabonga Maqungo, Ensemblemitglied des Hauses, hatte für den tyrannischen Vitaliano die passende Aura und den höhenbetonten, durchschlagenden Tenor. Mit der stürmischen Arie „Il piacer della vendetta“ machte er besonderen Effekt. Auch das vehemente „All’armi“, begleitet von Explosionen und Pulverdampf, verfehlte seine Wirkung nicht. Sein Bruder Andronico ist gleichfalls eine zwiespältige Figur. Um der geliebten Leocasta nahe zu sein, verkleidet er sich als Frau unter dem Namen Flavia. Leider missversteht das die Regie und entstellt ihn zu einer abstoßenden Vogelscheuche. Helena Raskers Stimme aber ist klangvoll und gefiel sogleich in der munteren Arietta „È pur dolce“. Besonders hanswurstig ist der Auftritt mit dem Bruder Vitaliano in Zebra-Kostümen mit Narrenkappen. Die intriganteste Figur der Handlung ist General Amanzio, der des Kaisers Eifersucht auf Giustino erweckt und sich gar selbst zum Kaiser ernennt. Davon kündet die resolute Arie „Sì, vo a regnar!“. Olivia Vermeulen in grauer Uniform und schwarzen Stiefeln sang sie mit Nachdruck, wie auch später das „Or che cinto“, wenn sich Amanzio bereits auf dem Thron wähnt. Da die niederländische Mezzosopranistin auch mit der Fortuna besetzt war, hatte sie Gelegenheit für gleichermaßen optische wie akustische Kontraste. Im Garten kommt es zu einer grotesken Begegnung von Flavia und Leocasta, wenn beide in Torten-Röckchen und hoch getürmten Allonge-Perücken auf einer karierten Decke ein Picknick einnehmen, akustisch begleitet von eingespielten Vogelstimmen und optisch von Judoka auf drei Bodenmatten. Am Ende schwebt wieder die Wolke vom Himmel, welche schon mehrfach zum Einsatz kam, ob mit rauchendem oder Seifen blasendem Apollo oder dem altehrwürdigen Gottvater in weißer Haarpracht. Bernd Hoppe

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Donizetti-Festival Bergamo 2022: Eine Marien-Prozession zieht über den Sentierone. So wie sie in Bergamo in historischen Stadtteilen seit Jahrhunderten stattfinden. Diesmal wird die auf einem Podest getragene und von Klageweibern geleitete Schmerzensmutter von Musik Donizettis umweht, die von den Klängen der Dudelsackspieler bis zur Musikanlage wandert und geradewegs in die Lobgesängen der Mönchen im spanischen Kloster übergeht. Von der abendlichen Promenade vor dem Teatro Donizetti blendet Valentina Carrasco somit ins Kloster Saint-Jacques de Campostelle über, wo die erste und letzte Szene von Donizettis La Favorite spielt. Kirche und Staatsmacht stehen sich in ihrer Inszenierung unversöhnlich gegenüber. Dunkle Klausen hinter Gittern und lichte Schleierräume. Dem König wird untersagt, sich von seiner Gattin zu trennen und sich seiner Mätresse zuzuwenden, da ihn andernfalls der Bann der Kirche treffe. Die Sichtweise entspricht ganz dem bürgerlichen Moralverständnis des 19. Jahrhunderts, weshalb sich Carrasco und ihre Ausstatter Carles Berga und Peter van Praet und die Kostümbildnerin Silvia Aymonino vage an der Epoche Donizettis und des Bürgerkönigs Louis-Philippe mit Kronleuchtern, Gehröcken und Paradebett orientieren. Der historische Alphonse XI. dagegen durfte sich unbeschadet mit mehreren Geliebten vergnügen. Wie weiße Berglandschaften ragen die Bettengestelle auf, wo, unter weißen Laken versteckt, nun die ehemaligen und alt gewordenen Gespielinnen verharren, bis sie Carrasco im vielteiligen Divertissement des zweiten Akts zu Leben erweckt und wie die Geliebten des Blaubart aus ihrer Enklave befreit. Die Alten steigen von den etagenhohen Betten herunter, tanzen und wiegen sich, fassen sich an den Händen, beschwören vor den Spiegeln einstige Schönheit und umschmeicheln den König, dem die immer heftiger werdenden Zudringlichkeiten und Forderungen seiner Verflossenen merklich unangenehm werden. Ein schöner Einfall aus der Jetztzeit, der die Fallstricke umgeht, wie sie eine solche 20 Minuten lang die Handlung unterbrechende und kaum dramaturgisch sinnvoll in die Handlung einzuflechtende Tanzszene birgt.   

Gaetano Donizetti/ Opera Rara Archive

Nach wenigen Jahren ist die 2018 im Teatro Donizetti aufgeschlagene Baustelle geräumt, sind Rekonstruktion und technische Erweiterung des im Jahr 1800 eröffneten Theaters abgeschlossen. Noch auf der Baustelle, die seinerzeit smart als Cantiere del Teatro Donizetti ausgewiesen wurde, war es 2019 zur szenischen Uraufführung des im Jahr zuvor in London erstmals konzertant gegebenen L’Ange de Nisida gekommen. Konsequenterweise folgte jetzt bei Donizetti Opera 2022 die Oper, zu der L’Ange de Nisida die Keimzelle bildete: La Favorite. Zusammen mit der im Oktober 1822 uraufgeführten Semiseria Chiara e Serafina, die sich in das #Donizetti200-Projekt der vor 200 Jahren uraufgeführten Opern Donizettis einreiht, und der Buffa L’aio nell‘imbarazzo von 1824 ergab sich ein rundes Festivalprogramm, wie in Vor-Corona-Zeiten.

Als Donizetti 1838 in Paris ankam, lagen goldene Jahre vor ihm. Alle Opernhäuser wurden zu Donizetti-Theatern: Bald spielten das Théatre des Italiens Roberto Devereux und L’elisir d’amore, die Opéra-Comique La Fille du régiment, die Opéra Les Martyrs. Und das Théatre de la Renaissance im August 1839 die französische Lucie de Lammermoor, nach deren Erfolg der Impresario Anténore Joly seinen Starkomponisten sofort mit einer neuen Oper, der Semiseria L’Ange de Nisida mit einem Libretto von Gustave Vaëz und Alphonse Roger, beauftragte. Donizetti begann umgehend mit der Arbeit. Allerdings mussten die Proben nach dem Bankrott des Theaters im Mai 1840 abgebrochen werden und die Geschichte des Königs von Neapel und seiner leidenschaftlichen Beziehung zu einer ihm anvertrauten Frau, die er mit einem ihm zu Dank verpflichteten Soldaten vermählt, landete in der Schublade. Donizetti hatte dafür auf Material zu einer nie aufgeführten Adelaide zurückgegriffen. Die Aufführung in Bergamo hatte überzeugend dargelegt, dass es sich bei dem 180 Jahre nach der Entstehung erstmals aufgeführten L’Ange de Nisida um mehr als eine simple Vorstudie zu La Favorite handelte. In der für ihn misslichen Lage kam es Donizetti zupass, dass ihn Léon Pillet, der Directeur der Opéra, zu einer neuen Oper für sein Haus drängte. Innerhalb von nur rund drei Monaten wurde der Dreiakter L’Ange rasch für die vieraktige, bereits am 2. Dezember 1840 uraufgeführte La Favorite zurechtgeputzt (daneben arbeitete Donizetti an seiner Adelia für Rom). Das Textbuch zu La Favorite stammt nach wie vor von Gustave Vaëz und Alphonse Roger, die ihre 1470 in Neapel und auf des Königs Liebesinsel Nisida spielende Handlung nach Spanien verlegten. (…)  La Favorite wurde, meist in der seit 1841 gebräuchlichen italienischen Fassung als La Favorita, neben Lucia di Lammermoor zur erfolgreichsten und durchgehend gespielten Seria Donizettis.

Donizetti Festival Bergamo 2022: „La Favorite“/ Szene/ Foto Gianfranco Rota

Auf geniale Weise hatte Donizetti alle Spuren verwischt und alle Vorlagen zu einem dramatischen Ganzen verschmolzen, die Stücke aus der italienischen Adelaide, den allergrößten Teil von L’Ange und die für Duc d’Albe konzipierte Tenorarie „Ange si pur“, die dem länglich uninspirierten vierten Akt Glanz verleiht. Neu sind vor allem die großen Arien von Alphonse und Léonor. „Die Umformung der Oper von Ange de Nisida zur Favorite war ein schwieriger gradueller Prozess“, wie Rebecca Harris-Warrick zu ihrer kritischen Ausgabe anmerkte, die jetzt in Bergamo, wie bereits 1991, aufgeführt wurde. Ziel der Edition war es, eine Form zu ermöglichen, „nicht wie sie am Abend der Premiere gesungen wurde. Zur Zeit von Donizettis Abreise nach Rom (14. Dezember 1840) hatte La Favorite die Form der vorliegenden kritischen Ausgabe angenommen“.

Donizetti Festival Bergamo 2022: „La Favorite“/ Szene/ Foto Gianfranco Rota

In der von Riccardo Frizza energisch zusammengehaltenen Aufführung erscheint La Favorite als spannende Grand Opéra. Frizza und das Orchestra Donizetti Opera spielen die Musik fetzig und laut auftrumpfend, unterstreichen den großen dramatischen Bogen, gewaltig aufrauschend in den weiten Räumen, die Donizettis große und kunstvolle Orchesterbesetzung eröffnet, und mit viel Sinn für die Architektur der Szenen und Tableaux, insbesondere im Finale des dritten Aktes. Der vierte Akt fällt ab. Da können auch der präzise Maestro und das mit Gusto spielende Orchester nichts retten. In seiner Romance „Un ange, une femme inconnue“ klingt Javier Camarena als Fernand anfänglich merkwürdig angestrengt, der Ton ist harsch, der Klang in der oberen Mittellage grell und die Emission uneben, nur die absolute Höhe ist frei, es gelingen aber schöne demi-teintes und Schwelgereien im Pianobereich. Wunderbar feurig klingt sein Tenor bereits in der den ersten Akt abschließenden Arie, dann in den Duetten und Ensembles, wohingegen „Ange si pur“  im vierten Akt etwas müder und prosaischer ausfällt. Seine Geliebte, die er sich mit dem König teilen soll, gibt Annalisa Stroppa mit resolutem Zugriff. Ihr halsig-opaker Mezzosopran ist eher streng als charmant, eher robust als sinnlich, doch in den Duetten mit Fernand und Alphonse zeigt sie Feuer und dramatisches Kalkül; erwähnenswert, dass in dem auf Alphonses Arie „Léonor! Viens, j’abandonne“ folgenden Duett mit Léonor erstmals die Cabaletta erklingt, die bei der Uraufführung wegen ihrer gegen die Kirche gerichteten Worte gestrichen worden war – „In Bergamo, the cabaletta will finally receive its presumably first modern performance“, so Frizza. Wohltuend, wie Florian Sempey, der einzige native speaker der Produktion, das bei der Mezzosopranistin stark italienisch eingefärbte Französisch zum Klingen bringt. Sempey entzückt durch die formidable Diktion, aber auch durch Eleganz und Ausdruckskraft, die sein nicht ganz einheitlich durchgeformter, aber charaktervoll lasierter Bariton gewonnen hat, seit er vor drei Jahren die gleiche Partie, also den Don Fernand, in L’ange de Nisida gesungen hatte. Der schöne, schlanke Bass von Evgeny Stavinsky (Balthazar) ist eine Entdeckung. Edoardo Milletti brachte seinen Tenor als Don Gaspar vorteilhafter ins Spiel als Caterina Di Tonno (Inès) ihren luftigen Sopran.

Donizetti Festival Bergamo 2022: „Chiara e Serafina“/ Szene/ Foto Gianfranco Rota

Bis zum Ende seiner Karriere schuf Donizetti gleichermaßen erfolgreich sowohl ernste wie heitere Werke, zu einer Zeit, als eine solche Vielseitigkeit italienischer Maestri längst aus der Mode gekommen war. Im Teatro Sociale in der Oberstadt folgte mit dem melodramma giocoso Chiara e Serafina, ein Werk, in dem der 25jährige dem Standard der Semiseria folgend, beide Gattungen vereint. Die neunte von Donizettis zur Aufführung gebrachten Opern war seit dem Misserfolg an der Mailänder Scala nie wieder gespielt worden. Den Text zur zweiaktigen Semiseria Chiara e Serafina (oder I Pirati) lieferte ihm Felice Romani, damals Hauptlibrettist des Hauses, nach dem französischen Melodram La Cisterne (1809) des zu Beginn des 19. Jahrhunderts ungemein populären „Corneille der Boulevards“ René Charles Guilbert de Pixérécourt. Das weitschweifige Verkleidungs- und Intrigenstück ist kompliziert, dreht sich aber im Kern um die beiden Sopran-Schwestern Chiara und Serafina, die vor zehn Jahren getrennt wurden. Sie sind die Töchter spanischen Kapitäns Don Alvaro. Während Chiara mit dem von Piraten verschleppten Vater auf einer Insel festgehalten wird, verbleibt Serafina in der Obhut von Don Alvaros Feind Don Fernando. Don Fernando will sein Mündel heiraten, um an ihr Vermögen zu kommen. Serafina jedoch liebt den Bürgermeister-Sohn Don Ramiro. Als Don Fernando erfährt, dass die Piraten Don Alvaro und Chiara freigelassen haben, muss er rasch handeln und heuert den Piraten Picaro an, der in die Rolle des Don Alvaro schlüpfen und die widerstrebende Serafina zur Heirat überreden soll. Don Alvaro und Chiara kommen tatsächlich auf die Insel, landen zusammen mit Serafina und einigen anderen in der Zisterne der Piraten usw. Das Happy End der naiven Theaterschurkerei, die von allem und für jeden etwas bot, ist absehbar und muss nicht ausgeführt werden. Die gut besetzte und von dem berühmten Alessandro Sanquirico ausgestattete Oper, die zusätzlich mit zwei Balletten von Gaetano Gioja gegeben wurde (wobei Donizetti das Gabrielle di Vergy-Thema des einen Balletts später zu einer Oper inspirierte), war kein Erfolg. Kein Wunder, wenn man liest, unter welch immensem Zeitdruck die Oper in zwölf Tagen fertig gestellt und parallel dazu die improvisierte Probenarbeit durchgeführt wurde. Donizetti schrieb seinem Lehrer Mayr, „Ich empfehle ihnen, ein Requiem mitzubringen, da ich erwarte umgebracht zu werden.“ Umgebracht wurde Donizetti nicht, aber nach zwölf Aufführungen verschwanden Chiara e Serafina für immer von der Bildfläche. Ihre Mailänder Schlappe merzen Donizetti und Romani erst 1830 mit Anna Bolena am Teatro Carcano und drei Jahre später mit der Lucrezia Borgia an der Scala aus. Heute hören wir das anders, mäkeln weniger an dem Versuch des jungen Donizetti herum. Die Rezitative sind langatmig, die Strukturen und Arienmuster Schablone, doch bereits die Ouvertüre, die einen Seesturm illustriert, bereitet auf den Ernst und die Dramatik der Rettungsoper vor. Die Instrumentation ist gewitzt und teilt den Protagonisten hübsche Details der Soloinstrumente zu, das Englischhorn in Chiaras Arie, die Harfe für die Arie der Lisetta, die Violine in Serafinas Arie, Violine und Fagott im Duett Serafina-Picaro und das Horn in der Cavatina des Piraten Picaro. Die handlunstreibenden Ensembles, das erste Finale und das Sextett gegen Ende des zweiten Aktes, sind kunstvoll verschachtelte und warten mit immer neuen Wendungen auf. Auffallend, wie Donizetti der Musik seinen eigenen Stempel aus Melancholie und Zärtlichkeit aufdrückt. Ein bisschen Rossini-Drive, doch weniger als erwartet. Immer etwas länglich und gedrechselt, wie auch das nie zu einem Ende findende Rondo der Chiara am Schluss der Oper. Alle Beteiligten laufen während dieser langen Nummer von der Bühne, die Matrosen stützen sich gelangweilt auf ihre Besen, bis die Musik endlich auf den Punkt kommt.

Donizetti Festival Bergamo 2022: „Chiara e Serafina“/ Szene/ Foto

Der Bühnen- und Kostümbildner Gianluca Falaschi, der im Vorjahr in Mainz mit Adriana Lecouvreur sein Regie-Debüt  gegeben hatte, lässt sich von solchen Längen nicht ausbremsten. Seine große Spielwiese aus Inselfleck und Palmen, heruntergekommenem Kreuzfahrtschiff, schaumgekrönten Wellen, duftigen Wölkchen vor blauem Himmel, windschiefer Ritterburg und kruschteligem Kerker bevölkert er mit Tanz-Girls in blauen Glitzer-Petticoats, fleißigen Matrosen (Coro dell’Accademia Teatro alla Scala) und Menschen, die allesamt ihre grotesk langen und spitzen Nasen und ausladenden Kinnpartien auszeichnen, ein kunterbuntes Revue-Völkchen, das sich nur zu unserer Pläsir eingefunden hat. Mit aufgeblasenem Pathos, Ironie und Komik mischt Falaschi die halbernste Geschichte auf, die denn eindeutig der komischen Seite zuneigt, schlägt einen Bogen vom Boulevardtheater des 19. Jahrhundert zum Varieté der 1940er und 50er Jahre, vom Märchen zur Karikatur. Der retrospektive Touch und nostalgische Blick entspricht dabei gut Donizettis Musik, die unter Sesto Quatrini und dem Originalklangmusikern des Orchestra Gli Originali spitzfingerig, scharf und kantig, doch auch rhythmisch sehr wendig und situationsbezogen erschien. Es sangen die Solisten der Accademia di perfezionamento per cantanti lirici del Teatro alla Scala, denen Pietro Spagnoli den letzten Schliff gegeben hatte. Er selbst musste sich bei Premiere, wo er die zentrale Buffopartie des närrischen Don Meschino singen wolle, durch Giuseppe de Luca vertreten lassen. Der junge Bariton mit dem berühmten Namen nutzte seine Chance. In der Hosenrolle der Chiara zeigte Greta Doveri gleich in der vierteiligen Cavatina einen auffallend gut durchgebildeten dunkelschweren lyrischen Sopran, während Fan Zhou die Serafina als zuckersüßes Gegenstück gab und in ihrer Gran scena zu kleinstimmig bleibt. Die vom großen Tamburini kreierte Partie des Picaro bot Hyun-Seo Damien Park viele Möglichkeiten, seinen geschmeidigen strahlkräftigen Bariton perlen zu lassen, während Davide Park den Don Ramiro auch stimmlich ein wenig zu kabarettistisch anlegte und Matias Moncade den Don Alvaro und Don Fernando mit gutmütigem Bass gestaltete. Am besten gefiel Valentina Pluzhnikova als drollige Lisetta, die mit tieffarbigem und eigenwillig üppigem Mezzosopran großen Effekt machte, ebenso komödiensicher überdreht Mara Gaudenzi als skurrile Agnese.

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Donizetti Festival Bergamo 2022: „L´Aio nel´ imbarazzo“/ Szene/ Foto

Nicht ganz so unbekannt wie Chiara e Serafina ist die zwölf Monate später, am 4. Februar 1824 am Teatro Valle in Rom uraufgeführte Buffa L’aio nell’imbarazzo, die schönste und erfolgreichste der frühen Opern Donizettis, der bis dahin kaum einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Nach den Kleinkunst-Etüden, die für jeden etwas boten, katapultiert der künstlerische Leiter des Festivals Francesco Micheli zum Abschluss des Premieren-Trios Donizetti in eine nahe Zukunft, die ohne soziale Nähe auskommt, was nicht eben günstig für einen Theatermann sein dürfte. Der Zweiakter Der Erzieher in Verlegenheit, zu dem Jacopo Ferretti das Libretto nach dem gleichnamigen Lustspiel (1807) des Giovanni Giraud verfasste, erzählt sich von selbst. Der sittenstrenge Marchese Don Giulio hält seine Söhne Enrico und Pippetto in halsstarriger Abhängigkeit. Widerstand wagen sie nicht, gestehen auch nicht die heimliche Heirat Enricos mit Gilda bzw. Liebe des jüngeren Pippetto zur ältlichen Haushälterin Leonarda. Der Hauslehrer Don Gregorio, dessen Part Donizetti in seiner revidierten Fassung zwei Jahre später für Neapel als Don Gregorio ins lokale Idiom übertrug, wird zum Verbündeten der jungen Leute. L’aio ist eine allerliebste Buffa. Ernst und konventionell im Zuschnitt freilich, doch mit liebevoller Feinzeichnung der Figuren, durchzogen von romantischer Melancholie und sanftem Pathos sowie schnurrender Plapperlaune und süßen Schwärmereien der jungen Amorosi à la Rossini. Insgesamt zeichnen ihn viele Qualitäten sowie die theatralische Verve aus, die auf Donizettis große Komödien L’elisir d’amore und Don Pasquale hinweisen. In ihrer in Bergamo vorgestellten kritischen Edition klamüsert Maria Chiara Bertieri die Fassungen auseinander und zeigt den L’aio so, wie er in Rom uraufgeführt wurde, denn die bekannte Aufführung unter Bruno Campanella von 1984 in Turin (mit der Serra, Paolo Barbacini als Enrico und Enzo Dara als Gregorio), an die ich mich noch gut erinnere, hatte offenbar eine Mischfassung verwendet. Einiges zu Beginn des zweiten Aktes fällt weg, also das Duett des Pippetto mit Gregorio und das Duett der Leonarda mit Gilda, wodurch der jüngere Sohn (Lorenzo Martelli) und die Haushälterin (Caterina Dellaere) zu Stichwortgeber in den Ensembles degradiert sind. Dagegen erhält Marchese Giulio in der Cavatina „Basso, basso il cor mi dice“  eine zusätzliche Arie und wird auch sonst in jeder Hinsicht zur eigentlichen Hauptfigur aufgewertet. Der 70-jährige Alessandro Corbelli, der bereits in Turin den Marchese gegeben hatte, gefällt gleich in dieser Auftrittsarie mit fein nuancierter Buffokunst, präzise ziselierten Koloraturen, pointierter Deklamation und der Eleganz eines klanglich ebenmäßigen Baritons. Man bedenke, dass Donizetti die Partie für seinen Lieblingsbariton Tamburini konfektionierte. Im Lauf der Aufführung entwickelt Corbelli auch einen kräftigren Ton, so dass Jahrzehnte wie weggeweht scheinen. Mit dezenter und geschmackvoll zurückhaltender Komik nimmt er sich wie ein Bruder des Monsieur Hulot beim Besuch im futuristischen Haus seiner Verwandten aus. Dabei erwartet Francesco Micheli in seiner Inszenierung nicht viel Charakterisierungskunst. Während der Introduzione wird Giulio Antiquati als aufstrebender Politiker vorgestellt: Das Bild der perfekten Familie geht nach dem Seitensprung der Gattin in die Brüche. Don Giulio erhält das alleinige Sorgerecht für seine beiden Söhne, denen er seine unüberwindlichen Vorbehalte gegen alle Frauen aufdrängt. Die Oper spielt zwanzig Jahre später, also 2042: Don Giulio ist in höchste politische Sphären aufgestiegen. Nach wie vor hält er seine Söhne von Frauen fern. Das fällt nicht schwer, da sich die Figuren ohne soziale Begegnungen in ihren Kojen abkapseln und die Kommunikation über Chats stattfindet. Jede/r besetzt ein farbliches Feld, wodurch sich auf der oberen Bühnenhälfte die Kommunikation mit Emojis, bewegten Piktogrammen und Schriftzeichen mit- und nachverfolgen lässt, jeder ist sein Avatar: Probleme in der Familie Antiquati lassen sich gut unter den Tisch kehren. Don Gregorio, kurz Greg, fungiert als Influencer, moderner Heilsversprecher und Don Giulios Propagandachef. Wie futuristische Büro-Container werden die Räume verschoben, in denen die anämischen Figuren in ihren minimalistischen Outfits und farblich entsprechenden Brillen wie Gäste von der Raumpatrouille Orion wirken. Die musikkomödiantische Interaktion wirkt reduziert. Im zweiten Akt kappt Micheli den futuristischen Zierrat weitgehend. Auf der leeren Bühne bedürfen die verqueren Situationen der Klärung, denn Donizettis Musik macht ernst und entrückt seine Figuren im klärenden Quintett vor dem Finale in eine Sphäre wärmender Menschlichkeit.

Donizetti Festival Bergamo 2022: „L´Aio nel´ imbarazzo“/ Szene/ Foto

Begrenzt witzig und komisch. Vincenzo Milletari und das Orchestra Donizetti Opera (und die zwei Handvoll Sänger des Coro Donizetti Opera) versetzten das Publikum in Begeisterung. Bei seinem Heimspiel sang Alex Esposito den Lehr- und Hofmeister Greg mit kerniger bassbaritonaler Überpräsenz und guter Beweglichkeit in den Plappergesängen, wie in seiner Arie „Zitta, zitta non piangete“. Esposito fungierte auch als Schul- und Gesangsmeister für die aus 135 Bewerbern ausgewählten Absolventen der Bottega Donizetti, allesamt ziemlich gut: besonders der 26jährige Francesco Lucii als Enrico, dessen Tenor in der unermüdlichen Höhe nicht an Strahlkraft verliert, die gleichaltrige Marilena Ruta als brillante Gilda, die zur neuen politischen Leitfigur aufsteigt und im abschließenden Rondo das feministische Credo „Siamo nate a comandar“ verkündet, und der 28jährige Lorenzo Liberali mit strammem Bassbariton als Diener Simone. 2022 war ein gutes Jahr für Donizetti und das Festival. Im kommenden Jahr, wenn Bergamo im Zusammenspiel mit Brescia als italienische Kulturhauptstadt firmiert, darf man auf Il diluvio universale gespannt sein.  Rolf Fath

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David und Halevy beim Wexford Festival Opera 2022. Das 71. Wexford Festival Opera wurde am 21. Oktober eröffnet, und zwar wie üblich mit faszinierenden Werken, die aus dem Repertoire verschwunden sind (oder nie dazu gehörten), die aber musikalisch wertvoll sind.  Das diesjährige Festival stand unter dem Motto „Magie und Musik“, und die Werke sollen Magie beinhalten – und hervorrufen. Die wichtigsten Opern in diesem Jahr waren  La tempesta von Fromental Halévy, Lalla-Roukh von Félicien David und Armida von Antonin Dvorák.

Halevys „La Tempesta“/ Henriette_Sonntag war die erste Miranda/Gemälde von Carl Christian Vogel von Vogelstein 1830 /Blechen Gesellschaft /Wikipedia

La tempesta, mit der das Festival eröffnet wurde, hat eine interessante, wenn auch kurze Geschichte. In den 1840er Jahren befand sich das Her Majesty’s Theater, das lange Zeit der Schauplatz der italienischen Oper in London war, im Niedergang: Viele der Hauptsänger hatten das Haus verlassen, um ein neues Ensemble zu gründen, aus dem Covent Garden hervorging, und die Zuschauerzahlen am Her Majesty’s Theater gingen zurück. Der Impresario Benjamin Lumley wollte eine neue Oper produzieren, die Aufsehen erregen und das Publikum zurückbringen sollte: Er brauchte einen „Hit“. Er wollte ein Thema aufgreifen, das den Engländern sehr am Herzen lag, indem er das neue Werk auf ein Stück von Englands größtem Dramatiker, William Shakespeare, stützte. Es sollte in italienischer Sprache sein, der Sprache der meisten Opern, die seit Händel in London aufgeführt wurden. Lumley wollte auch einen bedeutenden Librettisten und Komponisten, und er plante, einige der größten Starsänger der damaligen Zeit zu engagieren. Der von ihm bevorzugte Librettist war Felice Romani (Autor von Norma, La sonnambula, Anna Bolena und vielen anderen Werken in den 1820er und 30er Jahren), und der gewünschte Komponist war Felix Mendelssohn. Mendelssohn bevorzugte jedoch Eugène Scribe, den größten französischen Librettisten seiner Zeit, und so beauftragte Lumley Scribe mit der Abfassung des Librettos, das von Pietro Giannone aus dem Französischen ins Italienische übersetzt wurde. Mendelssohn war unbeeindruckt – und verärgert darüber, dass Lumley ihn als Komponisten bekannt gemacht hatte, bevor jemand einen Vertrag unterschrieben hatte, und er starb ohnehin unerwartet im November 1847, bevor die Arbeit beginnen konnte. Lumley wandte sich daraufhin an Halévy, der bereits für La Juive (1835) und viele andere große Opern und Opéra-comiques berühmt war, von denen einige in London zu hören gewesen waren, und Halèvy erklärte sich bereit, Scribes Libretto zu vertonen. Als Starsänger hatte Lumley Jenny Lind für die Rolle der Miranda ins Auge gefasst, die damals auf dem Höhepunkt ihrer Popularität in England stand, und Luigi Lablache für die Rolle des Calibano. Schließlich ließ Linds Popularität nach, und sie zog sich 1849 im Alter von 29 Jahren von der Opernbühne zurück.  Lumley wandte sich an Henriette Sontag, die sich 1829 aus der Oper zurückgezogen hatte, als sie den Grafen Rossi heiratete, und Sontag willigte ein, wieder zu singen, weil sie und ihr Mann das Geld brauchten. Filippo Coletti war der Prospero und Michael Balfe dirigierte.

Halevys „La Tempesta“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Ursprünglich sollte die Rolle der Ariele, Prosperos Zauberin, eine Sängerin sein, und Halévy komponierte die Vokalmusik für sie, doch als die verzögerte Inszenierung 1850 auf die Bühne kam, war Ariele zu einer stummen Rolle geworden, die der Tänzerin Carlotta Grisi, der wohl berühmtesten Ballerina der damaligen Zeit, übertragen wurde. Ein Teil von Halévys Gesangsmusik ging an einen „Air Sprite“, während für Grisi eine neue Tanzmusik komponiert wurde. Die Aufführung, die schließlich am 6. Juni 1850 im Her Majesty’s Theatre stattfand, war ein großer Erfolg und lief etwa dreizehn Vorstellungen lang, bevor Grisis Abgang die Show zur Schließung zwang. Dies reichte jedoch nicht aus, um das Her Majesty’s Theatre zu retten, das ein paar Jahre später geschlossen wurde. Als nächstes übernahm Lumley die Leitung des Thèâtre Italien in Paris und führte dort bald La tempesta ein. Bei der dortigen Erstaufführung stürzte eine neue Tänzerin, Carolina Rosati, die die Rolle der Ariele spielte, durch eine offene Falltür in der Bühne, und obwohl sie die Aufführung beendete, überschatteten der erschreckende Unfall und die dadurch verursachte Verzögerung alle anderen Aspekte der Aufführung, und die Oper fiel durch. Danach wurde La tempesta bis heute nicht mehr aufgeführt und nicht mehr gehört.

Die Story in Scribes Libretto folgt zunächst getreu Shakespeare, weicht dann aber im letzten Teil des Werks davon ab. Prospero, der Herzog von Mailand, wurde von seinem Bruder Antonio mit dem Einverständnis von Alonso, dem König von Neapel, gestürzt, der Prospero mit seiner kleinen Tochter Miranda in einem Boot ausgesetzt hat. Sie haben sich auf einer Insel in Sicherheit gebracht, die von Calibano und seiner Mutter, der Hexe Sicorace, bewohnt wird. Prospero hat mit seiner Magie Sicorace in einem Felsen eingesperrt und den guten Geist Ariele von seiner Macht befreit, während Calibano sein Sklave geworden ist. Die Oper beginnt mit einem Prolog, der den titelgebenden Sturm“ schildert, der von Prospero und Ariele angezettelt wurde, um das Schiff mit Alonso und Antonio sowie Alonsos Sohn Fernando zu zerstören.  Diese Männer werden zusammen mit den Matrosen auf Prosperos Insel an Land geworfen. Im ersten Akt erfährt Miranda von ihrem Vater, wie es auf der Insel aussieht, und sie sieht zum ersten Mal Fernando und verliebt sich in ihn. Im zweiten Akt befiehlt die unsichtbare Stimme von Sicorace Calibano, einige magische Blumen zu sammeln, die ihm drei Wünsche erfüllen sollen. Sie möchte, dass ihr Sohn einen Wunsch benutzt, um sie aus dem Felsen zu befreien, aber er weigert sich. Stattdessen wird der erste Wunsch verwendet, um Ariele einzuschläfern und in einen Baum zu sperren; der zweite wird verwendet, um Miranda in einen Schlaf zu versetzen, weil Calibano sie begehrt und eine Vergewaltigung plant. Als er ihren schlafenden Körper trägt, trifft er auf die Matrosen des Schiffes, die ihn mit Rum betrunken machen; er schläft ein. Im dritten und letzten Akt stiehlt Miranda die Blumen und benutzt den letzten Wunsch, um die Matrosen schlafen zu lassen; sie entkommt.  Prospero befreit Ariele vom Baum (in dieser Inszenierung durch einen riesigen Steinkopf ersetzt) und schickt sie auf die Suche nach Miranda. Miranda begegnet der körperlosen Stimme des in einem Felsen gefangenen Sicorace, die ihr sagt, sie solle Fernando töten, den sie als Feind bezeichnet. Miranda bereitet sich darauf vor, den schlafenden Fernando zu töten, aber er erwacht rechtzeitig und seine glühende Liebe überzeugt sie, dass er kein Feind ist. Prospero, Ariele und die reumütigen Antonio und Alonso treffen ein, und alle versöhnen sich für das Happy End. Sie segeln nach Italien und lassen Calibano und Sicorace auf der Zauberinsel zurück.

Halevys „La Tempesta“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Musikalisch ist Halévys Musik handwerklich einwandfrei und hebt sich gelegentlich von den allgemeinen Klischees ihrer Zeit (oder eigentlich der Zeit von Rossini, Donizetti und Bellini) ab, um in Ensembles und einprägsamen Melodien einen dramatischen Ausdruck zu finden, obwohl die Arien eher aus dem allgemeinen Stoff der Zeit geschnitten sind. Mirandas Auftritt („Parmi una voce il murmure“) spricht von der natürlichen Welt, die Miranda verzaubert, und lässt Insekten singen; die Cabaletta ist stark ausgeschmückt. Prosperos Romanza „Sorge un fiore“ fiel in unserer Aufführung weg, ebenso Fernandos Cavatina „Cara, soave aerea voce“, eine schwierige Arie, die hohe Töne und viel Fioratura des Tenors erfordert. Andererseits war der gesamte Prolog, der den Sturm auf dem Meer schildert und größtenteils aus Chorgesang bestand, gefolgt von dem unvermeidlichen Gebet, eine angemessene Beschreibung des Sturms und des Untergangs des Schiffes mit Alonso, Antonio und Fernando. Ein schönes Duett für Fernando und Miranda, das durch die Hinzufügung von Prospero zu einem Trio wird, beendet den 1 Akt.

Der 2. Akt, in dessen Mittelpunkt Calibans Auffinden der Zauberblumen und seine versuchte Vergewaltigung Mirandas durch das betrunkene Finale stehen, enthält die beste Musik der Oper und ist besonders gut, beginnend mit dem ausgelassenen Trinklied „Ci oppresse abbastanza de‘ mali il pensier“ bis zu der Szene, in der Calibano dem Rum verfällt. Im letzten Akt gibt es ein anmutiges Trio, und Miranda bekommt ein stark verziertes Rondo-Finale („Vinto, la nature e amor“), gerade so, als wäre dies eine Oper von Rossini oder dem frühen Donizetti.

Halevys „La Tempesta“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Leider gelang es der Wexford-Produktion (eine Koproduktion mit dem Teatro Coccia in Novara) nicht, das Festivalthema „Magie und Musik“ zu beleben. Die Inszenierung von Roberto Catalano (Regie), Emanuele Sinisi (Bühnenbild), Ilaria Ariemme (Kostüme) und D. M. Wood (Beleuchtung) hatte keine Magie und stand oft im Widerspruch zu dem Gefühl von Magie, das die Partitur haben könnte. Ein kostümierter Stelzenläufer, der die Besucher im Theater begrüßt, und eine als Zauberin verkleidete Dame, die sich im Foyer unter die Besucher mischt, kamen der Magie des Abends noch am nächsten. Das Problem lag sowohl im Gesang als auch in der Inszenierung. Die Sopranistin Hila Baggio (Miranda) und der Tenor Giulio Pelligra (Fernando) waren den Koloraturanforderungen ihrer Rollen einfach nicht gewachsen; insbesondere Pelligra gehört zur „can belto“-Gesangsschule, die vielleicht für den Verismo funktioniert, aber für diese Art von Oper völlig ungeeignet ist. Die junge Jade Phoenix hinterließ als Ariele einen positiven Eindruck, obwohl ihre Perücke und ihr Kostüm eher an eine alternde Witwe als an einen Luftgeist erinnerten, und der georgische Bass Nikolay Zemlianskikh sorgte in seinen beiden Arien für Totenstille. Das Beste an der ganzen Besetzung war der georgische Bass Giorgi Monoshvili als Calibano. Die Inszenierung kam sowohl stimmlich als auch theatralisch nur in den Szenen zur Geltung, in denen er der Hauptdarsteller war. (Die Kritiker des neunzehnten Jahrhunderts hielten Luigi Lalblaches Calibano-Darstellung ebenfalls für das beste Merkmal der ersten Aufführungen). Rory Musgrave, Richard Shaffrey, Gianluca Moro und Dan D’Souza waren gut als Alonso, Antonio, Stefano und Trinculo, und Emma Jüngling sang die unsichtbare Sicorace, wobei ihre Stimme aus zwei verbeulten Lautsprechern kam, die auf einem Metallrohr von oben herabgelassen wurden. Sicorace schien in der Beschallungsanlage eines Highschool-Fußballspiels gefangen zu sein, denn es war kein Rock in Sicht. Francesco Cilluffo, der hervorragende Arbeit mit Verismo-Opern geleistet hat, dirigierte, als ob es sich um ein weiteres veristisches Werk handelte; am Eröffnungsabend war das Festivalorchester laut, ohne viel Subtilität oder Schattierungen, aber es verbesserte sich bei der zweiten Aufführung (24. Oktober).

 

Der Komponist David in einer eigenen ewigen Wüste – Karikatur aus „Le Monde qui rire“/OBA

Davids Lalla-Roukh. Während La tempesta nicht überzeugen konnte, brachte Davids Lalla-Roukh dem 71. Festival von Wexford die Ehre zurück. Es ist schwer zu verstehen, warum dieses Werk, das so voller kontinuierlicher und einprägsamer Melodien ist, nicht zum Standardrepertoire gehört, und doch war Wexfords Produktion erst die zweite Wiederaufnahme in der Neuzeit und die erste in Europa. Die erste Wiederaufnahme erfolgte durch die amerikanische Opera Lafayette, die Lalla-Roukh 2013 in Washington und New York aufführte; bei einer späteren CD-Aufnahme dieser Aufführung wurden alle gesprochenen Dialoge gestrichen, die von der frankophonen Besetzung in New York gekonnt vorgetragen worden waren.

