Archiv für den Monat: Januar 2014

Antonio Mazzonis „Antigono“

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Das gibt es auch längst nicht mehr alle Tage: eine Weltpremiere auf CD einer so gut wie unbekannten Oper wenn auch als Aufzeichnung – im Januar 2011 im Centro Cultural de Belem von Lissabon für das Label Dynamic aus Genua aufgenommen. Es handelt sich um Antonio Mazzonis  Antigono, der nichts zu tun hat mit der aus Geschwisterliebe die Gesetze des Staats missachtenden Antigonae, auch wenn in der Oper eine Ismene, also Trägerin des Namens der Schwester Antigonaes, vorkommt. Der Aufnahmeort  Lissabon ist nicht zufällig, sondern wohl bewusst gewählt, denn hier erlebte das Werk 1755 im prächtigsten Theater Europas, der Ópera de Tejo, seine Uraufführung, ehe kurz danach am 1.11. das bekannte Erdbeben die Stadt mitsamt dem Opernhaus zerstörte. Mit vielen anderen Bewohnern verließ der in Bologna geborene Komponist die Stadt fluchtartig, weilte für kurze Zeit in Madrid, ehe er in seine Heimatstadt zurückkehrte, wo er als angesehener Musiker bis zu seinem Tode 1785 lebte. Er gehörte zu der Kommission, die über die Zulassung Mozarts zum musikalischen Leben Bolognas befand, gab ein Gastspiel in Petersburg und schrieb neben anderen Kompositionen allein 19 Opern, von denen die meisten verschollen sind.

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Antigono ist in ihrem Aufbau eine typische Oper des Spätbarock an der Wende zum Klassizismus. Es gibt nur ein Duett, ansonsten begegnen sich die Personen nur in den Rezitativen, die von Da-Capo-Arien gefolgt sind. Dabei tauchen die gebräuchlichen Bravourarien als  aria d‘ agilità, aria di vendetta, di guerra, di sdegno oder andere auf. Sämtliche Rollen wurden von Kastraten gesungen, auf der CD wird die Titelpartie von einem lyrischen Tenor, sein Gegenspieler von einem Countertenor, alle anderen werden von Frauen vertreten. Im Mittelpunkt der Handlung steht trotz des Titels die ägyptische Prinzessin  Berenice, die von zwei Königen und einem Königssohn begehrt wird und nur letzteren liebt. Das führt zur Verbannung des Prinzen Demetrio von Macedonien durch seinen Vater Antigono, der vom Rivalen König Alessandro von Epiro angegriffen wird, der wiederum von der macedonischen Prinzessin Ismene geliebt wird.  Der Prinz von Homburg lässt grüßen, wenn wir erfahren, dass Demetrio für seinen Vater die Schlacht gegen Alessandro anders als Homburg verliert, weil er entgegen dessen Befehl eine eigenständige Kriegsführung bevorzugte. Antigono wird Gefangener Alessandros, der ihn freilassen will, wenn Berenice ihn heiratet. Aber selbst nach einem Sieg der Macedonier bleibt Antigono im Kerker. Nachdem Demetrio im letzten Moment vom Selbstmord abgehalten wurde, kehrt Vernunft ein, die die auftraggebenden Könige der Aufklärung gern auf der Bühne sahen, und Demetrio darf Berenice, Ismene Alessandro heiraten, Antigono übt weisen Verzicht.

