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„Complete Songs“ von Johannes Brahms: Mit ihrer neuen Edition ist Naxos nun bei Vol. 2 angelangt (8.574345). Die CD enthält die ersten fünf Hefte der Deutschen Volkslieder, bei denen es sich um Bearbeitungen überlieferter Vorlagen handelt. Mit den Quellen beschäftigt sich Ulrich Eisenlohr, der Klavierbegleiter der Edition, im Booklet. Brahms habe sich vor allem aus der Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen“ der Volksliedforscher Andreas Kretzschmer (1775-1839) und Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1803-1869) bedient, die etwas siebenhundert Titel aus dem deutschsprachigen Raum umfasst. Zuccalmaglio, der dreißig Jahre nach Kretzschmer starb, sei es in seiner Forschung „nicht um eine wissenschaftliche Rekonstruktion akribisch gesammelter und konservierter Volksweisen, unabhängig von jeder künstlerischen Qualität gegangen“. Vielmehr habe er Wert auf den „Geist“ des Volksliedes gelegt, wozu Eisenlohr „Ursprünglichkeit, Einfachheit, Klarheit, Tiefe, Wahrhaftigkeit im Inhaltlichen wie im Musikalischen“ zählt. Diese Herangehensweise sei von Brahms mit ganzem Herzen unterstützt worden. Zuccalmaglio veröffentlichte Texte und Melodie. „Brahms‘ künstlerischer Beitrag besteht im Hinzufügen einer Klavierbegleitung. Er begnügte sich dabei keineswegs mit dem Unterlegen simpler Begleitfiguren und akkordischer Grundierungen. Es herrscht große Vielfalt an Ausarbeitungen des Klavierparts“, so der Pianist. Alle Lieder, die Brahms bearbeitet habe, handelten von Geschichten, die das Leben schreibe. Auch wenn die äußerlichen Situationen, die Berufe der handelnden Personen und die Sprache „uns heute antiquiert klingen“, seien Inhalte, die sich um Liebeserklärungen und -abweisungen, Treueschwüre und -brüche, zu Herzen gehende und vergiftete Komplimente, Verführungsversuche, Sex ohne Einverständnis oder Tod in der Blüte des Lebens drehten, immer aktuell.
Insofern macht es Sinn, dass sich junge Sänger, die noch am Beginn ihrer Karriere stehen, diesen Liedern zuwenden und dabei ihren eigenen Erfahrungen und Empfindungen einbringen. Teilen sich in den meisten Aufnahmen zwei Solisten in die Sammlung, wartet Naxos gleich mit vier in unterschiedlichen Stimmlagen auf: Alina Wunderlin (Sopran), Esther Valentin-Fieguth (Mezzosopran), Kieran Carrel (Tenor) und Konstantin Ingenpaß (Bariton). Dadurch kommt eine gewisse theatralisch-singspielartige Atmosphäre auf, die ihren ganz besonderen Reiz hat. Wer wird das nächste Lied singen? Und wie im Flug ist die CD auch schon an ihr Ende gekommen. Musikalisch gelingt schon der Einstieg effektvoll. Eisenlohr betont ihn so, als würde an eine Tür geklopft, hinter der sich diese ganz eigene Welt wie eine große poetische Erzählung auftut: „Sag mir, o schönste Schäf’rin mein“, lässt sich der Tenor vernehmen. Alle Solisten sind sehr gut zu verstehen, was für Lieder wie diese mit ihren gelegentlichen mundartigen Einlassungen unabdingbar ist.
Startet eine Firma eine neue Gesamtaufnahme aller Brahms-Lieder ist dies immer noch ein besonderes Ereignis auf dem Musikmarkt. Zuletzt legte Hyperion aus London so eine Edition mit insgesamt 249 Titeln einschließlich der Volksliedbearbeitungen vor. Diese abgezogen beläuft sich die einschlägige Abteilung im Schaffen des Komponisten auf etwa 200 originäre Lieder. Mit Vol. 1 hatte Naxos den ersten Schritt für eine eigene Produktion getan. Diese CD wurde von Christoph Prégardien bestritten, begleitet von Eisenlohr (8.57428). Beide sind auf dem weiten Feld des Liedgesangs ausgewiesene Fachleute und bringen die für das Vorhaben notwendige Erfahrung und Prominenz mit. Die Diskographie des 1956 geborenen Tenors Prégardien ist lang und umfasst neben Liedern auch Oratorien und Opern. Eisenlohr, Jahrgang 1950, begleitete bei Naxos schon Schubert-Lieder und wirkt als Professor für Liedgestaltung an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz. Er beschäftigt sich auch in theoretischen Schriften mit Musik und arbeitete ebenfalls an der Schubert-Edition mit.
Mit der Programmauswahl auf der ersten CD wurde viel Pulver verschossen. Das Beste nicht zuletzt, sondern zuerst. In den Werkgruppen Opus 32, 43, 86 und 105 finden sich mehrere der bekanntesten Lieder von Brahms. Gleich an erste Stelle steht – einem Programm gleich – aus den Vier Gesängen Op. 43. Von ewiger Liebe, für mich ein Gipfel der hochromantischen Liedkunst. Eisenlohr gelingt es, diese – wie er schreibt – „abendlich ruhige Landschaft“ noch vor dem Einsatz des Sänger musikalisch so eindrücklich darzustellen als sei er Maler und nicht Pianist. Prégardien folgt ihm mit einer ehr schlichte Vortragsweise, stets bemüht, einen volksliedhaften Ton zu finden. Es folgt die ähnlich angelegte Mainacht. Zu hören sind des weiteren Feldeinsamkeit, Wie Melodien zieht es mir, Immer leiser wird mein Schlummer, Auf dem Kirchhofe, Wie bist du, meine Königin. Der Liedsänger Christoph Prégardien legt größten Wert darauf, auch mit dem Wort zu überzeugen. Wer die Texte näher besehen oder beim Hören mitlesen möchte, findet sie auf Naxos.com. Sie können in der Originalsprache sowie in englischer Übersetzung heruntergeladen werden. Die genaue Seite ist auch diesmal auf der CD-Hülle angegeben. Ein – wie ich finde – Papier sparender und praktischer Service, an dem man sich bei dieser Firma inzwischen gewöhnt hat. Aufgenommen wurde die neue CD 2021 ebenfalls im nach dem Dirigenten Hans Rosbaud benannten Studio des SWR in Baden-Baden. Rüdiger Winter