Lalla Roukh balanciert die Liebesgeschichte mit einer Reihe von komischen Figuren aus: dem Botschafter, der die Prinzessin nach Samarkand bringen soll, Baskir (ein Bass) und der Hofdame der Prinzessin, Mirza.  Die Musik ist üppig und melodiös und geschickt instrumentiert.  Die „orientalische“ Atmosphäre wird durch den Einsatz bestimmter Instrumente und Harmonien erreicht, wobei keine authentischen indischen oder persischen Melodien verwendet werden.  Es ist schwer zu verstehen, warum eine Oper, die einst so beliebt war, nach 1900 so schnell und vollständig von der Bildfläche verschwand, obwohl sie in den letzten 40 Jahren des 19.

Lalla Roukh war auch sehr einflussreich, da sie praktisch die erste der „orientalischen“ Opern war.  Man kann Bruchstücke davon in Berlioz‘ Les Troyens (Berlioz war voll des Lobes über das Werk), in Les pêcheurs des perles und Carmen sowie in Lakmé hören.  Wenn Davids Werk überhaupt überlebt hat, dann nur durch die Werke anderer, bekannterer Komponisten. 

Davids „Lallah Rouk“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Wexfords Inszenierung, wie auch die der Opera Lafayette vor einem Jahrzehnt, trug der lautstark geäußerten Kritik Rechnung, dass „orientalische“ Opern Artefakte des Kolonialismus seien (???) und verbannt werden sollten (sogar Madama Butterfly!). Die Musik bietet jedem Hauptdarsteller eine Arie in jedem Akt.  Die beiden Arien der Lalla Roukh sind erstaunlich abwechslungsreich und schön: „Sous le feuillage sombre“ und „O nuit d’amour“.   Noureddin, der Minnesänger-König, singt im ersten Akt eine Romanze in typischer Couplet-Form („Ma maitresse a quitté la tente“), um die Prinzessin zu unterhalten, und im zweiten Akt singt er außerhalb der Bühne eine Barcarolle („O, ma maitresse“), ein äußerst charmantes Stück, das sicherlich von Ernestos Serenade in Donizettis Don Pasquale inspiriert wurde.  In beiden Akten gibt es Duette, und eines davon, ein komisches Duett zwischen Baskir und Noureddin, in dem ersterer darüber lacht, wie er den König überlisten wird, ohne zu wissen, dass er dem König in Verkleidung gesteht, könnte uns an das Schmugglerquintett in Carmen (1875) erinnern, würde aber die frühen Zuhörer von Carmen an Lalla-Roukh erinnern.  Das Liebesduett im zweiten Akt endet mit einem Abschnitt, der Ralph Locke, einen Musikwissenschaftler, der über David geschrieben hat, an Edgardos „Tu Che a Dio spiegasti l’ali“ in Lucia di Lammermoor erinnert. In Davids Händen sind all diese Nummern von einzigartiger Schönheit und suggestiver Wirkung.

Davids „Lallah Rouk“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Gabrielle Philiponet, ein hervorragender französischer lyrischer Sopran mit einem kraftvollen unteren Register, führte die Besetzung an. Sie war eine wunderschöne und ausdrucksstarke Lalla Roukh, die das Märchen im Märchen überzeugend spielte. Pablo Bemsch, Mitglied des Young Artist Program am Covent Garden, war ihr Nourreddin, der Barde, der in Wirklichkeit ein König war. Seine Stimme war sanft im französischen Stil und hätte für die zarten Melodien, die er singt, ein wenig süßer sein können, aber auch er war überzeugend. Ben McAteer sang und spielte die komische Rolle des Baskir mit viel Humor und einer Stimme, die der Aufgabe leicht gewachsen war. Die vierte bemerkenswerte Rolle ist Mirza, der Diener von Lalla Roukh, dessen Duett mit Lalla an das Blumenduett aus Lakmé erinnert, das zwanzig Jahre später erscheinen wird. Die Mezzosopranistin Niamh O’Sullivan spielte die Rolle mit Bravour. Der bekannte Schauspieler Lorcan Cranitch gab den Erzähler mit gutem Humor und anrührender Empathie. Emyr Wyn Jones und Thomas D. Hopkinson spielten die Nebenrollen von Bakbara und Kaboul gekonnt. Stephen White dirigierte mit absoluter Überzeugung und einem Gespür für die hinreißenden Melodien.  Der Wexford Festival Opera Chorus wurde in seinen wilden, zirkusähnlichen Kostümen zu Individuen. Charles Jernigan/ Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator

 

 

Der Doge der Schlachthöfe – Teatro Regio di Parma: Festival Verdi 2022. Pfiffe beim Erscheinen des Maestros. Sie lösen sich nach der Ouvertüre in spontane Begeisterung  auf, behandelt Roberto Abbado doch die in Arienkonzerten als orchestraler Lückenbüßer malträtierte Sinfonia zu La forza del destino ausgesprochen intelligent und aufregend und unterlegt der langen Aufführung, mit der das 22. Festival Verdi 2022 eröffnet wurde, einen pulsierenden Drive, der auch der Begegnung Leonoras mit Padre Guardiano ihre süßlichen Anmutung nimmt  Doch jedes Mal schrillen nach den Pausen neuerlich Pfiffe durchs Teatro Regio, am Ende wird vor der Galerie ein Plakat entrollt „Hände weg vom Regio“, flattern Blätter herunter. Ein Sturm im Wasserglas: Abbado hatte es gewagt, bei der Eröffnung statt des Chores vom Teatro Regio jenen des Teatro Comunale einzusetzen, der samt des dortigen Orchesters aus Bologna angereist kam. Dennoch ein beachtlicher musikalischer Erfolg, während Altmeister Yannis Kokkos, der im Programmheft seine Absicht erklärt hatte, mit der Aufführung ein „segno di speranza“ zu setzen an der Buntscheckigkeit der Handlung scheiterte, mit der Verdi die Mitte des 18. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Spanien und Habsburg um italienische Gebiete mit dem Schicksal der drei Hauptfiguren verknüpft, die wie in einem antiken Drama erbarmungslos von der Macht des Schicksals eingeholt werden.

Verdi Festival Parma 2022: „La Forza del Destino“/ Szene/ Foto Roberto Ricci

Die Verarmung der spanischen Bevölkerung, Verrohung der Soldateska, der Schirm der Kirche, Rassenwahn, alles was Verdi im 1835 in Madrid uraufgeführten Schauspiel Don Alvaro o la fuerta des sino des Angel Pérez de Saavedra an romantischem Feuer in der Folge von Victor Hugo vorfand, inspirierte ihn in seinem St. Petersburger Auftragswerk zu einem Geschichtspanorama von Shakespearischer Kraft. Die Szenen der bettelnden Armen scheinen geradezu das Vorbild für entsprechende Bilder in Mussorgskys gut zehn Jahre später am gleichen Ort aufgeführten Boris Godunow abzugeben. Dem Stück ist mit Logik nicht beizukommen. Selbst gutherzige Zuschauer verzweifeln an der Wildheit und Einfalt des Librettos. Rauch steigt also aus Alvaros Pistole auf, aus der sich versehentlich ein Schuss löst und den Vater Leonoras trifft, worauf das Schicksal seinen Lauf nimmt. Rauch und Nebel wabern über den Kampffeldern, das Kloster, vor dem die die vom Vater verfluchte Leonora Zuflucht sucht, ist ein schiefes Hüttchen, davor ebenso schief ein Kreuz. Provinzielle Arrangements vor Panellen und Versatzstücken.

Verdi Festival Parma 2022: „La Forza del Destino“/ Szene/ Foto Roberto Ricci

Erst im dritten Akt gewinnt die mit ein paar hilflosen Projektionen (Sergio Metalli) hinterlegte Aufführung, die bei Preziosillas Tarantella mit den Kriegsmasken und expressionistischen Karikaturen aus dem 19. ins 20. Jahrhundert gleitet, kurzzeitig an Aussage. Hochrangig dagegen die musikalische Umsetzung, die bis zu den kleinsten Partien, etwa Marco Spottis Marchese di Calatrava, Natalia Gavrilan als Cura oder Jacobo Ochoa als Bürgermeister und vor allem Andrea Giovannini, der den Trabucco auf prägnante Art aufwertet – mit sonoren Leistungen aufwartet. Gregory Kunde kommt für die heikle Lage von Alvaros Rezitativ „La vita è inferno all’infelice“ und die anschließende Romanze „Oh, tu che in seno agli angeli“, die er mit flutender Leichtigkeit in der Höhe serviert, seine jahrzehntelange Erfahrung im Belcanto-Repertoire zugute. Mittlerweile hat er alle großen Verdi-Partien bis hin zum Otello gesungen und kann die Gesangslinien mit skrupulöser Eindringlichkeit modellieren. Sein Tenor hat in der Tiefe an Körper eingebüßt, ein bisschen Glanz ist verlorengegangen, doch seine 68 Jahre hört man ihm nicht an. Bis zum letzten „Morta!“ kluges, farbenreiches und kunstvolles Singen. Kein unschöner Ton. Eine Lektion. Dafür wird er gefeiert. In den Duetten mit dem 36jährigen Amartuvshin Enkbat verbinden sich Klugheit und Naturgewalt. Der mongolische Bariton singt den Don Carlo in schönster Bruson-Tradition mit einem schier unendlichen Bariton voll samtener Weichheit, Kraft und großem Atem, bei dem alles mühelos und selbstverständlich klingt. Alles für die Leonora hat auch Liudmyla Monastyrska – eine gute Tiefe, einen festen, durchgebildeten Sopran, doch ihre Piani sind nicht so filigran und vor allem nicht so beseelt wie man es sich beispielsweise in „Madre, pietosa Vergine“ wünscht und in der gut gestalteten „Pace“-Arie wird auch eine gewisse vibrierende Unruhe und Strapaziertheit in der Stimme spürbar. Mit einem schönen, höhenstarken Bass, dem es in der Tiefe noch ein wenig an der seelsorgerischer Gravität fehlt, die man mit dem Padre Guardiano verbindet, überzeugte der 35jährige kroatische Bass Marko Mimica, Roberto De Candia sang den Melitone mit kraftvollem Bariton und ohne Überzeichnung als Vorläufer des Falstaff. Mit kernigem, energisch gepeitschtem Mezzosopran lieferte sich Annalisa Stroppa der Preziosilla aus.    

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Verdi Festival Parma 2022: „Il Trovatore“/ Szene/ Foto Roberto Ricci

In der Terra di Verdi dreht sich alles um den Cigno di Busseto, vor allem wenn in Parma um Verdis Geburtstag am 10. Oktober von Ende September bis Mitte Oktober 2022 das Festival Verdi  stattfindet, das die nach acht Jahren bald scheidende Direttrice Anna Maria Meo als feste Marke in der Stadt und Region etabliert hat. Für jeden ist etwas dabei, von den Programmen für die Kleinen bis zur Gala, Konzerten im Freien und Salons. Ein Muss: wo sich in deren Städten um die Mittagszeit die Touristen um Glockentürme und Spieluhren scharen, gibt es von der Terrasse des Teatro Regio um Glockenschlag 13 Uhr eine Verdi-Arie. Die Region kommt nicht zu kurz. Über Jahre war das niedliche Teatro Verdi in Busseto ein Spielort, in dem vom Kammerspiel Un giorno di regno bis zu Zeffirellis Aida alles Platz auf der übersichtlichen Bühne des 300 Zuschauer fassenden Schmuckkästchens fand. In diesem Jahr kommt an Stelle des Teatro Verdi das Teatro Girolamo Magnani im 30 Kilometer von Parma entfernten Fidenza zum Zug, benannt nach dem in Fidenza geborenen Girolamo Magnani, der auch bei Theatern in Piacenza, Reggio Emilia und Brescia zum Einsatz kam und bei der Mailänder Aida 1872 und dem Boccanegra 1881 Szenen entworfen hatte. Das von den Bürgern der Stadt in Verdis Geburtsjahr 1813 initiierte und in den folgenden Jahrzehnten gestemmte Theater gehört zu den rund sechs Dutzend historischen Theatern der Emilia Romagna, von denen allerdings die wenigsten noch in Betrieb sind. Gebaut von Niccola Bettoli, quasi dem Hausarchitekten der Habsburgerin Maria Luisa, der auch das Teatro Regio in Parma errichtete, ist es mit seiner klassizistischen Fassade und Magnanis eleganter Dekoration und Ausstattung, den drei Logenrängen sowie angeblich 800 aber vermutlich weniger Plätzen eine kleinere Ausgabe des prächtigen Hauses in Parma. Eröffnet wurde es 1861 (in der Ausstattung Magnanis) mit Il Trovatore, der jetzt auch auf dem Programm des Festivals stand. Gerne verzichtet hätte man auf die bereits 2016 in Parma gezeigte Inszenierung der vor allem durch ihre alljährliche Auffrischung der Viaggio a Reims in Pesaro bekannten Elisabetta Courir, die das düstere Nachtstück, das Verdi und Cammarano nach dem 1836 in Madrid uraufgeführten Schauspiel El Trovador von Antonio Garcia Gutièrrez für Rom anfertigten, als läppisches Schultheater anlegte. Vor Marco Rossis schwarzen Holzstufen und –Wänden ergeht sich Courir in einem beziehungs- und symbolreichen Hin und Her, bei dem zwei Handvoll stummer Spieler die Nerven der Zuschauer strapazieren und sich bedeutungsvoll in den Vordergrund drängen. Bereits bei Ferrandos Schilderung vom Schicksal des Grafen Luna wird die komplizierte Verwechslungs- und Entführungsgeschichte mit mehreren Spielern nachgestellt: als der Graf ein kleiner Junge war, wurde an der Wiege seines Bruders Garcia eine Zigeunerin überrascht und anschließend verbrannt. Aus Rache entführte deren Tochter den kleinen Jungen, um ihn ebenfalls auf dem Scheiterhaufen der Mutter zu verbrennen. In der noch viel düsteren Inszenierung folgt ein mit Zeichen und Symbolen aufgeladenes Agieren, Schreiten im Kreis mit Messern und Kerzen, heftiges Grimassieren.

Verdi Festival Parma 2022: „Il Trovatore“/ Szene/ Foto Roberto Ricci

Man mag kaum hinschauen. Als wäre das nicht schon genug, stellt Courir Leonora eine Schauspielerin als Double zur Seite, die sich mit aufgeworfenen Gesten unentwegt vor die viel umfangreichere Sängerin wirft. Wenig Trost bot auch die musikalische Umsetzung. Unter der anämischen und leidenschaftslosen Leitung von Sebastian Rolli schlug sich die Filarmonica Arturo Toscanini wacker, die Damen des Coro del Teatro Regio di Parma agierten souveräner als ihre männlichen Kollegen. Angelo Villari, der einst im Chor des Teatro Regio begonnen hatte, sang den Manrico mit einem glanz- und farblosen Tenor, der ab „Ah, si ben  mio“ plötzlich Kraft und Energie entwickelte, wie wenn der Sänger den Schalter umgelegt hätte. Doch ohne Squillo und Strahl. Viel Höhe, doch wenig Ausdruck zeigte Simon Mechlinski als solider Luna. Enkelejda Shkoza hat ihre besten Azucena-Tage hinter sich, setzte aber ihrem grundigen Mezzo geschickt ein, verstand es überhaupt, das Zepter an sich zu reißen und der Aufführung so etwas wie eine Aussage zu verleihen. Wie Shkoza war auch Anna Pirozzi kurzfristig für nur eine Aufführung bei der Produktion eingestiegen. Seit sie vor zehn Jahren am Teatro Regio als Amelia ihren Durchbruch erlebte und mittlerweile als Abigaille, Lady Macbeth und Turandot durch die Welt reist, wird sie in Parma gerne gehört. Das schwere Fach ist nicht spurlos an ihr vorbeigegangen, was sich in den steif-scharfen Höhen zeigt, doch der schwere Sopran steht sicher wie eine Säule und besitzt noch ausreichend Flexibilität und Farbigkeit für die Leonora. Recht hoffnungsvoll klang der junge Alessandro della Morte als Ferrando. Wenig Begeisterung, ein paar Buhs für die Regisseurin.

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Herbstfestival Maggio Fiorentino in Florenz 2022: „Il Trovatore“/ Szene/ Foto Pietrro Paolino

Wie es anders geht, zeigte übrigens fünf Tage darauf in Florenz Zubin Mehta in der nach ihm benannten Sala des Teatro del Maggio Musicale, wo er zur Eröffnung des von Alexander Pereira initiierten Herbstfestivals den Trovatore auf magistale Weise dirigierte. Zum dritten Mal übrigens in Florenz, wo der 86jährige bis 2017 über dreißig Jahre als Chefdirigent des Maggio Musicale gewirkt hatte. Unter Mehtas ruhiger Leitung formt sich die Musik auf selbstverständliche Weise als gebe er ihr sowohl in der der feurigen Attacke der Cabaletten wie in den romantischen Nachtstimmungen den Puls vor. So und nicht anders. Das Orchester singt und schwelgt und genießt offenbar die sichere Hand des Maestros. Gediegen die Besetzung: Maria José Siri als nicht sehr farbenreiche Leonora mit leicht angespannter Emission und zögernden Piani in “D’amor sull’ali rosee”, Ekaterina Semenchuck als gewaltige Azucena, die mit ihrem schönen Mezzosopran alle Möglichkeiten der Partie auslotete, aber auch altmodisch ordinäre Effekte nicht vermeiden wollte. Ohne Effekte dagegen Fabio Sartori als hölzerner Manrico, wie er in dieser Unbewegtheit selbst auf italienischen Bühnen kaum mehr anzutreffen ist, als Sänger indes besticht er durch die Natürlichkeit, mit der er seinem im Grunde leichten Tenor dramatische Akzente verleiht sowie die Leichtigkeit im Passaggio-Bereich. Von gleichmäßiger Belcanto-Qualität Amartuvshin Enkbat als glänzender Luna, von ähnlicher stimmlicher Präsenz Riccardo Fassi als Ferrando. Cesare Lievi schälte aus dem magischen Ambiente von Luigi Perego auf nicht unattraktive Weise nach und nach ein Raum, in dem sich Vergangenes und Gegenwart wie in einem Gruselfilm durchdringen, die gequälten Kinder und Azucenas Mutter, Lebende und Tote sich begegnen.

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Verdi Festival Parma 2022: „Simon Boccanegra“ 1857/ Szene/ Foto Roberto Ricci

Bleiben wir in Parma. Gergiev hatte 2001 beim Festival die Tradition einer jährlichen Aufführung des Requiems begründet. Maazel, Muti und Roberto Abbado waren u.a. seinem Beispiel gefolgt. In diesem Jahr fiel die Ehre Michele Mariotti zu, der mit dem Orchestra Sinfonica Nazionale Della Rai und dem Chor des Teatro Regio, dessen Herren keinen guten Tag hatten, die Teile der Liturgie stramm aneinanderfügte, ohne dem Werk eine bedeutende Dimension zu geben. Das „Libera me“ habe ich freilich kaum so makellos schön gehört wie von Marina Rebeka, die ihren reich und schön timbrierten Sopran in allen Schattierungen schweben ließ, ihn zu beglückenden Höhen führte und mit innigem Ausdruck sang. Ihr gleich der vornehme, in „Liber scriptus“ edel leuchtende Mezzosopran von Varduhi Abrahamyan. Dazu Stefan Pop und Riccardo Zanellato.

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Das Hauptinteresse galt in diesem Jahr dem Simon Boccanegra in der Fassung von 1857: faszinierend anders und bekannt zugleich. Die neuerlich auf einem Drama der spanischen Romantik und einem Schauspiel des Antonio Garcia Gutiérrez, dem  1847 in Madrid uraufgeführten Simón Boccanegra, basierende Oper fiel bei der Uraufführung 1857 in Venedig durch. Verdi, der glaubte, etwas Passables geschaffen und sich „nicht mehr vorgenommen  zu haben, als ich zu leisten vermag“, bekannte seinen Irrtum. Zwar überwachte er mit achtbarem Erfolg weitere Produktionen in Reggio Emilia, Neapel und Rom, doch in Florenz und an der Scala fiel die Oper unrettbar durch. Das Schicksal wendete sich erst, als sich Verdi im Abstand von einem Vierteljahrhundert unter Beihilfe von Arrigo Boito an eine Umarbeitung machte, die am 24. März 1881 an der Scala ihre erfolgreiche Ehrenrettung erlebte. Etwa ein Drittel des Werkes wurde abgeändert, korrigiert und zu einem neuen Werk umgearbeitet. Am auffälligsten neben Änderungen der Orchestration und Schärfung vieler musikalischer Akzente ist in der späteren Fassung der Wegfall des kurzen, konventionellen Vorspiels, der Verzicht auf Amelias Cabaletta „Il palpito deh frena“ nach ihrer Arie „Come in quest’ ora bruna“, die völlige Umgestaltung des ersten Finales, d.h. des zweiten Bildes des ersten Aktes, in dem im Ur-Boccanegra   auf einem großen Platz mit Blick auf das Meer das 25jährige Regierungsjubiläum des Dogen gefeiert wird und welches im Boccanegra 81 durch die Ratsszene im Dogenpalast ersetzt wurde; dazu Neugestaltungen jeweils zu Beginn des zweiten und dritten Aktes, weshalb Paolo im Boccanegra 57 noch nicht seine Rache-Arie hat, die ihn als Vorläufer des Jago ausweist. Alles andere ist kunstvoll gemischt, wobei sich die späteren Änderungen völlig in die Erstfassung einfügen, auch im Boccanegra-Amelia-Duett „Figlia! A tal nome“, das zuerst wie aus dem Boccanegra 57 anmutet, aber neu ist. Das aufregende Changieren dunkler Männerstimmen im politischen Strippenziehen des Prologs ist – wenngleich nicht so intensiv akzentuiert – bereits in der Urfassung enthalten, ist also keine Leistung reifer Meisterschaft aus der Zeit des Otello, sondern bereits gediegener mittlerer Verdi ist. Dem gegenüber sind die auf Anraten Boitos später in Boccanegras Appell „Plebe!, Patrizi! Popolo“ in der Ratszene eingefügten Petrarca-Zeilen ein immenser Gewinn, auf den man ungern verzichtet. Ohne diese wird der Doge nicht als Staatsmann greifbar, sondern nur in seinen väterlichen Gefühlen für Amelia. Das kann Valentina Carrasco auch nicht aufwiegen, indem sie Boccanegra aus dem Jahr seiner Wahl zum Dogen von Genua 1339 in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts zerrt und ihn inmitten der harten Arbeitsbedingungen im Hafen von Genua zeigt. Die Argentinierin Carrasco, ehemals Mitglied der Kompanie La Fura del Baus, hat mit ihren Frettchen-Mitstreitern Carles Padrissa und Alex Ollè gearbeitet und von Aida in Verona über Carmen in den Caracalla-Thermen und Tosca in Macerata vielfach in Italien inszeniert, demnächst La favorite in Bergamo. Carrasco zeigt, wie Tiere verladen, ins Schlachthaus getrieben (Videos: Massimiliano Volpini), geschlachtet, zerteilt und in Hälften aufgehängt werden. Die Schlachter küren ihren Dogen. Aus einfachen Metzgern werden politische Karrieristen, die statt ihrer blutigen Schürzen (Kostüme: Mauro Tinti) 25 Jahre später in Anzügen und Krawatte auftreten. Bei Carrasco bilden Arbeitskampf, Streik, die Forderungen für gleiche Bezahlung für Frauen und Aufrufe der Gewerkschaften nur den dekorativen Hintergrund für eine oberflächliche Inszenierung, die nichts mit den Figuren anfangen kann. Dazu gehören die Bilder im Schlachthof mit den Schweinehälften, unter denen offenbar auch ein menschlicher Körper liegt, die nur kurzzeitig zu Amelias Container und ihren Blumenrabatten und zur Feier anlässlich des Regierungsjubiläums des Dogen mit den kräftig rauchenden Würstchen-Grills schwenken (Bühnenbild: Martina Segna). Einfach nur ärgerlich.

Verdi Festival Parma 2022: „Simon Boccanegra“ 1857/ Szene/ Foto Roberto Ricci

Alles nur Behauptung und wohlfeile Bebilderung, ohne Schärfung der Figuren und Gespür für die politischen Verwicklungen, wie es einer Premiere am italienischen Wahlsonntag gut getan hätte. Da hilft auch die ironische Utopie am Ende mit Weizenfeldern und dem Volk weiter, das dem neuen Dogen Ähren und ein Lämmchen darbietet. Heftige Ablehnung, versehen mit den üblichen Kommentaren von der Galerie, etwa „Verdi war kein Metzger, Verdi war ein Genie“. Im Boccanegra 57 ist Verdi oft noch überraschend konventionell, wozu auch das Sextett am Ende des ersten Aktes und die streckenweise betulichen Rezitative gehören. In seiner sorgfältig einstudierten Aufführung zeigte Riccardo Frizza mit der Filarmonica Arturo Toscanini und dem Orchestra Giovanile Della Via Emilia auf subtile und überzeugende Weise, was Verdi in diesem unerwartet anderen Boccanegra hinsichtlich dramatischer Färbungen von seinen Zeitgenossen unterscheidet. Vladimir Stoyanov kann als Simon Boccanegra an seinen anderen Dogen anknüpfen, den er vor wenigen Jahren in Parma gesungen hatte, den greisen Foscari. Mit geschmeidigem, noch immer schönem und intakten Bariton ist er von wohltuender Selbstverständlichkeit und zeichnet einen überforderten Arbeiterführer, der zwischendurch zum Flachmann greift, und berührt in seiner Sterbeszene durch stimmliche Weichzeichnung und feinen Ausdruck. Als Gegenspieler Fiesco gewinnt Riccardo Zanellato vor allem in der Konfrontation mit Boccanegra an Format, während „Il lacerato spirito“ im Prolog etwas roh gefasst klang. Für ihre Arie fehlt es Roberta Mantegna noch an Gewicht und Fülle, aber ab der Cabaletta zeigt sie sich mit jugendfrischem, koloratur- und höhensicherem Sopran bestens gerüstet für die Partien des frühen und mittleren Verdi. Piero Prettis hellen, knödelig unattraktiven Tenor und leidenschaftslosen Liebhaber muss man nicht mögen, aber stimmlich blieb er dem Gabriele Adorno kaum etwas schuldig. David Cecconi und Adriano Gramigni machten gute Figur als Arbeiterführer Paolo Albiani und Pietro. Rolf Fath

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Bayreuther Festspiele 2022: Ein Hort ist ein Hort ist ein Kinderhort. Bereits im Mutterleib ist alles angelegt. Während des raunenden Es-Dur-Vorspiels umspielen sich zwei mit Nabelschnüren umwundene Embryonen, bis einer dem anderen das Auge ausschlägt. Kinder und deren Entwicklung und Prägung bestimmen den Lauf von Valentin SchwarzDer Ring des Nibelungen, der zwölften Nachkriegs-Inszenierung des Zyklus auf dem Festspielhügels, der frei von Mythos oftmals wortgenau am Text entlangbuchstabiert und für kurzfristige Aufregung sorgt, aber sicher nicht, wie Chéreaus ähnlich vehement ausgebuhter Jahrhundert-Ring vor 46 Jahren, das Zeug zum Klassiker hat.

Die Kinder sind im Rheingold der eigentliche Schatz, was rasch klar wird, wenn Alberich den drei Nannys, die sich am Swimmingpool um ein Halbdutzend Kinder kümmern, den Außenseiter-Jungen entführt. Seinen Sohn Hagen. Inmitten der von Mime und Alberich in Nibelheim in einem gläsernen Kubus gehegten niedlich zopfigen Walküren-Mädchen erweist sich der kleine Hagen bald als Wüterich, malträtiert die Gören ebenso wie den nicht ganz unverdächtigen Pulloverträger Mime (Arnold Bezuyen), wird schließlich zum Spielball seines Vaters Alberich und gerät in die Fänge der Wotan-Familie, die ihn als Goldjungen den beiden Riesen im Tausch gegen Freia anbieten. Mama Erda hat da bereits die kleine, ihr Plüsch-Grane umklammernde Brünnhilde, die zunächst in den SUV der Riesen gepackt wurde, mit sich genommen. Erst im letzten Teil der Saga werden die Kinder Hagen und Brünnhilde wieder aufeinandertreffen. Die Mafiosi Fafner und Fasolt (Jens-Erik Aasbo und Wilhelm Schwinghammer) sind nur cool. Alles schwer zu verstehen, doch irgendwie nach und nach plausibel. Da braucht es keinen Abstieg nach Nibelheim, keine Drachen- und Tarnhelm-Zauberei, keinen Regenbogen und Feuerzauber. Im verschachtelten 1950er-Jahre Mehrfamilienhaus wird alles auf den Konflikt einer dysfunktionalen Großfamilie zurückgeführt. „Was sagt uns die ganze Sphäre des Fabelhaften mit ihren Zauber-Requisiten und ihrer Personnage von Zwergen und Riesen, die zu Drachen werden, von Göttern und Helden, von Wasser- und Feuerwesen, allwissenden Frauen, Kundschafter-Raben und Waldvögeln sowie durch die Luft sausenden Rossen? Verbergen sich hinter diesen märchenhaft-phantastischen Gestalten nicht Menschen mit ihren Nöten, Ängsten, Träumen, Hoffnungen und Krisen – also wir?“, fragt Konrad Kuhn in seiner klugen Rechtfertigung des Konzepts, die freilich ein bisschen wohlfeil anmutet.

Bayreuther Festspiele 2022: „Rheingold“/ Szene/ Foto Enrico Nawrath

Die ganze Mischpoke hockt im Wohnzimmer mit breiter Sitzlandschaft, bildungsbürgerlicher Bücherwand und Vitrine aufeinander: Der Goldkettchen-Patriarch, den nicht nur seine weißen Tennis-Shorts als groß gewordenen Jungen ausweisen und der eigentlich nicht viel zu melden hat, wird von Egils Silins entsprechend flach und fast beiläufig gesungen („Vollendet das ewige Werk“), als Wotan zeigt Silins erst gegen Ende, dass sein brösliger Bariton auch zu einer gewissen Prachtentfaltung fähig ist, wie sie in dieser Inszenierung denn wohl fehl am Platze wäre. Zwischendurch hat ihm der stilsichere Loge, passend zu Wotans blonden Haaren, für den Ausflug nach Nibelheim einen gelben Anzug verpasst. Dazu der eilfertige, von Attilio Glaser mit der Eleganz eine tenore leggero gesungene Brillenträger Froh, der den gewaltbereiten Bauunternehmern Fafner und Fasolt Riesen mutig entgegen tritt, indem er ihnen ein Glas Wasser ins Gesicht schüttet, der smarte Donner (wenig profund und markant: Raimund Nolte), der sich beim Treffer mit dem Golfball mit einem vorgespielten Rückenproblem nicht den Hinweis auf den Golfschläger schwingenden Wotan verkneifen kann, Gattin Fricka, zuverlässig wie stets Christa Mayer, und die als Drogenkonsumentin unscharf gezeichnete Freia, der Elisabeth Teige umso verheißungsvoll glamourösere Töne gibt. Und schließlich als Dauergast in der Patchwork-Familie Erda, deren Auftritt durch den gewaltigen, schöntimbrierten tiefen Mezzosopran der Okka von der Damerau Größe und Pathos und Leidenschaft dieser Figur ausstrahlt, wie man sie seit der legendären Marga Höffgen nicht mehr zu hören meinte. Von Andy Besuch wurden die drei Damen mit ältlichem Chic à la abgelegte Übergardinen schrecklich eingekleidet. Nachdem der Pakt mit den Riesen mit Sekt besiegelt wird, taucht die Urmutter auf, lässt ein Tablett mit Gläsern auf den Boden knallen. Licht aus. So nobel von der Damerau diese Szene singt, mit der die musikalische Seite der Aufführung auch an Dringlichkeit gewinnt, so hilflos der szenische Coup. Schwarz destilliert aus der Familien-Saga, wozu das Programmheft den ersten Satz der Anna Karenina wiedergibt, „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“, ein kleinteilig fieses Konversationsstück mit verspielten Details und netten Beobachtungen, die alle etwas flüchtig und dahingeworfen wirken, handwerklich nicht immer bezwingend, wie auch Andrea Cozzis immer neu variierte Raummodule und Sperrholzwände, die zwar flugs zu neuen Wohnensembles samt Carport und Kinderzimmer zusammengewürfelt werden, aber auch oft unelegante Einblicke und Draufsichten bieten. Da hat das Festspielhaus technisch Besseres gezeigt. Am Ende natürlich kein Regenbogen. Der tuckig überzeichnete Loge, den Daniel Kirch sehr schön und feintenoral anlegt, der aber doch etwas klein und fast charaktertenoral wirkt, legt eine Platte auf, wozu sich Wotan traumtänzerisch wiegt, derweil die auffallend schwachen Rheintöchter jammern (Lea-Ann Dunbar, Stephanie Houtzeel, Katie Stevenson). Cornelius Meister begleitet dezent und flüssig, elegant in den Konversationen, ohne Kanten und Ecken. Trotz guter Tempi bleibt die Aufführung etwas langatmig. Fast genauso viel Applaus wie die wunderbare Erda erhält der rau geschmirgelte Alberich, den Olafur Sigurdarson mit lautem Charakterbariton und passabler Textdeutlichkeit zur zentralen Figur des Vorabends erhebt (25. August 2022).

Bayreuther Festspiele 2022: „Die Walküre“/ Szene/ Foto Enrico Nawrath

Weiter geht’s in der Walküre im Mehrfamilienhaus an Freias Sarg, an dem sich ein Großteil der Familie wiedereinfindet. Im Keller- oder Nebengeschoss, das die Wurzeln der Esche schier zu sprengen drohen und wo Hunding sich als Hausmeister um den Sicherungskasten kümmert, hat die hochschwangere, mühsam humpelnde Sieglinde ihr Bügelbrett hingestellt, weshalb sie dem verschwitzten Siegmund ein frisches Hemd überstreifen kann. In den aus Rheingold bekannten Kinderzimmern, in denen Unsagbares geschah, mit den Kinderporträts und –Zeichnungen erkennen sie sich als Zwillinge, die sich bereits als Kinder heftig zugetan waren, wie die elfenleicht silbrigen Kinder-Doubles nahelegen. Und wenn Siegmund sich um Nothung kümmern soll, holt Sieglinde den weiß strahlenden Zauberwürfel mit der Walhall-Pyramide hervor, den schon Loge aus der Regalwand gekramt hatte. Vergebens bemüht sie sich auf der Treppe neben der Götter-Villa ihr ungewolltes Kind loszuwerden, bevor sie Wotan (erneut?) zu vergewaltigen versucht. Das Kind wird sie dennoch bekommen. Auch wenn es für einen Moment fast so aussieht, als wolle Fricka selbst Hand anlegen, doch sie putzt offenbar kein Operationsbesteck, sondern nur das Familiensilber. Brünnhildes schmucker Begleiter Grane, ein noch immer fesch aussehender Anzugträger mit Zopf und schulterlangen Haaren, kümmert sich liebevoll um das Baby, mit dem Sieglinde zwischen dem zweiten und dritten Akt auf dem Weg zum Walkürenfelsen niederkommt. Als Wotan sie verstößt, entfernt sich Brünnhilde gerne mit ihrem sympathischen Lover (smart: Igor Schwab). Allein gelassen windet sich der Gott in Embryostellung auf dem Boden. Das ist in groben Zügen die Walküre, wie sie Schwarz, der im Rheingold Rätsel aufgegeben und Fährten gelegt hatte, psychologisch ziemlich spannend und konsequent ausformuliert. Kein Speer, kein Schwert, dafür immer wieder Pistolen, kein Kampf am Ende des zweiten Akts, wo Siegmund niedergeknallt wird, natürlich auch kein Feuerzauber. Viele Buhs (26. August). Hat man sich erst einmal darauf eingelassen, diese Chiffren und mythologischen Bilder nicht zu vermissen, erweist sich der erste Abend der Tetralogie nach dem bösen und frivolen, etwas flüchtig zusammengestoppelten und auch langweiligen Rheingold als die vielbeschworene Netflix-Saga. „Much better than yesterday“, befanden die Amerikaner vor mir. Die Walküren, die sich beim Beauty-Doc ewige Jugend erkaufen, mit badagierten Gesichtern und Köpfen ihre neu gestrafften Busen präsentieren, dazu grell in glitzernde Designer-Klamotten eingekleidet wurden, sind als trefflich überzeichnete Oligarchenfrauen und Influencerinnen kurzweilig, aber auch etwas drollig. Die Klinik-Lounge entspricht dem gläsernen Kita-Kubus bei Alberich und Mime und kann rechtzeitig und bequem zum Finale vor den Lammellen auf leerer Bühne weggefahren werden. Musikalisch erschien der Abend zwingender, wenngleich Meister der Bühne keinen drängenden Kommentar entgegensetzt, fein illustrierte, keine großen Gefühle ausreizte. Wenig Sympathie kann man für Wotan aufbringen, der sich mehr und mehr als eitler Narzisst und Machtmensch erweist. Tomasz Konieczny gibt ihn mit metallisch geschärftem Bariton, eng und verfärbt im Ansatz, auffallend textundeutlich, oft mehr rufend als singend, in den leisen Stellen mit flüsterndem Sprechen, doch eben auch mit nie ermüdender Kraft und endlosem Atem, die bis zu „Wer meines Speeres Spitze fürchtet“ die großen Phrasen wie in einer italienischen Oper auskosten. Eine immer noch gute Brünnhilde ist die ihre „Hojotoho“-Rufe sicher platzierende Iréne Theorin, der es in der mehr an Fricka und Wotan als an Siegmund gerichteten Todesverkündigung, die sie im Businesskostüme wie eine Geschäftsfrau verkauft, an der nötigen Tiefe fehlt, aber in innig und wärmend ausgemalten Phrasen wie „Wer diese Liebe mir in Herz gehaucht“ ihre ganze Erfahrung mit dieser Partie ausspielen kann. Ähnlichen Ausdruck und Fülle der Empfindung findet man noch nicht bei Lisa Davidsen, deren Sieglinde unerschöpfliche jugendliche Kraft verströmt. Die Höhe klingt gerundeter als beim Elisabeth-Debüt, auch leisere Töne stehen ihr zur Verfügung, der strahlkräftige Sopran ist ausgeglichener, der Jubelsopran scheint keine Grenzen zu kennen. Der glockige, gut zentrierte, pianozarte und ewig junge Tenor von Klaus Florian Vogt ist eine Freude, selbst wenn manchen ein baritonaleres Siegmund-Ideal vorschwebt. Georg Zeppenfelds Bass ist fast zu edel für den ungeliebten Hunding. Christa Mayer, die die Fricka und später auch die Waltraute mit gefasster Allüre singt, hat ihren großen Auftritt am Ende, als sie den von Loge am Schluss des Rheingolds umgestürzten Servierwagen mit einem kleinen Kerzenständer darauf hereinrollt, für sich und Wotan Sektgläser einschenkt, die sie treffgenau zu den Schlägen von Wotans nicht vorhandenem Speer klingen lässt, und den Gatten samt Schlapphut auf Wanderschaft schickt. Erleichtert darüber, ihn endlich los zu werden. Cliffhänger.