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Ein großer Gewinn für die drei CDs ist das Orchester, der Divino Sospiro unter Enrico Onofri, das mit Frische, Esprit,  Nachdruck und Stilsicherheit die Musik Mazzonis zu Gehör bringt. In zwei Tracks neben der Ouvertüre ist es nicht nur Begleiter, einer marcia di guerra und einem Intermezzo mit Harfe. Der Tenor Michael Spyres hat es nicht leicht mit der Partie des Antigono, in der es von Intervallsprüngen und Koloraturen wimmelt. In der Höhe fühlt sich die Stimme eher wohl als bei den Salti in die Tiefe, in den wichtigen Rezitativen kann er sein bemerkenswertes Verständnis für diese Art Musik demonstrieren. Einen satten, vollen, dunklen Countertenor hat Martin Oro für den Alessandro, eine charaktervolle Stimme, die sich besonders wohl in „Sai qual ardor m‘accende“ zu fühlen scheint. Den Prinzen Demetrio singt Pamela Lucciarini, die ihrer leichten Stimme durch nachdrückliches Singen vokales Gewicht verleiht, und deren Geschmeidigkeit sie in „Già che morir degg’io“ unter Beweis stellt. Den Freund Clearco singt Maria Hinojosa Montenegro mit leichter Stimme und entsprechender Mühelosigkeit für die Presti in „Guerrier, che i colpi affretta“. Die beiden Damen sind als Berenice mit Geraldine Mcgreevy in wärmerer, reiferer  und Ismene mit Ana Quintans in zarterer, frischer vokaler Hand. In einer Zeit des Wiederauflegens alter Aufnahmen oder der Übernahme aus dem Fernsehen ist das Einspielen eines solchen Werkes immer eine lobenswerte Tat (3 CDs Dynamic 7686 1/3). Ingrid Wanja (oben Michael Spyres/Foto Marco Borelli/Erato)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Spätromantisches im Paket

Sammelboxen zu rezensieren sind nicht immer eine Freude. Man muss sich „gezwungenermaßen“ durch viele CD’s durchhören, auch wenn man keine besondere Affinität zu der zu besprechenden Musik hat. Manchmal aber kann es dazu führen, einen Komponisten für sich zu entdecken. Wie in meinem Fall Gabriel Fauré. Brilliant Classics hat den Fundus verschiedener Firmen geplündert und auf neunzehn CD’s einen Großteil seiner Werke in einer Kassette zusammengefasst. Besondere Aufmerksamkeit verdient die erstmals in Deutschland veröffentlichte Rundfunkaufnahme der von Désiré-Emile Inghelbrecht mit magischer Sogkraft aufregend dirigierten Oper Pénélope aus dem Jahr 1956. In der Titelrolle überwältigt die majestätische, jede Gefühlsregung vokal nachzeichnende Régine Crespin. Raoul Jobin steht ihr mit leidenschaftlichem, strahlendem Tenor als Ulysse nicht nach. Großes Format hat auch der balsamische Eumée von Robert Massard. Das übrige Ensemble ist mit versierten französischen Solisten besetzt.

Es gibt weitere vokale Leckerbissen (und hier handelt es sich um bekannte Wiederauflagen aus anderen Firmenkatalogen). Auf vier CDs glänzen Elly Ameling und Gérard Souzay, begleitet von Dalton Baldwin, mit einer umfangreichen Auswahl der Mélodies. Zum reizvollen Vergleich bietet sich der Zyklus La bonne chanson an, der sowohl von Souzay mit Klavierbegleitung vorliegt, als auch in der Fassung für Streichquartett und Piano, von Sarah Walker mit sinnlich ausdrucksstarkem Mezzosopran gesungen. Zwei CD’s widmen sich geistlicher Musik: in schönster Harmonie trägt die Groupe Vocal de France unter John Alldis  verschiedene kürzere Sakralgesänge vor, im Requiem unter der Leitung von Colin Davis beseelt Lucia Popp das berühmte „Pie Jesu“.

Auf vier CD’s kann man sich an den von Jean-Philippe Collard feinnervig und farbenreich gespielten Klavierstücken delektieren, auf ebenso vielen die Kammermusik in verschiedenen Besetzungen kennenlernen. Orchestrales in den Interpretationen von Serge Baudo und Moshe Atzmon runden die inspirierende Sammlung ab, deren Inhalt wunderbar geeignet ist, um in Faurés Klangwelt einzutauchen.

