Authentizität in historischem Klang

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Von einem Komponisten selbst dirigierte Einspielungen seiner Werke genießen ein besonderes Maß an Authentizität. In relativ wenigen Fällen liegen der Nachwelt derartige Beispiele von im späten 19. Jahrhundert sozialisierten Tonschöpfern vor, denkt man beispielsweise an Richard Strauss, Jean Sibelius oder Edward Elgar. Ralph Vaughan Williams, geboren 1872 und gestorben 1958, fällt fraglos in diese Kategorie. In England einer der beliebtesten Komponisten und häufig auf den Konzertprogrammen, fristet er auf dem Kontinent bis heute eher ein Schattendasein. An Aufnahmen besteht freilich kein Mangel, was maßgeblich an der hohen Wertschätzung in der angelsächsischen Welt seit der Frühzeit der elektrischen Tonaufnahme liegt. Das britische Label Somm bringt nun, pünktlich zum 150. Geburtstag von RVW, eine weitere Disc in ihrer Reihe Vaughan Williams Live (SOMM Ariadne 5019-2).

Die Doppel-CD umfasst insgesamt vier Werke, darunter zwei der beliebtesten seiner Sinfonien, die London Symphony (Sinfonie Nr. 2) und die Sinfonie Nr. 5, letztere sogar doppelt. Hinzugesellt sich die Kantate Dona nobis pacem. Die dirigentischen Fähigkeiten des Komponisten Vaughan Williams sind heutzutage in Vergessenheit geraten. Die nun erhältlichen Aufnahmen legen von der Qualität Zeugnis ab. A London Symphony hat Vaughan Williams nie im Studio eingespielt, so dass dieser Mitschnitt von den BBC Proms vom 31. Juli 1946 – idiomatisch mit dem London Symphony Orchestra – eine absolute Rarität darstellt. Er beruht auf seiner Letztfassung von 1936, die um etwa 15 bis 20 Minuten kürzer ausfällt als jene der Uraufführung von 1914. Die fünfte Sinfonie liegt in der Weltpremiere vom 31. Juli 1943 sowie in einem neun Jahre später, vom 3. September 1952 erhaltenen Mitschnitt vor, beide Male ebenfalls von den Proms in der Londoner Royal Albert Hall und da wie dort mit dem London Philharmonic Orchestra. Die Unterschiede sind teils ziemlich erstaunlich, wählt der Komponist-Dirigent 1952 in jedem der vier Sätze doch ein langsameres Tempo, so dass sich die Gesamtspielzeit mit gut 37 Minuten insgesamt fast vier Minuten länger ausnimmt. Das Chorwerk Dona nobis pacem schließlich ist in der ersten Rundfunkübertragung aus den BBC Studios in London von November 1936 überliefert, die einen Monat nach der Uraufführung vom 2. Oktober des Jahres mit denselben Solisten Renée Flynn (Sopran) und Roy Henderson (Bariton) erfolgte, zu denen sich BBC Symphony Orchestra & Chorus gesellten.

Ist man des erheblichen Alters des Ausgangsmaterials und der technischen Schwierigkeiten gerade der Live-Aufzeichnung eingedenk, so erscheint die Klangqualität insgesamt brauchbar, wenngleich weit entfernt von audiophilen Ansprüchen und für RVW-Anfänger gewiss nicht geeignet. Die alle vier bis fünf Minuten notwendig gewordenen Plattenwechsel mit dadurch entstehenden kurzen Unterbrechungen bei den Live-Mitschnitten aus den 1940er Jahren sind in den Tracks der ersten CD minutiös abgebildet. Für das Remastering zeichnet der auf Klangrestauration spezialisierte Toningenieur Lani Spahr verantwortlich, der auch die 1952er Aufnahme der Sinfonie Nr. 5 mit neuem Material vervollständigen konnte. Die informativen Einführungstexte von Simon Heffer, Alan Sanders und Andrew Neill werden durch den abgedruckten Text der Kantate vervollständigt. Ein kleiner Wermutstropfen ist die Tatsache, dass keine deutschsprachige Übersetzung beigegeben wurde. In Summe eine Neuerscheinung für fortgeschrittene Bewunderer des Komponisten (und Dirigenten) Ralph Vaughan Williams. Daniel Hauser