Bayreuther Festspiele 2022: „Siegfried“/ Szene/ Foto Enrico Nawrath

Jahre später trifft der inzwischen grau gewordene Wotan im Siegfried wieder auf Teile seines Clans. Als ziemlich hässliche Puppen sind sie im Halbkreis bei dem von Mime ausgerichteten Kindergeburtstag aufgestellt. Vielleicht hängt die „Happy Birthday“-Girlande aber auch schon seit Ewigkeiten in der Kellerbehausung, in der das Gerümpel aus den oberen Etagen abgestellt wurde. Ratespiel mit Puppentheater, ein kraftstrotzender Jugendlicher, der an der Flasche hängt und mit den Nudeln aus der Asia-Box herumschmudelt, das Laserschwert zerfetzt und sich unter Einsatz von viel Feuer und Dampf ein Besseres schmiedet. Im einstigen Wohnraum ist es derweil leerer geworden. Fafner ist ein Pflegefall, wird im Krankenbett von Pfleger Hagen beobachtet, der immer noch sein gelbes Shirt trägt und seinen einstigen Entführer ungerührt verröcheln lässt. Verständlich auch, dass er für seinen alten Erzieher Mime – wir erinnern uns an Das Rheingold – wenig Empathie aufbringt, als er diesen gemeinsam mit Siegfried mit einem Kissen erstickt. Die Alten, Wotan und Alberich, arrangieren sich in den Clubsesseln, derweil Siegfried am Waldvogel, auch er eine Pflegerin, herumschraubt, was Best Buddy Hagen fast ein bisschen eifersüchtig beäugt. Die von Schwarz für den Siegfried hinzuerfundene, etwas überstrapazierte stumme Rolle des Hagen (Branko Buchberger) begleitet Siegfried auch auf den Brünnhildefelsen, den Schwarz weiterhin im – immer in veränderter Perspektive gezeigten Wohnzimmer – verlegen arrangiert. Allenfalls Wotans resigniertes, nun an Hagen gerichtetes „Zieh’ hin, ich kann dich nicht halten!“ eröffnet einen neuen Blick auf die folgenden Ereignisse. Aber das ist nur noch zusammengeschustert. Eiskönigin Brünnhilde taut unter Siegfrieds Zutun ein wenig auf, ist aber merklich mehr an dem liebevollen Grane interessiert als am unerfahrenen Jungspund. Einer ménage-à-trois steht nichts im Weg. Buhs nach dem ersten Akt. Freude am Ende (28. August). Der erste Akt ließ Schlimmes befürchten. Nicht ungefährdet klang der Tenor des springfreudigen Andreas Schager, drohte zu kippen, fuhr sich im zweiten Akt fest und hatte folglich wenig Möglichkeiten der Nuancierung; doch für den dritten Akt mobilisierte Schager erstaunliche Reserven und stemmt souverän die Begegnung mit Brünnhilde. Der abgesungene Mime von Arnold Bezuyen holte im zweiten Akt auf, wo Tomasz Konieczny und Olafur Sigurdarson um Laufstärke und Herrschaft wetteiferten und Wilhelm Schwinghammers Fafner und der Waldvogel von Alexandra Steiner unauffällig blieben. Allgemeine Textunverständlichkeit. Spannender der auch von Meister zügig gesteigerte dritte Akt, in dem die wunderbare Okka von der Damerau als alte Pennerin Erda Konieczny zu einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung inspirierte. Ein großer Gewinn: Daniela Köhler mit schlank biegsamem Sopran als Brünnhilde.

Bayreuther Festspiele 2022: „Götterdämmerung“/ Szene/ Foto Enrico Nawrath

Wir ahnten es. Es geht weniger um die Weltherrschaft als das Überleben in der Familie. Statt Geld und Gold werden Missbrauch, Gewalt und Traumata vererbt. Wieder sind Jahre vergangen. Siegfried und Brünnhilde haben in der Götterdämmerung ein Kind. Der kleine Schatz, der neue Ring, wird im Rosenkrieg zerrieben, klammert sich an Papas Hosen, wird von Alpträumen in Gestalt der gespenstergleichen Nornen (Von ausgezeichnet bis achtbar: Okka von der Damerau, Stephanie Müther, Kelly God) heimgesucht und Nachts von einem fremden Mann erschreckt, der mit Papas Hilfe eindringen durfte – Gunther, der Mama Brünnhilde rüde vergewaltigt. Alles ist verkommen. Verrottet wie die Gesellschaft, ist der Pool, in dem der dritte Tag trostlos endet. Die Gibichungen haben sich möglicherweise in einem Teil der Villa im weißen Designerchic hübsch gemacht, Reste der Esche dienen als modernes Objekt, Umzugskisten stehen herum. Die durch ihren grünen Hosenanzug und ihren reich strahlenden Sopran auf sich aufmerksam machende Elisabeth Teige scheucht als Gutrune das Personal umher, der langmähnige Alt-Blondi Gunther, der so verblüffend einem Reality-TV-Star ähnelt, pichelt Champagner und gickelt infantil um Hagen und Siegfried, was Michael Kupfer-Radecky mit gutural geradem Bariton und entfesselter Hampellust gut gelingt. Alles nur szenischer Zierrat, der versprudelt wie Gunthers Champagner. Dazu gehört auch Hagens Boxkampf mit Vater Alberich und die an sich gut gelösten Szenen mit den aus düsterem Nebel und mit Wotan-Masken auftauchenden Mannen. Fast könnte man meinen, Schwarz wolle provozieren durch seine Weigerung, die zahlreichen Rosebud-Rätsel, die er aufgegeben hat, zu lösen und die Fäden zu Ende zu spinnen. Aber eigentlich interessiert es auch nicht mehr. Vieles ist nur noch ärgerlich und handwerklich unsauber hingefegt. Der bräsige, alt und verlotterte Siegfried hockt im Pool, versucht mit seinem Sohn, in einem Tümpel zu angeln. Er wird von Hagen erdolcht, Gunther, Gutrune und Hagen sind irgendwann nicht mehr da. Das erstaunt vor allem bei Hagen, um dessen Biografie sich Schwarz seit Beginn so intensiv gekümmert hat. Nach seiner bedeutenden Bayreuth-Karriere als Wotan und Alberich singt Albert Dohmen den Hagen mit immer noch sehr gut sitzendem Bassbariton, in sich ruhender Selbstverständlich und klarem Ausdruck. Auch der Junge ist verschwunden. Brünhilde, immer noch im unsäglichen pinkfarbenen Nachtkleid samt Umhang, klettert vom oberen Rand des sicherheitshalber abgesperrten Pools über die Vorbühne in das verrottete Bassin und gibt ihren Schlussgesang. Da war noch etwas. „Who the fuck is Grane“ stand bereits auf Gunthers T-Shirt. Grane, der einzige selbstlos liebende Mann, den Brünnhilde ihrem Siegfried als Begleiter mit auf die Fahrt gegeben hatte, wurde bereits im ersten Akt gemordet und sein Kopf von Gunther im Plastikbeutel durch den zweiten Akt getragen. Zu guter Letzt findet Brünnhilde jetzt den Kopf des treuen Begleiters – ein bisschen „Der Pate“, ein bisschen Salome. Kein brennendes Walhall oder sonst etwas. Brünnhilde hatte zwar einen Benzinkanister über sich ausgeleert, aber das Feuerzeug offenbar vergessen. Dann zwei friedliche Embryos. Animierter Kitsch. Einfach fertig. Stephen Gould taute im dritten Akt auf, rang seinem stämmigen Tenor einige leuchtende Töne ab und kaschierte geschickt das hohe C; um solche Noten ist Irène Theorin als Brünnhilde nicht verlegen, denn gerade in der Mittellage und Höhe glänzt ihr Sopran, bei durchgehender Textunverständlichkeit, mit satter Kraft. Die Buhs für sie waren unangemessen, genauso der erhobene Mittelfinger, den sie daraufhin zeigte. Cornelius Meister hat zunehmend an Standing gewonnen, zwar klangen vor allem Siegfrieds Rheinfahrt und der Trauermarsch flach und große Leidenschaften werden sparsam dosiert, doch Vorspiel und die drei Akte besaßen zwingende musikalische Logik und spannungsvolle Dramaturgie. Zehn Minuten Applaus (30. August). Fast unverschämt wenig für Bayreuther Verhältnisse. Rolf Fath

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Rossini Opera Festival 2022 – heiter bis tragisch: Mit der Opéra en deux actes Le Comte Ory wurde das Festival  am 9. 8. 2022 eröffnet – in der Titelrolle prominent besetzt mit Juan Diego Flórez, der diese bereits 2003 in Pesaro verkörpert hatte. Die Stimme des Tenors hat inzwischen etwas an Schmelz verloren, wirkt in der Höhe metallischer als erinnert. Was aber in dieser Aufführung auffiel, waren seine Spielfreudigkeit und die körperliche Agilität in der Darstellung. Stupend gerieten die exponierten Töne im Falsett – perfekt im Anschlag und von wunderbar süßem Klang. Erster musikalischer Höhepunkt war das Duo mit seinem Pagen Isolier, „Une dame de haut parage“, denn an seiner Seite war Maria Kataeva mit präsenter Aura und attraktivem hohem Mezzo eine gleichberechtigte Partnerin. Beide begeisterten mit Julie Fuchs als Comtesse Adèle auch im finalen Trio „À la faveur de cette nuit obscure“, das eine pikante ménage à trois mit beiden Geschlechtern zeigt. Die Schweizer Sopranistin debütierte erfolgreich beim ROF und ließ eine substanzreiche, in der Höhe kraftvolle Stimme mit virtuosem Vermögen, allerdings etwas anonymem Timbre hören. Monica Bacelli, seit 1988 beim ROF, war eine allzu reife Schlosswächterin Ragonde, deren Mezzo einen erstickten Klang aufwies und in der Tiefe unzureichend wirkte. Als Orys Freund Raimbaud gab der polnische Bariton Andrzej Filonczyk ein beachtliches Debüt in Pesaro, erntete vor allem für sein Air im 2. Akt, „Dans ce lieu solitaire“, das sich als Variante auch im Viaggio à Reims findet, großen Beifall. Nahuel Di Pierro gab die zweite tiefe männliche Partie, den Gouverneur, der in seiner Auftrittsarie „Veiller sans cesse“ mit markantem Bass aufwartete. Mit dem Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI setzte Diego Matheuz auf Tempo, dramatischen Gewitterdonner und delikate Zwischentöne.

Rossini Festival Pesaro 2022: „Le Comte Ory“/ Szene/ ROF/ Amati Bacciardi

Strittig war die Neuinszenierung (in Koproduktion mit dem Teatro Comunale di Bologna) von Hugo De Ana, der auch die Ausstattung verantwortete. Ein schräg gekipptes, von Neonröhren eingefasstes Bild mit Hieronymus Boschs Garten der Lüste stimmt ein auf die vor einer Bilderflut strotzenden Szenerie. In Glasvitrinen sieht man surreale Skulpturen und Objekte, auf der Bühne eine Überfülle von Nonsens und Slapstick. Die Optik mit grünen Dinosauriern, blonden Engeln mit Federflügeln, einer Gymnastikgruppe mit Bällen und Reifen, auf Spitze tanzenden Vögeln und einer Diskokugel, die alles in rotes Licht taucht, ist hoffnungslos überbuntet.

Ähnlich schräg sind die Kostüme im Hippie-Stil mit geblümten Kleidern und Blumen-Kopfputz. Ory schlüpft bei seinem Auftritt als Mosé mit Rauschebart aus einem Ei, erscheint später im blauen Kleid mit weißer Nonnenhaube, danach betönt lässig und sexy in roter Lederhose und Hemd und wie Cäsar in heller Toga. Adèle tritt verschleiert im türkisfarbenen Kleid mit blauem Federhütchen auf, später wenig aristokratisch im Mini-Unterkleid auf der Massagebank. Wie wohltuend war da das bereits erwähnte Trio mit Ory, Adèle und Isolier, weil hier keinerlei szenischer Unsinn von den raffiniert geführten Personen ablenkte.

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Rossini Festival Pesaro 2022: „Otello“/ Szene/ ROF/ Amati Bacciardi

Auch die zweite Neuproduktion des Sommers, das Dramma per musica Otello, hinterließ in der Regie von Rosetta Cucchi viele Fragen. Die Regisseurin hatte die Handlung als Rückblende aus der Sicht Emilias erzählt, die schon zur Sinfonia an Desdemonas Totenbett und immer wieder in ihrer Stube zu sehen ist, mehrfach auch als Double auftritt. Die Stube ist Teil eines großen Tableaus, das Tiziano Santi in einzelne Kammern aufgeteilt und reich mit Videos bebildert hat. Zeitungsausschnitte und Schlagzeilen künden von dem tragischen Ereignis, eine Kuss-Szene zeigt Otello und Desdemona in ihrem anfänglichen Glück, dann wird sie von ihrem jähzornigen Ehemann in der Küche erstochen. Bilder aus Desdemonas Jugend stellen sie als Tänzerin an der Ballettstange sowie zwischen Schwänen und Willis dar. Zur Verwirrung tragen auch die Verortung des 2. Aktes in einer Kleiderkammer, wo gebügelt wird, und die Platzierung von Frauen mit blutigen Wunden als Opfergemeinschaft an der Rampe beim zweiten Aktfinale bei. Mehrere Szenen lässt Cucchi an einer langen Festtafel spielen, an der zu Beginn eine Gesellschaft in Abendkleidung (Kostüme: Ursula Patzak) speist und den siegreichen Otello bejubelt. Im 3. Akt hängen darüber kopflose Kleiderpuppen mit zerfetzten Ballettkostümen, die schließlich herabstürzen. Am Ende küsst Otello seine tote Gemahlin, während im Hintergrund Gäste an einer Festtafel applaudieren.

Das Werk fordert eine hochkarätige Besetzung mit nicht weniger als vier Tenören. Enea Scala in der anspruchsvollen Titelrolle ließ einen dramatischen, baritonal gefärbten Tenor von gewaltiger Wucht und enormer Emphase hören. Seine metallischen Spitzentöne imponierten enorm, aber auch die Fähigkeit, das Da capo in seiner Auftrittsarie zu verzieren. Fulminant das Duett mit Iago „Non m’inganno“ im 2. Akt, weil der Rossini-Veteran Antonino Siragusa gebührend fies wirkte und seine durchschlagenden Spitzentöne von gelegentlich auch penetrantem Klang effektvoll einsetzte. Grandios der furiose Schluss dieser Nummer, „L’ira d’avverso fato“, der zu Recht bejubelt wurde.

Den populärsten Titel der Oper hat Rodrigo zu singen, die Arie „Che ascolto!“ zu Beginn des 2. Aktes, deren Motiv sich im Katzenduett wieder findet.  Mit Dmitry Korchak war die Partie ungewöhnlich schwer besetzt. Der Tenor ging die Nummer mit erzener Kraft an, dass er sich fast in eine Konkurrenz zu Otello stellte. Große Stimmen wissen die Italiener stets zu schätzen, entsprechend enthusiastisch war der Applaus. Die Tenorriege komplettierte Julian Henao Gonzalez als Gondoliero mit lyrischer Stimme, der es für seine Canzone aus dem Off allerdings an dolcezza mangelte. Kontrastierend tiefe Töne brachte Evgeny Stawinsky als Desdemonas Vater Elmiro mit resonantem Bassbariton ein. In der Erscheinung recht mütterlich und in ihrem Sopran sehr reif war Eleonora Buratto eine ungewöhnlich besetzte Desdemona. Der dramatischen, zuweilen auch grellen Stimme fehlte der Liebreiz, dafür wusste sie das 1. Finale mit sicheren Spitzentönen zu dominieren. Mit herbem, auch heulendem Mezzo war Adriana Di Paola eine Emilia, der es an stimmlicher Kultur fehlte.

Nach mattem Beginn steigerte sich der Coro del Teatro Ventidio Basso (Einstudierung: Giovanni Farina) später in den dramatischen Finali enorm. Yves Abel hatte die Ensembles mit dem Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI sorgfältig erarbeitet, sorgte schon in der Sinfonia für zündendes Brio, in vielen Nummern für berstende Dramatik und temporeiche Spannung, aber auch für delikat getupfte Töne.

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Rossini Festival Pesaro 2022: „La Gazetta“/ Szene/ ROF/ Amati Bacciardi

So hinterließ erstaunlicherweise die Wiederaufnahme einer Produktion aus dem Jahre 2015 mit dem Dramma per musica La gazzetta insgesamt den stimmigsten Eindruck. Regisseur Marco Carniti, Bühnenbildnerin Manuela Gasperoni und Kostümdesignerin Maria Filippi hatten die Handlung in einer  grafischen Szenerie mit Zeitungsfahnen und Hotelinterieur verortet.

Die neue Besetzung dominierte Carlo Lepore als Don Pomponio mit profundem Bass und ansteckender Spielfreude – in Pesaro seit 1996 präsent, schuf er eine Figur in bester commedia dell’arte-Tradition. Als seine Tochter Lisetta, die er mittels einer Zeitungsannonce vermählen will, irritiert Maria Grazia Schiavo  mit spitzem, in der Höhe schrillem Sopran. Zuweilen überrascht sie mit delikat getupften Tönen und den vorteilhaftesten Eindruck hinterlässt sie in ihrem letzten Solo, „Eroi li più galanti“. Ihren Geliebten, den Gastwirt Filippo, gibt Giorgio Caoduro mit attraktiver Erscheinung und virilem Bariton. Seine bravourös und mit prachtvoller Stimme gesungene Arie im 2. Akt, „Quando la fama altera“, war der vokale Höhepunkt der Aufführung. Als Doralice gefällt Martiniana Antonie mit rundem Mezzo. Alejandro Baliñas ist ihr Vater Anselmo mit profundem Bass. Die Tenorrolle des Stückes fällt dem jungen Alberto zu, der umher reist, um eine Frau zu finden. Pietro Adaíno singt sie schwärmerisch und in seiner Arie „O lusinghieri amor“ mit auftrumpfender Emphase.   Andrea Niño ist eine reizende Madama la Rose, die in ihrer Arie im 2. Akt, „Sempre in amore“, entzückt. Carlo Rizzi am Pult des Orchestra Sinfonica G. Rossini lässt als Kenner des Genres die Musik sprühen und funkeln, weiß die Ensembles in Cenerentola-Nähe zu mitreißender Wirkung zu steigern, wofür er am Ende gefeiert wurde.

Das Rossini Festival 2023 in Pesaro findet vom 11, bis 23. 8. statt und bringt mit Eduardo e Cristina eine Novität beim ROF. Zudem gibt mit Adelaide di Borgogna und Aureliano in Palmira zwei weitere seltene Werke des Komponisten. Bernd Hoppe

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Das Festival de Radio France, das doch jedes Jahr für die Wiederentdeckung eines seltenen oder vergessenen Werkes bekannt ist, Hatte diesen Sommer den Hamlet von Ambroise Thomas auf dem Programm. Da war man doch vorher recht skeptisch. Denn die Oper von 1868, die zu ihrer Zeit ein großer Erfolg war, ist einem heutigen dem Publikum keineswegs unbekannt. In letzter Zeit gab es in der ganzen Welt Aufführungen, und an CD-Aufnahmen mangelt es nicht. Die alte EMI-Einspielung mit Thomas Hampson und van Dam ist trotz June Anderson immer noch ein Meilenstein, zudem ungekürzt mit Ballett und Alternativszenen.

Thomas: „Hamlet“/ John Osborne, Jodie Dévos und Philippe Talbot/ Marc Ginot

Die angesagte Originalität des Projekts des Radio France Festivals bestand jedoch darin, die Originalversion der Oper, bevor sie 1868 dem Publikum der Pariser Oper vorgestellt wurde, zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorzustellen. Tatsächlich wurde die Rolle des Hamlet, in der viele Baritone glänzen können, ursprünglich für eine Tenorstimme gedacht und geschrieben. Es waren die Umstände der Uraufführung des Werkes, die über die Änderung der Stimmlage der Hauptrolle entschieden: Für den Direktor der Opéra schien kein ausreichend renommierter Tenor für die Rolle geeignet zu sein, und schließlich wurde der berühmte Bariton Jean-Baptiste Faure ausgewählt. So erklärte sich Thomas bereit, seine Partitur zu überarbeiten, damit sie der Stimme des Sängers, der unter anderem Verdis Posa/Don Rodrigue und Nelusko der Uraufführungen sang, entsprechen konnte.

Aber würde diese Rückbesinnung etwas ändern? Eine neue Ausgabe dieser großartigen Oper kommt zur rechten Zeit, denn alle vorhandenen Partituren stammen aus den 1860er Jahren. Die gedruckten Quellen, eine Gesamtpartitur und eine Gesangspartitur, stimmen weder miteinander noch mit der autographen Partitur überein, und in beiden fehlen bestimmte Szenen, einschließlich des alternativen Endes, das sich Thomas ausgedacht hat, um Hamlet beim letzten Vorhang sterben zu lassen. Die zahlreichen Skizzen und Entwürfe von Thomas sowie die autographe Partitur, die auf die Bibliothèque nationale de France und die Bibliothèque-Musée de l’Opéra, beide in Paris, aufgeteilt sind, liefern weiteres, bisher nicht verfügbares Material. Tatsächlich ist die Rolle, wie sie ursprünglich von Thomas geschrieben wurde, ziemlich furchteinflößend: Der Stimmumfang ist sehr zentral und erfordert einen Interpreten mit einer starken Mittellage und tiefen Tönen. Punktuell ist zu erkennen, dass die Gesangslinien der Tenorpartitur transponiert wurden, um sie an eine Baritonstimme anzupassen, aber einige Passagen sind fast völlig unverändert, und beim ersten Hören scheint es keine Tonartänderung zu geben. Die vielen angespannten Momente in der Höhe, die geschickt geschrieben sind, um dem dramatischen Ausdruck dieser oder jener Szene zu dienen, lassen die Rolle jedoch in eine andere Vokalität oder sogar einen anderen Stil übergehen, der vielleicht belkantistischer wirkt, aber vielleicht eine noch größere dramatische Wirkung birgt. Die Rolle des Hamlet erhält nun eine brillantere Farbe und erscheint kontrastreicher, weit entfernt von der dunklen und etwas monchromen Depressivität, in der die Baritonversion erscheint.

Thomas: „Hamlet“/ Clémentine Margaine/ Marc Ginot

Es war also eine große Überraschung und Freude, eine Musik wiederzuentdecken, die man zu kennen glaubte, nicht nur dank der neuenj Edition des Bärenreiter-Verlages, sondern auch dank Michael Schønwandts feuriger Leitung des Orchestre national Montpellier Occitanie. An manchen Stellen hätte man sich mehr Tiefe und pulsierende Nervosität gewünscht, insbesondere bei den Streichern, aber die Leitung des Dirigenten war bewundernswert.

Und was soll man zu einer nahezu idealen Besetzung sagen, die dem Werk vollkommen gerecht wird und das Publikum zu Begeisterungsstürmen verführt? John Osborn ist Hamlet. Der amerikanische Tenor hat eine große stimmliche Reichweite- aber einiger seine hohen Noten werden hier sehr gefordert. Als großer Künstler nutzt er diese kleinen stimmlichen Schwierigkeiten, um einen Hamlet zu verkörpern, der am Rande der Zerreißprobe steht. Der Sänger bietet ein Französisch von beispielhafter Klarheit und dient Thomas‘ Rolle mit absoluter Musikalität, verleiht der Figur sowohl Zärtlichkeit als auch Feuer.

Jodie Devos als Ophelia beweist sie erneut, dass sie eine der brillantesten Sängerinnen der heutigen Opernszene ist. Die Stimme bleibt über den gesamten Tonumfang üppig, bis hin zu den aufregenden hohen Noten. Die Sängerin ist auch eine exzellente stimmliche Darstellerin von seltener technischer Virtuosität und Musikalität, die den Text mit Genauigkeit und Emotion herüberbringt, um am Ende ihrer Wahnsinnsszene Ophelias geistige und körperliche Verirrung zu verdeutlichen.

Clémentine Margaine war eine Gertrude von einsamer Klasse. Mit ihrem dunklen Timbre beeindruckt diese Königin ebenso wie sie bewegt. Einige Höhen klingen etwas angestrengt, aber das dramatische Engagement der Darstellerin hält alles wunderbar zusammen. Das Duett zwischen der Königin und Hamlet, das den dritten Akt beschließt und vielleicht der dramatische Höhepunkt der Oper ist, wird von Leidenschaft und Verzweiflung erfüllt. Julien Véronèses König zeigt das Alter der gesungenen Person. Die Rolle des Laërte ist recht kurz, aber Philippe Talbot macht viel daraus. Tomislav Lavoie und Rodolphe Briand verkörpern mit Gewinn Hamlets Freunde Horatio und Marcellus sowie die beiden Totengräber am Anfang des letzten Aktes. Dazu kamen Jérôme Varnier als gebührend dräuender Geist sowie Geoffroy Buffière als Polonius Der Chor des Théâtre national du Capitole füllte die Reihen des Chors der Opéra national Montpellier Occitanie auf. Das Konzert kommt wahrscheinlich beim Palazzetto Bru Zane in der Reihe Opéra francais heraus (17. 08. 22). Anja Hanke

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PS: Zur Tenorfassung gibt es einen Appendix der Edition von Hugh McDonald bei Bärenreiter: Appendix IV – The Role of Hamlet for Tenor: Soon after the first production of Hamlet, in the early 1870s, Heugel issued a vocal score of the opera with the title role arranged for tenor (355 pages, plate number H. 5185). This was presumably done with Thomas’s approval and probably arranged by the composer himself. Despite the worldwide popularity of the opera at the end of the nineteenth century, no productions or recordings are known to have cast the central role as a tenor.

The role was originally intended for a tenor voice, and Thomas’s earliest drafts show the part notated on the tenor clef. When it became known that Jean-Baptiste Faure would sing the role, the existing music was adapted for bass-baritone and the remainder written on the bass clef. In the autograph full score the original tenor version has survived in the following passages: / No. 12, bars 1-77, 101-159, 225-236 / No. 16, bars 36-71, 196-236 / No. 21, bars 91-114

The published tenor version coincides in many places with the original vocal line. Where it differs, the original version is shown above the stave as an ossia. For certain sections of the opera Thomas decided to transpose the orchestral part as well as the vocal part in order to preserve the melodic line: 1( Nos. 9 and 10:   the music is transposed up a whole tone from bar 56 of no. 9 to the end of no. 10. Cors I-II change to C, Cors III-IV change to F, Cornets à pistons change to C.  The Chanson bachique is in C, not B flat. 2) No. 13: at the Adagio (‘Être ou ne pas être’) the tenor version is the same as the baritone version, with a few optional higher alternatives allowed. A footnote says: ‘If the monologue is too low for the tenor, the music may be transposed up a tone and a half at this point so that the Adagio is in E minor, in which case he will sing the lower notes when there are two.’ A supplement at the end of the tenor vocal score shows the complete monologue in the key of E minor. In the event of transposition the cor anglais part will be played on the oboe, and the horns can keep horns in E, transposing up a minor third. A low tenor voice would be better not making such a transposition, the note adds. 3) No. 22:  in the tenor version the solo voice and the orchestral part are both transposed up a whole tone from bar 5 to bar 55. Bärenreiter/ Hugh McDonald

 

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Salzburger Festspiele 2022 – starke Frauen: Nach seinem akklamierten Salzburger Festspieldebüt mit Offenbachs Orphée aux enfers 2019 kehrte Barrie Kosky in diesem Sommer für eine Neuinszenierung von Janáceks Káta Kabanová an die Salzach zurück. Das Werk – ein intimes Kammerspiel à la Ibsen oder Tschechow nach Ostrowskis Schauspiel Gewitter – bringt man mit dem australischen Regisseur weniger in Verbindung. Er ist eher bekannt für schrille, ausufernde Produktionen des Unterhaltungsgenres. Auch erstaunte die riesige Felsenreitschule mit ihrer Bühne im Cinemascope-Format als Spielort. Im Haus für Mozart hätte sich das Beziehungsgeflecht dichter und konzentrierter abbilden lassen.

Nach eigener Aussage wollte Kosky kein Kammerspiel und ohne jedes Lokalkolorit inszenieren, sondern die Dorfgemeinschaft als gesichtslose Masse einbeziehen. Die Menschen in heutiger Alltagskleidung (Kostüme: Victoria Behr) sind zu Beginn auf der leeren Bühne (Rufus Didwiszus) in einer Reihe aufgestellt. Eine Frau löst sich aus der Gruppe und geht nach vorn – es ist Káta im schwarzen Hosenanzug, die vom Regisseur in extremer Körperlichkeit geführt wird. Ihre Tempo betonten Gänge und Läufe drücken Verzweiflung und panische Angst, aber auch das Aufbäumen gegen ihr Schicksal aus. Mit Tichon, Sohn der Kaufmannswitwe Kabanicha, lebt sie in unglücklicher Ehe, verliebt sich in den Neffen des Kaufmanns Dikoj, Boris, mit dem sie ein nächtliches Treffen hat und ihren Ehebruch mit dem Freitod sühnt.

Salzburg 2022: Janaceks „Káta Kabanová“/ Szene/ Foto Monika Rittershaus/ SF

Gelegentlich löst Kosky die Menschenmauer auf, formiert sie zu  Karrees oder einzelnen Abteilungen. In der Personen-Führung gelingen ihm starke Momente von bezwingender Intensität und Spannung.

Die amerikanische Sopranistin Corinne Winters in der Titelrolle ist ein Glücksfall für die Aufführung. Nach Produktionen in Seattle und Rom hat sie sich die Figur nunmehr ganz zu Eigen gemacht, gestaltet sie mit enormer körperlicher Agilität, die mitunter fast einen tänzerischen Gestus annimmt. Der Regisseur lässt sie in schwarzen Leggins, Shorts und kurzen Kleidern weite Gänge absolvieren, um den riesigen Raum zu füllen. Das Verlangen nach erotischer Erfüllung, die Zweifel und Ängste der verheirateten Frau, aber auch das Rebellieren gegen die Umstände spielt sie bezwingend aus. Der klangvolle Sopran bewältigt die lyrischen Valeurs der Partie, die Aufschwünge und Ausbrüche mühelos, beeindruckt auch mit  betörenden Momenten. Nach ihrer Verirrung findet sie am Ende zu ganz innigem, poesievollem Gesang, öffnet eine Bodenluke und springt in die Tiefe des Flusses. Unbeweglich steht die Kabanicha am Unglücksort und reiht sich ein in die Menschengruppe. Nach ihrer Küsterin hat sich Evelyn Herlitzius eine weitere Charakterpartie Janáceks erarbeitet – mit gleichermaßen überzeugendem Profil. Im violetten Hosenanzug, später im grauen Kostüm mit schwarzen Stiefeln und Gehstock, formt sie ihren Sprechgesang mit schneidender Schärfe. Die erotische Szene mit Dikoj (Jens Larsen mit dröhnendem, verquollenem Bass), der im roten Slip wie ein Hund hinter ihr her kriecht, entlarvt ihre ganze scheinheilige Moral. Als Boris lässt David Butt Philip einen lyrisch geprägten Tenor hören, der in der nächtlichen Begegnung mit Káta zu schönen Aufschwüngen findet.

Das junge Paar des Stückes ist mit Jarmila Balázová als Varvara mit durchschlagendem Mezzo und Benjamin Hulett als Kudrjás mit kraftvollem Tenor gleichfalls idiomatisch besetzt. Sie ist sehr jung gezeichnet; ihr naives, leichtfertiges Naturell wird in quirligen Bewegungen verdeutlicht. Das Treffen Kátas mit Boris organisiert sie bedenkenlos und unbekümmert. Er ist ein Sex-orientierter Teenager mit einem mehr an der Volksmusik orientierten vokalen Duktus. Die Tenorriege komplettiert Jaroslav Brezina als glatzköpfiger, korpulenter Tichon mit einer zum Charakterfach tendierenden Stimme. Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Hub Rhys James) intoniert aus dem Off atmosphärisch die Stimme der Wolga.

Nach eingespielten Vogelstimmen und Wellenrauschen zu Beginn kann der tschechische, aus dem Janácek-Zentrum Brno stammende Dirigent Jakub Hrusa mit den Wiener Philharmonikern die Musik in all ihrer Vielfalt zum Erblühen bringen. Die Klangsprache des Komponisten fächert er wunderbar auf – die flirrenden Passagen, schneidenden Akkorde und tänzerischen Akzente. Grelle Momente und dramatische Spannung vernimmt man vor allem im 3. Akt, wo Donnergrollen und Blitzeinschläge das szenische Geschehen untermalen. Die pausenlose Aufführung am 14. 8. 2022 fand den ungeteilten Beifall des Publikums und dürfte im Premierenreigen der diesjährigen Festspiele einen vorderen Platz einnehmen.

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Salzburg 2022: „Aida“/ Szene/ Foto Ruth Walz/ SF

Die iranische, in New York lebende Künstlerin und Filmemacherin Shirin Neshat überarbeitete ihre Aida-Inszenierung aus dem Jahre 2017. Vor allem die Video-Sequenzen in Schwarz/Weiß hat sie verstärkt eingebracht. Man sieht Ausschnitte aus ihren Arbeiten Passage und Rappture mit Trauerprozessionen und Porträtfotos, untermalt von eingespielten raunenden, wispernden, flüsternden Geräuschen in unverständlicher Sprache, die auch vor Beginn eines jeden Bildes zum Einsatz kommen und die Aufführung unnötig in die Länge ziehen.

Christian Schmidt hat auf die Drehbühne einen riesigen weißen Kubus gestellt, der auch geteilt werden kann und auf den weitere Videos projiziert werden. Im zweiten Bild mit der Schwertweihe hängen goldene Röhren wie Orgelpfeifen von der Decke herab, die seltsamerweise auch die Nil-Szene bebildern. Tatyana van Walsum hat die Kostüme schlichter gestaltet als vor fünf Jahren. Aida trägt nun statt der eleganten blauen Robe und des Kopfschmucks ein schlichtes Kleines Schwarzes als Einheitskleidung. Amneris darf dagegen wechselnde Abendkleider in zeitloser Mode in Gelb, Rot, Blau und Weiß zeigen. Die strenge Schwarz/Weiß-Optik der Soldaten und Geistlichen wird im Triumph-Akt von den rot/goldenen Kostümen der Priesterinnen gebrochen.

Bescheiden ist der choreografische Beitrag von Dustin Klein, der zur ersten Ballettmusik Radamès eine Ziege abschlachten und ausbluten, zur zweiten in Amneris’ Boudoir Soldaten aufmarschieren und im Triumph-Akt ein Götzenbild anbeten lässt. Die gefangenen Äthiopier werden von den Ägyptern brutal abgeschlachtet, Amonasro wird gar von einem Soldaten hinterrücks die Kehle durchgeschnitten. Im Nil-Akt trägt man ihn verhüllt wie einen Leichnam auf einer Bahre herein, aber seltsamerweise hat er die schreckliche Attacke überlebt und zeigt lediglich minimale Blutspuren am Hemdkragen. Solch befremdliche Szenen finden sich noch mehrfach in der Inszenierung – ein herumgeisterndes Aida-Double in der Triumphszene, schwarze Ku-Klux-Klan-Gestalten, die Aida und Radamès bei ihrem Nil-Duett belauern, und nicht zuletzt eine allzu statische, an der Rampe orientierte Personenführung.

Aida ist nun die Russin Elena Stikhina mit kultiviertem und technisch bestens geführtem Sopran, der vor allem in den lyrischen Szenen betört. Mitunter fehlt es ihrem Gesang an Leidenschaft („Ritorna vincitor!“), wirkt der Vortrag zu introvertiert und im Volumen reduziert. Das große Ensemble im Triumph-Akt wusste sie freilich beeindruckend zu dominieren, auch imponierten die zarten, filigranen Töne in der Nil-Arie und vor allem die entrückten, warm leuchtenden Nuancen im Schlussduett mit Radamès, welches ein Video mit Flüchtlingen in einem Boot auf dem Meer illustriert. Piotr Beczala bei seinem Rollendebüt hat hier die stärkste Szene, auch die berühmte Arie „Celeste Aida“ zu Beginn gelingt ihm imponierend mit voluminösem, kraftvollem Tenor und zarten Aufschwüngen. In der Schwertweihe zeigt er sich dagegen überfordert, vermag sich gegenüber dem Chorklang nicht zu behaupten. Ein echter Heldentenor ist er nicht und muss in manchen Szenen der dramatischen Musik Tribut zollen. Im Nil-Duett mit Aida offenbart er eine deutliche Schwäche, weiß sich aber in der Gerichtsszene zu stabilisieren. Hier hat er in der Schweizer Mezzosopranistin Ève-Maud Hubeaux eine fulminante Amneris zur Seite, die nach anfänglich hoheitsvoller Zurückhaltung sich in dieser Szene selbst übertrifft und für einen musikalischen Höhepunkt der Aufführung sorgt. Ihr heftiger Gefühlsausbruch blieb bei aller Wucht des Gesangs stets geschmack- und maßvoll. Wieder gab Luca Salsi den Amonasro mit potentem, gelegentlich verquollenem Bariton von brutalem Ausdruck. Erwin Schrotts körnigem Bassbariton fehlt es für den Ramfis an profunder Tiefe, solide Roberto Tagliavini als Re und delikat der Sopran von Flore Van Meerssche als Sacerdotessa.

Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Hub Rhys James) absolviertedie anspruchsvollen Einsätze mit Glanz, besonders klangschön geriet der Damenchor im 3. Bild. Der Dirigent Alain Altinoglu vermochte es allerdings nicht immer, Bühne und Graben mit den Wiener Philharmonikern perfekt zu koordinieren. Da fehlte es oft an synchronem Zusammenklang und ausgeglichener Dynamik. Weitaus überzeugender gelangen die filigranen Gespinste des Werkes, das kammermusikalische Beziehungsgeflecht (15. 8. 2022).