Das Kontrastprogramm zu der feinen, sublimen Kompositionskunst des Franzosen bieten die opulenten Werke von Richard Strauss, die Warner Classics in der Box The Other Strauss aus seinem Katalog zusammengestellt hat- nach dem kompletten sinfonischen Schaffen und den großen Opern der dritte Teil einer ihm gewidmeten Reihe. Sie enthält hauptsächlich nicht so Gängiges und viel Pompöses und Monumentales. In schönster Klangqualität erklingen die Chorwerke Taillefer  und Wandrers Sturmlied, beide vom Ernst Senff Chor in voller Pracht dargeboten und von Michel Plasson gut austariert dirigiert. Felicity Lott, Michael Volle und Johan Botha, der keine Mühe hat, die Orchesterfluten stimmschön zu übertönen, sind das illustre Sängertrio für die kurzen Soloeinwürfe in Taillefer. Strauss- Koryphäe Wolfgang Sawallisch dirigiert das bombastische Festliche Präludium, Jeffrey Tate, mit dem Komponisten ebenso vertraut, Sinfonisches aus den Opern Guntram, schweigsame Frau und Frau ohne Schatten. Der Rundfunkchor Stockholm brilliert a-capella mit Abseitigem wie Die Göttin im Putzzimmer und Vertracktem wie der sechzehnstimmigen Deutsche Motette. Zu entdecken ist der Kammermusiker mit den süffigen Sonaten für Violine (Vadim Repin) und Cello (Mstislav Rostropovich) und dem anregenden Rosenkavalier-Walzer, bearbeitet für Violine (Renaud Capuçon) und Klavier (Frank Braley). Eine abwechslungsreiche Kollektion, die Strauss zum anstehenden 150. Geburtstag nicht auf den üblichen Pfaden würdigt.

Karin Coper

Gabriel Fauré: Edition; Brillant Classic, 94750, 19 CDs

The Other Strauss: Warner Classics256463492-8, 3 CDs

Der „französische Mendelssohn“:

 

Unter dem Titel „Grenzgänger zwischen Deutschland und Frankreich“ widmete der Palazzetto Bru Zane dem Komponisten Théodore Gouvy (1819-1898) in der Saison 2012/13 zwei Festivals in Paris und Venedig. Nun erscheint das CD-Buch mit drei CDs, zahlreichen Ersteinspielungen und weiterführenden Essays. Der im heutigen Saarland geborene Théodore Gouvy ist ein Exempel für die aufreibende deutsch-französische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Zeit seines Lebens pendelte er zwischen Musikmetropolen wie Paris und Leipzig. Zwar wurde sein künstlerisches Schaffen in beiden Ländern wertgeschätzt, dennoch fühlte sich der Komponist hier wie dort fremd. Sowohl deutsche als auch französische musikalische Einflüsse jener Zeit sind in seinem Werk erkennbar – diese Melange trug vermutlich zu seiner künstlerischen Handschrift bei. Zu Lebzeiten feierte der „französische Mendelsohn“ große Erfolge, danach geriet er jedoch in Vergessenheit. Die schöpferische Bandbreite Gouvys, von Kammermusik, sinfonischen und geistlichen Werken, wird anhand der vorliegenden Aufnahmen deutlich. Der Palazzetto Bru Zane – Centre de musique romantique française erforscht die französische Musik des langen 19. Jahrhunderts (1780-1920) und fördert deren Wiederentdeckung auf CDs und in Konzertsälen. Die neue Reihe „Portraits“ widmet sich heute unbekannten französischen Komponisten mit dem Ziel, die Vielfalt des französischen Œuvre aufzuzeigen./ophelias

 

Théodore Gouvy (1819-1898): Kantaten, sinfonische Werke, Kammermusik (Sinfonietta; Fantaisie pastorale für Violine und Orchester; La Religieuse – Kantate für Mezzosopran und Orchester * Serenaden für Klavier (Auszüge); Le Giaour – Ouvertüre nach Byron; Jeanne d’Arc – Erste Konzertouvertüre op. 13 * Le Festival – Zweite Konzertouvertüre op. 14 * Streichquartett in a-Moll op. 56 Nr. 2; Trio für Violine, Violoncello und Klavier Nr. 4 G-Dur op. 22 Streichquartett Nr. 5 c-moll op. 68 mit Orchestre Philharmonique Royal de Liège (Chr. Arming) / Orchestre National de Lorraine (Jacques Mercier) /Quatuor Cambini-Paris / Quatuor Parisii / Trio Arcadis / Emmanuelle Swiercz, Klavier / Clémentine Margaine, Mezzosopran (*Weltersteinspielung) 3 CDs, Aufsätze; Ediciones Singolares ISBN 978-84-939-6867-0