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Salzburg 2022;: Diana Damrau und Xavier de Mestre/ Foto Marco Borelli SF

Liederabende mit prominenten Interpreten haben eine lange Tradition bei den Festspielen. Auch die deutsche Sopranistin Diana Damrau ist schon mehrfach an der Salzach aufgetreten. Für ihren diesjährigen Abend am 23. 8. 2022 im Haus für Mozart hatte sie ein neues Programm zusammengestellt, bei dem sie – wie schon oft – von Xavier de Maistre an der Harfe begleitet wurde. Die erste Gruppe war Franz Schubert und einigen seiner bekannten Lieder gewidmet. Zu Beginn „An die Musik“ mit innigem Ausdruck, mit delikaten, zarten Zwischentönen „Auf dem Wasser zu singen“, mit leuchtendem Klang „Du bist die Ruh“ und mit gleichermaßen schlichten wie schwelgerischen Momenten „Ellens Gesang III“.

De Maistre leitete die zweite Liedgruppe mit mélodies von Gabriel Fauré mit einem Solostück des französischen Komponisten ein (Impromptu Des-Dur op. 86, Nr. 6), in welchem er mit Klangvielfalt und Brillanz imponierte. Die Sopranistin sang „En prière“ mit lieblich-sanftem, „Clair de lune“ mit schwärmerischem Ausdruck, „Les berceaux“ mit reichem Farbspektrum und dramatischen Akzenten, „Adieu“ mit dynamischen Kontrasten und „Notre amour“ geheimnisvoll flüsternd.

Nach der Pause gab es eine weitere französische Gruppe mit fünf Kompositionen von Claude Debussy. Da hörte man das an Seufzern reiche „Nuit d’étoiles“, emphatisch „Fleurs des blés“ und mit schwebenden Tönen „Clair de lune“. Den letzten Titel stellte De Maistre auch in einer Bearbeitung für Harfe aus der Suite bergamasque vor und brillierte hier mit kunstvollen Arpeggien. Das von der Damrau kokett vorgetragene „Mandoline“ animierte das Publikum im voll besetzten Saal gar zum Zwischenapplaus.

Der letzte Programmteil war Gioachino Rossini gewidmet und begann mit einer großen Opernszene – Desdemonas „Lied von der Weide“ aus Otello. Vom Harfenisten sehr atmosphärisch eingeleitet, konnte die Sopranistin hier mit beklommenem Ausdruck und feinen Klängen berühren. Ihr mimisch-gestischer Ausdruck suggerierte wahrhaft eine theatralische Szene. Nach ihrer Rosina und der Comtesse Adèle an der Met hat sie sich hier einer weiteren Rossini-Rolle genähert. Kontrastreich dazu der Bolero „L’invito“ mit kapriziösem Charme und die Tirolese „La pastorella dell’Alpi“ mit getupften und gejodelten Koloraturen. In „L’esule“ führte der leidenschaftlich engagierte Zugriff zu einigen grellen Tönen in der exponierten Lage, aber die „Aragonese“ brachte einen heiter-melancholischen Ausklang mit einem bravourösen Triller am Schluss. Nach diesem reichen Programm wusste Diana Damrau sich in zwei Zugaben sogar noch zu steigern – zunächst mit der Romanza der Giulietta „O quante volte“ aus Bellinis I Capuleti e i Montecchi eine weitere große Opernszene voller Klangpracht und danach ein Salonstück par excellence von Francis Poulenc: „Les Chemins de l’amour“, geboten mit hinreißendem sinnlichem Raffinement. Bernd Hoppe

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.Seit 1991 steht auf dem Gelände an der Rennbahn in Neuss das zwölfeckige Globe-Theater, das von außen betrachtet eine maßstabsgetreue Verkleinerung des Londoner Originals darstellt, im Innenraum jedoch einige Unterschiede aufweist. So gibt es hier keine Stehplätze vor der Bühne. Das Publikum wird im Halbrund auf Parkett und zwei Ränge verteilt. Jeden Sommer findet hier ein Shakespeare Festival statt, bei dem internationale und nationale Theatergruppen den Schwan von Stratford-upon-Avon feiern. In Kooperation mit dem Festival Alte Musik Knechtsteden hat das Kulturamt Neuss nun beschlossen, die Spielstätte auch außerhalb des Shakespeare-Festivals für musikalische Zwecke zu nutzen, und kombiniert Picknick-Flair à la Shakespeare im Führring mit barockem Klang à la Scarlatti im Theater. Ein Bezug zu Shakespeare ist auch vorhanden, da die Figuren der präsentierten Miniatur-Oper Scarlattis, Venus und Adonis, auch von Shakespeare, zwar nicht in einem Drama, aber immerhin in einer epischen Versdichtung verewigt worden sind. Shakespeare geht in seiner Dichtung allerdings weiter. Während er die tragische Liebesgeschichte bis zum Tod des Adonis in Verse setzt, endet Scarlattis Oper mit einem glücklichen Aufeinandertreffen der beiden Liebenden im giardino d’amore (Garten der Liebe).

Scarlattis „Giardino d´amore“ im Globe-Theater an der Rennbahn Neuss  2022 (© Johannes Ritter)

Die Serenata Il giardino d’amore entstand zwischen 1700 und 1705 auf ein Libretto eines unbekannten Textdichters und zählt zur Gattung der Serenata. Im Gegensatz zu den zahlreichen Opern und Oratorien, die Alessandro Scarlatti komponierte, handelt es sich bei einer Serenata um eine kleine dramatische Szene, die in der Regel zu einem festlichen höfischen Anlass aufgeführt wurde. Da diese Serenata a due mit einer Länge von gut 50 Minuten für einen kompletten Theaterabend vielleicht etwas zu kurz ist, werden ihr noch Scarlattis Sinfonia aus der ein paar Jahre zuvor entstandenen Serenata Venere e Amore und ein Konzert für Blockflöte und Orchester vorangestellt. Auch in der dreiteiligen Sinfonia spielt die Blockflöte eine dominante Rolle, die bei der musikalischen Leiterin des Ensembles 1700, Dorothee Oberlinger, in den besten Händen ist. Mit weichem Klang meint man, hier bereits die Göttin der Liebe zu vernehmen, die später auch in der Serenata Il giardino d’amore auftritt. Doch vorher erklingt noch das Concerto IX a-Moll für Blockflöte und Orchester, bei dem Oberlinger erneut durch virtuoses Spiel auf der Blockflöte begeistert. Während sie im Largo einen sehr sanften und nahezu melancholischen Ton anschlägt, bewegt sie sich mit stupenden, variablen Läufen durch die Fuga und das abschließende Allegro, so dass das Publikum bereits nach diesen beiden Stücken großen Beifall spendet.

Die anschließende Serenata wird von Nils Niemann in Szene gesetzt. Dabei untermalt er die barocke Musik mit barocker Gestik, die jede Bewegung wie ein Gemälde erscheinen lässt. Johannes Ritter hat die beiden Figuren Venere und Adone dafür in opulente Kostüme gekleidet, die diesen bildlichen Charakter noch unterstreichen. Als Hintergrund fungiert eine Videowand, auf die Torge Møller eindrucksvolle Bilder projiziert, die den Gang der Venere und des Adone durch eine arkadische Landschaft untermalen und neben dem Ohrenschmaus auch puren Genuss für die Augen bieten. Auch mit den unterschiedlichen Ebenen der Figuren wird gespielt. So tritt die Göttin Venere zunächst im ersten Rang auf und steigt gewissermaßen auf der Suche nach ihrem geliebten Adone aus dem Olymp herab, während der Jäger Adone mit einem Speer durch den Zuschauersaal auftritt und damit seine Stellung als irdisches Wesen unterstreicht. Dass die Geschlechter bei der Besetzung vertauscht werden, mag keineswegs so modern sein, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte. Komponiert hat Scarlatti die Serenata für einen Sopran (Adone) und einen Alt (Venere). Da in Rom zur Zeit der Uraufführung jedoch ein Auftrittsverbot für Frauen herrschte, ist davon auszugehen, dass beide Partien dort von zwei Kastraten interpretiert worden sind, wobei bei einer Aufführung in Neapel eventuell auch Sängerinnen zum Einsatz kamen, da ihnen hier ein Auftritt erlaubt war. Es verwundert also nicht, dass Venere, der stimmlich der tiefere Part zukommt, in Neuss mit dem Countertenor Xavier Sabata besetzt ist und die Sopranistin Roberta Mameli die Partie des Jägers Adone übernimmt.

Das Globe-Theater in Neuss (© Nicola Oberlinger)

Sabata verfügt als Venere über einen sehr weichen Countertenor, der in den Koloraturen große Beweglichkeit besitzt. Mit sehr langsamer und dezenter Gestik unterstreicht Sabata darstellerisch den erhabenen Charakter der Liebesgöttin. Der Tonfall in ihren Arien ist sehr melancholisch und verzweifelt. So fleht Venere direkt zu Beginn der Serenata die Natur in Form der Wälder an, ihr endlich zu verraten, wo sich ihr geliebter Adone aufhält. Dabei verfällt die Natur in Stillstand. Die Winde fliehen und die Blätter rascheln nicht mehr. Die imposante Trompete, die in der Sinfonia noch zuvor den Auftritt der Göttin und des kämpferischen Jägers angekündigt hat, ist nun verstummt. Doch schließlich trifft Venere auf ihren Geliebten, und ihre Trauer weicht einer großen Freude, die Sabata mit flexiblen Läufen und einer gewissen Reife zelebriert. Wesentlich jugendlicher kommt Adone daher. Ein musikalischer Glanzpunkt ist seine erste Arie, in der er den Sinn seines Lebens als Jäger in Frage stellt. Hier erzeugt Percussionist Peter Bauer betörende Naturgeräusche, die mal das Rauschen eines Flusses, dann das Zwitschern der Vögel imitieren, den jungen Adone aber bei aller Schönheit nicht aus seiner Melancholie reißen können. Mit der Sopranino-Blockflöte, die von Oberlinger mit virtuoser Leichtigkeit gespielt wird, tritt Mameli als Adone in einen innigen Dialog. Als dann aber schließlich die geliebte Göttin auftaucht, ist Adone musikalisch in seinem jugendlichen Übermut nicht mehr zu halten. Mameli lotet das mit kraftvollen Läufen und kraftvollen Spitzentönen aus. Einen weiteren Glanzpunkt stellt die Schluss-Arie dar, in der Adone mit der Trompete um die Wette jubiliert. Hier begeistert Mameli mit strahlenden Höhen, so dass ein Teil des Publikums sich nicht zurückhalten kann und sogar in die Arie hineinklatscht.

Nach dieser Glanznummer besingen Adone und Venere ihr wiedergefundenes Glück in einem betörend schönen Duett. Hier finden Mamelis leuchtender Sopran und Sabatas geschmeidiger Countertenor zu einer wunderbaren Einheit. Das Publikum feiert die beiden und das großartig aufspielende Ensemble 1700 mit seiner Leiterin Dorothee Oberlinger mit frenetischem Applaus, so dass es am Ende sogar noch eine Zugabe gibt. Diese stammt nicht von Scarlatti, sondern von Francesco Cavalli: „Ma quando sarà“ aus Il rapimento di Elena. Darin geht es zwar eigentlich um ein ganz anderes Liebespaar, aber das innige Liebes-Duett könnte inhaltlich und musikalisch auch von Venere und Adone stammen. Auch dies wird von Mameli und Sabata stimmlich und szenisch sehr intensiv interpretiert. Thomas Molke (mit Dank an den Autor und Online Music Magazin, wo der Artikjel erstmals erschien)

 

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Verliebte Schmetterling: Die Kurtisane und die Geisha – Bregenzer Festspiele 2022: Puccinis Madama Butterfly und Giordanos Siberia Eigentlich war für Dezember 1903 an der Mailänder Scala die Uraufführung der Madama Butterfly geplant, deren Orchestrierung aber erst am 27.Dezember vollendet war. Stattdessen versammelten sich am 19. Dezember die für Madama Butterfly vorgesehenen Sänger und der Dirigent zur Uraufführung von Siberia des von Ricordis Konkurrenten Sonzogno als Kronprinz ins Spiel gebrachten Umberto Giordano. Fast exakt zwei Monate später fanden sich Rosina Storchio, Giovanni Zenatello und Giuseppe de Luca unter Leitung Cleofonte Campaninis am 17. Februar 1904 bei der Uraufführung der Madama Butterfly neuerlich auf der Bühne der Scala zusammen. Siberia erlebte einen flauen Erfolg, Madama Butterfly jedoch „erntete einen Mißerfolg, wie er in dieser Größenordnung in der Operngeschichte selten ist, vergleichbar höchsten dem Skandal bei der Pariser Uraufführung des Tannhäuser“, so Mosco Carner. Die beiden zufällig verbundenen Opern kamen nun im Zuge einer klugen Spielplandramaturgie der 2024 an die Lindenoper wechselnden Intendantin Elisabeth Sobotka bei den Bregenzer Festspielen heraus, Madama Butterfly auf der Seebühne, Siberia im Festspielhaus.

Bald wendete sich das Schicksal der beiden Opern. Nach dem Fiasko der Uraufführung, deren zweite Aufführung bereits durch Faust ersetzt wurde, erstellte Puccini innerhalb weniger Woche eine neue Fassung, am auffallendsten die neue Dreiteilung des ursprünglichen Zweiakters, und stellte die Tragedia giapponese Ende Mai 1904 in Brescia unter Toscanini neuerlich zur Diskussion. Die Erfolgsgeschichte setzte mit Aufführungen in Buenos Aires, London, Paris und an der Met sofort ein. Siberia wurde von Campanini zwar nach Paris und an die Met gebracht, erlebte zahlreiche Produktionen in Italien, doch nach dem Ersten Weltkrieg brach der kurzzeitige Erfolg zuerst außerhalb Italiens und nach den Zweiten Weltkrieg auch dort nahezu komplett ab; zuletzt wurde der Dreiakter 1999 in Wexford, nach 2003 in Moskau und 2021r in Florenz aufgeführt, wo sich Sonya Yoncheva der Stephana bemächtigt hatte (wovon es bei Dynamic eine DVD bzew. CD gibt) . Die von Fürst Alexis ausgehaltene Hetäre Stephana ist quasi die ältere Schwester der Katjuscha, die von Franco Alfano ein Jahr später in seiner Resurrezione nach Tolstois Auferstehung, die in Teilen wie eine Überschreibung von Luigi Illicas Originallibretto für Giordano wirkt, nach Sibirien geschickt wird. Auch Stephana stirbt in Sibirien. Der Abstieg der Kurtisane setzt ein, als sich Stephana in den mittellosen Offizier Vassili verliebt und sich vor dem Fürsten zu ihrem Geliebten bekennt, worauf Alexis selbstverständlich den Degen zieht und von Vassili im Zweikampf getötet wird. Stephana gibt ihr komfortables Leben im St. Petersburger Palais auf, verschenkt ihren Besitz an die Armen und folgt dem nach Sibirien verbannten Vassili ins Straflager, wo sie beim gemeinsamen Fluchtversuch angeschossen wird und sterbend die sibirische Erde preist, „Sibirien, heiliges Land der Tränen und der Liebe“. Ihr Zuhälter Gleby nennt sie einen „verliebten Schmetterling“. Die, ähnlich der Fedora, mit vielen Episoden angereicherte und duchkomponierte Handlung konzentriert sich auf die weibliche Hauptfigur und deren Läuterung.

Ein russisches Team war angetreten, um für Authentizität zu sorgen. Aber was heißt das schon in einer italienischen Oper, bei der Zarenhymne im ersten und das Lied der Wolfgaschlepper im zweiten und dritten Akt, dazu ein Balalaika-Ensemble und das „Cristo è risorto“ des orthodoxen Ostergesangs (mit dem ausgezeichneten Philharmonischen Chor Prag) als stimmungsstarke koloristische Tupfer zwischen die Kleinteiligkeit der Chöre und die kurzen, leidensstarken Szenen der Stephana und ihres Lovers Vassili gesetzt sind. Doch Regisseur Vasily Barkhatov nimmt uns mit auf die Reise einer alten Frau, die in den 1990er Jahren von Rom nach St. Petersburg und schließlich mit der Transsibirischen in die Region jenseits des Baikalsees fährt, an die historischen Orte – damals und in der späten Sowjetzeit. Clarry Bartha, die einstige Opernsängerin, kommt in einem Palast an, in dem die Tapeten von den Wänden blättern und die Bewohner lieber Jogginghosen als Uniformen tragen. Faszinierend, wie Christian Schmidt aus diesen ranzigen Räumen in die Pracht des alten Palais um 1900 blendet und die Gestalten aus der Gegenwart in die Vergangenheit wandern. Giordanos oft gehetzte, kurzatmige, auf ständige Abwechslung und Stimmungsschwankungen bedachte Dramaturgie findet in den Filmsequenzen, die Barkhatov wie eine Folie liebevoll über die Oper legt, ihre Entsprechung. Das ist in den Perspektivwechseln handwerklich souverän gelöst, spannend, sehenswert, so auch im Frühjahr an der koproduzierenden Oper Bonn. Valentin Uryupin dirigierte die Wiener Symphoniker knallig-schwelgerisch, aber auch ein bisschen undifferenziert. Ambur Braid hat zwar alle Töne für die Stephana, ist in diesem Repertoire aber nicht wirklich gut aufgehoben. Mit seinem kleinen, leichten Tenor verschenkt der fehlbesetzte Alexander Mikhailov die beiden kurzen Arien des Vassili, für den es eines echten tenoralen Draufgängers bedarf. Zu unprofiliert auch Omer Kobiljak in der Episodenrolle des Fürsten Alexis. Mit knorrig, interessant gefurchtem Bariton legt Scott Hendricks in die beiden Erzählungen des Gleby dessen gesamte Lebenserfahrung. Frederika Brillembourg singt Stephanas Dienerin Nikona, Bartha übernimmt auch die Partie der Fanciulla, dazu in zumeist zwei Partien Manuel Günther, Michael Mrosek, Unsteinn Arnason, Stanislav Vorybyov sowie Rudolf Mednansky (21. Juli 22).

Eröffnet wurden die Festspiele am Vorabend mit Puccinis Madama Butterfly, die sich gleichfalls durch die Verbindung mit einem reichen Mann eine Flucht aus ihrem Dasein erhofft. Normalerweise ist das Bregenzer Bühnenbild weithin über den See zu sehen. So wie Leuchttürme Schiffern den Weg wiesen, sollen die spektakulären Aufbauten Touristen und Schaulustigen zum Schritt ins Opernhaus unter freiem Himmel verlocken. Ein Rummelplatz für die Oper. Diesmal ist nichts zu sehen. Aus der Ferne so etwas wie eine große Eisscholle, die an sich eine Sensation wäre, sich aus der Nähe aber als riesiges, vielfach gewelltes Blatt Papier und schließlich als aktuelle Bühne herausstellt. Eigentlich ganze unspektakuläre 300 Tonnen schwer und mit einer Spielfläche von über 1300 qm. Das sind Zahlen, mit denen in Bregenz leicht jongliert werden, mit dem Unterschied, dass diese helle, mit feiner Kalligraphie und zarten Landschaftsmalereien versehene Japanerie im abendlichen Spiel eine ungemeine Poesie entfaltet (Bühne: Michael Levine, Kostüme: Antony McDonald, Licht: Franck Evin). Trotz der alle Bergwindungen herabtippelnden Hochzeitsgesellschaft, die ihre Papierschirme wie Mohnblüten tragen, der rollenden Trunkenbolde und der Geisterschar, die die Protagonisten umwedeln, verliert Andreas Homoki das eigentliche Drama nie aus dem Fokus. Geradezu bewundernswert, wie er selbst über die großen Distanzen hinweg Konzentration und Spannung schafft, von der Brian Mulligans warmherziger, mit sicher sitzendem Bariton gesungener Sharpless und die nicht minder anrührende Annalisa Stroppa, die sich als Suzuki noch lange nicht aufs Altenteil schieben lässt, profitieren. Das ist geradezu uneitel, werkdienlich, sicherlich auch ein wenig konventionell. Von weit oben seilt sich der Marineleutnant Pinkerton ab und bewegt sich wie der sprichwörtliche Elephant im Porzellanladen. Auch der im französischen Repertoire gern gehörte Edgaras Montvidas bewegt sich im Puccini-Fach stimmlich ungewohnt unfrei und verspannt, setzt in seiner Amerika-Hymne ein kleines Leuchtfeuer, doch mit seinem schmalkalibrigen Tenor, der sich in der Höhe nicht öffnet, ist er als italienisch-amerikanischer Macho wenig überzeugend. Da können auch die ausgeklügelte Tonanlage und die vier Dutzend im Bühnenbild verblendeten Lautsprecher nichts ausrichten. Barno Ismatullaeva hat einen in der Höhe duftigen und sicheren Sopran, der sich mit weitem Atem über einem soliden Fundament spannt.  Stellenweise mochte man glauben, der voice-killer könne sie in einem Opernhaus überfordern und nur Dank technischer Manipulation flute ihr „Un di vedremo“ so sicher über den See. Doch als die Aufführung direkt nach der Arie wegen Sturmwarnungen und Blitzen ins Festspielhaus umziehen musste, zeigte die kasachische Sopranistin, dass sie mit den strahlenden Höhen auch unter „normalen“ Bedingungen eine ausgezeichnete Interpretin der Cio-Cio-San ist. Mulligan und Stroppa unterstrichen auch im Haus ihre gute Open-Air-Leistung, der Goro (Taylan Reinhard) hat auch im Haus keine Stimme (20. Juli; in weiteren Rollen sangen Omer Kohiljak/ Yamadori), Stanislav Vorobyov/ Bonzo und Hamida Kristoffersen/Kate Pinkerton), doch die Wiener Symphoniker kreieren unter Enrique Mazzola bestrickendem Streicherklang und originelle Klangakrobatik, die man zuvor in dieser Feinheit nicht wahrgenommen hatte. Insofern war der Regen diesmal durchaus von Vorteil.  Rolf Fath

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PS.: Die drei verschiedenen Versionen der Oper sind einzeln selten anzutreffen. Die ausgezeichnet gesungene Aufnahme bei Vox unter Charles Rosecranz mit der fulminanten Maria Spacagna bietet die Fassungen für Brescia 1904, Mailand 1904 und Paris/Comique 1906; zudem auch die Änderungen für Washington 1906 – leider vergriffen, aber antiquarisch noch bekommen (Discogs, ebay, Spotify). G. H.

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Rossini in Wildbad 2022: Man hätte nicht gedacht, dass man sich mal so auf die Trinkhalle am Rande des Kurparks in Bad Wildbad freuen könnte. Nach drei Jahren kehrt Rossini in Wildbad wieder an seine gewohnten Spielorte zurück. Neben dem schmalen langen Saal der Trinkhalle ist das noch das putzige Königliche Kurtheater, in dem Rossinis kleine Lissaboner Farsa Adina zur Aufführung gelangt.

Nachdem das Festival 2020 ausgefallen und im Vorjahr unter Corona-Auflagen in einer scheuerartigen offenen Sporthalle neben einem Fußballplatz am Rande des Ortes Zuflucht gesucht hatte, nun also wieder großes Rossini-Fest in der Trinkhalle, wo das in diesem Jahr mit neun Opernaufführungen an zehn Tagen (15. bis 24. Juli) dichter gewobene Festspielprogramm mit zwei großen ernsten Opern aus Rossinis neapolitanischen Jahren eröffnet wurde, der Kreuzfahrer- und Zauberoper Armida von 1817 (15. Juli) und der Azione tragica Ermione von 1819 (16. Juli).

Rossinis „Armida“ in Wildbad/ Szene/ Foto Foto Pfeiffer

Letztere eine Bad Wildbader Erstaufführung. Das ist eine Ansage. Alle hatten sich offenbar auf diesen Start gefreut. Eine Ansage gleich auch die schleudernde Geschmeidigkeit, mit der Moisés Marin als Goffredo seine Kreuzritter auf dem Schlachtfeld versammelt und den Ton für das mit martialischen Einwürfen gespickte Liebesdrama zwischen der Zauberin Armida und dem Ritter Rinaldo vorgibt, das José Miguel Pérez-Sierra, der die Oper bereits im Vorjahr in Marseille dirigiert hatte, mit dem Philharmonischen Chor und Orchester Krakau kenntnisreich und mit Leidenschaft und Poesie entwickelte. Liebevoll nahm sich Pérez-Sierra auch der langen Ballettmusik am Ende des zweiten Aktes an, eigentlich ein veritables Flötenkonzert. Die bereits von Mozart, der ein halbes Jahrhundert zuvor Jommellis Oper in Neapel gehört hatte, als „zu altvätterisch fürs teatro“ bezeichnete Episode aus Tassos Epos Das befreite Jerusalem ist hinlänglich bekannt und war zur Rossinis Zeiten ein alter Hut. Die Aktionen um Armida auf der Liebesinsel mit herbeigezauberten prächtigen Palästen, Nymphen und Amoretten und schließlich dem Drachenwagen, in dem die Enttäuschte in die Lüfte entschwebt, boten aber genug Theater- und Sinnenreize, um die Kulissen- und Verwandlungsmöglichkeiten des durch Brand zerstörten und gerade wiedereröffneten Teatro San Carlo auszureizen. Zudem war die nach Elisabetta d’ Inghilterra und Desdemona dritte Partie, die Rossini der Diva maßschneiderte, ein wunderbares Gebinde für seine spätere Gattin Isabella Colbran. Keine andere Frau stand neben ihr auf der Bühne. Die Behauptung, die Oper sei aufgrund der erforderlichen sechs oder sieben Tenöre, die der Diva in den drei Akten assistieren, kaum zu besetzten, lässt sich schwer aufrechterhalten. Bereits bei der Uraufführung teilten sich drei Tenöre sechs Rollen – Armidas Geisterführer Astarotte kann sowohl von einem Bass wie einem Tenor gesungen werden – da die diversen Ritter nur im ersten oder dritten Akt auftauchen. Rossini in Wildbad setzte, wie die wenigen Bühnen, welche die Oper heute spielen, seinen Ehrgeiz selbstverständlich dran, alle Tenorpartien einzeln zu besetzten und kann aus einem nie versiegenden Reservoir junger Stimmen schöpfen, darunter auch der vielversprechende Neuling Manuel Amati als Eustazio. Die einzige durchgehende Tenorrolle ist Rinaldo, für den sich Michele Angelini geradezu aufopferte. Angelini kann ein „Cara“ liebevoll verzieren, singt mit Inbrunst, Hingabe, Feuer, entfesselt nach dem Terzett dreier Tenöre „In quale aspetto imbelle“ mit Chuan Wang als Carlo und César Arrieta als Ubaldo, die das Duett z Beginn des dritten Aktes mit Biss versehen hatten, auch im Publikum südländische Leidenschaft und reibt sich in der letzten Auseinandersetzung mit Armida geradezu auf. Ruth Iniesta hat vieles, was die Partie ausmacht, die fast rauchige und anmacherische Tiefe und resolute Mittellage, die Armida als manipulatives Luder zeigen, das die Kreuzfahrer für seine Mittel einspannt, vor allem aber einen schön durchgebildeten interessanten Sopran für die Liebesszenen und das imperiale „D’ amor al dolce impero“ der Liebesgöttin, aber auch genügend Pfeffer für Hass und Enttäuschung der Zauberin, die am Ende Macht und Verführungskunst eingebüßt hat, worauf Iniesta ihren fast entgleisenden Sopran  mit der Wucht eines Fallbeils setzt. Angelini und Iniesta machen aus Rossinis Tongirlanden großes Theater, das in Momenten geradezu spontan und improvisiert und wie aus dem Stegreif erfunden wirkt. Die einzige geschlossene Arie gehört dem Ritter Garnando, der in Eifersucht auf Rinaldo vergeht; Patrick Kabongo singt diese Vorstudie zum Jago („Non soffrirò l’ offesa“) mit zarter Eleganz und Nonchalance. Die Bässe Jusung Gabriel Park als Idraote und Shi Zong als Astarotte und der Tenor Manuel Amati als Eustazio komplettierten das Ensemble, das Festspielleiter Jochen Schönleber in weiser Voraussicht, dass eine szenische Aufführung die Möglichkeiten in der Trinkhalle überfordern könnte, auf der Konzertbühne versammelte.

Rossinis „Ermione“/ Szene/ Foto Pfeiffer

Bei Ermione versetzte Regisseur Schönleber den Mythos vom trojanischen Krieg und dessen Folgen in eine nicht näher ausformulierte Gegenwart, indem er Bilder von Kriegszerstörungen über die Spielwürfel laufen ließ, mit denen er die Bühne reichlich verengte, worauf er sich mehr und mehr auf das Arrangement der Auf- und Abgänge zurückzog. Dazu Uniformen, Ledermantel und Gewehr für die sich auf einen Jagdausflug begebende Ermione, eine Krankenschwester für die Station, auf der die Hektor-Witwe Andromache ihren traumatisierten Sohn besuchen darf. Ermione ist ein schweres Stück. Stendal bezeichnete es als Experiment, mit dem Rossini das Genre der französischen Oper erkunden wollte. Anlässlich der 1987 in Pesaro erfolgten Wiederentdeckung der zu Rossinis Lebzeiten so gut wie nie gespielten Oper hielt Philip Gossett fest, „It is a major accomplishment, and must be reckoned one of the findest works in the history of nineteenthcentury Italian opera“. Der unauslöschliche Eindruck, den die Aufführung (mit Caballé, Horne, Merritt und Blake in Pesaro) – trotz gewisser Schwächen – damals für mich hinterließ, ist offenbar schwer zu wiederholen. Das Pathos der rezitativischen Deklamation, der Aplomb der musikalischen Anlage, die Verflechtung von Ariosi, bravouröser Exklamation und brillanten Arien, eingebettet in nur elf, zu musikdramatischen Blöcken verdichteten Nummern. Großartig bereits die Introduzione, in die Rossini die Chorgesänge über den Fall Trojas montierte, worauf er unmittelbar die Klage der Andromache anschließt und somit mitten in das Drama über die Kinder der Helden von Troja führt. Unnötigerweise nahm Schönleber dieser Eröffnung viel von ihrer Wirkung, indem er der Aufführung eine aus dem Off gesprochene Klage der Andromache voranstellte. Pyrrhus/Pirro, Sohn des Achilleus und König von Epirus, verliebt sich in die trojanische Gefangene Andromache, Witwe des Hektor, obwohl er bereits so gut wie verheiratet ist mit Hermione/ Ermione, der Tochter des Menelaos. Nach vielem Hin und Her willigt Andromache in die Heirat mit dem König ein, um ihren Sohn zu retten, dessen Tod von den Königen von Griechenland gefordert wird, damit aus ihm nicht wieder die Macht Trojas emporsteige. Aus Wut, Eifersucht und Enttäuschung fordert Hermione den in sie verliebten Orest auf, Pyrrhus zu töten. Nach der Tat wirft sie ihm vor, ihre wahren Gefühle nicht erkannt zu haben und hetzt die Erinnyen auf ihn. Die wiederstrebenden Gefühle der Ermione legt Rossini in einer ebenso farben- und abwechslungsreichen wie intensiven Gran Scena dar, deren drei Abschnitte zwischen Rezitativ und Arien wechseln, unterbrochen von Einwürfen ihrer Zuträger und Vertrauten, sich im Racheduett mit Oreste steigern und – unterbrochen von einer Verschnaufpause und dem Duettino mit Bass und Tenor – nach dem Mord an Pirro in einem hitzigen Duett „Sei vendicata“ gipfeln. Nach einem wenig interessanten ersten Akt gewann die von Antonino Foglioni mit einer gewissen Kühle und Distanz verwaltete Aufführung in dieser Grand Scena des zweiten Aktes an Spannung und Intensität. Serena Fernacchia ist eine hochprofessionelle und sorgfältige Sängerin, die Ermiones Pein mit einem in allen Lagen ausgeglichenen Ton von gleichbleibender Qualität achtsam umsetzt, sie ist kein Bühnentier, aber ihre Rezitative verfügen stets über Autorität, geraten nur selten flach, und ihr Umgang mit den verzierten Passagen ist beachtlich. Da spürt man etwas von der Grandeur des Werkes. Als Andromaca verfügt die junge Aurora Faggioli über einen dunkel schweren Mezzosopran bzw. Alt mit guter, etwas fahler Tiefe und mauschiger Diktion, der in der Höhe beachtlichen Glanz entfaltet, doch insgesamt etwas lückenhaft ist und erst in ihrer Szene zu Beginn des zweiten Aktes „Ombra del caro sposo“ überzeugt. Sowohl Moisés Martin in der tieferen, von Andrea Nozzari kreierten Tenorpartie des Pirro wie Patrick Kabongo in der höher gelagerten Giovanni David-Partie des Oreste blieben, trotz aller mustergültigen Ausführung, etwas verhalten, waren vielleicht auch etwas ermüdet nach dem Goffredo bzw. Gernando am Vorabend und vermochten ihren Partien nicht den letzten Kick zu geben. Auffallend gut die Nebenpartien mit Mariana Poltorak und Katarzyna Guran als Vertraute von Ermione bzw. Andromaca, Jusung Gabriel Park als Pirros Erzieher Fenicio, Bartosz Jankowski als sein Vertrauter Attalo und Chuan Wang als Orestes Freund Pilade, die mit dem Philharmonischen Chor und Orchester Krakau zum Erfolg der heftig bejubelten Aufführung beitrugen, die mich allerdings mit gemischten Gefühlen zurückließ. Rolf Fath

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 Enttäuschenden Eindrücke: Musikfestspiele Potsdam Sanssouci. Inseln lautet das Motto der diesjährigen Festspiele und das Programm bietet eine Fülle von Ausgrabungen und Entdeckungen. Inseln sind Orte der Sehnsucht, der Erinnerung, der Zuflucht und Hoffnung. Im Schlosstheater des Neuen Palais Sanssouci konnte man am 14. 6. 2022 die Bekanntschaft mit Giuseppe Scarlatti machen, vermutlich einem Neffen der weit berühmteren Komponisten Alessandro und Domenico. Sein dramma giocoso per musica I portentosi effetti della Madre Natura von 1752 (uraufgeführt in Venedig) ist eine veritable Rarität, wurde im 18. Jahrhundert in der Orangerie des Schlosses Charlottenburg (1764) und im Schlosstheater des Neuen Palais (1768) aufgeführt, geriet aber dann in Vergessenheit. Das Libretto stammt von keinem Geringeren als Carlo Goldoni und erinnert in seinen Szenen voller Situationskomik an die berühmte Commedia dell’arte. Zentrale Figur ist Celidoro, der während eines Sturmes aus der Isolation, der Inhaftierung auf der Insel Mallorca, ausbrechen kann. Plötzlich erlebt er die Freiheit und lernt die Welt der Menschen kennen, vor allem die rätselhafte der Frauen. Er möchte sie gleich alle besitzen und muss erst lernen, dass hier eine Entscheidung Not tut. So singt er mit seinen beiden Angebeteten Cetronella und Ruspolina dann auch ein Terzett, in welchem von Mäßigung in der Liebe die Rede ist. Rupert Charlesworth gibt ihn mit baritonal getöntem, virilrem Tenor, der gleich in seiner ersten Arie („Donna, vi lascio“) auch mit kraftvollen Spitzentönern imponiert. Wie er angesichts der beiden Damen körperlich in Bedrängnis gerät, spielt er anschaulich aus, und wie er einer jeden ein Stück seines Herzens geben will, macht ihn durchaus sympathisch. Die beiden Damen sind wie alle Figuren in dieser Inszenierung des französischen Filmregisseurs Emmanuel Mouret in einem Büro der 1970er Jahre mit Tischen und Stühlen, Karteikästen und Telefonen tätig (Ausstattung: David Faivre)

Triste Szene: Potsdamer Musikfestspiele mit Scarlattis „I portentosi effetti della Madre Natura“ von 1752/ Foto Stefan Gloede

Also kein  arkadisches Schäfer-Idyll wie bei Goldoni, wo von auf Wiesen grasenden Schafen und Lämmern gesungen wird, sondern eine triste Szenerie ohne jeden bukolischen Zauber, ohne Galanterien und Rokoko-Anmut. Cetronella (Benedetta Mazzucato mit klangvoll  gerundetem Alt) als Putze mit großem Staubsauger und Ruspolina im Overall als Hausmeisterin sind Konkurrentinnen um die Gunst Celidoros, der noch nicht weiß, dass er ein König ist, am Ende aber doch die Putzfrau zur Gattin wählt. Ruspolina (Maria Ladurner mit lieblichem Sopran) hat das Nachsehen. Alle vereinen sich zum stürmischen Schlusschor „O gran Madre“ als eine Hymne an Mutter Natur.

Natürlich gibt es auch einen Bösewicht im Stück – es ist Ruggiero, der einst seinen Rivalen Celidoro ins Gefängnis bringen ließ, am Schluss aber samt seiner Gattin Lisaura von Celidoro frei gelassen wird und sogar noch die Ostküste der Insel Mallorca erhält. Der renommierte Counter Filippo Mineccia macht in ordensgeschmückter Uniform gute Figur, beginnt stimmlich etwas verhalten in seiner schwärmerischen ersten Arie, die von zärtlicher Lust kündet. Die Soli im 2. Teil der Aufführung liegen ihm besser in der Kehle, so „Sarai felice“ mit furiosem Mittelteil und vor allem sein letzter Auftritt („Ti chiedo la morte“) von rasender Attacke. Eine internationale Größe im Barockrepertoire ist Roberta Mameli, die als Lisaura ein Kleid aus grauer Seide (und damit das einzig elegante Kostüm der Aufführung) trägt. Der Sopran ist im Volumen gewachsen, hat aber nichts an Flexibilität und Virtuosität verloren. Die staccati in ihren Arien sind  delikat getupft und glitzern mirakulös. In der Besetzung ohne jeden Schwachpunkt bringen Niccolò Porcedda als Poponcino und João Fernandes als Vater Calimone mit solide Bässen die kontrastierend tiefen Töne ein.

Wieder ist Festspielintendantin Dorothee Oberlinger die Entdeckung eines musikalisch zauberhaften Werkes zu danken. Mit ihrem ENSEMBLE 1700 reizt sie den Charme und Esprit, aber auch die dramatischen Effekte der Musik mitreißend aus. Das beginnt mit der beherzten Ouvertüre, setzt sich fort bei den reizvoll instrumentierten Nummern (oft mit Tambourin und Kastagnetten) und reicht bis zu einigen Affekt geladenen, gesanglich anspruchsvollen Da capo-Arien. Interpolierte Orchesterstücke und Passagen mit Bläserglanz und Trommelwirbel bieten abwechslungsreiche Farben und Stimmungen. Das Publikum dankte mit reichem Applaus für diese Insel musikalischer Glückseligkeit.

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Die Aufführung der seltenen Oper von Giuseppe Scarlatti hatte die Messlatte hoch gelegt, da fiel die konzertante Darbietung von Johann Friedrich Reichardts Singspiel Die Geisterinsel im Niveau eher bescheiden aus. In einem späteren Klavierauszug wurde das Werk auch als Oper bezeichnet und in der Tat bewegt sich die Musik mit ihren Arien, Romanzen, Tänzen und Chören schon in Richtung zum großen Genre. Mit seinem Ensemble Das Kleine Konzert, das er 1977 gegründet hatte, gelang Hermann Max (der die Oper für cpo eingespielt hatte/5915496 ) eine frische, lebendige Wiedergabe der Musik in ihrer Nähe zu Mozart. Schon die Ouvertüre weist mit ihren dramatischen Akzenten Anklänge an die Zauberflöte auf. Im Verlauf der Aufführung gab es allerdings auch Intonationstrübungen bei den Streichern.

Johann Friedrichg Reichardt/ Stich von Riedel/ Wikipedia schreibt ergänzend: The libretto by Gotter, after an earlier version by his friend Friedrich von Einsiedel, had already been hailed as a masterpiece by Goethe and first set by Fleischmann in 1796. Goethe also promoted Fleischmann’s setting but the opera was not a success. The years 1798-1799 saw six more operas based on The Tempest, of which Reichardt’s, commissioned by August Wilhelm Iffland for the Nationaltheater, Berlin (1798), was both the most successful and the most successful of Reichardt’s operas as a whole. 

Das Libretto von Friedrich Wilhelm Gotter & Friedrich Hildebrand von Einsiedel bezieht sich auf Shakespeares Schauspiel The Tempest, das Christoph Martin Wieland 1761 ins Deutsche übersetzt hatte. Der Titel: Der Sturm oder Die bezauberte Insel. 1798 wurde Reichardts Vertonung im Königlichen Nationaltheater am Gendarmenmarkt zu Berlin uraufgeführt.

Ein Erzähler führt durch die Handlung: Michael Tietz missfiel mit aufgesetztem Pathos und verspäteten Einsätzen. Die Besetzung war auf mittlerem Niveau und wurde angeführt von Ekkehard Abele als Prospero, einstiger Herzog von Mailand, der seit Jahren mit seiner Tochter Miranda auf einer einsamen Insel lebt. Der  Bass klingt dumpf, der Sopran von Marie Heeschen in der Höhe steif. Auf einer Wolke schwebt der Luftgeist Ariel herbei, der obertonreiche Sopran vonVeronika Winter neigt in der exponierten Höhe zur Grellheit, was die liebliche Arie „Mein Eifer kann dem Schicksal nur erliegen“ trübt. Caliban, Sohn der bösen Zauberin Sycorax, will Prosperos Herrschaft beenden und Miranda zur Frau nehmen. Tom Sols Bass ist schmal im Volumen und matt in der Tiefe. Aufgewühlte Streicherfiguren illustrieren ein in Seenot geratenes Schiff; aus dem Orchestergraben singt die Rheinische Kantorei (Choreinstudierung: Edzard Burchards) mit Nachdruck. Fernando, Prinz von Neapel, kann sich aus den Fluten retten. Martin Platz lässt einen kultivierten jugendlichen Tenor hören. Miranda verliebt sich in ihn und singt die liebliche Arie „Froher Sinn und Herzlichkeit“, die der Sängerin am Ende virtuose Koloraturen abverlangt. Drei weitere Schiffbrüchige erreichen das Land, es sind Fernandos Edelknabe Fabio (Marie Luise Werneburg mit hübschem Sopran), der Küchenmeister Oronzio (Jörg Hempel mit solidem Bassbariton) und der Kellermeister Stefano (Matthias Vieweg mit lyrischem Bariton). Während Fabio seinen Herrn Fernando sucht, ergötzen sich die beiden Anderen an Speise und Trank, haben ein munteres Duett, das Caliban zum Terzett erweitert („Vertrauet meiner Macht“). Er fordert die beiden auf, Prospero zu töten. Aber dessen Zauberstab versteinert sie und Caliban, der sich ins Meer stürzt. Prospero vereint Miranda und Fernando, während Ariel ein Schiff und damit die Rettung für alle ankündigt. In einem großen Finale („Allmächtig ist die Liebe zu dir, o Vaterland“) feiern sie die Liebe zur Heimat (18. 6. 2022).

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Amazonen am Küchentisch: Auch die letzte szenische Produktion der diesjährigen Festspiele im Schlosstheater konnte hohe Erwartungen nicht erfüllen. Gezeigt wurde eine Oper von Carlo Pallavicino, Le Amazzoni nell’isole fortunate, uraufgeführt 1679 in Piazzola in einer spektakulären Vorstellung mit Amazonen hoch zu Ross und unzähligen Statisten. Die aktuelle Inszenierung von Nicola Raab gab sich da weit spartanischer, kam mit einem Einheitsbühnenbild ohne jede szenische Magie und bar jeden exotischen Kolorits aus. Zwei Küchentische, gelegentlich zusammen gerückt, und einige Stühle bildeten das Mobiliar und damit die gesamte Ausstattung. Ein Kostümbildner war offenbar nicht verpflichtet worden, denn die Sänger waren in Privatkleidung von oft zweifelhaftem Geschmack zu sehen. Video-Einblendungen im Hintergrund von Francesco Mancori und Björn Matzen (stürmische Meereswellen, eine erblühende Rose, lodernde Flammen) illustrierten das Geschehen ohne jede Bedeutung.

„L´Amazone“/ Carlo Pallavicino/ originales Libretto/ Europeana

Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, in welchem Il Genio (Clara Guillon mit munterem Sopran) beschließt, zur Lustbarkeit der adligen Gesellschaft in Venedig ein prächtiges Theater zu errichten. La Difficoltà (Eleonore Gagey mit gutturalem Mezzo) und Il Timore (Olivier Cesarini mit prägnantem Bariton) haben Einwände, doch ohne Erfolg. Man sieht die drei Personen am Tisch in einer Konzeptionsbesprechung, Timore schläft, Genio hat die Beine auf die Tischplatte gelegt und Difficoltà hat Probleme mit den vielen Seiten voller Notizen. Sie alle wirken mit in der Handlung, welche auf die Glückseligen Inseln führt, wo sich Amazonen unter ihrer Fürstin Pulcheria niedergelassen haben. In dieser Partie ist die Sopranistin Axelle Fanyo eine der festspielunwürdigen Besetzungen dieser Aufführung. Sie singt durchaus mit Aplomb und Nachdruck (z.B. ihre Schlacht-Arie „A battaglia!“), aber mit keifendem Ton und stilistisch unidiomatisch. Die Koloraturen klingen gegurgelt, gegackert oder gekräht – insgesamt ein mehr als fragwürdiger Auftritt. Ein weiterer ist der des Tenors Marco Angioloni in der Partie des Anapiet, Kapitän des Sultans von Äthiopien (Olivier Cesarini), der an der Küste der Amazonen von seinem Herrn arrangierten Schiffbruch erleidet, und unter dem Namen Numidio von den mächtigen Frauen  aufgenommen wird. Die Stimmführung des jungen Sängers wirkt sehr bemüht, zuweilen gar gequält, das Timbre klingt gewöhnlich. Pulcheria schickt ihre Begleiterin Florinda zu Numidio, um ihm ihre Gefühle zu offenbaren. Die ukrainische Sopranistin Iryna Kyshliaruk ist eine solide Besetzung der jungen Frau, singt ihre Arien innig und mit sicheren Spitzentönen. Zwischen ihr und Numidio entbrennt tiefe Zuneigung, was die Eifersucht von Auralba (Clara Guillon) hervorruft, die ihrerseits in Florinda verliebt ist – frühes Beispiel einer homoerotischen Beziehung. Reizend ist Anara Khassenova als Pulcherias Tochter Jocasta mit lieblichem Sopran und feinen Nuancen im Vortrag. Auch schmerzliche Momente gelingen ihr bewegend. Eine junge, träumerische Amazone, Cillene, gibt Eleonore Gagey. Wenn sie in den Kampf zieht („Voglio guerra!“), ruft sie Himmel und Erde energisch zur Schlacht auf.

Im zweiten Teil überstürzen sich die Ereignisse, denn Pulcheria will unter dem Vorwand von Friedensverhandlungen ins feindliche Lager des Sultans gehen und ihn ermorden. Sie weiht Numidio in ihre Pläne ein, der seinerseits den Sultan warnen kann. Pulcheria wird verhaftet, doch der Sultan verzeiht ihr großmütig und hält gar um ihre Hand an. Da denkt man an Mozarts Clemenza und die Milde des Herrschers wird in einem Schlussgesang auch gebührend bejubelt. Danach wiederholt die Regie die stimmungslose Eingangsszene, wenn die drei Macher wieder lustlos am Tisch sitzen.

Pallavicinos Musik zwischen Cavalli und Vivaldi ist empfindsam, delikat und abwechslungsreich. Sie hat virtuosen Anspruch und setzt  in dramatischen Situationen auch wirkungsvolle Affekte ein. Man hatte auf einen musikalisch großartigen Abend gehofft, denn das französische Ensemble Les Talens Lyriques unter seinem Gründer und Leiter Christophe Rousset ist spezialisiert auf diesen Stil und hat sich damit weltweit einen Namen gemacht. Nichts davon war am Nachmittag des 26. 6. 2022 zu vernehmen. Rousset wirkte uninspiriert und so klang die Musik über weite Strecken matt. Schlimmer noch war das spielerische Niveau der Musiker, die Unsauberkeiten und Intonationstrübungen hören ließen. Besonders arg betraf es die Trompeten, die quälende Misstöne in Überfülle produzierten, wie ich es in einer Live-Aufführung noch nie gehört habe.

Die Festspiele Potsdam Sanssouci 2023 finden vom 9. bis 25. Juni unter dem Motto „In Freundschaft“ statt und können die enttäuschenden Eindrücke dieses Jahres dann hoffentlich korrigieren (Foto oben Potsdamer Feuerwerk/ Foto Stefan Gloede). Bernd Hoppe

 

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Foto oben freepic

Liederbuch wie ein Singspiel

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„Complete Songs“ von Johannes Brahms: Mit ihrer neuen Edition ist Naxos nun bei Vol. 2 angelangt (8.574345). Die CD enthält die ersten fünf Hefte der Deutschen Volkslieder, bei denen es sich um Bearbeitungen überlieferter Vorlagen handelt. Mit den Quellen beschäftigt sich Ulrich Eisenlohr, der Klavierbegleiter der Edition, im Booklet. Brahms habe sich vor allem aus der Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen“ der Volksliedforscher Andreas Kretzschmer (1775-1839) und Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1803-1869) bedient, die etwas siebenhundert Titel aus dem deutschsprachigen Raum umfasst. Zuccalmaglio, der dreißig Jahre nach Kretzschmer starb, sei es in seiner Forschung „nicht um eine wissenschaftliche Rekonstruktion akribisch gesammelter und konservierter Volksweisen, unabhängig von jeder künstlerischen Qualität gegangen“. Vielmehr habe er Wert auf den „Geist“ des Volksliedes gelegt, wozu Eisenlohr „Ursprünglichkeit, Einfachheit, Klarheit, Tiefe, Wahrhaftigkeit im Inhaltlichen wie im Musikalischen“ zählt. Diese Herangehensweise sei von Brahms mit ganzem Herzen unterstützt worden. Zuccalmaglio veröffentlichte Texte und Melodie. „Brahms‘ künstlerischer Beitrag besteht im Hinzufügen einer Klavierbegleitung. Er begnügte sich dabei keineswegs mit dem Unterlegen simpler Begleitfiguren und akkordischer Grundierungen. Es herrscht große Vielfalt an Ausarbeitungen des Klavierparts“, so der Pianist. Alle Lieder, die Brahms bearbeitet habe, handelten von Geschichten, die das Leben schreibe. Auch wenn die äußerlichen Situationen, die Berufe der handelnden Personen und die Sprache „uns heute antiquiert klingen“, seien Inhalte, die sich um Liebeserklärungen und -abweisungen, Treueschwüre und -brüche, zu Herzen gehende und vergiftete Komplimente, Verführungsversuche, Sex ohne Einverständnis oder Tod in der Blüte des Lebens drehten, immer aktuell.

Insofern macht es Sinn, dass sich junge Sänger, die noch am Beginn ihrer Karriere stehen, diesen Liedern zuwenden und dabei ihren eigenen Erfahrungen und Empfindungen einbringen. Teilen sich in den meisten Aufnahmen zwei Solisten in die Sammlung, wartet Naxos gleich mit vier in unterschiedlichen Stimmlagen auf: Alina Wunderlin (Sopran), Esther Valentin-Fieguth (Mezzosopran), Kieran Carrel (Tenor) und Konstantin Ingenpaß (Bariton). Dadurch kommt eine gewisse theatralisch-singspielartige Atmosphäre auf, die ihren ganz besonderen Reiz hat. Wer wird das nächste Lied singen? Und wie im Flug ist die CD auch schon an ihr Ende gekommen. Musikalisch gelingt schon der Einstieg effektvoll. Eisenlohr betont ihn so, als würde an eine Tür geklopft, hinter der sich diese ganz eigene Welt wie eine große poetische Erzählung auftut: „Sag mir, o schönste Schäf’rin mein“, lässt sich der Tenor vernehmen. Alle Solisten sind sehr gut zu verstehen, was für Lieder wie diese mit ihren gelegentlichen mundartigen Einlassungen unabdingbar ist.

Startet eine Firma eine neue Gesamtaufnahme aller Brahms-Lieder ist dies immer noch ein besonderes Ereignis auf dem Musikmarkt. Zuletzt legte Hyperion aus London so eine Edition mit insgesamt 249 Titeln einschließlich der Volksliedbearbeitungen vor. Diese abgezogen beläuft sich die einschlägige Abteilung im Schaffen des Komponisten auf etwa 200 originäre Lieder. Mit Vol. 1 hatte Naxos den ersten Schritt für eine eigene Produktion getan. Diese CD wurde von Christoph Prégardien bestritten, begleitet von Eisenlohr (8.57428). Beide sind auf dem weiten Feld des Liedgesangs ausgewiesene Fachleute und bringen die für das Vorhaben notwendige Erfahrung und Prominenz mit. Die Diskographie des 1956 geborenen Tenors Prégardien ist lang und umfasst neben Liedern auch Oratorien und Opern. Eisenlohr, Jahrgang 1950, begleitete bei Naxos schon Schubert-Lieder und wirkt als Professor für Liedgestaltung an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz. Er beschäftigt sich auch in theoretischen Schriften mit Musik und arbeitete ebenfalls an der Schubert-Edition mit.

Mit der Programmauswahl auf der ersten CD wurde viel Pulver verschossen. Das Beste nicht zuletzt, sondern zuerst. In den Werkgruppen Opus 32, 43, 86 und 105 finden sich mehrere der bekanntesten Lieder von Brahms. Gleich an erste Stelle steht – einem Programm gleich – aus den Vier Gesängen Op. 43. Von ewiger Liebe, für mich ein Gipfel der hochromantischen Liedkunst. Eisenlohr gelingt es, diese – wie er schreibt – „abendlich ruhige Landschaft“ noch vor dem Einsatz des Sänger musikalisch so eindrücklich darzustellen als sei er Maler und nicht Pianist. Prégardien folgt ihm mit einer ehr schlichte Vortragsweise, stets bemüht, einen volksliedhaften Ton zu finden. Es folgt die ähnlich angelegte Mainacht. Zu hören sind des weiteren Feldeinsamkeit, Wie Melodien zieht es mir, Immer leiser wird mein Schlummer, Auf dem Kirchhofe, Wie bist du, meine Königin. Der Liedsänger Christoph Prégardien legt größten Wert darauf, auch mit dem Wort zu überzeugen. Wer die Texte näher besehen oder beim Hören mitlesen möchte, findet sie auf Naxos.com. Sie können in der Originalsprache sowie in englischer Übersetzung heruntergeladen werden. Die genaue Seite ist auch diesmal auf der CD-Hülle angegeben. Ein – wie ich finde – Papier sparender und praktischer Service, an dem man sich bei dieser Firma inzwischen gewöhnt hat. Aufgenommen wurde die neue CD 2021 ebenfalls im nach dem Dirigenten Hans Rosbaud benannten Studio des SWR in Baden-Baden. Rüdiger Winter

I Vow to Thee, My Country

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In unseren Breiten ist Gustav Holst (1874-1934), geboren als Gustavus Theodore von Holst, hauptsächlich aufgrund seines genialen Orchesterwerkes The Planets bekannt. Die Bandbreite des britischen Komponisten ist freilich ungleich größer, umfasst nicht weniger als 240 Werke, darunter die Opern At the Boar’s Head und Savitri. Das Label Somm bringt nun erstmals sämtliche geistliche Musik Holsts auf einer Disc heraus (SOMMCD 279). Es handelt sich um Chormusik, die überwiegend von Orgel begleitet wird, in einigen wenigen Fällen auch a capella erklingt. Insgesamt sind es 19 Nummern, die sich auf der mit 76 Minuten prall gefüllten CD befinden. Es zeichnen verantwortlich der Chapel Choir of the Royal Hospital Chelsea unter William Vann sowie Joshua Ryan (Orgel) und Richard Horne (Glocken).

Mit dem lateinischen Nunc Dimittis für Doppelchor a capella (1915) komponierte Holst sein einziges Werk für das anglikanische Abendgebet. Die auch unter der Bezeichnung Chilswell bekannte Melodie von Gird on Thy Sword (1927) ist die letzte Passage des Gedichts Man Born to Toil von Robert Bridges.

Für seine Two Psalms (1920) bediente sich der Komponist des Psalms 86 To My Humble Supplication sowie des Psalms 148 Lord, Who Hast Made Us For Thine Own. Ersterer basiert auf einer Melodie aus dem Genfer Psalter (1543) von Louis Bourgeois, letzterer auf Lasst uns erfreuen aus den Kölner Geistlichen Kirchengesängen (1623).

Die Grundlage für In This World, the Isle of Dreams bzw. Brookend (1925) liefert Robert Herrick, ein Dichter aus dem 17. Jahrhundert. Not Unto Us, O Lord (1890er) wiederum bedient sich des Psalms 115. Zu Holsts Lebzeiten vermutlich nicht aufgeführt, erfolgte die Premiere erst im Jahre 2020; Somm bringt somit die Weltersteinspielung.

Our Blest Redeemer – wiederum a capella – komponierte Holst im Jahre 1919 und nannte die Melodie Essex. Die Worte stammen von Henriette (Harriet) Auber, tatsächlich einer entfernten Verwandten des berühmten französischen Komponisten Daniel-François-Esprit Auber. Das sogenannte Short Festival Te Deum (1920) kommt hingegen trotz seiner Kürze (keine fünf Minuten) festlich daher. Ursprünglich für Orchester geschrieben, entschied sich die Holst Society im Zuge dieser Produktion gleichwohl für ein Arrangement für Orgel, welches Iain Farrington tadellos besorgte.

Mit gerade anderthalb Minuten fällt From Glory to Glory Advancing (1925) am kürzesten von allen auf der Platte versammelten Chorstücken aus. Auf der Liturgy of St James basierend, taufte Holst das Werk Sheen.

Sowohl in Man Born to Toil als auch Eternal Father (beide 1927) – in letzterem inklusive Sopransolo – kommen neben der Orgel auch Glocken zum Einsatz und sorgen für eine feierliche und dabei gleichwohl nicht überbordende Prachtentfaltung. Der abschließende Alleluia-Fernchor in Eternal Father gemahnt an Holsts Neptune the Mystic aus den Planets.

By Weary Stages the Old World Ages alias Hill Crest (1927) erinnert an ein mittelalterliches Mysterienspiel. Der Text stammt aus The Coming of Christ von John Masefield. Eine Mischung aus gregorianischem Gesang und Anklängen an Volksmusik mit mixolydischem Choral machen das Stück besonders reizvoll. Christ Hath a Garden (1927/28) zu Worten von Isaac Watts kommt ähnlich daher.

Die puristische Hymne Ave Maria (1900) ist das letzte der A-capella-Stücke und das einzige für reinen Frauenchor. Das Werk ist dem Andenken der Mutter des Komponisten zugeeignet.

I Vow to Thee, My Country (1921) stellt ohne Frage das bekannteste Chorwerk von Gustav Holst dar und ist fester Bestandteil bei vielen Begräbnissen in Großbritannien, so auch bei Diana, der ehemaligen Princess of Wales, und zuletzt bei Queen Elizabeth II. Der Text stammt von Sir Cecil Spring-Rice, dem britischen Botschafter in Washington während des Ersten Weltkrieges, und datiert aus dessen Todesjahr 1918. Holst verwendete die großartige Hauptmelodie seines Jupiter und nannte sie Thaxted nach seinem damaligen Wohnort. Die säkularen Aspekte des Stückes mitsamt seiner patriotischen Implikationen – gewiss mit ein Grund für die Popularität – verdecken ein wenig die ursprüngliche Intention als Glaubensbekenntnis.

Die Four Festival Choruses (1916/17) beschließen die CD sehr adäquat. Die eingängige Melodie von A Festival Chime (wiederum arrangiert von Farrington) nach einem Text von Clifford Bax (dem Bruder des Komponisten Sir Arnold Bax) wird unterstrichen durch den abermaligen majestätischen Glockeneinsatz. In All People that on Earth do Dwell – dem längsten der vier Chöre – bedient sich neuerlich des Genfer Psalters und transkribiert gar Bachs Kantate BWV 130 Herr Gott, dich loeben wir. Mit Let All Mortal Flesh Keep Silence (arr. Farrington) kehrt die Liturgy of St James wieder. Turn Back, O Man schließlich, komponiert für das Pfingstfest 1916 und abermals von Farrington bearbeitet, greift einmal mehr auf Clifford Bax zurück. Es handelt sich dabei um den beliebtesten der Four Festival Choruses und wurde als Klavierarrangement auch während des BBC-Gedenkkonzerts anlässlich des Todes des Komponisten 1934 gespielt.

Die künstlerische Darbietung lässt keine Wünsche offen. Die Einspielungen entstanden am 21. und 22. Juli 2021 in der Holy Trinity Church, Sloane Square, in London und genügen klanglich ebenfalls höchsten Ansprüchen. Die Bookletgestaltung ist labeltypisch vorbildlich, wenngleich der informative Begleittext von Andrew Neill nur auf Englisch vorliegt. Die Gesangstexte sind sämtlich inkludiert. Daniel Hauser

„Hallelujah“

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Viele große und heute legendäre Sopranistinnen haben Weihnachtsplatten aufgenommen – man denke nur an Elisabeth Schwarzkopf, Joan Sutherland, Renata Tebaldi, Leontyne Price und Renata Scotto. Nun reiht sich Diana Damrau ein in diese Riege und veröffentlicht bei ihrer Stammfirma ERATO ein in Hannover 2021/22 produziertes Album mit sogar zwei Silberscheiben (5054197286124). Mit My Christmas ist es betitelt und stellt auf der ersten CD („Selige Weihnacht“)  populäre und auch weniger bekannte Weihnachtslieder vor, während CD 2 („Festliche Weihnacht“) Kompositionen von Bach. Händel, Mozart, Zelenka, Franck und Adam enthält. Die deutsche Sopranistin wird von der NDR Radiophilharmonie begleitet. Richard Whilds und Riccardo Minasi teilen sich in die musikalische Leitung. Außerdem wirken der Knabenchor Hannover und der Norddeutsche Figuralchor mit.

Unter den selten zu hörenden Liedern auf der ersten CD finden sich „Weihnacht’ muß leise sein“ von Paul Burkhard, „Weihnachten“ aus Engelbert Humperdincks Weihnachtsliedern, „Kalenderlied“ von Franz Grothe, „Weihnachtsfriede“ von René Kollo und „Christrose“ von Robert Stolz. Letzteres ist ein Tongemälde für die Solistin und den Chor von seligem Zauber wie aus dem Märchenland. Auch Regers „Maria Wiegenlied“ und „Schlaf wohl, du Himmelsknabe du“ gelingen sehr ansprechend mit innigem Empfinden und feinen Tönen.

Damrau klingt auf dieser CD sehr jugendlich und bemüht sich um einen schlichten, naiven Tonfall. Gewöhnungsbedürftig sind die Arrangements des Dirigenten Richard Whilds, die eher den amerikanischen Geschmack treffen. Wenn die Solistin noch mit Vokalisen in den Chor einfallen muss, ist die Grenze des guten Geschmacks nicht mehr gewahrt. Natürlich gibt es in der Zusammenstellung „Selige Weihnacht“ auch bekannte Lieder wie „Leise rieselt der Schnee“, „Süßer die Glocken nie klingen“, „O du fröhliche“ und „Stille Nacht“. Zudem sind gängige Titel in fünf   Medleys („Weihnachtszeit“, „Adeste fideles“, „Warten aufs Christkind“,„Angels and Shepherds“ und „Heilig Abend“) integriert. Ersteres wird von Bläsern festlich eingeleitet und die Solistin nimmt diese Stimmung in „Tochter Zion“ und Silchers „Alle Jahre wieder“ auf. Das zweite umfasst französische und italienische Nummern, das dritte so bekannte Lieder wie „Leise rieselt der Schnee“ und „O Tannenbaum“. Eine Zusammenstellung weiterer internationaler Titel bringt das vierte Medley, während das letzte mit „Vom Himmel hoch“ und „Kommet, ihr Hirten“ nochmals feierliche Klänge bietet.

War auf der ersten CD vor allem ein schlichter, volksliedhafter Ton gefragt, ist der Anspruch an die Interpretin auf der zweiten ungleich höher. Denn hier sind Werke des Barock (Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel) und der Klassik (Wolfgang Amadeus Mozart) von teils virtuosem Zuschnitt versammelt. Die Sopranistin kann damit an den Beginn ihrer Karriere erinnern, als sie vor allem bravouröse  Koloraturpartien interpretierte. Zwei Händel-Kompositionen gelingen beachtlich – „Eternal source“ aus der Ode for the Birthday of Queen Anne mit kunstvoll gesponnenen Fäden in exponierter Lage und das Koloratur gespickte „Let the bright seraphim“ aus dem Oratorium Samson. Nicht weniger anspruchsvoll ist das reich verzierte „Erwach, frohlocke“ aus seinem Messias. Auch Bachs Motette „Jauchzet Gott in allen Landen!“ verlangt eine sehr flexible Stimme, zumindest im 1. Satz („Aria“) , der hier erklingt und Mühen der Sängerin in der Bewältigung erkennen lässt. Auch in dieser Zusammenstellung findet sich eine Rarität mit der Motette „Laudate pueri Dominum in D“ für Sopran und Solotrompete des tschechischen Komponisten Jan Dismas Zelenka. Der einleitende Satz, welcher der Komposition den Namen gab, ist virtuos und von fröhlichem Duktus. Im Kontrast dazu steht der getragene Mittelteil, „Quis sicut Dominus“, und wieder bewegt und mit langen Koloraturgirlanden versehen ist der Schluss, „Amen“. Mozarts himmlisches „Laudate Dominum“ aus der Vesperae solennes de confessore entführt in andere Welten, zumal es wunderbar gesungen ist. Ein gleich lautender Titel aus der Vesperae solennes de Dominica und das „Laudamus te“ aus der c-Moll-Messe ergänzen die feine Mozart-Auswahl. Sie gehört zu den überzeugendsten Nummern der Anthologie. Mit zwei Klassikern, die man auf allen Christmas-Recitals hören kann, endet die Auswahl: „Panis angelicus“ von César Franck und „Cantique de Noël“ von Adolphe Adam angemessen feierlich  (Foto oben shoelovedeichmann.com mit dank). Bernd Hoppe

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.In den Annalen der legendären Münchner Sonntagskonzerte taucht der Name von Helen Donath erstmals 1969 auf. Drei Jahre zuvor hatte sie einen Gastvertrag mit der Bayerischen Staatsoper geschlossen, wodurch die Karriere der 1940 geborenen Sängerin einen kräftigen Schub bekam. So war es also nur eine Frage der Zeit, bis sie auch für eines dieser Konzerte eingeladen wurde, die seit 1952 vom Münchner Rundfunkorchester veranstaltet werden. Die Besetzungszettel lesen sich wie ein Sängerlexikon. Im Laufe der Jahre trat fast alles auf, was auf der Opernbühne der Bayerischen Landhauptstadt stand. Als sei es Ehre und Pflicht zugleich gewesen, neben den Auftritten in der Oper unbedingt auch bei dieser sehr populären Veranstaltungsreihe vorbeizuschauen. Die Programme waren weitestgehend traditionell. Es sollte ein Publikum angesprochen werden, das gern hörte, was es kannte. Experimente fanden woanders statt. 1969 war die Donath gemeinsam mit Jeanette Scovotti, Benno Kusche und Hort Wilhelm mit Szenen aus Operetten zu hören. Bei ihren nächsten Termin am 11. Dezember 1988 – einem Weihnachtskonzert – war sie der alleinige Stargast. Wieder dirigierte Kurt Eichhorn. Und weil es das Fest musikalisch einzuleiten galt, waren auch die Regensburger Domspatzen mit ihrem damaligen Leiter Georg Ratzinger aufgeboten. Als Moderatorin führte Monika Hossfeld, die damalige Chefsprecherin des Bayerischen Rundfunks, durch den Abend.

Als Christmas Concert wurde der Mitschnitt des Konzerts hat jetzt Orfeo als CD in feinstem Stereo herausgebracht (C230091). Dabei wurde aber auf die verbindenden Worte verzichtet, was wohl auch aus Platzgründen zwingend gewesen ist. Anderseits hätte eine deutsche Ansage der Verbreitung auf dem internationalen Markt entgegengestanden, zumal schon die großen Auszüge aus Händels Messias nicht in der englischen Originalsprache gegeben werden. Mir gut zwanzig Minuten machen sie den Hauptanteil aus. Die beiden mitreißenden Chöre „Denn es ist uns ein Kind geboren“ und „Halleluja“ rahmen den Block ein. Das Ensemble entfaltet eine festliche Pracht, die noch nicht an die historisch informierte Aufführungspraxis denken lässt, bei der die Mittel oft stark reduziert sind. Dazwischen hat die Solistin ihre in sich geschlossene Szenenfolge mit dem Rezitativ „Es waren die Hirten gekommen auf dem Felde“, dem Chor „Ehre sei Gott“ und der mit Koloraturen verzierten Arie „Erwache, frohlocke“. Die Donat mit ihrer klaren engelhaften Stimme ist hier ganz in ihrem Element. Kein Wunder, dass sie immer wieder für Aufführungen und Einspielungen von Werken herangezogen wurde, die mit dem Weihnachtsfest in Verbindung gebracht werden. Barocke Üppigkeit lässt Eichhorn beim Concerto Grosso op. 6, 8 von Arcangelo Corelli hören.

Mit fünf kunstvollen Weihnachtsliedern a cappella haben die dunkel timbrierten Domspatzen ihren großen Auftritt. Darunter ist auch ein zeitgenössisches Werk des 1935 geborenen italienischen Komponisten und Organisten Herbert Paulmichl. Er machte auch dadurch von sich Reden, dass er 1985 den Wettbewerb um die Domkapellmeisterstelle in Salzburg gewann, sie aber dann doch nicht antrat. Obwohl es von Wolfgang Amadeus Mozart keine direkte Weihnachtsmusik gibt, wird auf einige Werke gern aus gegebenem zurückgegriffen. Im Sonntagskonzert sind es das Laudate Dominum aus der Vesperae solennes de Confessore KV 339 und die Motette Exultate, jubilate KV 165, mit der das Konzert jubelnd ausklingt. Scheint sie sich mit dem Messias noch eingesungen zu haben, gelangt Helen Donath hierbei ein stilistisch perfekter Vortrag, der vom Publikum zu Recht beklatscht wird. Der Beifall ist der auffälligste Hinweis auf eine Liveveranstaltung. Der besondere Charme dieser Konzerte, der erst durch die Moderation zustande kam, ging allerdings verloren. Rüdiger Winter

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Auch wenn in einer Musiksammlung reichlich Weihnachtsplatten vorhanden sind – das neue Album bei der deutschen harmonia mundi/Sony Music ist etwas Besonderes. Denn Dorothee Oberlinger, Blockflötistin, Dirigentin und Intendantin der Festspiele Potsdam Sanssouci, hat für diese Veröffentlichung mit dem Titel Pastorale nicht nur ein ungewöhnliches Programm zusammengestellt, sondern neben ihrem Ensemble 1700 noch weitere Künstler verpflichtet, die Seltenes auf Ausnahmeniveau garantieren. Da sind vor allem die italienischen Pfeifer Li Piffari e le Muse, die unter Leitung des Dudelsackspielers Fabio Rinaudo auf ihren traditionellen Instrumenten – der Drehleier, Blockflöte, Fiedel und kleinen Schalmei Piffaro – musizieren und fremdartige Töne einbringen, welche die italienische Tradition der weihnachtlichen Hirtenmusik wieder aufleben lassen.

Das Programm auf zwei CDs (19658774862), die vor einem Jahr in Köln aufgenommen wurden, vereint bekannte Weihnachtsmusik mit  Raritäten. So findet sich von Giovanni Antonio Guido aus seinen Scherzi armonici sopra le quattro stagioni dell’anno der „Winter“ („L’Hyver“), der dem „Inverno“ Vivaldis verblüffend ähnelt. Auch hier beginnt das Stück mit harschen, frostigen Klängen, als würde das Eis brechen und der Sturm über das Land jagen. Am Ende der Auswahl steht eine Komposition von Johann Christoph Pez, welche dem Album seinen Namen gab – das Concerto pastorale F-Dur, aus dem die klangprächtige„Passacaglia“ erklingt.

Bei den populären Titeln, so Corellis Concerto „Fatto per la Notte di Natale“ g-Moll, dessen letzter Satz gleichfalls mit „Pastorale“ bezeichnet ist, variiert Oberlinger die traditionelle Besetzung durch die Nutzung anderer Ausgaben oder erweitert sie durch die Piffari, was die Stücke koloriert. Bei Corelli ist es eine Kammermusik-Version aus London für zwei Blockflöten, die einen munteren, silbrigen Ton einbringen, ergänzt von den schnarrenden Klängen der Schalmei und des Dudelsacks. Alessandro Marcellos Concerto d-Moll für Oboe erklingt sehr kantabel für eine Blockflöte. Geradezu ein barocker Hit ist Vivaldis Flautino-Concerto C-Dur, welches hier wegen der Einbeziehung der Girondola und des Dudelsacks ebenfalls in neuem Gewand zu hören ist. Darüber hinaus ist es natürlich ein Vehikel für Oberlingers Bravour auf ihrem Instrument.

Die renommierte Barocksopranistin Dorothee Mields ergänzt das Programm durch die Interpretation von Alessandro Scarlattis Weihnachtskantate „Oh di Betlemme altera povertà“ mit klarer Stimme und schlichter Empfindung. Fast nicht zu erkennen, aber faszinierend ist ihr Timbre in dem neu arrangierten neapolitanischen Weihnachtslied „Tu scendi dalle stelle“, wo sie nur bei der exponierten Tessitura des letzten Teils etwas in Bedrängnis gerät. Und ein ganz besonderer Beitrag ist dem Schauspieler Matthias Brandt zu danken, der Texte aus Fanny Lewalds „Italienischem Bilderbuch“, Turi Vasiles „Paura del vento e altri racconti“ und Francisco Soto de Langas „Il terzo libro delle laudi spirituiali“ mit spürbarer Beteiligung, doch wohltuend ohne Pathos vorträgt. Oberlingers Konzeption dieser musikalisch-literarischen Collage ist samt des Niveaus ihrer Interpretation preisverdächtig. Bernd Hoppe

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Audite stellte Weihnachtslieder, die mehrheitlich in den 1950erJahren beim Rias eingespielt wurden, auf einer CD zusammen, die neu aufgelegt wurde (95.741). Die Firma hat Zugang zum Archiv dieses Senders, der nach der deutschen Wiedervereinigung in anderen Rundfunkanstalten wie Deutschlandradio aufging. Vom Himmel hoch … Das darf durchaus wörtlich verstanden werden, denn diese Gesänge scheinen wirklich von dort oben auf uns herabzukommen. So innig, unschuldig und anrührend sind sie vorgetragen. Echt, ursprünglich, ohne falsches Lächeln, wie es wenig später auf die Cover der krachbunten Weihnachtsplatten kam. Es ist, als habe bei diesen Liedaufnahmen die Zeit mit im Studio gesessen. So kurz nach dem verheerenden Krieg bogen sich auch im Westen Deutschlands die Tische noch nicht unter dem Überfluss. Es wurde noch Radio gehört, zumal an Weihnachten. Ich war ganz hin und her gerissen, als ich mir die CD zum ersten Mal anhörte. Sie zog mich sofort in ihren Bann. Es ließe sich lange darüber nachdenken, ob es auch bei solchen Musikaufnahmen gute oder schlechte Jahrgänge gibt wie beim Wein, ob Not und Knappheit darin ihre virtuellen Spuren hinterlassen. Und das nicht nur durch das bereits erwähnte Aufnahmeverfahren sondern auch durch die Art der Interpretation. In diesem ganz konkreten Fall höre ich bei allen Mitwirkenden – Sängern und Musikern – eine Emphase, die so heute nicht mehr zu finden ist. Niemand singt über seine Verhältnisse. Man möchte darauf schwöre, alle machen ganz umsonst mit – nur aus Spaß an der Freude, weil doch Weihnachten ist. Auf dem Cover stehen nur die großen Namen: Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Grümmer, Rita Streich und deren Lehrerin Erna Berger. Die ziehen immer. Hinzu kommen Lisa Otto, Margot Guilleaume und Walther Ludwig. Der Versuch, sich eine Stimme oder einen Lieblingstitel herauspicken zu wollen, muss scheitern, weil alle auf ihre ganz individuelle Weise durch das verbindende Weihnachthema für sich einzunehmen verstehen. Am ehesten ist vielleicht noch bei der Berger mit dem Himmlischen Menuett von Mark Lothar oder bei Ludwig – beide haben ihren Zenit überschritten – ein professioneller Griff in der Trickkiste der Gestaltungskunst auszumachen. Das ist aber ganz nebensächlich, zählt also nicht. Wäre ich kein Verehrer von Fischer-Dieskau, wenigstens für das Lied „Ich steh’ an deiner Krippen“ hier bin ich es. Er singt es mit überwältigender Schlichtheit. Mit mütterlicher Fürsorge, als stehe sie selbst an der Krippe im Stall zu Bethlehem, berührt die Grümmer mit den Klassikern „Vom Himmel hoch, ihr Engel kommt“ und „Es ist ein Ros’ entsprungen“, die – wie die anderen Lieder auch – für diese Produktion musikalisch neu arrangiert worden sind.