„Rheingold“ im Doppelpack

Fast zeitgleich wurden die beiden vorliegenden Aufnahmen von Richard Wagners Das Rheingold eingespielt, die St. Petersburger Produktion (Mariinsky MAR 0526) entstand im Studio, die Berliner ist der Mitschnitt einer Live-Aufführung in der Philharmonie (Pentatone PTC 5186 406). In beiden Fällen handelt es sich um Teile eines kompletten Ringes. Sowohl Marek Janowski als auch Valery Gergiev, dessen Aufnahme noch nicht komplett vorliegt, stehen ausgezeichnete Orchester zur Verfügung, die sich auf durchaus ebenbürtigem Niveau bewegen. Janowski verfügt allerdings über die ungleich längere und intensivere Erfahrung mit Wagner. Seine in den Achtzigern entstandene Studio-Aufnahme mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden, damals noch eine Deutsch/Deutsche Koproduktion, hat bis jetzt trotz einiger Schwächen in der Besetzung Referenzcharakter.

Was Janowski bewogen hat, trotz des heute eklatanten Mangels an geeigneten Wagnersängern noch einmal den gesamten Ring mit seinem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin auf Tonträger zu bannen, bleibt sein Geheimnis. Er besitzt ohne Zweifel eine gute Hand für Wagner, die Struktur der Musik und die Erzielung großer Wirkung durch gut vorbereitete Höhepunkte. Aber  Wagner muss auch gesungen werden, und das besser nicht von Sängern mit ungeeigneten Stimmen. Mag der Wotan von Tomasz Konieczny stimmlich noch auf der Habenseite stehen, verdirbt er viel mit seiner mehr als gewöhnungsbedürftigen Diktion. Christian Elsner ist bei aller Wortdeutlichkeit ein doch deutlich zu kleinstimmiger Loge. Am ehesten überzeugen noch die beiden Riesen, Günther Groissböck (Fasolt) und Timo Riihonen (Fafner). Blass und untergewichtig bleiben Antonio Yang (Donner), Kor-Jan Dusseljee (Froh), Andreas Conrad (Mime). Der Alberich von Jochen Schmeckenbecher beginnt ausgezeichnet, fällt gegen Ende aber deutlich ab. Nicht viel besser ist es um die Sängerinnen bestellt. Iris Vermillon (Fricka), Ricarda Merbeth (Freia), Maria Radner (Erda) und die Rheintöchter Julia Borchert, Katharina Kammerloher und Kismara Pessatti singen alle rollendeckend und insgesamt recht ordentlich, einen starken positiven Eindruck kann aber keine hinterlassen. Insgesamt eine Aufnahme, der die prägenden Rollenporträts vollkommen fehlen, und die im Gesamteindruck eher blass bleibt.

Rheingold (Gergiev)Noch erheblicher macht sich die Abwesenheit geeigneter Sänger in der Einspielung Gergievs bemerkbar. Zwar holt er sich mit René Pape einen idiomatisch sauber singenden Wotan ins Studio, der aber als Figur insgesamt sehr blass und glanzlos bleibt. Der zweite deutsche Import, Stephan Rügamer als Loge ist sogar eine eklatante Fehlbesetzung. Auch hier sind es wieder die Riesen, die am ehesten punkten können. Evgeny Nikitin (Fasolt) und Mikhail Petrenko (Fafner) sind ausgesprochen authentische Raubeine. Der Rest der Besetzung ist ihren Rollen weder idiomatisch noch stimmlich gewachsen. Der Alberich Nikolai Putilins gerät geradezu zu einer Parodie seiner Rolle, an Unverständlichkeit wetteifert er mit den Rheintöchtern Dombrovskaya, Vasileva, und Sergeeva. Die sonst so zuverlässige Ekaterina Gubanova als Fricka singt eben so unschön und tremololastig wie Viktoria Yastrobova (Freia) und Zlata Bulycheva (Erda). Die Freigabe dieser Aufnahme kann auch nur durch des Deutschen nicht Mächtige erfolgt sein. Da können auch Gergievs zugegeben sehr gutes Dirigat und das konzentriert spielende Mariinski Orchester nichts mehr retten, das ist Wagner zum Abgewöhnen!