Die Überraschung der Besetzungsliste dieser CD mit ihren 26 Tracks sind für mich jene Sängerinnen, die in Vergessenheit geraten sind. Annelies Westen eröffnet das Programm mit vier Liedern, darunter „Maria durch ein Dornwald“ ging, mit dem Hendel-Quartett von 1952. Nirgends habe ich etwas über diese Sängerin in Erfahrung bringen können, die eine perfekt sitzende Stimme hat. Etwas allgemein, dafür aber von großer Ruhe und Ausgeglichenheit. Leicht schluchzend wie zu Tränen gerührt singt Maria Reith 1950 begleitet von Michael Raucheisen das Lied „Maria auf dem Berge“. Gunthild Weber ist mit „Schlaf, mein Kindlein“ und „Schlaf wohl du Himmelsknabe“ dabei. Sie trat nur als Konzertsängerin in Erscheinung und hat auch eine Reihe anderer Aufnahmen hinterlassen, darunter eine Matthäuspassion von Bach. Deutlich später als die meisten Aufnahmen, nämlich 1964, sind Duette mit der Sopranistin Ursula Lüders und der Altistin Josephine Varga, die auch Schlager gesungen haben soll, eingespielt worden. Beide werden von Felix Schröder an der Orgel begleitet. Rüdiger Winter

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Was soll man machen, wenn die deutsche Post es in der Weihnachtszeit in manchen Teilen der Großstadt nicht schafft, einen einfachen Brief innerhalb Deutschlands in 10 Tagen von einem Ort zum anderen zu transportieren? Wenn es sich um eine CD mit Weihnachtsliedern handelt, kann man sie wegwerfen, sie bis zum Weihnachtsfest 2021 aufheben oder besser noch, sie trotzdem mit Genuss und Vergnügen hören. Beides leitet sich daher, dass der Tenor und Komponist Daniel Behle sich der schönsten deutschen Weihnachtslieder an-, sie aber nicht nur aufgenommen hat, sondern getreu dem im Booklet zitierten Richard Wagner mit seinem „Schafft Neues, Kinder!“ mit eigenen Arrangements versehen, ja sogar weihnachtliche Musik dazu komponiert hat. Zur Seite standen ihm dabei das Oliver Schnyder Trio & Friends, als da wären der Namensgeber, Andreas Janke, Benjamin Nyffenegger als Trio und Alexander Kuralionok, Takeo Sato und Andreas Berger mit Akkordeon, Gitarre und Schlagzeug.

Vom ersten Track an fällt auf, dass die Arrangements den jeweiligen Charakter der einzelnen Lieder noch stärker hervorheben, als man es gewohnt ist, dass die drei Orchesterstücke fern atonaler Verstörung Weihnachtliches verbreiten, so die einleitende muntere Feierlichkeit der „Ouvertüre“ mit verstreuten zarten Anklängen an bekannte Weihnachtslieder, während später ein Gewitter aufzieht oder  mit einer Fuge dem Tannenbaum Ehre erwiesen wird. . Beim ersten Lied, Maria durch ein Dornwald ging,  und dann bei allen weiteren erfreut die beispielhafte Textdeutlichkeit, betört der reine, ja keusche Klang der Stimme, die in der zweiten Strophe textgetreu aufblüht. Einen ganz anderen Charakter verleiht die Aufnahme O Heiland, reiss die Himmel auf, die so auf einem Mittelalter-Markt erklingen könnte. Nicht ganz verzichten auf Fioriture und Abbellimenti mag der Tenor, oder, wenn er wie auch in einigen anderen Nummern, die Tessitura wechselt wie in Vom Himmel hoch, auf die Betonung von Textzeilen, die ihm wohl besonders wichtig sind. Manchmal wie in Macht hoch die Tür trumpft eher das Klavier auf als die sich ganz unprätentiös gebende Stimme, in Ihr Kinderlein kommet huschen die Angesprochenen behände durch das Lied, ehe der  Jubel beginnt. Wunderbar wird Es ist ein Ros entsprungen angegangen, besonders eindringlich die dritte, eher unbekannte Strophe gesungen. In Tochter Zion kann auch einmal der Opernsänger auf raffinierte Weise herausgekehrt werden, in O du fröhliche darf der Schluss jubelnd vom Gewohnten abweichen. Daniel Behle ist kein Freund von überzogener Feierlichkeit, und so ist das „fröhliche“ auch einmal wichtiger als die „Weihnachtszeit“, und es geht hopphopp durch das entsprechende Lied mit Um- und Ausgestaltungen aller Arten, und auch Lasst und froh und munter sein bedarf dieser Aufforderung nicht mehr. Neben den drei Orchesterstücken vom Komponisten Behle gibt es auch das Lied Der Weihnachtsmann hat einen Sack auf eigenen Text mit leicht gesellschaftskritischem Inhalt. Für Morgen kommt der Weihnachtsmann und Morgen Kinder hingegen finden sich interessante Arrangements, für Kling Glöckchen ein feines Vorspiel. Spätestens hier, nein, eigentlich durchgehend wird jedem Hörer bewusst, wie wenig Tenoreitelkeit sich auf der CD offenbart, ohne dass die bekannten Vorzüge der Stimme und der Gestaltung durch den Sänger unter den Scheffel gestellt werden. Hurtig Kommen die Hirten einher, vor dem bekannten gibt es noch einen nicht so populären Tannenbaum, dessen Lied  danach ganz wundervoll verhalten erklingt. Alle Jahre wieder hat eine vierte, nicht so geläufige Strophe, in der die Stimme, in die Tiefe abwandernd, deren Bedeutung unterstreicht. Mit reicher Agogik und interessanter Begleitung wird Leise rieselt der Schnee gesungen, zum Schluss alle Strophen (und im Booklet sind alle Texte) von Stille Nacht als zu Herzen gehender Ausklang einer ungewöhnlichen und ungewöhnlich schönen Weihnachts-CD (Sony 19075853682). Ingrid Wanja     

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Aus der hohlen Hand Konfetti dem Gegenüber ins Gesicht zu blasen ist keine große Kunst, das aber mit Schneeflocken zu schaffen, gelingt nur einem  wie Jonas Kaufmann, der nach der DVD mit Wiener Liedern, der CD mit dem Sommerkonzert der Wiener Philharmoniker und Seligen Stunden mit Helmut Deutsch nun auch ein Album mit Weihnachtsliedern mit neckischem Cover und dem Titel It’s Christmas! auf den Markt gebracht hat und der sicherlich gerade an einer Frühlingslieder-CD arbeitet. Da kommt man ins Nachdenken darüber, wie relativ gut die großen Stars und die festangestellten Ensemblemitglieder durch die Corona-Krise kommen und wie schlecht es den weniger bekannten freischaffenden Sängern und Instrumentalisten im Moment gehen muss.

Mögen auch ihnen die beiden CDs mit Weihnachtsliedern ein Trost beim vielleicht einsamen Weihnachtsfest sein, das Zeug dazu haben sie, besonders die erste der beiden, denn der Sänger hat glücklicherweise eine fast strikte Trennung zwischen traditionellen deutschen auf der ersten und internationalen, vielfach der leichtesten Muse zuzuordnenden Stücken auf der zweiten CD vollzogen. Der Tenor wird von unterschiedlichen Chören und Instrumentalisten begleitet, es beginnt mit festlichen Bläserklängen zu Engel haben Himmelslieder, der Solist ist in bester stimmlicher Verfassung, zeichnet sich durch eine gute Diktion aus, kann es allerdings nicht lassen, am Schluss spekulativ nach oben zu singen. Die St. Florianer Sängerknaben bilden den Chor im Hintergrund und klingen im Unterschied zum ebenfalls vertretenen Bachchor Salzburg leicht kitschig, auch ein wenig zu gefällig.

Schön schlicht erklingen Süßer die Glocken nie, der Sänger kostet allerdings die höheren Töne aus und beendet den Track im Falsettone. Angenehm kernig und ohne Mätzchen, wunderbar markant im „Ehre sei Gott“ hören sich In dulci jubilo und Kommet ihr Hirten an, eine alte Schwäche macht sich in Tochter Zion mit einer Verengung des Tons im Passaggio bemerkbar. In Ihr Kinderlein, kommet lernt man auch eine unbekannte Strophe kennen, allerdings klingt das Orchester, anders als bei vielen anderen Stücken, hier allzu gefällig, in Alle Jahre wieder wird Summen als Gestaltungsmittel eingesetzt. Ein großes Plus der Stimme Jonas Kaufmanns ist ihre Unverkennbarkeit, die besonders in Vom Himmel hoch, ihr Englein kommt zu bemerken ist, das Lachen, das in ihr liegen kann wie in Lasst uns froh und munter sein, und angenehm markig hebt sie sich ab von dem süßlichen Arrangement in Leise rieselt der Schnee. Abwechslung garantiert die Anordnung der Lieder, wenn auf das humorsprühend gesungene Morgen Kinder ein Es ist ein Ros entsprungen von schöner Feierlichkeit folgt. In Macht hoch die Tür kann der Bachchor unter Alois Glaßner seine Meriten ausspielen, nur am Schluss geht man etwas ins opernhaft Spektakuläre. Die Florianer hingegen verstoßen bei Ich steh an deiner Krippe gegen die schöne Schlichtheit des Lieds und auch auf den Bachchor als Hintergrundsmusik könnte man beim ansonsten schönen Jubelklang von O du fröhliche verzichten. Raffiniert arbeitet sich die Sängerstimme in Still, still, still vom Pianissimo über das Piano zur mezza voce vor, ebenso steigert sie sich in Kling Glöckchen von eben diesem zu gewaltigem Glockenklang vor. Wunderschön ist die Harfenbegleitung durch Florian Pedarnig in Es wird schon glei dumpa, was man vom wieder die Stimmung zerstörenden Chor bei Maria durch ein Dornwald ging nicht sagen kann. Machtvoll erklingt das Vom Himmel hoch, ganz ohne Starallüren die Stille Nacht, die auf der zweiten CD noch einmal, aber als Holy Night weichgespült auftaucht. Das große Plus der zweiten CD sind die Mitwirkung von Till Brönner und die Vielseitigkeit, die der deutsche Sänger in den unterschiedlichsten Sprachen beweist. Flockenleicht schwebt sie durch das Winter Wonderland, kann auch Jodeln und baut im Französischen sogar einen kleinen Schluchzer ein (Sony 19439786762). Ingrid Wanja

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Kein anderer Chor dürfte das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach so oft aufgeführt und eingespielt haben wie die Thomaner in Leipzig. Die Stadt und das Werk gehören zusammen wie Wagners Parsifal und Bayreuth. Noch zu Lebzeiten des berühmtesten Thomaskantors sind die sechs Kantaten, aus denen sich das Oratorium zusammensetzt, einzeln in Gottesdiensten zwischen dem ersten Weihnachtsfeiertag 1734 und Epiphanias 1735 erstmals aufgeführt worden. Die jüngste Produktion ist jetzt bei Accentus Music erschienen (ACC 30469). Traditionell haben sich dazu der Knabenchor und das Gewandhausorchester zusammengefunden. Aufgenommen wurde in der Thomaskirche, in der seit 1950 die Gebeine Bachs ruhen.

Die Leitung hat Gotthold Schwarz, der als Sänger ausgebildet wurde und seit 2016 Thomaskantor ist. Er schlägt ein rasantes, doch niemals überhitztes Tempo an. Die berühmten Paukenschläge, mit denen das Werk beginnt, sind ungewöhnlich rasant gesetzt, als solle die Botschaft, die vom Werk ausgeht, bis in den letzten Winkel reichen. Im Eingangschor entfalten die Knaben und jungen Männer eine packende Dynamik, wie man sie von diesem Chor seit jeher gewohnt ist. Schwarz besetzt groß und macht damit die Wirkung groß. Und doch bringt er einen Drive hinein, der ganz und gar heutig wirkt und jeden Anflug von Behäbigkeit ausschließt. Tradition verbindet sich mit der Gegenwart. Für mich besteht darin der besondere Reiz dieser Leipziger Produktion und die Berechtigung, das strapazierte Weihnachtsoratorium abermals vorzulegen. Solistisch werden der Evangelist (Patrick Grahl) und der Sänger der Tenorarien (Markus Schäfer) getrennt, was Sinn macht. Grahl ist gebürtiger Leipziger und war selbst Thomaner. Diese Erfahrungen geben seinem pointierten Vortrag Sicherheit und Überzeugungskraft. Als Sopran wirken Dorothee Mields, als Alt Elvira Bill und als Bass Klaus Höger mit. Für alle ist Deutsch die Muttersprache. Das zahlt sich in überdurchschnittlicher Wortverständlichkeit aus, die man so bei Bach nicht immer gewohnt ist. Alle Solisten passen sich dem Konzept des Dirigenten gut an. Sie setzten sich nicht in Szene, verfolgen keine eigenen Wege und gehen diszipliniert im Ensemble auf. Diese Produktion gut es auch als DVD in traditionellen Format und als Blu-ray. Mit den Thomanern sind mindesten sieben Einspielungen des Weihnachtsoratoriums überliefert. Bei Philips und auch schon bei Accentus Music sowie bei Rondeau hat sich Thomaskantor Georg Christoph Biller, der 2015 sein Amt aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, gleich dreifach verewigt. Zudem leitete er auch eine TV-Produktion, die mit schöner Regelmäßigkeit zu Weihnachten wiederholt wird. Bis heute hat die Aufnahme vom Dezember 1958 nichts von ihrem Glanz und ihrer Popularität eingebüßt. Damals hatte Kurt Thomas die Leitung eines Unternehmen, zu dem sich wenige Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer Künstler aus Ost und West zusammengefunden hatten, um Johann Sebastian Bach zu huldigen. Mit Agnes Giebel (Sopran) Marga Höffgen (Alt), Josef Traxel (Tenor) und Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton) war die Creme der damaligen Bachinterpreten aufgeboten worden, die dem Oratorium eine Würde und tiefe Erfüllung gaben, die so nie wieder erreicht wurde. Nicht umsonst sollte sich die Stereo-Aufnahme als eine der erfolgreichsten in den Klassikkatalogen von Electrola und Eterna behaupten. Sie verschwand nie vom Markt und wurde immer wieder in neuer Aufmachung aufgelegt, nun bei Warner. Mit ihr habe auch ich das Oratorium kennen und lieben gelernt. Es vergeht kein Weihnachten, an dem ich es nicht gleich mehrfach auflege.

Das von Kurt Thomas geleitete Leipziger Weihnachtsoratorium von 1958 ist immer wieder neu aufgelegt worden. Die Stereo-Aufnahme erwies sich als eine der erfolgreichsten in den Klassikkatalogen von EMI/Electrola und Eterna/ nun bei Warner.

Um die Weihnachtstage 2018 herum geriet ich ganz zufällig in eine TV-Sendung des MDR, darin ein kurzer Ausschnitt aus dem Weihnachtsoratorium mit dem jungen Peter Schreier in gutem Schwarz-Weiß. Das Orchester war nicht eben klein, der Dirigent nur von hinten zu sehen. Das Ambiente der Aufführung – ohne Zweifel ein Kirchenraum – konnte ich nicht entschlüsseln. Die Thomaskirche ist es zweifelsfrei nicht gewesen. Recherchen brachten Aufklärung. Es handelte sich um eine Aufführung der ersten drei Kantaten mit dem Thomanerchor und dem Gewandhausorchester Leipzig unter Erhard Mauersberger in der Leipziger Universitätskirche St. Pauli. Mauersberger hatte das Amt des Thomaskantors 1961 von Kurt Thomas übernommen. Als Solisten wirken neben Schreier Elisabeth Breul (Sopran), Sigrid Kehl (Alt) und Günther Leib (Bariton) mit.

Die Aufführung fand am 15. Dezember 1963 statt und wurde vom DDR-Fernsehen übertragen. Ein Mitschnitt hat sich erhalten und kann beim Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) kostenpflichtig bezogen werden. Das Besondere am Aufführungsort ist, dass die Kirche für die neue Bebauung eines großen Areals im Stadtzentrum, wozu auch das Neue Gewandhaus gehört, gesprengt wurde. Das führte zu scharfen Protesten, die die DDR seinerzeit tief erschütterten. Diese Wunden sind bis heute nicht ganz geheilt und brechen vor allem bei der Generation, die den alten Bau noch aus eigener Anschauung kennt, immer wieder auf. Der etwas einfallslos wirkende Neubau erinnert mehr an den Verlust – was auch beabsichtigt sein dürfte – als dass er zumindest äußerlich eine echte Alternative wäre. Der Mitschnitt soll das einzige erhaltene Dokument in bewegten Bildern aus dieser geschichtsträchtigen Kirche sein.

Im DRA lagert auch eine Produktion der MDR von 1951, ebenfalls mit den Thomanern unter der Leitung ihres damaligen Kantors Günther Ramin. Der Sopran ist wie auf der berühmten Platteneinspielung Agnes Giebel, der Tenor Gert Lutze, der später in den Westen ging, dort mit dem ebenfalls aus Leipzig abgewanderten Karl Richter unter anderen bei einem weiteren Weihnachtsoratorium zusammenarbeitete und sich nach Beendigung seiner Sängerlaufbahn als Arzt niederließ. Gerhard Niese ist der Bass. Die Altpartie wird von der heute fast in Vergessenheit geratenen Sylvia Plate gesungen. Von ihr gibt es noch weitere Bachaufnahmen, vornehmlich Kantaten. 1953 sang sie in der von Joseph Keilberth betreuten Walküre bei den Bayreuther Festspielen die GrimgerdeRüdiger Winter

Der Trompeter und Dirigent Ludwig Güttler hat seine bei Berlin Classics erschienene CD (0301165BC„Stille Nacht, heilige Nacht“ betitelt. Güttler und sein Blechbläserensemble beginnen und enden ihr Programm über fast achtzig Minuten mit dem Lied in eigener Einrichtung, allerdings ohne Gesang. Zunächst erklingen die ersten drei Verse, zum Schluss die verbleibenden drei. Jeder Vers ist individuell gestaltet. Wer genau hinhört, wird seine Freude haben an den feinen Unterschieden, Variationen und Verästelungen. In sich wirkt diese Bearbeitung sehr feierlich, begegnet dem Original mit großem Respekt und ist nicht auf äußere Effekte bedacht. Dazwischen wechseln die musikalischen Schauplätze – von Johann Sebastian Bach (1685-1750) zu Johann Georg Röllig (1710-1790), von Antonio Vivaldi (1678-1741), Joseph Haydn (1732-1809) zu Michael Praetorius (1571-1621). Mal ein Larghetto, mal ein Andante, dann wieder ein Siciliano, gespielt vom Ensemble Virtuosi Saxoniae, das Güttler selbst begründete. Als Entdeckung mit Ohrwurmpotenzial stellt sich alsbald die „Pastorale per la notte di natale“ von Johann David Heinichen (1683-1729) heraus. Die Sopranistin Antje Perscholka und der Altus Martin Wölfel stimmen etwas unvermittelt in dem weitestgehend instrumentalen Angebot „He shall feed his flock“ aus Georg Friedrich Händels (1685- 1759) Messias an. Was auf den ersten Blick in die Trackliste der neuen CD wie ein weihnachtliches Allerlei anmutet, ist wohlüberlegtes Kalkül. „Alles ist hinführende Musik. Der Hörer wird staunen, wie ähnlich die Dinge liegen“, wird Güttler im Booklet zitiert. Spekulieren wolle er nicht. „Es ist unerheblich, ob Franz Xaver Gruber diese Sachen konkret kannte. Ihn nährte die Welt seiner Zeit, die voller solcher Klänge war.“

Ein Zeitgenosse von Bach und nur ein Jahr jünger als dieser war der Italiener Nicola Porpora (1686-1768). Er wirkte für kurze Zeit in Dresden. Sony hat sein Christmas Oratorio Il Verbo in Carne (Das Fleisch gewordene Wort) vorgelegt (19075868452). Solisten des allegorischen Geschehens sind Roberta Invernizzi (Gerechtigkeit/Sopran), Terry Wey (Friede/Countertenor) und Martin Vanberg (Wahrheit/Bass). Es spielt das von Riccardo Minasi geleitete Kammerorchester Basel. Es handelt es sich um die Neuaufführung der Urfassung von 1747 aus Neapel. Sie fand am 5. Dezember 2016 in der Hamburger Laeizhalle statt. Dass es sich um einen Mitschnitt handelt, offenbart erst der Beifall am Schluss. Im Booklet präsentiert der italienische Musikwissenschaftler Giovanni Andrea Sechi die spannende Geschichte der Entstehung und Verortung des Oratoriums als leidenschaftliches Plädoyer für das Stück: „Die große Sanglichkeit und kunstvolle Virtuosität der Vokalpartien illustriert, mit welch unübertroffener Meisterschaft Porpora für die menschliche Stimme komponierte – die eigentliche Hautperson dieses Werkes.“ Der musikalische Schwung ist atemberaubend und erinnert in seiner Sinnlichkeit ehr an eine Oper denn an ein geistliches Werk. Die Geburt des Kindes wird in große Zusammenhänge gesetzt. Erst nachdem sich die allegorischen Figuren Gerechtigkeit und Friede ausführlich über die Perspektiven und das Schicksal der Menschheit ergangen haben, tritt die Wahrheit auf, um von der Geburt Christi zu berichten, an die sich dann große Hoffnungen knüpfen.

Carl Loewes Weihnachtsbotschaft vermittelt sich am eindrucksvollsten in der Legende „Des fremden Kindes heil’ger Christ“ nach einem Gedicht von Friedrich Rückert. Viele Jahre war sie nur durch eine 1937 entstandene Einspielung des Tenors Karl Erb in Umlauf. Inzwischen ist sie auf mehreren Tonträgern zu finden. Es ist die Geschichte vom fremden Kind, das am Abend vor Weihnachten frierend und einsam durch die Stadt irrt und nirgendwo eingelassen wird, bis es die Engel hinauf in lichte Höhen ziehen, wo Bescherungen warten, die die irdischen Güter schnell vergessen machen. So ähnlich könnte sie in ihrem realistischen Teil auch einem Roman von Charles Dickens entnommen worden sein. Mehr noch als durch Worte bezieht die Legende ihre Wirkung aus der schlichten und eingängige Melodie, die zum Schönsten gehört, was Loewe komponiert hat. Gesungen wird sie diesmal vom Bariton Günter Leykam. Am Klavier begleitet Werner Dörmann. Die von der Internationalen Loewe Gesellschaft unterstützte CD erschien bei CB Concerto Bayreuth (16018) und enthält weitere Balladen und vier Chorstücke mit Bezug zum Weihnachtsfest: „In dulci jubilo“, „Puer natus in Bethlehem“„Quem pastores laudavere“ und „Gloria in excelsis deo“. Nach dem lateinischen Einstieg folgen die Gesänge deutschen Textvorlagen. Es singen der Kammerchor des Markgräflichen Wilhelmine Gymnasiums und die Kantorei der evang. Kreuzkirche Bayreuth.

Inzwischen zeitlich schon etwas knapp, aber immer noch machbar ist der Erwerb eines Geschenks, das mit Sicherheit Weihnachtsfreude bei allen der Musik Zugetanenen hervorrufen kann: Ein sehr ansprechendes Konzert auf DVD , das 1990 in der Luzerner Jesuiten-Kirche mit dem kurz zuvor nach seiner schweren Krankheit wieder auf die Bühne zurückgekehrten José Carreras, den Mozart-Sängerknaben Wien und Instrumentalsolisten aufgenommen wurde. In der Schweizer Stadt herrschte im Dezember Regenwetter, also auch damals keine weiße Weihnachten, aber ein sehr schöner Kircheninnenraum mit Weihnachtsbäumen, und der Knabenchor (Leitung Erich Schwarzbauer) verbreitet mit den beiden ersten Tracks, „Maria durch ein Dornwald ging“ und Francks „Panis Angelicus“, ersteres berührend durch die Schlichtheit des A-Cappella-Gesangs der reinen, klaren Stimmen, letzteres durch den tapferen, intonationssicheren kleinen Solisten, dem sich später der Chor zugesellt, bereits Weihnachtsstimmung, die leider immer wieder durch den Beifall nach jedem Stück unterbrochen wird. Eigentlich nur fromm, aber nicht weihnachtlich geht es mit Carreras weiter, mit „Caro mio ben“ und Stradellas  „Pietà, Signore“, später dann, aber das könnten auch Zugaben sein, greift der Tenor auf das Repertoire zurück, mit dem er, den Strapazen der Opernbühne ausweichend, durch die halbe Welt tourte: Canzonen, so wie hier die von Tosti, für die der Tenor allerdings wie kaum ein anderer außer Di Stefano, prädestiniert war. Da ist das Ausnahmetimbre, ein schöneres kann man sich nicht vorstellen, in seinem Element, die bequem vorwiegend in der Mittellage komponierten Stücke, das Fehlen von extremen Spitzentönen lassen auch ein sichtbar unverkrampftes Herangehen an die Aufgabe zu, es gibt ein wunderschönes Einsetzen im Piano, es gibt aber auch opernhaft anmutende Aufschwünge, und mit dem Fortschreiten des Konzerts scheint der Sänger auch immer beherzter an seine Aufgaben heranzugehen. Der Katalane singt in vier Sprachen, außer Italienisch und Spanisch noch Englisch und sogar einige Zeilen von „Stille Nacht“ in Deutsch, nachdem er zunächst eine Strophe auf Spanisch geboten hat. Und von einer so schönen Stimme geboten, erträgt man sogar „White Christmas“ gern. Schuberts „Schlafe, schlafe“ wird allerdings sehr verfremdet als „Mille Cherubini“, als das es Carreras zu Gehör bringt. Bei Bizets „Agnus Dei“ kann man den Eindruck gewinnen, dass der Tenor mit Freude die Grenzen, die er sich zuvor auferlegt hat, überschreitet, auch was die bis dahin gemiedene Höhe angeht. Man freut sich noch heute, fast dreißig Jahre danach, dass es ihm gelungen ist, seine Laufbahn nach der schlimmen Krankheit fortzusetzen. Einen ganz wesentlichen Beitrag zum Gelingen des Konzerts leisten die Begleiter am Klavier, Lorenzo Bavaj für Carreras und Andrew Hannan, mehr aber noch können die Bläser, am Flügelhorn Sebastian Baumann und  Hermann Baumann (Horn und Alphorn), erfreuen mit alpenländischen Volksweisen. Wer sich also etwas Besinnlichkeit, ein Zusichselbstkommen nach dem Vorweihnachtstrubel wünscht, ist mit dieser DVD bestens bedient. Und gut, dass Arthaus das graue, nach Totensonntag aussehende Cover durch ein weihnachtsrotes mit dem Portrait des Sängers ersetzt hat (Arthaus 109415). Ingrid Wanja  

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„Was wäre, wenn jeden Abend Weihnachten wäre?“, hatte sich schon Heinrich Böll 1952 in seiner satirischen Erzählung Nicht nur zur Weihnachtszeit gefragt. Daran und an die Verfilmung mit der schrägen Edith Heerdegen, die sich als Tante Mila an Lichtmess partout nicht von ihrem Weihnachtsbaum trennen möchte, musste ich denken, als nach den Festtagen December Celebration eintraf. Müssten wir dann jeden Abend New Carols by Seven American Composers hören? Angeregt durch Gordon Gettys Four Christmas Carols für Frauenchor und Kammerorchester haben sich seine Kollegen Mark Adamo (*1962) und dessen Partner John Corigliano (*1938), Jake Heggie (*1961), Joan Morris (*1943) und William Bolcom (*1938), David Garner (*1954) sowie Luna Pearl Woolf (*1973) daran gemacht, neue Weihnachtslieder zu kreieren, die im Dezember 2014 in Kalifornien mit dem Volti Chorus, der Sopranistin Lisa Delan und dem Bariton Lester Lynch unter Dawn Harms verbunden mit dem Hinweis eingespielt wurden (Pentatone PTC 5186537), „We hope that you enjoy this festive and joyous music throughout the season and for many years to come.“ Die neuen Dezember-Klänge hätten Tante Mila vermutlich nicht zufriedengestellt, sie werden auch nicht „O du fröhliche“ und „Stille Nacht“, die in einer Bearbeitung von Getty die Aufnahme abrundet, ersetzen, dennoch sind es leicht hörbare und geschmeidig ins Ohr rieselnde Gesänge und Weisen zweier Generationen amerikanischer Gegenwartskomponisten. Die Aufnahme beginnt mit Adamos stimmungsvoll, spätromantisch angehauchtem „The Christmas Life“, wo der gemischte Chor am Ende eindringlich drängt „Bring the Christmas life into the house“. Bei „On the Road to Christmas“ von Heggie handelt es sich um sechs Lieder für Sopran und Streichorchester auf Texte verschiedener Autoren, darunter aparterweise Frederica von Stade, deren „The Car Ride to Christmas“ von Lisa Delan besonders lebhaft gesungen wird. Unauffällig scheint mir der Beitrag von Morris und Bolcom, während die „Three Carols“ von Garner für Sopran und Bariton, Oboe, Schlagwerk und Streicher lebhafte Wechselgesänge sind, die u.a. in „Magnum Mysterium“ Christi Geburt aus der Sicht der Tiere schildern. Lester Lynch erweist sich hier sowie in Woolfs Szene für Bariton, Kinderchor, Soloinstrumente und Streicher, vor allem aber in Coriglianos „Christmas at Cloisters“ mit der auffälligen, das softe Klangbild der Aufnahme etwas sprengenden Begleitung durch eine Hammond Orgel als charaktervoller Gestalter. Gettys melodiöse „Four Christmas Carols“ sind – ebenso wie sein „Silent Night“-Arrangement für gemischten Chor – gefällige, dezent orchestrierte Gesänge, die nostalgische 19. Jahrhundert-Stimmungen mit modernen Akzenten versehen und von den Frauen des Volti Chorus mit fließender Leichtigkeit gesungen.

Wer nun mehr Lust auf die handwerklich stabile und farbige Musik von Gordon Getty bekommen hat, dem wird – ebenfalls bei Pentatone (PTC 5186 480) – mit The Little Match Girl geholfen, hinter dem sich Andersens Mädchen mit den Schwefelhölzern verbirgt. Das „Mädchen“ ist eine von vier Szenen Gettys, die das Münchner Rundfunkorchester und der Chor des Bayerischen Rundfunks Ende 2013 und Anfang 2014 unter Asher Fisch und Ulf Schirmer aufgenommen haben. Wieder dabei: Lester Lynch (der unter Schirmer in 2011 in Bregenz den Gérard gesungen hatte). Dazu Nikolai Schukoff und Melody Moore. 2011 hatten sich alle Mitwirkenden bei der Shakespeare-Oper Plump Jack schon einmal in den Dienst von Getty gestellt.

Wie William Butler Yeats’ A Prayer for my Daughter ist das Mädchen mit Schwefelhölzern (in der engl. Übersetzung von H.B. Paull) – mit knapp 24 Minuten die umfangreichste der vier Kompositionen –  eine wörtliche Vertonung des Textes für Chor und Orchester. Beide Male zeigt sich Gettys Gespür für Naturschilderungen (der Sturm zu Beginn von Yeats: „Once more the storm is howling“ peitscht ungemein) und dichte Bilder, vor allem in Andersens Märchen illustriert er die Winterkälte, die Flamme, den Stern („Then she saw a star fall, leaving behind it a bright streak of fire“) durch eine sprechende Instrumentation, die anzurühren vermag. Zu Poor Peter für Tenor, Chor und Orchestereiner Geschichte aus dem Mittelalter im Umfeld von Robin Hood und der Minnesänger, sowie zu Joan and the Bells für Sopran, Bariton, Chor und Orchester hat Getty die Texte selbst verfasst. Mit ausdrucksvollem Tenor singt Schukoff den Zyklus Poor Peter, Melody Moore und Lester Lynch erwecken die von Schirmer dirigierte Johanna von Orleans-Story zum Leben, bei deren „Dramatisierung“ sich Getty durch Shaw und Anouilh inspirieren ließ; die ersten drei Szenen werden von Fisch dirigiert. Rolf Fath

Cabaletta wie bei der Uraufführung

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Eine neue CD des österreichischen Baritons Rafael Fingerlos verheißt immer etwas Besonderes, etwas, was so nur er zu bieten hat. Mal war es der in Vergessenheit geratene Komponist Robert Fürstenthal, der 1920 in Wien geboren wurde, vor den Nationalsozialisten fliehen musste und sich in den USA als Wirtschafsprüfer durchschlug. („Stille und Nacht“, Oehms). Dann wieder überraschte er mit einem Lied von Alma Mahler auf seiner CD „Fremde Heimat“, die ebenfalls bei Oehms erschien. Eine ganze CD widmete er dem Liedschaffen von Max Bruch (cpo). In Booklets gibt er freimütig Einblicke in seine Gefühls- und Erlebniswelt, weil er seine Interpretationen mit eigenen Erfahrungen anreichern möchte. Schließlich überraschte das Publikum auch schon mal mit einem Vortrag in der Mundart seiner Heimat. Die jüngste Neuerscheinung bietet unter dem Titel „Mozart Made in Salzburg ausschließlich Kompositionen des berühmtesten Sohnes dieser Stadt. Sie ist bei Solo Musica erschienen (SM 377). Das Mozarteumorchester Salzburg wird von Leopold Hager geleitet.

Es empfiehlt sich, die originale Schutzfolie nicht vorschnell zu entfernen, damit der runde Aufkleber nicht verloren geht. Sein Text: „Weltersteinspielung der gesamten Wiener Fassung von 1789, Vedrò, mentrete io sodpirto‘.“ Die Cabaletta „Ah no, lasciarti in pace“ dieser Arie des Grafen aus dem dritten Akt von Le nozze di Figaro trägt Fingerlos in der Fassung vor, die Mozart für den Sänger der Wiener Uraufführung, Stefano Mandini, komponierte. Wie Fingerlos in seinem wieder sehr individuell gehaltenen Booklet-Text vermerkt, habe er „mit der so selten aufgeführten und extrem mozartisch-wagehalsigen und vierzehn hohe Gs umfassenden Cabaletta“ sogar einen lebenslangen Mozart-Kenner wie Hager überraschen können. Plötzlich kämen einem die fünf hohen Gs aus Rossinis Barbier-Auftrittsarie „Largo al factotum“ wie „ein Spaziergang vor“. Recht hat er. Doch auf mich als Hörer stellte sich diese Herausforderung als reinstes Vergnügen dar – weil sie leicht und ohne hörbare stimmliche Anstrengung gelingt. Als müsste es so und nicht anders sein. Leopold Hager riet den Sänger, auch Leporello und Figaro zu singen: „Das passt zu Ihnen als Typ – und als Conte, Guglielmo oder Giovanni kennt man Sie und ihre Stimme ohnehin von der Bühne“, wird er im Booklet zitiert. Und so sind denn auch die so genannte Registerarie – von Fingerlos regerecht aus dem Ärmel geschüttelt – sowie mit „Se vuol ballare Signor Contino“ und „Non più andrai, farfallone amoroso“ gleich zwei Figaro-Arien im Angebot. Es wäre hilfreich gewesen, in den Tracklisten auch die Rollenzuweisungen vorzunehmen. Wer die italienischen Texte und die Musik nicht genau im Kopf hat tappt etwas im Dunkeln.

Die Programmfolge der CD ist äußerst abwechslungsreich und wird zwischen den Arien mit Liedern wie Warnung und An Chloe aufgelockert. Mit knapp siebzig Minuten ist die Kapazität nicht voll ausgereizt, was aber nicht ins Gewicht fällt. Es gibt zudem Arien aus dem bereits erwähnten Cosi und aus der Zauberflöte die beiden Papageno-Glanznummern „Der Vogelfänger bin ich ja“ und „Ein Mädchen oder Weibchen“. Beglückende Trouvaillen seien für ihn als Sänger die so selten aufgeführte Arie des Allazim aus Zaide „Nur mutig mein Herz“ oder die charmante kleine Konzertarie „Un bacio di mano“ gewesen, die für Fingerlos „das ehrliche Gegenstück“ zur Giovanni-Cavatine „Deh vieni alla finestra“ darstelle, die auf der CD ebenfalls zu hören ist. Und die Zaide-Nummer? Die habe ihn in Form und Koloratur-Virtuosität fast an die Konstanze-Arie aus der Entführung aus dem Serail oder an Händelsche Bravourwerke erinnert. Genau hingehört, scheint dieser Vergleich nicht übertrieben. Das letzte Wort soll Rafael Fingerlos haben. Es handelt sich im das Postskriptum seines Booklet-Textes: „Wenn ich ein Problem habe und dann Mozart höre, denke ich mir oft: Es ist alles halb so schlimm. Vielleicht – oder hoffentlich – ergeht es Ihnen ähnlich!“ Rüdiger Winter

Mehr als lässlich

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Für wen eigentlich könnte die CD mit dem Titel The Magic Flute – Das Vermächtnis der Zauberflöte bestimmt sein? Sicherlich nicht für Liebhaber und Kenner der Mozart-Oper, denn dafür sind die vokalen Leistungen zum größeren Teil zu wenig akzeptierbar. Werden Rollen wie die der Königin oder Sarastros von Opernsängern verkörpert, dann leiden die Tracks darunter, dass man im besten Fall eine einzige Strophe genießen kann, oft aber auch nur einen Bruchteil davon wie das „Du,Du,Du“ der Königin der Nacht, die von Sabine Devieilhe gesungen wird. Und auch dem Sarastro von Morris Robinson ist nur die Darbietung eines Bruchteils seiner Partie vergönnt und dieser nicht vollkommen akzentfrei. Die übrigen Rollen werden von Nichtopernsängern verkörpert, der Tamino von einer belegt klingenden  Kinderstimme mit fürchterlicher Bildnisarie in Kürztfassung, ebenso die Arie der Pamina als niedliches Gezwitscher wie für „Pack die Badehose ein“, der Papageno von Schauspieler Peter Lewys Preston mag gerade so  durchgehen, insgesamt also ist diese Aufnahme dem Zauberflöten-Liebhaber ein Graus.