Peter Sommeregger

„Magie live erleben!“

Er hat mit den Topstars der Opernszene gearbeitet und setzt sich vehement für Neue Musik ein, ganz aktuell beispielsweise für Mark Andres „wunderzaichen“ (Uraufführung im März 2014): Mit Sylvain Cambreling (65), dem Generalmusikdirektor der Oper Stuttgart, unterhielt sich Hanns-Horst Bauer über Provokationen, Bühnenintelligenz und Kulturpolitik.

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Gleich drei wichtige Dirigentenposten hier in Baden-Württemberg sind mit französischen Maestri besetzt. Stéphane Denève beim SWR-Sinfonieorchester in Stuttgart, François Xavier Roth in Baden-Baden und Freiburg und Sie an der Oper Stuttgart. Wie erklären Sie sich diese französische „Übermacht“? Ich glaube nicht, dass da eine Strategie dahintersteckt, es ist sicher reiner Zufall. Bemerkenswert ist allerdings, dass diese drei Dirigenten sehr wenig in Frankreich dirigieren. Ich dirigiere überhaupt nicht mehr in Frankreich, obwohl meine Karriere ja dort begonnen hat. Mit französischen Orchestern und dem französischen Publikum hatte ich eigentlich schon immer Probleme. Wenn ein Franzose einen Großteil seiner Karriere außerhalb von Frankreich macht, dann nimmt man ihm das ein wenig übel. Aber ich muss ganz klar bekennen, ich fühle mich nicht als Franzose, sondern als Europäer.

Sie haben 1998 bei den Salzburger Festspielen in Mozarts „Hochzeit des Figaro“ bei den Rezitativen das Cembalo durch einen Synthesizer ersetzt. Das wurde in Salzburg wie danach auch  bei der Wiederaufnahme der Produktion in Paris als Skandal empfunden. Wollten Sie das Publikum ganz bewusst provozieren? Nein, ganz bestimmt nicht! Auf der Opernbühne können und dürfen Regisseure sehr viel wagen, wohingegen im Orchestergraben musikalisch alles immer gleich ablaufen muss. Aber in einer modernen Produktion dieser Mozart-Oper muss man auch mal die sich doch etwas in die Länge ziehenden Rezitative hinterfragen dürfen, ohne das gleich zum Modell machen zu wollen. Das Publikum sollte sie nicht als bloße Wartezeit auf die nächste Arie empfinden. Nach dieser Aufführung hat man mehr über die Rezitative diskutiert als über die ganze Aufführung. Ich versuche, das Stück, das wir machen, echt und glaubwürdig, jenseits von Routine zu musizieren. Denn es gibt in jedem Musikstück ein Geheimnis, etwas, was wir noch nicht entdeckt haben. Mir kommt es darauf an, dem Publikum die Musik nahezubringen und zu zeigen, welche Gefühle sie heute in uns provozieren kann.

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sie sind jetzt in der zweiten Spielzeit Generalmusikdirektor der Oper Stuttgart. Was hat Sie gerade an diesem Haus  gereizt? Stuttgart war in der Opernlandschaft schon immer etwas ganz Besonderes. Als Opernintendant Jossi Wieler mich gefragt hat, ob ich Lust auf das Amt des GMD hätte, habe ich deshalb auch ganz spontan Ja gesagt. Ich hatte den Eindruck, dass hier eine ganz besondere, eine „gesunde“ Atmosphäre herrscht. Stuttgart ist ein Haus mit einem sehr großen, breit angelegten Repertoire, wo die Produktionen nicht blockweise gespielt werden, sondern parallel auf dem Spielplan stehen, sodass die Gefahr eines „Herunterspielens“ gar nicht erst aufkommen kann. So etwas funktioniert allerdings  nur mit einem richtigen Ensemble. Und damit meine ich das ganze Haus. Für mich gehört dazu, dass ich neben meinen anderen Verpflichtungen sechs Monate in der Saison in Stuttgart bin. Schließlich dirigiere ich hier nicht nur Premieren, Repertoire-Aufführungen und Konzerte, sondern fühle mich insgesamt für die Musik am Haus verantwortlich.

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sind Jossi Wieler und sein Chefdramaturg Sergio Morabito für Sie auch das Regie-„Dreamteam“, als das sie oft bezeichnet werden? Wohl schon, denn wir sind alle neugierig, Routine kommt da nicht auf. Vor allem aber steht bei unserer gemeinsamen Arbeit der Mensch im Mittelpunkt. Wir fragen uns bei jeder Inszenierung, was das Stück über uns erzählt, so wie jetzt auch bei dem von Andrea Moses neu inszenierten „Falstaff“ von Giuseppe Verdi.

Was erwarten Sie von den Sängern? Die Zeiten der großen Diven sind vorbei. Heute werden an die Sänger ganz andere Anforderungen gestellt. Nur an der Rampe stehen und schön singen, das reicht schon lange nicht mehr aus. Heute müssen die Sänger über die Rollen, die sie verkörpern, auch nachdenken. Da sind Bühnenintelligenz und Charakter gefragt.

Sie haben mit vielen Top-Stars zusammengearbeitet, bei Mozarts „Don Giovanni“ auch mit Anna Netrebko an der New Yorker Met. Wie sehen Sie den Starkult, der mit ihr und neuerdings auch mit Jonas Kaufmann und anderen getrieben wird? Anna Netrebko war und ist immer noch eine ganz unkomplizierte Person und eine wunderbare Sängerin. Mit Jonas Kaufmann habe ich schon viel gemacht, aber für Stuttgart, wo er  früher auch regelmäßig gesungen hat, ist er jetzt leider nicht mehr bezahlbar. Kaufmann gehört heute ganz sicher zu den besten Tenören der Welt; aber ich will nicht immer die gleiche Person mit der gleichen Frisur auf der Bühne sehen. Egal, was er singt, Kaufmann ist auf der Bühne immer nur Kaufmann. Das ist ähnlich wie bei Pavarotti, nur sieht Kaufmann besser aus.

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Kann man mit solchen Stars, die es sogar bis in die Popcharts schaffen, Begeisterung für die Gattung Oper wecken? Wirklich begeistern und überzeugen kann man die Leute nur, wenn sie zu uns ins Opernhaus kommen und diese Magie, diesen Klang live erleben. Gerade junge Leute sind dann, diese Erfahrung habe ich gemacht, immer wieder fasziniert und können es kaum glauben, dass Stimmen ohne Mikrophon und Verstärker ganz locker einen so großen Raum füllen können.

 Weitaus schwieriger dürfte es sein, Menschen für die Musik der Gegenwart zu begeistern, für die Sie sich seit vielen Jahren  nicht nur bei den Donaueschinger Musiktagen einsetzen. Auch diese neue Musik muss man live erleben. Leider haben viele Orchester sie in den vergangenen Jahrzehnten mit wenig Begeisterung und deshalb schlecht gespielt. Das Publikum hat das vielleicht nicht wirklich gehört, aber doch gespürt und gesehen. Ich erwarte vom Orchester genau das, was es vom Dirigenten erwartet: Die größten Meister sind nicht die Musiker und nicht die Dirigenten, sondern die Komponisten selbst. Für die müssen wir Emotionen spüren und produzieren, Lust auf die Musik haben und vibrieren. Und der Dirigent muss optimal vorbereitet sein, Charisma ausstrahlen und vor allem eine perfekte Dirigier-Technik haben.  Das alles ist extrem schwierig, und das Lernen ist eigentlich nie zu Ende. Wenn man am Pult den Kopf nur in der Partitur hat, dann hat man keine Chance. Die Musiker wollen Blickkontakt, wollen etwas lernen. Dabei sollte man so wenig wie möglich mit Worten erklären, am wichtigsten sind die Arm- und Handbewegungen. Der Gestus produziert den jeweils ganz persönlichen Klang eines Dirigenten.

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Wie sind Sie eigentlich zur Musik gekommen? Ich stamme aus einer richtigen Musikerfamilie. Meine Großmutter war Opernsängerin, mein Großvater Fagottist und meine Mutter Klavierlehrerin. So haben meine acht Geschwister und ich schon sehr früh gemeinsam musiziert. Zunächst habe ich Posaune, Tuba, Kontrabass und Schlagzeug gespielt, wusste aber bis zum Alter von 17 Jahren noch nicht, ob ich nun Musiker oder doch lieber Schauspieler werden sollte. Als Posaunist im Orchester habe ich dann bei manchen Dirigenten gedacht, so wie die kann ich das auch. So habe ich dann Dirigieren studiert und im Verlauf nur eines Jahres in Rekordzeit mein Diplom geschafft.