Auch für diejenigen, die die Zauberflöte gern kennen lernen möchten, ist die CD ungeeignet, denn dazu wird es ihnen verwehrt, einem Handlungsstrang zu folgen, willkürlich geht es durcheinander mit Rahmenhandlung und Operngeschehen, das Booklet versagt da auch auf ganzer Linie, denn es bringt zwar Hochglanzfotos, aber keine Inhaltsangabe, weder von Oper noch Film,  und keine Erläuterung des Projekts, die Verbindung von Elementen von Schikaneder und den Kompositionen von Martin Stock, die denen Mozarts zugesellt oder mit der sie gemischt sind, und eine Rahmenhandlung, die Entdeckung der Zauberflöte durch ein Schülerpaar. Letztere haben vor allem die Funktion, stimmungsfördernd und Atmosphäre vermittelnd zu sein, so zu „On the Way to the Queen“, „Adventures in the Magic World“ oder „Tim’s Ghosts“. Mozart wie Stock werden vom Mozarteumorchester Salzburg unter Leslie Suganandarajah angemessen zu Gehör gebracht, die Augsburger Domsingknaben klingen natürlich für das „Es lebe Sarastro“ etwas dünn, dürfen sich aber auch nicht einmal eine Minute lang damit befassen.

Für wen also kann diese CD überhaupt interessant sein?  Wahrscheinlich für den Kinobesucher, den sie ein Stück Erinnerung an ein Filmerlebnis darstellen kann, vielleicht für die Schulklassen, die zu den Vormittagsvorstellungen mit ihren Musiklehrern ins Kino am Alexanderplatz zogen, und sie werden auch die bunten Fotos zu schätzen wissen (DG 486 3534). Ingrid Wanja 

Belcanto puro

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Wenn der Festspielsommer in Ravenna, Rom, Macerata, Torre del Lago, Verona und Martina Franca längst beendet ist, dann kann man im norditalienischen Bergamo ein ganz und gar dem Sohn der Stadt, Gaetano Donizetti, gewidmetes Festival erleben. Sein direttore artistico und Dirigent ist Riccardo Frizza, der mit dem Tenor Javier Camarena an Ort und Stelle unter dem Titel Signor Gaetano ein reines Donizetti-Programmeingespielt hat, vertrieben von Pentatone und versehen mit einem so ausführlichen wie informationsreichen Booklet. In diesem kommt der Sänger zu Wort, dessen erste einstudierte  Opernpartie überhaupt der Nemorino war, der 2004 einen Wettbewerb mit den Arien von Tonio und Roberto Devereux gewann, mit Ernesto debütierte und seitdem dem Belcanto-Repertoire mit einer typischen Stimme eines tenore di grazia in der Tito- Schipa-Nachfolge treu geblieben ist. In den letzten knapp zwanzig Jahren hat die Stimme weder ein typisches Schicksal eines tenore di grazia, das des Welkens, erlitten, noch hat sie sich  in ein anderes, schwereres Fach entwickelt, sondern hat sich Fische und Leichtigkeit bewahrt, ja sie perfektioniert.

Einige der Donizetti-Partien wurden für Rubini, den ersten Tenor mit einem Do di petto komponiert, wie Riccardo Frizza in einem Aufsatz beschreibt, die Partien den tenori sentimentali zuordnet, die zwar noch die Geläufigkeit eines Buffo besitzen , aber zudem auch über Poesie und Grazie verfügen müssen.

Es beginnt mit der Arie des Daniele aus Betly, in der die Qualitäten der Stimme, ein weicher Tonansatz, eine immense Geläufigkeit, ein müheloses Klettern in die Höhe hörbar werden, feine Rubati erfreuen und der Klang ein sentimentaler, aber nie ein weinerlicher ist. Bei Wiederholungen fallen die dezenten Variationen auf. Ein schwärmerisches „M’ama“ zeichnet den Nemorino von Camarena aus, ein leichter Schatten liegt auf „morir“, weit gespannte Bögen und ein ganz zarter Schluss mit „Di più non chiedo“ erfreuen in seiner berühmten Arie. Als Enrico aus Maria de Rudenz zeigt der Sänger viel vokale Energie mit einem federnden Gesangsstil, gut angebundener Höhe und sicheren Intervallsprüngen. Generös phrasiert wird Roberto Devereux‘ Abschied vom Leben, auch lässt sich nicht überhören, dass Camarenas Tenor über mehr corpo verfügt als ein Tito Schipa, dass die Stimme süffiger klingt, dabei voller Poesie und Grazie ist. Viel Geläufigkeit à la Rossini lässt er in der Arie aus Il Giovedi Grasso vernehmen. Verspielte Melancholie zeichnet den Ernesto aus, dessen Cabaletta ein strahlender Spitzenton krönt. Dem canto elegiaco verpflichtet ist die Arie des Fernando aus Marino Faliero, synkopenreich, voller Aplomb in den Höhen, mit heldischer Attacke auf „Quest‘ è l’ora“. Auch der Gerardo aus Caterina Cornaro hat eine heroische Seite, und der Enrico aus Rosmonda d’Inghilterra ermöglicht es dem Säger noch einmal, sich als akustischer Strahlemann zu präsentieren. Das Orchester Gli Originali unter Riccardo Frizza ist stilistisch perfekt auf Donizetti eingestimmt, der Coro Donizetti Opera unter Fabio Tartari sorgt ebenfalls für erfreuliche  Stilreinheit (PTC 5186 886). Ingrid Wanja    

Wege zu Monteverdi

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Gerade in jüngster Zeit stapeln sich die Aufnahmen von Opern Claudio Monteverdis, ob nun als CDs oder als Live-DVDs. Man meint, dass sich beinahe jedes Kleinstfestival seiner drei Opern bemächtigt hat, von großen wie Salzburg, Aix oder Boston ganz abgesehen. Monteverdi-Zyklen werden von Berlin bis Buenos Aires gezeigt, mitgeschnitten und veröffentlicht. Vor allem aus Italien und namentlich Frankreich schwemmt es herüber, und auch Martina Franca oder San Francisco blieben nicht untätig. Total overexposure, würden die transatlantischen Freunde das nennen. Inzwischen wird Monteverdi fast so viel gespielt wie Puccini. Die nachstehenden Aufnahmen der letzten Zeit – und das sind nur einige – zeugen von dem beneidenswerten Vertrauen der Labels in seine Zugkraft. Monteverdi ovunque.

Das war nicht immer so, denn der Weg zu Monteverdi ist für den Berichterstatter mit Reminiszenzen an jene Jahre verbunden, als Monteverdi nur ein Name für erbitterte Fans war, selten und oft verfremdet aufgeführt und auf Dokumenten damals nur selten zu finden. Eben auf diese möchte ich einen Blick werfen, auch um zu beschreiben wie weit wir in unserer Wertschätzung gekommen sind und was wir zwar gewonnen, aber auch verloren haben.

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Hätte ich mir damals in den  Sechzigern diese heutige Übersättigung an Monterverdi-Aufnahmen vorstellen können, als ich in zitternder Erwartung die nach muffigen Kellern riechenden US-Pakete vom Sam Goodies oder Tower Records aus New York vom Zoll abholte? In der wie bis heute verbieterischen Baracke missgelaunte Beamte, die uns warten ließen, während sie Kaffee und Frühstück hin- und herschleppten. Egal. Diese Pakete enthielten Kostbarkeiten für uns Studenten. Darunter – und das werd´ ich nie vergessen – Monteverdis Ritorno d´Ulisse von 1966 unter Rudolf Ewerhart mit der wunderbaren Altistin Maureen Lehane und dem charaktervollen englischen Tenor Gerald English als Protagonisten (neben Eduard Wollitz und anderen), die Lehane mit der Klage der Penelope mir bis heute eine Gänsehaut der Ergriffenheit bereitend. Zudem Monteverdi pur, denn Ewerhart mit seinem Santini Kammerorchester bei Vox hatte sich auf die damals gesicherten Teile der Oper konzentriert und die lieti pezzi (also die heiteren Einschübe am Hofe Penelopes und vor allem auch den Prolog mit der Umana fragilità) fortgelassen. Diese meine erste Begegnung mit dieser Oper Monteverdis war einfach überwältigend und bleibt mir bis heute. Die Sinnlichkeit (und darum geht es mir in diesem Rückblick) der Stimmen voller natürlichem Vibrato, das unverstellte, mich direkt erreichende Pathos des Gesungenen, die sparsame, aber nicht dünne Begleitung schufen für mich ein Klangvorbild, an das für mich heutige Aufnahmen mit Gambe, Zither und Countertenören nebst dünnen Kirchen-Innenraum-Stimmen um Meilen nicht herankommen. Fans von Cencic & Co. werden entsetzt aufschreien, aber ich stehe nicht an zu behaupten, dass meine alten Aufnahmen (mir natürlich nur) mehr Spaß machen, mehr an Sinnlichkeit und Persönlichkeiten vermitteln, mehr Seele, mehr Empathie – weniger Akrobatik und Selbstverliebtheit der Dirigenten … So wie auch das Lamento der Arianna von Margarete Klose aus alten Rundfunk-/LP-Zeiten mich immer noch zu Tränen rührt …

Natürlich wurde damals auf modernen, in Teilen diskret historisch-angelehnten Instrumenten gespielt, wie schon der erste Orfeo bei Deutsche Grammophon Archiv, auf dem Fritz Wunderlich eine Mucke als Pastore machte. Dieser Aufnahme von 1957 (Wenziger, Hitzacker, Helmut Krebs) ging dem Ulisse bei Vox voraus, aber Vox hatte noch mit einer Poppea nachgelegt, ebenfalls unter Ewerhart. Der deutsche haute contre (singulär in seiner Zeit) Hans-Ulrich Mielsch sang den Nerone und Ursula Buckel, die damals Vielbeschäftigte, die Poppea mit flirrendem Sopran. Vor allem aber war dies meine erste Begegnung mit der eminenten ukrainisch-polnischen Altistin Eugenia Zareska, die eine erdene Ottavia hören ließ, sehr beeindruckend und bis heute eine der geheimnisvollsten Sängerinnen der Nachkriegszeit (man erinnert sich an ihre tolle Grand-Duchesse de Gerolstein bei Leibowitz oder ihre satte Marina neben Gedda; es wird zu ihr bei operalounge.de ein Porträt geben).

In der fernen Vergangenheit hatte es immer wieder Ansätze zu einer Monteverdi-Rehablitation gegeben. Namentlich Nadia Boulanger, Schwester der Komponistin Lilli, hatte sich vor dem Krieg seines Werkes angenommen und bei His Master´s Voice eine ganz erstaunliche LP mit Canzoni und Madrigali eingespielt (zu den Solisten gehörte auch der Schweizer haute-contre Hugues Cuenod, den man später immer wieder in der Alten Musik findet). Bei Vox kamen auch Madrigale und das Combattimento di Tancredi e Clorinda unter Günther Kehr und dem Süddeutschen Kammerorchester von ca. 1960 heraus (Rodofo Malacarne, Elisabeth Speiser und Laerte Malaguti), wie diese Firma sich überhaupt um manche frühe Musik kümmerte. Das amerikanische Label Nonesuch ebenso.

Orfeo war die häufigste der frühen Monteverdi-Anstrengungen. Carlo Felice Cillario nahm mit den Kräften des berühmten Angelicum Mailand (Sammler werden sich an die grünen LPs erinnern) einen solchen in den späten Fünfzigern auf. Der Alte-Musik-Pionier Helmut Koch spielte mit dem Kammerorchester Berlin bei der Eterna einen solchen mit Elfriede Trötschel, Max Meili und – erstaunlich – Gerda Lammers ein.

Es gab auch einen Orfeo in der Maderna-Fassung (1960 an der NYCO, Stokowski dirigierte – es gibt ein Dokument davon, wahnsinnig!), Carl Orff hatte sich um Monteverdi gekümmert, Respighi bei Claves, Hindemith 1954 bei der RAI (mit Sinimberghi, Graf und Gillesberger). Man traute dem Original nicht, vielleicht war auch die Forschung noch nicht soweit. Eine wüste Poppea kam von der RAI 1957 mit Maria Vitale, Carlo Bergonzi und Oralia Dominguez (veröffentlicht in dem schwarzen Hommage-LP-Kasten bei Cetra vom Ehemann der Sopranistin mit allen ihren Aufnahmen beim italienischen Rundfunk), absolut abgefahren und eher Mascagni als Monteverdi, aber immerhin kümmerte man sich auch in Italien um ihn, mit unterschiedlichem Erfolg, wie noch die riskanten Aufnahmen aus Martina Franca bis in die Neuzeit zeigen …

Eine absolute Rarität ist die Poppea aus Wuppertal in der substanziellen Bearbeitung von Erich Kraack 1961 in Wuppertal, italienisch zwar, aber doch drastisch verändert. Eduart Wollitz (den man aus der Ewerhart Aufnahme kennt), Annamaria Bessel, Peter Christoph Runge und andere aus der Region singen (Label Wuppertaler Bühnen). Auch die Buchclubs boten – oft in Übernahme – Monteverdi. Ich erinnere mich nicht an Walter Goehrs Aufnahme bei uns zu Hause, als mein Vater Mitglied in der Concert Hall war und wir jeden Monat eine LP abnehmen mussten. Goehrs Poppea fand ich im Katalog. Und Sylvia Graehwiller nebst Friedrich Brückner-Rüggeberg sowie das Tonhallenorchester Zürich lassen auf eine schweizerische Übernahme schließen. 1963 war´s. Sagt Discorps, wo man ganz wunderbar die alten Aufnahmen aufgelistet und zum Verkauf angeboten findet.

Ein anderer Annäherungs-Strang führt zu Michel Corboz und den Lausanner Kräften, darunter ebenfalls Eric Tappy. Ich erinnere mich genau an seinen ersten Orfeo bei Erato 1968 in der eleganten braunen, leinenbezogenen Box mit der dicken Einlage (ein weiterer folgte weniger nachdrücklich 1985, warum nehmen Dirigenten nur immer Doublettenauf?). Eric Tappys Klage des Orfeo gehört ebenfalls zu meinem unvergesslichen Eindrücken. Corboz brachte später eine dicke Box mit Madrigalen (Guerreri) und weiterer Vokalmusik heraus, zuerst in Form der mit herrlichen Blumen-Covers geschmückten, weißgrundigen Erato-LPs, später diese dann als CD-Box (alles nun bei Warner, die früh das Label aufkauften, als es nach Barenboims Mozart-Ausflügen in den Ruin wankte). Michel Corboz, der später noch bei Claves und anderen Monteverdi und Späteres einspielte, erreichte mit seinen ersten Aufnahmen für mich so etwas wie einen Prototyp der zeitgemäßen Monteverdi-Interpretation – diskret historisch, aber mit natürlichem Vibrato der gestandenen Sänger und der Instrumente. Lustvoll und sinnlich.

Es gibt weitere Stränge der Nachkriegsbemühungen um Claudio Monteverdi. Bevor wir von Nikolaus Harnoncourt hörten, der zu dieser Zeit noch als Geiger im Orchester anderer spielte, war es Edwin Loehrer beim italienischen Rundfunk der Schweiz in Lugano, der dort meterweise Madrigale aufnahm, die dann bei verschiedenen Firmen als LPs/später CDs erschienen. Weitgehend mit einem kleinen, historisch angehauchten Orchester. Dazu herausragende Solisten wie Eric Tappy oder Laerte Malagutti, Lucia Ticcinelli-Fattori, Maria Minetto oder Edward Loomis. Auch Loehrer und sein fabelhafter Chor blieben eher konventionell, sinnlich, vibratoreich. Eben Lustvoll.

Das lässt sich auch über die ersten Aufnahmen von Nikolaus Harnoncourt sagen, der sich in den Siebzigern zu einem Papst für Monteverdi und die Folgen entwickelte. Vor dem berühmten Ponnelle-Zyklus in Zürich und seiner Dokumentation als Film und CD (Teldec 1988, Hollweg, Schmidt, Esswood et al) hatte er bereits bei Teldec den ersten eingespielt, der mir stimmlich und instrumental-musikalisch überzeugender, konzentrierter sein will (Hansmann, Lehrer, Eliasson, Equiluz, Esswood). Beide Dreiteiler (Zürich besonders, weil Bühnenaufführung) besitzen noch diese Frische und pralle Sinnlichkeit, die man in späteren Monteverdi-Aufnahmen stark vermisst. Hier sangen noch „normale“ Sänger wie Werner Hollweg, Eric Tappy, Rotraud Hansmann und andere, die eben das „normale“ Repertoire bedienten. Ein Ulisse, der auch Idomeneo, Don Ottavio oder Max singt scheint mir bis heute geeigneter zu sein als einer, der nur mit Barockem auftritt.

Der Dirigent Jürgen Jürgens soll da nicht unerwähnt sein. Seine Sammlung von Madrigali bei Teldec, DG und anderen sind weitere Meilensteine.

Und dann schließlich war da noch René Jacobs. Selber ein nicht immer liebenswürdig klingender Counter (für mich  stets kneifend und grell), begann er zu dirigieren und stellte einen beachtlichen Monteverdi-Opernzyklus bei Harmonia Mundi France vor. Besonders der Ulisse von 1971 mit Bernarda Fink und Christoph Pregardien bleibt mir in Erinnerung. Aber auch er nimmt inzwischen Sänger mit zu kleinen, dünnen Stimmen und neigt zum „Schrappen“ im Orchester. Und verschmäht – wie sollte er auch, ein Counter selber – Falsettisten in leading roles nicht. Ein Irrtum.

Um Raymond Leppard bei EMI und Decca muss man einen weiten Bogen machen. Das war Monteverdi für Leute, die Brahms und Mahler mögen, vielleicht auch Holst und Vaughn Williams, denn Leppard war in erster Linie eine englische Angelegenheit mit kleinen Ausuferungen auf den Kontinent. Ein Irrtum der Rezeption. Seine schwammigen, aufgeblasenen Orchestrierungen erfreuten Glyndebournes rich patrons, und seine Sänger sind – bei allem Verdienst – woanders besser zu hören, Janet Baker als Penelope vielleicht ausgenommen. Andere wie Hans Werner Henze mit seiner spätromantischen UlisseBearbeitung in Salzburg, München und Köln in den Neunzigern fallen da in dieselbe Kategorie, trotz Thomas Allens (oder Thomas Hampsons) und Kathleen Kuhlmanns bewegender Darstellung.

Natürlich gab und gibt es bis heute viele, viele, die sich mit Monteverdi beschäftigten. Und auch ihnen will man Respekt, wenn nicht immer große Zuneigung zollen, sie finden nachstehend Gerechtigkeit in den Rezensionen meiner Kollegen, die Counter, Zink und „Katzendärme“ mögen.

Sinnlichkeit – nach meinem Verständnis – trat hinter dem überbordenden, oft verbissenen und diktatorischen Anspruch der historischen Korrektheit der Aufführungspraxis zurück, wie sie sich nun sowohl instrumental wie auch stimmlich ausbreitete. Counter und immer kleiner werdende Solistenstimmen soweit das Ohr reichte. Das unselige Alfred-Deller-Erbe schwappt aus Englands Kirchen zu uns auf den Kontinent herüber. Tacet mulier in ecclesiam, jajadas wird heute gerne als Entschuldigung für die Verwendung von Countern in männlichen Kastratenrollen zitiert, Unsinn! Counter in Kastratenpartien als Protagonisten einzusetzen, nur weil sie Männer darstellen sollen, ist beklagenswerter Usus. Falsch und unhistorisch. Das hätte jemand wie Monteverdi oder Händel nicht geduldet, die Altistinnen verwendeten, wenn kein Kastrat zur Verfügung stand, und die Falsettisten in die Reihe der Kleinstdarsteller verwiesen. Das Geschlecht des Sängers selbst spielte im Barock keine Rolle. Pure opera gendering. Die Mezzo-Sopranistin Cecilias Bartoli gibt eine Vorstellung von der Reichweite der Kastratenpartien auf ihrer Decca-CD Castrati. Kastraten klangen zudem – den Beschreibungen nach – wie eine Mischung aus Marilyn Horne und Joan Sutherland, waren kraftvoll in der Attacke und vor allem betörend schön im Klang, weiteiferten mit den großen Sopranen der Zeit, mit denen sie sich auch die Rollen teilten. Denn Sopran-Kastraten sangen auch weibliche Rollen so wie Altistinnen als Schwerter rasselnde Helden auftraten (da denke ich sofort an Marilyn Horne…).   

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Als der letzte Kastrat wird Alessandro Moreschi bezeichnet, der allerdings nie in Opern, sondern nur Geistliches gesungen hat; bei youtube gibt´s noch ein „Ave Maria“ und anderes mit ihm, Altersaufnahmen, die kaum Rückschlüsse auf seine spezifische Kunst zulassen/ Wikipedia

Unsere heutigen Counter (ob nun ehemals Tenor oder meist Bariton) sind ja Falsettisten, die ihre Kopfnoten nach oben in die Koloratur-Sopranlage trainiert haben, was selten gut klingt. Nur wenige schaffen einen Wohlklang wie Paul Esswood (ebenfalls ein Alto) oder Jeffrey Gall (dto), auch Philippe Jarrousky in seinen Anfängen. Das Problem ist, dass der menschliche Stimm-Apparat das nicht lange mitmacht. Und im Laufe der letzten Jahre sah man manchen ehrgeizigen Counter im Sänger-Nirwana verschwinden. Oder ins Grelle abdriften (no names)… Die für mich ideale heutige Verwirklichung einer Kastratenstimme bleibt das gelungene Beispiel der elektronischen Verschmelzung zweier Stimmen eines Alt/Derek Lee Ragin mit der eines hohen Soprans/Ewa Małas-Godlewska im Film Farinelli. So stell ich mir den alten Klang vor. Angesichts von so vielen Absurditäten auf der heutigen Bühne vielleicht eine Idee für Nur-Akustisches? 

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Es ist ja bezeichnend, dass die französische Oper keine Kastraten kannte, sondern haute contres, also sehr hohe Tenöre bevorzugte, zumal in den Kirchen des Landes auch Frauen singen durften. Man brauchte also keine Kastraten und fand sie lächerlich. Haute contres finden sich in den französischen Barockopern und der Musik der Zeit, und sind eine übliche Rollenbezeichnung bis in das neunzehnte Jahrhundert, wo selbst leichte Spieltenöre so bezeichnet werden. Rameaus Schlamm-Nymphe Platée (auf einer alten EMI-Einspielung köstlich von Michel Sénechal dargeboten) ist als haut contre ausgewiesen.  Hugues Cuenod, bereits bei Boulanger erwähnt, tritt auch bei Loehrer und Corboz auf. Und in Glyndebournes Calisto wieder mal als gemeine, lüsterne Nymphe.

Und einem ganz besonderen haute contre aus Amerika muss man unbedingt ein Denkmal errichten, das wie ein Monolith in karger Landschaft nicht nur der ameriklanischen Nachkriegszeit steht: Russell Oberlin. Seine wirklich vielen und im Repertoire so weit gestreuten Aufnahmen (dazu auch optische bei VAI) lassen ihn einen ganz ausgefallenen, einzigartigen Künstler sein. Von Händel bis zu Britten, von spanischer Renaissance bis zu Mahler spannt sich sein Repertoire und bestätigt seine künstlerische Bandbreite. Zudem ist seine Stimme einzigartig, modern und doch am Alten gebunden. Er hat unter Noah Greenberg und seiner New Yorker Musica antiqua eine ganz wundervolle Monteverdi-LP/CD bei Odyssee eingespielt, wo er im Verein mit Charles Bressler, einem weiteren hohen amerikanischen Tenor, einen absolut irrwitzigen „Zeffiro torna“ hinlegt, dessen accellerandi wie Pfeile durch den Raum schießen. Ungeheuer.  Diese Barock- und Monteverdi-Sammlung Greenberg gehört zu den absoluten Schätzen meiner Sammlung. So ist es doch ein weiter Weg von Mantua bis New York, woher meine erste Liebe zu Monteverdi kam. Geerd Heinsen

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Monteverdi und kein Ende: „Als erste Aufnahme überhaupt“ enthalten die vier CDs, die Rondeau auf den Markt gebracht hat, die vollständige, gegen über der aus Venedig umfangreichere Neapolitaner Fassung der Monteverdi-Oper L’incoronazione di Poppea und dazu noch eine Reihe kürzerer Orchesterstücke von Zeitgenossen des Komponisten, so „ein paar neue Nummern und einige sehr spannende harmonisch kühne Stellen“, weiterhin ist die Fassung aus Neapel vierstimmig, die aus Venedig lediglich dreistimmig. Dem Publikum, das auf Schloss Waldegg bei Solothurn im Sommer 2021 in den Genuss der Aufführung kam, wollte man allerdings das Stück in seiner vollen Länge nicht zumuten und kürzte um einiges.

Die historischen Instrumente  des cantus firmus consort unter Andreas Reize erfreuen durch einen vollen, warmen Klang, federnd und agogikreich, die zahlreichen Ritornelle zwischen den Gesangsnummern passen stimmungsmäßig nicht immer, sorgen aber für eine angenehme Abwechslung zwischen den Darbietungen der fast ausschließlich hohen Stimmen. Diese allerdings weisen feine, die jeweilige Figur exakt charakterisierende Farbunterschiede auf.

Die Götter spielen in diesem Werk schon keine bedeutende Rolle mehr, äußern sich nur zu Beginn und Schluss der Oper, und so ist Fortuna zugleich auch Pallade und Damigella und alle drei Damen bekommen mit der Stimme von Kathrin Hottinger einen neckischen Anstrich, während Julia Sophie Wagner nacheinander Virtù, Dusilla und Venere ist, vollmundiger als die Kollegin, als Drusilla zunächst etwas verhuscht, ehe sie zunehmend präsenter erscheint und mit „O felice Drusilla“ frisch und flirrend und damit interessant wirkt. Apart melancholisch hört sich Marion Grange als Amore an, die zudem ein spritziger Valetto ist. Erstaunen kann immer wieder das Libretto erregen, so der Sarkasmus der Soldati Michael Feyfar und Hans Jörg Mammel. Eine warme Altusstimme  setzt Jan Börner für den Ottone ein, zunächst etwas unmännlich  wehleidig klingend, mit „I miei subiti sdegni“ aber durch Empfindsamkeit erfreuend. Die Ottavia von Geneviève Tschumi verfügt über einen edlen Klageton, führt die Stimme angenehm instrumental, ehe sie in der Riesenarie „Eccomi quasi priva“ recht geschmäcklerisch wirkt. Lisandro Abadie ist Seneca, der nach raunzigem Beginn zu sanfter Resignation findet und mit „Solitudine amata“ Eindruck machen kann. Dabei steht ihm mit Tobias Wicky ein geschmeidig singender Mercurio mit guter Diktion zur Seite. Letztere lässt der Nerone von Elvira Bill leider weitgehend vermissen, vieles klingt verwaschen, erst bei der Androhung der Folterungen wird es schillernd und damit interessant. Weich, schmiegsam, schmeichelnd, dazu frisch und immer wieder aufblühend kann Pia Davilla als Poppea nicht nur Nerone verführen. Wenn sie zum Schluss das berühmte Liebesduett singen, mag man gar nicht glauben, dass ein Fußtritt in den Bauch der Schwangeren bald der Geschichte ein Ende setzen wird. Ein ganz besonderes Vergnügen bereitet Sebastian Monti dem Hörer mit seiner plärrenden Arnalta und seiner greinenden Nutrice. Insgesamt kann man sagen, dass das Hörvergnügen sicherlich dadurch erhöht wird, dass man es sich einteilen, ab und zu dazwischen eine Pause machen und mit neuer Kraft und wieder erwachtem Interesse dazu zurückkehren  kann (4 CD ROP623738-4). Ingrid Wanja    

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Weder für die Feier eines Namenstags noch eines Geburtstags taugt ein Orfeo, an dessen Ende, der kompromisslosen Tragik einer griechischen Sage angemessen, der Held von feiernden Bacchantinnen zerrissen wird. Bereits der Orfeo von Monteverdi, für die Geburtstagsfeier des Herzoges von Mantua komponiert , geht zwar nicht so weit wie später der Glucks, bei dem die Liebenden sich dank Amors noch eines langen glücklichen Erdenlebens erfreuen dürfen. Aber er lässt immerhin Orfeos Vater, den Gott der Künste Apollo, persönlich den Sohn in das griechische Himmelreich entführen, wo er sich wie einst an der Schönheit Euridices nun an der von Wolken und Himmelskörpern erfreuen kann.  

2021 führte die Pariser Opera Comique in Zusammenarbeit mit der Opera Royal-Chateau des Versailles Spectacles und der Opera Grand Avignon die nicht unumstritten erste Oper überhaupt mit Le Concert des Nations  unter Jordi Savall auf historischen Instrumenten auf. Die sorgte für einen straffen, durchsichtigen und energischen Klang, ideal passend zu den Stimmen von Chor und Solisten. Von blendender Akuratesse war auch der Chor La Capella Reial de Catalunya, eigentlich eine Gruppe von Solisten, die sowohl durch darstellerische Gemessenheit wie durch vokale Brillanz erfreuen können. Regie führte Pauline Bayle und sorgte für eine klassische Mischung aus „edler Einfalt und stiller Größe“. In sanftem Rot, Grün gelb sind die zeitlosen Kostüme gehalten, Schatten von Baumstämmen sorgen für die Düsternis des Totenreichs, knallrote Blüten feiern das Glück der Hochzeit wie sie, anders arrangiert, den Grabschmuck bildeten. Die Optik erzeugt, mit anderen Worten, den Eindruck des durch und durch Klassischen (Bühne Emmanuel Clolus, Kostüme Bernadette Villard).

Vorzüglich sind die Sängersolisten, allen voran der Orfeo von Marc Mauillon, den man auch aus Tenorpartien kennt und der seine hier als Bariton eingesetzte Stimme in deklamatorischem Stil einsetzt, sehr aufmerksam gegenüber dem Text ist, so in einem mit ebenmäßiger Stimmführung zelebriertem  „Tu sei morta“, während oft auch das Timbre gespreizt wird wie im 3. Akt. Das ungemein lange „Possente spirto“ wird nie langweilig, bleibt stets voller Spannung. Viel Sinn für die kleinen Notenwerte hat Furio Zanasi als Apollo, der zum Schluss des fünfaktigen Dramas ein Duett mit dem Sohn singen darf. Salvo Vitale hat einen tiefdunklen, geschmeidigen Bass für Caronte und Plutone, weitere Herren singen meistens zwei Partien, jeweils einen Pastore und einen Spirto. Aus der Reihe der Damen sticht besonders Sara Mingardo als Messaggiera hervor, sehr bewegend die traurige Botschaft verkündend mit schlanker und dabei farbiger  Altstimme. Als Speranza und Proserpina kann Marianne Beate Kielland auch in den berühmten Worten Lasciate ogni speranza, voi che entrate“ einen sanften Mezzosopran einsetzen. Im Hintergrund sind ab und zu Mitwirkende mit Maske zu erblicken, scheinen eine unbeabsichtigte Brücke zwischen dem Damals und dem Heute zu schlagen, die immer währende Bedrohung des Menschen und seine Verletzbarkeit anzudeuten (Naxos NBDO152V). Ingrid Wanja

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Und noch einer – diesmal bei Chateau de Versailles: Seit 2017, dem Jahr des 450. Geburtstages von Monteverdi, finden sich auf dem Musikmarkt immer wieder Neueinspielungen seiner Musikdramen. Jetzt hat das Label Château de VERSAILLES in einer Aufnahme vom Dezember 2021 Il ritorno d’Ulisse in patria herausgebracht, wie stets mit reich illustriertem und mehrsprachigem Booklet. Vor dem Hören empfiehlt sich die Lektüre des informativen Artikels von Stéphane Fuget, dem Dirigenten der Einspielung, die in der Salle des Croisades du Château de Versailles mit dem von ihm 2018 gegründeten Ensemble Les Épopées stattfand. In diesem Essay mit dem Titel „Von der Deklamation im Rezitativ“ analysiert er detailliert den Stil des recitar cantando (beim Singen zueinander oder zu sich selbst sprechen, zu deklamieren) welcher den Ulisse in hohem Maße auszeichnet. Die Dominanz des Wortes über die Musik bestimmt dann auch seine Interpretation.

Das Ensemble hat sich voll und ganz auf diesen Stil eingestellt, wie es sogleich die lebhafte Artikulation im Prologo zeigt. Hier erweist sich Die menschliche Zerbrechlichkeit (L’Humana fragilità) als der Vergänglichkeit (Tempo), dem Schicksal (Fortuna) und der Liebe (Amore) unterworfen. Der exzellente Altus Filippo Mineccia, der fabelhafte junge amerikanische Bass Alex Rosen, die aufstrebende französische Mezzosopranistin Ambroisine Bré und die reizende Sopranistin Marie Perbost machen aus dieser Eingangsszene einen spannenden Diskurs. Den wirklichen dramatischen Einstieg in die Handlung markiert jedoch Penelopes Auftritt im 1. Akt mit dem langen Monolog „Di misera Regina“. Lucile Richardot mit ihrem erdenen Alt formt die Worte in reinem Sprechgesang und mit deutlichen Vokalverfärbungen. Ihr „Torna, deh torna, Ulisse“ hört man mit Erschütterung. Gegenüber den Freiern ist sie voller Hohn  nach deren Versagen. Auf Telemacos anzügliche Erinnerungen an Helena reagiert sie als zornige Mutter, auf Eumetes Enthüllung, dass der alte Bettler, der die Freier besiegte, kein anderer ist als Ulisse, mit spöttischer Verachtung. Wenn sie schließlich selbst überzeugt ist, dass der Mann vor ihr wirklich ihr Gemahl ist, wandelt sich ihr Ton von scharfer Deklamation zu weicher Rundung und zärtlichem Ausdruck. Davon kündet auch ihr Schlussduett mit dem Geliebten („Sospirato mio sole“) in seiner Seligkeit

Der Tenor von Valerio Contaldo als Ulisse klingt etwas nasal, punktet aber mit einer charaktervollen Interpretation. Sein Auftrittsmonolog, „Dormo ancora“, ist zunächst von stockendem, gebremstem Redefluss, steigert sich später zum verzweifelten Aufschrei. Seine Szenen mit Minerva (lockend: Marieclou Jacquard), dem treuen Hirten Eumete (kompetent: Cyril Auvity) und seinem Sohn Telemaco (emphatisch: Juan Sancho) beeindrucken durch plastische Klangsprache. Ambroisine Bré  verdient es, noch einmal genannt zu werden, denn ihr Melanto mit kokettem, doch stets delikatem Ton entzückt. Auch Alex Rosen kann nach seinem Auftritt im Prologo als Nettuno noch einmal auf sein sattes Potential aufmerksam machen, ebenso wie Filippo Mineccia als Pisandro auf sein charakteristisches Timbre. Jörg Schneider gibt einen skurril meckernden oder heulenden Iro (CVS069, 3 CDs/ 17. 09-22). Bernd Hoppe       

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Monteverdi-Zyklus bei OPUS ARTE: Mit seinem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists produzierte John Eliot Gardiner im Juni 2017 anlässlich des 450. Geburtstages von Claudio Monteverdi dessen drei große Musikdramen. Aufführungsort dieser semi-konzertanten Vorstellungen, bei denen die Sänger in schlichten oder extravaganten Kostümen von Patricia Hofstede und Isabella De Sabata auftreten und auch gestisch agieren, war das Teatro La Fenice Venedig. Opus Arte hat den Zyklus auf drei DVDs bzw. Blu-ray Discs veröffentlicht. L’Orfeo hat mein Kollege Gerhard Eckels nachstehend besprochen.

Im Dramma per musica  ist Hana Blazíková in der Titelpartie zu erleben. Der Sopran ist energisch, mitunter gar keifend. In den Zwiegesängen mit Nerone findet die Sängerin aber auch zu schmeichelnden, verführerischen Tönen. Wunderbar innig beider Schlussduett „Pur ti miro“. Ein in unseren Breiten weniger bekannter Countertenor, Kangmin Justin Kim, singt den Nerone. In seiner androgynen Erscheinung ist er optisch ein Blickfang und auch die hohe Stimme, fast in der Region eines Sopranisten, besitzt Ausnahmerang. Sein Ausdrucksspektrum reicht von furiosen Ausbrüchen bis zur Hysterie. Stupend ist die Koloraturbravour in der homoerotischen Szene mit seinem Vertrauten Lucano (Zachary Wilder). Konkurrenz als Ottone macht ihm dennoch Carlo Vistoli, ein neuer Stern am Counter-Himmel, mit betörend schöner Stimme und prägnanter Artikulation. Mit Marianna Pizzolato, kompetent auch im Belcanto-Repertoire, ist die Ottavia prominent besetzt. Ihr würdevoller Auftritt als von ihrem Gatten verstoßene Kaiserin („Disprezzata regina“) profitiert von Wohlklang, aber auch starkem Ausdruck. Ähnlich eindrücklich die Szene vor ihrer Verbannung aus Rom („A Dio, Roma!“) mit stockendem Beginn und enormer Steigerung. Michal Czerniawski gibt ihre Nutrice mit farbreichem Altus. Gianluca Buratto ist ein Seneca mit profundem, resolutem Bass und autoritärer Ausstrahlung. Seine große Szene vor dem von Nerone verordneten Selbstmord („Solitudine amata“) ist von schlichter, ergreifender Größe und der Tod selbst von erhabener Würde, auch durch das vom Orchester bewegend musizierte Ritornello.

Der Prolog schildert den Götterstreit zwischen La Fortuna, La Virtù und Amore in ihrem Anspruch, die Herrschaft über die Sterblichen zu beanspruchen. Mit strengen Stimmen rivalisieren Anna Dennis (danach eine energisch reife Drusilla), Lucile Richardot (später eine fulminante Arnalta mit maskulinem Tonfall) und Silvia Frigato (danach ein munterer Valletto).

Der englische Dirigent John Eliot Gardiner ist mit dem Werk seit mehreren Jahrzehnten vertraut. Bereits 1993 produzierte er für die ARCHIV Produktion der DG eine Gesamtaufnahme mit seinem Chor und Orchester. Seine Interpretation ist nun noch reifer und wissender, findet die perfekte Balance in der Begleitung der deklamierten Passagen, der Ariosi und instrumentalen Teile. (OA 1346D). Bernd Hoppe

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2017 ging John Eliot Gardiner mit „seinem“ Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists zum 450. Geburtstag von Claudio Monteverdi auf eine internationale Tournee, bei der dessen drei wichtigsten Opern L’Orfeo, Il ritorno d’Ulisse in patria und L’incoronazione di Poppea halbszenisch aufgeführt wurden. Die Aufzeichnungen im La Fenice in Venedig hat nun OPUS ARTE als DVDs herausgebracht.

In L’Orfeo und Il ritorno d’Ulisse in patria (in der Wiener Fassung) gelingt den Solisten, dem zeitweise tänzerisch auftretenden, stets ausgewogen singenden Monteverdi Choir und den in allen Gruppen sowie den vielen Instrumentalsoli ausgezeichneten English Baroque Soloists, die auch vor lautmalerischen Effekten nicht zurückscheuen, eine beeindruckende Vielfarbigkeit des Gesamtklangs. Der vielseitige, besonders in der Musik des 17. Jahrhunderts überaus erfahrene  John Eliot Gardiner leitet das Ganze mit anspornender und präziser Zeichengebung, wobei er durchgehend dafür sorgt, dass der Gesang im Vordergrund steht. Auch für die im Ganzen unaufdringliche, manchmal auch den Zuschauerraum einbeziehende Regie, die für lebendiges Spiel aller Beteiligten gesorgt hat, ist er ebenfalls gemeinsam mit Elsa Rooke verantwortlich. Die schlichten, antikisierenden Kostüme von Isabella de Sabata und  Patricia Hofstede passen bei beiden Opern insofern zum Gesamtkonzept, als es die Musik immer ins Zentrum rückt.

Das internationale Solistenensemble besteht aus Sängerinnen und Sängern, die auf die so genannte „Alte Musik“ und darauf spezialisiert sind, fast durchweg nur begleitet durch Continuo-Akkorde zu singen. In L’Orfeo beginnt es mit der wunderbar schlanken Stimme der Tschechin Hana Blazikova als La Musica, die sich mit der Harfe teilweise selbst begleitet. Später verwandelt sie sich in Euridice, die sie ebenso wie Minerva und Fortuna in Il ritorno überzeugend darstellt und mit blitzsauberem, immer wieder schön aufblühendem Sopran adelt. Auch beim intensiv gestaltenden Sänger des Orfeo, dem Polen Krystian Adam, sind die überaus variablen Klangfarben auffällig; besonders die großen Szenen im 3. und 5. Akt gelingen eindrucksvoll, wenn Orfeo die Unterweltfürsten mit seinem Singen zu überwinden sucht und er später sein Scheitern beklagt. Sie reichen von machtvollem Auftrumpfen im Klagen über den großen Verlust bis zu kunstvoll verziertem, einschmeichelndem Gesang. Dieser ist auch als Telemaco in Il ritorno gefordert, den Adam mit seinem kräftigen, flexiblen Tenor differenzierend gestaltet.

Der italienische Bariton Furio Zanasi ist in der Titelrolle des Ulisses in Il ritorno zu erleben, den er mit prägnantem Bariton und zurückhaltender Darstellung ausfüllt. Auch als Apollo in L‘Orfeo erweist es sich, dass er gemeinsam mit Orfeo in der Schlussszene die geforderten virtuosen Koloraturen und anspruchsvollen Gesangslinien aufs Beste beherrscht. Lucile Richardot macht in Il ritorno ausdrucksstark deutlich, wie unerschütterlich Penelope in ihrer Standhaftigkeit ist. Ebenso als Botin in L’Orfeo spart die französische Mezzosopranistin nicht mit dramatischen Effekten. Sie widersteht eindrücklich den aufdringlichen Freiern, die von Antinoo angeführt werden. In dieser Partie, als Tempo und Nettuno in Il ritorno sowie als Coronte und Plutone in L’Orfeo setzt der Italiener Gianluca Buratto seinen mächtigen, profunden Bass ein, den er  auch ausgesprochen lyrisch und klar zu führen weiß. Sozusagen als das Buffo-Paar, wie sie in späterer Zeit gern in Opern auftauchen, agieren als Melanto und Eurimaco munter pure Lebensfreude ausstrahlend die englische Sopranistin Anna Dennis (auch Ninfa in L’Orfeo) und der amerikanische Tenor Zachary Wilder (auch Spirito II in L’Orfeo). Ein köstliches Kabinettstückchen mit Cola-Dose und Bockwurst bei mitreißender stimmlicher Ausgestaltung ist dem englischen Tenor Robert Burt als der verfressene Freier Iro gelungen.

Bei den Sängerinnen und Sängern in den weiteren Partien, die nicht so sehr im Vordergrund stehen, imponieren die Vielseitigkeit und die durchweg ausgezeichnete Beherrschung ihrer jeweils charaktervollen Stimmen. Deshalb wäre es  unangemessen, jemand zusätzlich hervorzuheben; sie sollen aber doch wenigstens genannt werden: Es singen und spielen die italienische Sopranistinnen Francesca Boncompagni (L’Orfeo: Proserpina; Il ritorno: Giunone) und Silvia Frigato (Il ritorno: Amore) sowie die italienische Altistin Francesca Biliotti (Il ritorno: Ericlea). Außerdem sind dabei der amerikanische Counter Kangmin Justin Kim (L’Orfeo: Speranza), der spanische Tenor Francisco Fernandez-Reieda (L’Orfeo: Pastore I; Il ritorno: Eumete), der walisische Tenor Gareth Treseder (L’Orfeo: Pastore II, Spirito I, Eco; Il ritorno: Anfinomo), der amerikanische Bariton John Taylor Ward (L’Orfeo: Pastore IV, Spirito III; Il ritorno: Giove), der polnische Counter Michal Czerniawski (L’Orfeo: Pastore III; Il ritorno: Pisandro) und schließlich der italienische Counter Carlo Vistoli (Il ritorno: Umana fragilita).

Insgesamt  sind beide halbszenisch aufgeführten Opern besonders wegen der packenden, tiefgehenden Interpretation durch den Altmeister der „alten Musik“ Sir John Eliot Gardiner und des herausragenden Niveaus aller Beteiligten nicht nur für die Freunde der Musik des 16./17. Jahrhunderts lohnend (OPUS ARTE OA1347D L’Orfeo, OA1348D Il ritorno d’Ulisse in patria). Gerhard Eckels

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Aus dem bezaubernden Teatro della Pergola in Florenz kommt eine Aufzeichnung von Monteverdis Il ritorno di Ulisse in patria, die Robert Carsen als Regisseur und Radu Boruzescu als Bühnenbildner verantwortet haben. Sie entstand im Juni 2021 im Rahmen des Maggio Musicale Fiorentino und wurde von Dynamic auf Blue-ray Disc veröffentlicht (57927). Die Wirkung der Aufnahme bezieht sich vor allem aus dem hinreißenden Ambiente des antiken Theaters, das permanent in die Optik einbezogen wird und sich mit seinen Rängen sogar auf der Bühne fortsetzt. In den Logen sind die Götter postiert, die dem Spektakel beiwohnen und es kommentieren. Die Inszenierung mixt virtuos Vergangenheit und Gegenwart, wozu auch Luis Carvalho mit seinen Kostümen beiträgt, welche gleichfalls in unterschiedlichen Zeitebenen pendeln. Historische Pracht ist da mit zeitgenössischer Alltagsprofanität konfrontiert.

Mit der Accademia Bizantina sorgt Ottavio Dantone, der nach der  kritischen Edition von Bernardo Ticci auch die praktische Fassung für die Aufführung erstellte, für ein vibrierendes Klangbild, das in seiner Kraft und Spannung bis zum Schluss des Werkes nicht nachlässt. In der Titelrolle ist Charles Workman ein reifer Interpret, der die menschliche Dimension der Figur beeindruckend umreißt. Delphine Galou gibt der Penelope sensible Züge und Arianna Venditelli, auf diesen Seiten soeben als Titelheld von Händels Serse besprochen, ist eine expressive und differenziert schattierende  Minerva. Aus der Besetzung ragen zudem Gianluca Marghelli als Giove und Miriam Albano als Melanto heraus. Bernd Hoppe

Fidi en bloc

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Dietrich Fischer-Dieskau – Complete Lieder Recordings on Deutsche Grammophon (00289 486 2073). Die neue DG-Box hat die Ausmaße eines Grundsteins. Des Grundsteins zu einem musikalischen Denkmal für einen der bedeutendsten Sänger nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Tat gibt es auch richtige plastische Darstellungen zum Ruhme von Vertreter der singenden Zunft in Parks und an Straßen. Sie lassen sich anfassen und taugen Touristen als Fotomotive. Neuerdings begegnet man Maria Callas lebensgroß am Fuß der Akropolis in Athen. Kirsten Flagstad, mit der Fischer-Dieskau als Kurwenal beim Tristan Furtwänglers noch im Studio zusammentraf, steht vor dem Opernhaus in Oslo. Als Büste findet sich Caruso in der Nähe seines Geburtshauses in Neapel. Kaum wiederzuerkennen ist Fritz Wunderlich in ebensolcher Darstellung in seinem Heimatort Kusel. Und Gottlob Frick grüßt mit Schlips und Kragen Spaziergänger von seinem Sockel in Mühlacker, wo er starb.

Es darf darüber gestritten werden, ob derlei stumme Abbilder, deren Existenzform die Erstarrung in Bronze oder Stein ist, Sängern gerecht werden können. Ich bezweifle das. Sie geben keinen Ton von sich. Gründet sich das Andenken nicht vielmehr auf die Zeugnisse ihre Wirkens – die Tonaufzeichnungen? Im Falle von Fischer-Dieskau ist daran kein Mangel. Auf dem Grundstein der neuen Edition – um im Bilde zu bleiben – türmen sich Berge von Tonträger aller Art und unterschiedlichster Provenienz. Filme sind auch dabei. Fischer-Dieskau war bei mehreren Firmen sehr aktiv. Nicht alles ist zugänglich. In Rundfunkarchiven und privaten Sammlungen hat sich angestaut, was so schnell nicht ans Licht gelangen dürfte. Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, was es alles gibt. Die bislang umfangreichste Diskographie legte Monika Wolf vor, zuletzt 2005 erschienen bei Book on Demand. Audite kommt das Verdienst zu, anlässlich des 85. Geburtstages des Sängers Teile des Rias-Archivs erschlossen zu haben. Beim Rundfunk im amerikanischen Sektor der geteilten Stadt, wurden die Potenziale des politisch unbelasteten jungen Sägers sehr früh erkannt und dokumentiert. Er stand für den Neubeginn wie kaum ein anderer.

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Dietrich Fischer Dieskau Das Foto/DG (im Original schwarz-weiß) stammt aus dem Booklet der neuen Edition und zeigt den jungen Dietrich Fischer-Dieskau am Neujahrstag 1950. Kurz zuvor hatte die erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Deutschen Grammophon begonnen.

Die Edition bietet 107 CDs auf, dazu ein broschiertes Buch mit 238 Seiten, das erklärende Texte, die Tracklisten sowie zahlreiche Fotos enthält. Präferiert wird die Einteilung nach Komponisten. Musikalisch gesehen, stellen sie das höchste Ordnungsprinzip dar. Die Sammlung beginnt denn auch mit Philipp Emanuel Bach. Ludwig van Beethoven schließt mit 5 CDs direkt an, gefolgt von Johannes Brahms, der einmal kurz durch die Biblischen Lieder von Antonin Dvorak unterbrochen ist (12), Franz Liszt (4), Carl Loewe (2), Gustav Mahler (3). In ihrer Gesamtheit bezeugt die Zusammenstellung Jahre der Meisterschaft, in denen er ständig als künstlerischer Weltbürger unterwegs war, auf Opernbühnen und bei den internationalen Festivals. Allein in Salzburg fehlte er in fünfzig Jahren nur selten. Erstmals sang er dort 1951 noch unter Wilhelm Furtwängler die Lieder eines fahrenden Gesellen. Um das halbe Jahrhundert voll zu machen, trat er zuletzt als Sprecher und als Dirigent auf. In der Edition wird er bei den Gesellen-Liedern von Rafael Kubelik und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks begleitet (1968). Sie bilden mit den Kindertotenliedern, den Rückerliedern, bei denen Karl Böhm die Berliner Philharmoniker leitet (1963) und dem Lied von der Erde in zweifacher Ausführung die Mahler-Abteilung. Vom Komponisten als Symphonie für eine Tenor- und Alt- (oder Bariton-)Stimme bezeichnet, sprengt Das Lied von der Erde zwar den Rahmen, der Titel aber legitimiert die Berücksichtigung. Zu hören sind der allseits bekannte Wiener Mitschnitt mit Fritz Wunderlich unter Josef Krips (1964) sowie die von Leonard Bernstein geleitete Studioproduktion mit James King (1966). Nach Mahler kommt Friedrich Nietzsche (1). Danach wird die alphabetische Reihung unterbrochen, was noch mehrfach notwendig ist, wenn nämlich ein Komponist nicht eine ganze CD ausfüllt. Es folgt Max Reger, der sich eine CD mit Hans Pfitzner teilt. Auf der zweiten CD mit Liedern von Othmar Schoeck ist noch Platz für den Hermann-Hesse-Liederzyklus Leb wohl, Frau Welt von Gottfried von Einem.

Die Lieder Schuberts bilden den Mittepunkt der neuen Edition. Zuerst sind sie in prachtvoll ausgestatteten Plattenkassetten erschienen.

Wie ein monolithischer Block erheben die Franz-Schubert-Lieder auf 31 CDs heraus. Damit wird überdeutlich, wem die beständige große Liebe des Baritons galt. Wie kein anderer Komponist hat Schubert seine lange Karriere geprägt und er die Interpretationen seiner Lieder. Diese Erfahrungen hat er sogar in einem Buch mit dem Titel „Auf den Spuren der Schubert-Lieder“ zusammengefasst, das 1976 erstmals bei Bärenreiter erschien und seitdem eine große Verbreitung fand. Dessen letzter Satz: „Wenn es auch künftig Hörer mit einem Gefühl für Künstlerisches geben wird – immer vorausgesetzt, es handele sich um eine Kommunikation zwischen Interpreten höchsten Ranges und ebensolchen Hörern -, dann wird die meisterliche Vertonung eines Gedichts ein unvergängliches Erlebnis bleiben.“ Nicht ohne Eitelkeit beschreibt er mit diesen Worten Ziel und Zweck seines künstlerischen Wirkens. Er war nie auf ein Massenpublikum aus, das ihm nicht hätte folgen können. Vielmehr wollte er Menschen um sich haben, die ihn verstanden, bei denen er – gleich einem Dozenten im Hörsaal – nicht erst bei null anfangen musste, um höhere Erkenntnisse zu vermitteln. Für dieses Publikum ist die Grammophon-Edition, für die im heimischen Regal der Brockhaus oder der Goethe etwas zur Seite gerückt werden müssen, genau richtig. Fischer-Dieskau kam nie von Schubert los, hat nach immer neuen Ansätzen und Ausdrucksmöglichkeiten gesucht. Die Ergebnisse sind – je nach Wahrnehmung und Erwartung – bekanntermaßen unterschiedlich ausgefallen. Zwei Drittel der Schubert-Titel gehen auf die Einspielungen mit Gerald Moore zurück, die zwischen 1966 und 1972 in Berlin entstanden und bereits als Sammelbox herausgekommen sind. Über Frischer-Dieskau reden, heißt, auch über Moore reden. Der diskrete englische Pianist und Fischer-Dieskau waren ein ideales Paar. Ihre Interpretationen sind wie aus einem Guss. Moore versteht seinen Roll als Begleiter ohne eigene herausgehobene Ambitionen. Er gestattet dem Sänger den künstlerischen Vortritt, der sich auf den versierten Mann am Klavier hundertprozentig verlassen kann. Daraus gewinn Fischer-Dieskau seine absolute Sicherheit, die sich im Zusammenspiel mit Moore als durch und durch harmonisches Erlebnis mitteilt. In dem bereits erwähnten Buch nennt ihn der Sänger den „König unter den Begleitern“. Es entspreche seinem Rang, dass er wohl der „einzige Liedpianist auf der Welt“ sei, der sämtliche Schubert-Lieder gespielt habe. „Dabei erweist sich vor allem sein rhythmischer Impetus als ein Wesenszug, auf den eine Schubert-Interpretation nicht verzichten kann.“

Dietrich Fischer-Dieskau und der englische Pianist Gerald Moore arbeiteten oft zusammen. Der Sänger nannte ihn den „König unter den Begleitern“. Foto/DG Archive

Dennoch bevorzuge ich die frühen Aufnahmen, die mir nicht so gedankenschwer und ausgeklügelt vorkommen. Wenngleich Fischer-Dieskau auf mich stimmlich alterslos wirkt, finde ich sie freier und unbekümmerter. Sein einzigartiges Können, stimmlich wie interpretatorisch, hat sich nicht erst mit der Zeit herausgebildet. Es war von Anfang an da – nachzuhören in seiner ganz frühen Einspielung der Lieder Ihr Bild und Das Fischermädchen aus dem Schwanengesang vom März 1949. Da war er gerade mal Mitte zwanzig. Beim ersten Lied zwingt der unbekannte Begleiter den Sänger zu einem extrem langatmigen Tempo, das ihm viel technisches Können abverlangt. Mit fast dreieinhalb Minuten dauert es deutlich länger als in den beiden kompletten Aufnahmen in der Edition mit Moore (1972) und Alfred Brendel (1982). Die Stimme klingt ungemein sanft. Fast unmerklich erhebt sie sich aus der Klavierstimme heraus, entfaltet mit großer Ruhe den melancholischen Zauber von Heines Lyrik, die in der Musik Schuberts aufzugehen und ihre Entsprechung gefunden zu haben scheint. Was er nicht als Talent mitbrachte, hat der Anfänger offenkundig so rasch wie gut gelernt. Konsonanten sind für ihm kein Problem, er kann sie singen wie Vokale, ist immer zu verstehen, weiß in jedem Moment, was er singt. Man spürt ganz deutlich, worauf es hinaus will. Schon im Anfang war der Weg dieser einzigartigen Karriere genau vorgebildet. Obwohl auf CD 52 etwas versteckt, wirken diese zwei Lieder gemeinsam mit den Vier ernsten Gesängen von Brahms – ebenfalls 1949 als erste Platte für die Deutsche Grammophon eingespielt – wie der Ursprung für den gesamten Bestandes der Edition.

Das Buch von Dietrich Fischer-Dieskau über die Lieder Schuberts wurde in mehreren Auflagen veröffentlicht.

Erst im Booklet-Text „Wie Melodien zieht es“ von Markus Kettner, der sich mit sechs bisher unveröffentlichten Aufnahmen beschäftigt, ist zu erfahren, dass beide Lieder in diese Kategorie gehören. Was noch? 1972 kam Janet Baker nach Berlin, um mit Fischer-Dieskau Duette von Schubert aufzunehmen. Das Punschlied – auf der Bandschachtel als „Rest-Original“ bezeichnet – „verblieb im Archiv und wird hier erstmals veröffentlicht“, so Kettner. Einen ähnlich gelagerten Fall gibt es mit der Nummer drei von Schumanns Tragödie op. 64 „Auf ihrem Grab, da steht eine Linde“. Sie fehlt auf dem originalen Plattenalbum mit Duetten dieses Komponisten für zwei Singstimmen, an dem auch Julia Varady und Peter Schreier mitwirkten. „Als Besonderheit mag freilich erschienen, dass dieses kurze Duett, das von Schumann für Sopran und Tenor vorgesehen war“, von Schreier und Fischer-Dieskau interpretiert werde, obwohl der Text vom „Müllersknecht mit seinem Schatz“ berichte. Eine verspätete Premiere erfahren schließlich die Sapphische Ode – ein originäres Frauenlied – und „Wie Melolien zieht es“. Obwohl mit Daniel Barenboim als Begleiter im Rahmen eines großen Brahms-Projekts Ende der 1970er Jahre aufgenommen, verblieben beide Titel aus ungeklärter Ursache für mehr als vierzig Jahre im Archiv.

Auf Schubert – um die lexikalische Ordnung der Edition wieder aufzugreifen – folgt Robert Schumann mit 11 CDs. Im Zentrum stehen gleich vier Aufnahmen der Dichterliebe mit Christoph Eschenbach (1976), zweimal mit Jörg Demus (1957 und 1965) sowie mit Alfred Brendel (1985). Der Zyklus hat im Wirken des Sängers einen ähnlichen Rang wie Schuberts Winterreise. Zwei CDs sind Dmitri Shostakovich gewidmet. Dessen 14. Sinfonie – eine Folge von Gesägen, die thematisch um den Tod kreisen, wurde für Bariton und Sopran komponiert. Sie entstammt der Decca-Gesamtaufnahme der Sinfonien mit wechselnden Orchestern unter Bernard Haitink, der hier 1980 das Concertgebouw-Orchester Amsterdam leitet. Mit dabei ist wieder die Ehefrau Julia Varady. Dass auch die Michelangelo-Suite berücksichtig ist, versteht sich bei dem Rang dieses Opus von selbst. Gewählt wurde die orchestrierte Fassung mit dem von Vladimir Ashkenazy geleiteten Radio-Symphonie-Orchester Berlin (1991).

Die berühmte Plattenproduzentin Elsa Schiller betreute viele Einspielungen bei Deutsche Grammophon. Foto/Sammlung Marta Dobay-Fricsay

Dem Alphabet nach ist nun Richard Strauss an der Reihe (4). In dessen Opern hat Fischer-Dieskau deutlichere Spuren hinterlassen als in seinem Liedern. Die Wahl fiel auf mehrere Werkgruppen mit Titeln wie Ruhe meine Seele, Morgen, Ich trage meine Minne, Heimliche Aufforderung oder Schlechtes Wetter. Begleitet wird er von Wolfgang Sawallisch, der als Dirigent bereits 1958 im EMI-Studio in London mit Fischer-Dieskau zusammentraf, als der den Olivier in der ersten Platteneinspielung des Capriccios von Strauss sang. Beim Krämerspiegel begleitet Demus. Das Melodram Enoch Arden, 1964 ebenfalls gemeinsam mit Demus produziert, ist gewissermaßen ein Vorgriff auf das Finale der Edition, die mit reinen Sprachaufnahmen ausklingt (106 und 107), in denen der Sänger Einblicke in seine Werkstatt gibt. Er hatte eine aristokratische Sprechstimme, die ihn dazu prädestinierte, auch rezitierend aufzutreten. Das ging so weit, dass er für die EMI die Schöne Müllerin um Prolog, Epilog und jenen Versen von Wilhelm Müller ergänzte, die Schubert nicht vertont hatte. Enoch Arden verlangt nach einem Schauspieler. Schließlich hatte Strauss das ausladende Melodram 1897 für Ernst von Possart geschaffen, der vor allem in den Dramen Shakespeares in Erscheinung trat. Es war in seiner Zeit sehr populär. Fischer-Dieskau schätze es. Von seinen mindesten drei Einspielungen nimmt die Edition gleich zwei auf. Neben der ersten, die damit endlich auf CD gelangt, die letzte von 2003 als er seine aktive Sängerlaufbahn längst beendet hatte. Nach einem mit Aribert Reimann am Klavier gestalteten Pyotr-Tchaikovsky-Programm von 1981 folgt der letzte große Block (12), der Hugo Wolf gewidmet ist. Wie Elisabeth Schwarzkopf hat auch Fischer-Dieskau bei der Beschäftigung mit diesem Komponisten, der vornehmlich Lieder hinterließ, das Ausdrucksspektrum deutlich erweitert. Die ersten Versuche auf Tonträger sind von 1951 belegt, als er mit der Pianistin Hertha Klust, die beim kulturellen Neubeginn im Nachkriegs-Berlin eine wichtige Rolle spielte, Teile des Italienischen Liederbuchs einspielte. Als Gesamtaufnahme ist der Zyklus in der Edition zweifach zu finden – mit Irmgard Seefried und Erik Werba (1958) sowie mit Christa Ludwig und Daniel Barenboim (1974/1975). Beim Spanischen Liederbuch sind die Schwarzkopf und Moore die Partner. Bleibt noch Alexander Zemlinsky für den letzten Buchstaben des Alphabets. Dessen Lyrische Symphonie mit sieben Gesängen für Sopran, Bariton und Orchester sprengt noch einmal den Rahmen. Mit Lorin Maazel am Pult der Berliner Philharmoniker bietet das 1981 eingespielte Werk abschließend noch eine Gelegenheit, das Ehepaar Fischer-Dieskau/Varady als künstlerisch erfolgreiches Team in Erinnerung zu rufen.

Die Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem wurde von zahlreichen Plattenfirmen, darunter die Deutsche Grammophon, wegen ihrer idealen Akustik als Aufnahestudio genutz. Foto/Wikipedia

Mal mehr, mal weniger bekannt sind die Titel. Sensationsfunde dürfen nicht erwartet werden. Editionen tragen in klarer Übersicht zusammen, was es schon immer gab. Die genau aufgeschlüsselten Aufnahmedaten und Aufnahmeorte – oft das Studio Lankwitz und die Jesus-Christus-Kirche in Berlin – lassen ein zusätzliches Ordnungsprinzip erkennen. Die Produzenten, deren Anteil am Zustandekommen von Tonaufnahmen nicht hoch genug zu würdigen ist, werden genannt. Zu des Sängers Zeiten hatten sie das Sagen in den Studios. Sie wachten über die musikalische Genauigkeit, standen mit ihren Namen wie ein Gütezeichen für Qualität. Immer wieder wird Cord Garben genannt, der sich auch als Dirigent und Liebegleiter hervorgetan und die erste Gesamteinspielung der Lieder und Balladen von Carl Loewe bei cpo zustande gebracht hat. Von 1984 an leitete er bei der Grammophon zudem sämtliche Opernproduktionen, für die er sieben Grammys erhielt. Hinter den Kulissen verantwortete auch Elsa Schiller (1897-1974) Plattenproduktionen mit Fischer-Dieskau und anderen legendären Sängern. Ihre Nachfolge war Otto Gerdes (1920-1989), der nebenbei dirigierte. Beim Grammophon-Tannhäuser mit Fischer-Dieskau als Wolfram, Wolfgang Windgassen in der Titelrolle und Birgit Nilsson als Venus und Elisabeth stand er am Pult Orchesters der Deutschen Oper Berlin.

Nicht immer bilden die CDs die ursprünglichen Platteninhalte ab. Die Edition konnte auch die Reihenfolge der Lieder nach Komponisten nicht durchgehend einhalten. Vor allem dann nicht, wenn Versen von Goethe von unterschiedlichen Komponisten vertont wurden. Es bedarf – um dieses Beispiel weiterzuverfolgen – eigener Recherche, um herauszufinden, dass es sich dabei um die komplette Übernahme einer 1972 erschienen Platte mit Demus am Hammerflügel handelt. Sie erschien ursprünglich als eine der erlesenen Grammophon-Archiv-Produktionen, wurde später bereits in eine Sammlung mit frühen Aufnahmen des Sängers für die Firma übernommen. Typisch für diese Archiv-Reihe und typisch für den Sänger ist das Programm mit seltenen Kompositionen von Zeitgenossen des Dichters, darunter Johann Friedrich Reichardt, Carl Friedrich Zelter, Conradin Kreutzer, Siegmund von Seckendorff, Christian Gottlieb Neefe und Anna Amalia von Preußen, jüngste Schwester Friedrich des Großen – und nicht zu verwechseln mit Herzogin Anna Amalia in Weimar. Wie so oft, begab sich Fischer-Dieskau auch hier auf Spurensuche durch die Musikgeschichte. Er hielt sich nämlich nicht nur bei den großen Namen auf, die für das Publikum und die Industrie bis heute Selbstläufer sind. Mit seiner ganzen Autorität setzte er sich mit schöner Regelmäßigkeit für jene ein, die aus dem Schatten der Giganten nie herauskamen, zumindest lokal aber einen durchaus bemerkenswerten eigenen musikalischen Beitrag leisteten, der mehr Aufmerksamkeit verdient. Rüdiger Winter

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Nahezu vollendet

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Auf zwei CDs veröffentlicht APARTE die Pastorale héroique Acis et Galatée von Jean-Baptiste Lully, die 1686 uraufgeführt wurde (AP269). Sie ist die letzte vollendete Oper des Komponisten und markiert seine Abkehr vom Genre der tragédie en musique, das ihn über eine Dekade beschäftigt hatte. Das Werk entstand als private Auftragsarbeit des Duc de Vendome, Louis-Joseph de Bourbon, und kam im Chateau d’Anet an der Loire zur Premiere. Einen Monat später wurde es auch an der Pariser Opéra gezeigt. Die Pastorale auf ein Libretto von Jean Galbert de Campistron umfasst einen Prologue und drei (anstatt der üblichen fünf) Akte. Der für Lully neue Librettist  (denn sein vertrauter Mitarbeiter Quinault hatte sich 1686 nach der Armide zurückgezogen) fügte in die bekannte Handlung von Ovid mit Scylla und Telème ein zweites Liebespaar ein. Beide Figuren finden sich zwar auch bei Ovid, doch nicht als Liebende.

Die Musik hat pastoralen Charme und lässt bei den Szenen der Hirten im 1. Akt an Bouchers Rokoko-Idylle denken. Galatées vermeintlich zugewandte Haltung gegenüber Polyphème erklärt sich aus der Absicht, den Geliebten vor dem Zorn des Zyklopen zu schützen. Ihre Vertraute Scylla weist dagegen Telèmes Gefühle zurück, so dass dieser schließlich von ihr ablässt. Im 2. Akt hält Polyphème um Galatées Hand an, doch sie bittet um Aufschub, um die Erlaubnis ihres Vaters Nérée einzuholen. Der 3. Akt kreist um den Tod von Acis, den der eifersüchtige Polyphème mit einem Felsbrocken erschlagen hat. Auf Galatées Bitten verwandelt Neptune Acis in einen Fluss, der ihm Unsterblichkeit verleiht und ihn auf immer mit der Seenymphe Galatée vereint.

Die Einspielung, die im Juli 2021 in Puteaux entstand, könnte keinen kompetenteren Anwalt haben als Christophe Rousset am Pult des Ensembles Les Talens Lyriques. Das farbenreiche, delikate Musizieren des Orachesters und die gezielt gesetzten Affekte durch den Dirigenten ergeben eine gediegene und dennoch kontrastreiche Interpretation. Der Choeurde chambre de Namur (Leitung: Thibaut Lenaerts) trägt mit munterem, swingendem Gesang zur Wirkung bei. Vor allem die Passacaille am Schluss, „Sous ses lois l’Amour veut qu’on jouisse“, führt er gemeinsam mit Deux Najades (Bénédicte Tauran/Deborah Cachet) zum feierlichen Ausklang.

Der im französischen Barockfach renommierte Tenor Cyril Auvity lässt als Acis ein weiches, schmeichelndes Timbre in der mittleren, nur gelegentlich gestresste Töne in der oberen Lage hören, doch ist seine Interpretation stilistisch als makellos zu werten. Die aufstrebende französische Sopranistin Ambroisine Bré schenkt der Galatée ein reiches Gefühlsspektrum und besticht mit makellosem Gesang. Berührend gestaltet sie die große Szene im letzten Akt, „Enfin j’ai dissipé la crainte“. Beide Stimmen verblenden sich perfekt, wie in „Quelle erreur loin de nous“ im 2. Akt zu hören ist. Edwin Crossley-Mercer als Polyphème singt mit Bass-Wohllaut und gestalterischer Reife.

Auch die Nebenrollen, darunter Bénédicte Tauran als Scylla, Robert Gretchell als Téléme, Philippe Estèphe als Neptune und Enguerrand  de Hys als Pretre de Junon, sind ohne Tadel besetzt. Die Aufnahme reiht sich würdig ein in Roussets reichen Katalog von Werken des französischern Barock. Bernd Hoppe

John Aler

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Der amerikanische Tenor John Aler (* 4. Oktober 1949 in Baltimore, Maryland) starb am 10. Dezember 2022. Er sang Rollen im Belcanto-Fach eines tenore di grazia, in Werken von Mozart, Rossini, Donizetti, Bellini, und Händel. Mindestens ebenso bekannt sind seine Interpretationen französischer Werke von Rameau, Gluck, Adam, Auber, Bizet und Berlioz.

John Aler wuchs in Baltimore auf und besuchte römisch-katholische Schulen, wo er Knabensopran im Chor sang. Seine Mutter war von italienischer Abstammung, hatte Gesang studiert, und brachte ihn früh in Kontakt mit Sendungen aus der Metropolitan Opera und Aufnahmen von Jussi Björling und Richard Tucker.

Aler studierte mit Rilla Mervine und Raymond McGuire an der Catholic University of America in Washington D.C., wo er 1982 seinen Master-Abschluss machte. Nach einem Wettbewerb der Baltimore Opera hatte er auch sieben oder acht Unterrichtsstunden mit der legendären Rosa Ponselle, die er „inspirierend“ fand.[1] Er studierte außerdem von 1972 bis 1976 mit Oren Brown am American Opera Center der Juilliard School in New York, mit Marlene Malas, und am Berkshire Music Center in Tanglewood.

1977 machte er sein Opern-Debüt als Ernesto in Donizettis Don Pasquale am American Opera Center, und gewann im selben Jahr zwei erste Preise beim Concours International de Chant in Paris. An der New York City Opera debütierte er 1981 als Don Ottavio in Mozarts Don Giovanni; und sang dort in der gleichen Spielzeit auch den Arturo in Bellinis I puritani.

In der Oper hatte er Auftritte an den meisten europäischen Opernhäusern, wie dem Royal Opera House Covent Garden, der Deutschen Oper Berlin, der Wiener Staatsoper, der Bayerischen Staatsoper, den Salzburger Festspielen, dem Glyndebourne Festival, in Hamburg, Genf, Madrid, Lyon und Brüssel; und in Amerika an den Opernhäusern von St. Louis, Santa Fe, Washington D.C. und Baltimore. Darüber hinaus hat er auch in Städten wie Santiago de Chile, Tokio und Sydney gesungen. Das Foto oben zeigt ihn als Ferrando in Mozarts Cosi fan tutte/ Platea Magazine

Als Solist ist er mit diversen Orchestern aufgetreten: In Amerika mit dem New York Philharmonic Orchestra, dem Cleveland Orchestra, dem Philadelphia Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra, dem Chicago Symphony Orchestra und dem Los Angeles Philharmonic Orchestra; und in Europa u. a. mit den Berliner Philharmonikern, dem Gewandhausorchester Leipzig, dem Orchestre National de France, dem BBC Symphony Orchestra und der London Sinfonietta, mit Dirigenten wie Daniel Barenboim, Dutoit, John Eliot Gardiner, Erich Leinsdorf, Kurt Masur, Zubin Mehta, Roger Norrington, Seiji Ozawa, Simon Rattle, Esa-Pekka Salonen, Leonard Slatkin und David Zinman u. v. a.[2] John Aler sang 1998 zusammen mit Kurt Masur und dem Israel Philharmonic Orchestra bei den Feierlichkeiten zum 50sten Jahrestag der Gründung des Staates Israel in der Avery Fisher Hall.[2]

Er hat zahlreiche Aufnahmen gemacht, mit Werken aus dem Bereich Oper, Oratorium und Lied, von Händel bis Strawinsky; ein Schwerpunkt liegt dabei auf selten gespielten französischen Werken.

Seit Herbst 2010 unterrichtete John Aler Gesang an der School of Music der George Mason University (GMU) in Fairfax (Virginia).  Seine beachtliche Liste an Aufnahmen findet sich bei Wikipedia (Quelle Wikipedia)

Barroca española

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GLOSSA veröffentlicht auf zwei CDs eine barocke Zarzuela mit dem rätselhaften Titel Donde hay violencia, no hay culpa von José de Nebra (GCD 923535). Das Stück wurde 1744 in Madrid uraufgeführt und verbindet Elemente der italienischen Oper mit spanischer Folklore. Die Handlung von Wo es Gewalt gibt, gibt es keine Schuld führt nach Rom um 509 v. Chr., wo König Tarquinius Krieg gegen die benachbarten Völker des Rótulo führt. Das Heer führt Feldherr Colatino an. Dessen Frau Lucreta leidet unter den Nachstellungen des Prinzen Sextus, Sohn des Tarquinius, der mit Colatinos Schwester Tulia verlobt ist. Der feindliche König Lelio will sich unterwerfen und mit seiner Schwester Octavia nach Rom kommen. Tarquinius beschließt, Sextus statt mit Tulia mit Octavia zu verheiraten. Dieser lehnt wegen seiner Leidenschaft für Lucreta die Ehe ab. Sie jedoch fleht ihren Mann Colatino an, ihre durch den römischen Prinzen befleckte Ehre zu rächen, und nimmt sich das Leben. Während der Hochzeit von Sextus und Octavia kommt es zu einem Volksaufstand, der die Vertreibung von Tarquinius und Sextus bewirkt.

Die Aufnahme mit dem Ensemble Los Elementos unter Alberto Miguélez Rouco entstand Ende 2021 im schweizerischen Riehen. Der Dirigent sorgt schon in der dreiteiligen Einleitung für starke Kontraste, lässt auf die martialische Fanfarria die muntere Sinfonia folgen und endet mit einem sanften Andante Majestuoso. Auch später setzt er immer wieder spannungsreiche Akzente. Der Chor, gebildet aus den Solisten der Einspielung, eröffnet mit einem Cuatro („A la gran deidad de Marte“) das Geschehen mit feierlichem Gesang. Eine lebhafte Seguidilla folgt, in der drei der insgesamt vier Solisten auftreten – Alicia Amo (Sopran) als Lucrecia, Giulia Semenzato (Sopran) als Tulia und Judit Subirana (Mezzosopran) als Laureta. Das erste Solo fällt Lucrecia mit der AriaHado infiel“ zu, die sie lebhaft und kokett serviert. Stürmisch kommt ihre Aria „Mi fiera mano airada“ im zweiten Teil daher. Das Solistenquartett komplettiert die Mezzosopranistin Natalie Pérez als Colatino und lässt in dessen Coplas „Espera, detente“ eine warme, sensible Stimme hören. In der Aria „Falta de gruta obscura“ hat die Sängerin Gelegenheit, von Trompetengeschmetter begleitet, energisch aufzutrumpfen. Tulias erstes Solo ist die wiegende Aria „Que contenta el alma mia“, die sie mit klarem, hellem Ton singt. In großem Kontrast dazu steht ihre Aria im zweiten Teil, „Ya, afecto mio“, Affekt betont und von stampfendem Rhythmus. Laureta folgt mit „Se ve uno y otro  amante“, in welches sie hintergründige Nuancen einbringt. Die Jornada primera beendet eine Aria a 3, „Muera un injusto aleve“, mit Tulia, Lucrecia und Colatino von festlichem Zuschnitt.

Auch die Segunda Jornada wird von einer Fanfarria eröffnet, gefolgt vom feierlichen Cuatro „Apacible Himeneo“ des Chores. Spätestens bei der nächsten Nummer, der rasanten Seguidilla „Siento en el pecho un dispid“, zu der sich die Stimmen von Lucrecia und Colatino vereinen, fühlt man sich in Spanien angekommen, was der temperamentvolle Rhythmus und die Kastagnetten-Begleitung belegen. Mit zwei festlichen Cuatros („De Himeneo halagüeño“) beendet der Chor das Werk.

Im Anhang finden sich Auszüge aus späteren Fassungen der Zarzuela – von 1748 und 1753. In der ersteren findet sich eine Seguidilla von Octavia, die in der eingespielten Version von 1744 als Person stumm bleibt. „Los halagos se mezclan“ lässt freilich südliches Temperament vermissen und gibt sich eher schwermütig (02. 112. 22) Bernd Hoppe