Das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg haben Sie verlassen, als noch nicht bekannt war, dass es mit dem Orchester in der Landeshauptstadt zusammengelegt werden sollte. Was empfinden Sie bei dieser Fusion? Ich bin wütend und sehr traurig. Empört hat mich vor allem, dass mit meinem Nachfolger in Baden-Baden und mit dem Nachfolger von Sir Roger Norrington in Stuttgart Verträge abgeschlossen wurden, ohne sie über die Fusions-Absichten zu informieren. Wenn die Politik jetzt auch noch rigoros an den Musikhochschulen des Landes den Rotstift ansetzt, dann zeigt das, welchen Stellenwert die Kultur mittlerweile in Deutschland einnimmt. Für den Sport wird viel Geld locker gemacht, für Kultur leider nicht. Ich bin enttäuscht und entsetzt.

 

 

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Biographie Sylvain Cambreling, 1948 in Amiens (Frankreich) geboren, wurde nach Studien in seiner Heimatstadt und am Conservatoire de Paris Co-Direktor der Opéra Nouveau Lyon. 1978 gab er mit Jacques Offenbachs Les contes d`Hoffmann sein Debüt an der Opéra National de Paris. Von 1981 bis 1991 war er Generalmusikdirektor des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel und danach, von 1993 bis 1997, GMD und Künstlerischer Intendant an der Oper Frankfurt. Wegen „Inkompetenz und Gleichgültigkeit“ der Kulturpolitiker verließ er Frankfurt und wurde  1999 Chefdirigent des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. 2012 übernahm er als Nachfolger von Manfred Honeck das Amt des Generalmusikdirektors der Oper Stuttgart. Hier war er in der Saison 2013/14 für die Neuinszenierungen von Falstaff, Tristan und Isolde und für die Uraufführung von Mark Andres wunderzaichen (sic) verantwortlich. Cambreling gastierte unter anderem regelmäßig bei den Wiener und  den Berliner Philharmonikern, beim BBC Symphony Orchestra und dem Cleveland Orchestra sowie bei den Salzburger Festspielen. Seit 1997 ist er Erster Gastdirigent beim auf Neue Musik spezialisierten Klangforum Wien und seit 2010 Chefdirigent des Yomiuri Nippon Symphony Orchestra in Tokyo. 2012 erhielt er das Bundesverdienstkreuz für seine „überragenden künstlerischen Leistungen, die das Musikleben Baden-Württembergs und der Bundesrepublik unermesslich bereichert haben“. hhb 

 

 

 

Fotos: Hanns-Horst Bauer

Die Vögel zwitschern in Stereo

In der Krabbelkiste auf einem Flohmarkt fiel mir vor Jahren eine Electrola-Single in die Hände, die meine Aufmerksamkeit weniger durch das Werk als vielmehr durch das Cover auf sich zog. Es zeigt einen verehrten Sänger in gewagter Gewandung, nämlich in kurzer Lederhose, dazu noch in Hockstellung, in der niemand gut aussieht: Josef Traxel als Vogelhändler Adam! Diese Platte hatte Seltenheitswert. Inzwischen weiß ich sehr gut, dass sie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich – also der Musik wegen – von einiger Bedeutung ist. Das unverhoffte Wiedersehen und Wiederhören mit der fast sechzig Jahre alten Aufnahme beschert eine Operettensammlung mit sechs CDs, die bei Warner Classics erschienen ist (50999 4 31280 2 0). Der ursprüngliche Produzent, zwischenzeitlich mit der EMI fusioniert, ist nun unterm Dach von Warner gelandet, die alten ruhmreichen Namen der alten Labels sind verflogen, die der Mitwirkenden nicht. Traxel bleibt Traxel, egal unter welchem Firmenzeichen. Auch Anneliese Rothenberger bleibt, wer sie ist, und Rudolf Schock und Hermann Prey, Erika Köth, Fritz Wunderlich, Nicolai Gedda, Marcel Cordes oder Benno Kusche. Sie alle wirken in diesen Querschnitten mit, sie alle bleiben auch in der Erinnerung unabhängig. Sie sind alle auf ihre unverwechselbare Weise zu Eigenmarken geworden.

„Glücklich ist, wer vergisst . . .“ Das berühmte Zitat auf der Fledermaus von Johann Strauss will zwar nicht zu dem eben Gesagten passen. Es ist auch gegenläufig zu den wunderbaren Erinnerungen, die angesichts dieser alten Querschnitte wach werden. Das Zitat in dieser Verwendung als Motto der Box ist zwar gut gemeint, in Wahrheit aber ein Irrtum, weil es Operette zu dem macht, was sie nie sein wollte und auch nie war, nämlich Traumland, Ort des Vergessens. Operette ist frech, unanständig, an Tabus kratzend – und zumindest aus heutiger Sicht politisch oft gar nicht korrekt.

Josef Traxel als Vogelhändler Adam auf einem Cover in der Box

Josef Traxel als Vogelhändler Adam auf einem Cover in der Box

Elf Operetten  sind in die Edition eingegangen. Szenenfolgen wie der Single-Vogelhändler brauchen weniger Platz als jene, denen einst eine ganze LP gewidmet war. Hinzu kommen zwei Boni, die die Rothenberger und Marco Bakker mit Strauß-Melodien bestreiten. Ja, der Bakker, den gibt es ja auch. Ein niederländischer Sänger und Radiomoderator, der nicht nur mit Kunst Schlagzeilen machte. Er ist der lebendige Beweis dafür, dass Schmalz sehr haltbar ist. Nichts desto trotz, in seiner Zeit war Bakker mit seinem gefälligen Bariton sehr beliebt. Gefälligkeit ist das Stichwort. Es scheint die Vorgabe für alle hier versammelten Produktionen zu sein: Fledermaus, Nacht in Venedig, Bettelstudent, Gasparone, Schwarzwaldmädel, Vetter aus Dingsda, Boccaccio, Wiener Blut und den schon erwähnten Vogelhändler. Den gibt es gleich zweimal. Neben Traxel auch noch mit Heinz Hoppe in der Titelrolle. Bei ihm zwitschern die Vögel schon in Stereo. Nicht nur deshalb schneidet Hoppe bestens ab. Er bringt mit Diktion, Leichtigkeit und Charme die allerbesten Voraussetzungen als Operettensänger mit, die Traxel, bei dem man immer den Evangelisten hört, so nicht hat. Zum Glück ist Hoppe auch noch in einer etwas unorthodoxen Melodienfolge aus Boccaccio zu hören sowie als Benozzo in Gasparone.

Nach meinem Eindruck bei der durchaus lustvollen Beschäftigung mit der Box überzeugen die Sänger aus der zweiten Reihe oft mehr als die mit den berühmten Namen. Sonja Knittel zum Beispiel ist eine hinreißende Kurfürstin, Christine Görner eine entzückende Christel von der Post, Sari Barabás eine flotte Rosalinde. Sie scheinen zufrieden mit dem, was sie sind, legen sich mächtig ins Zeug und ziehen sich nicht auf die Rolle der Primadonna zurück. Deshalb überzeugen sie auch so stark. Sie sind authentischer. Nein, nein, dieses Lob soll nicht auf Kosten der Primadonnen gehen, wirklich nicht. Es nimmt ihnen nichts weg. Die Rothenberger erzeugt die der Knittel eigene Natürlichkeit durch höchste Professionalität, was auch Eindruck hinterlässt. Die Köth ist betörend als Julia, Laura und Saffi. Ihr leicht tremolierender Sopran, der aus tausend Stimmen herauszuhören ist, mischt den Stücken, in denen sie mitwirkt, einen gehörigen Schuss Erotik bei, wie es denn bitte schön auch sein soll in der Operette. Das ist ihr großer Vorzug gegenüber der Rothenberger, die viel anständiger und reservierter herüber kommt. Insgesamt eine schöne Ausgrabung, die ihr Publikum finden wird.

Rüdiger Winter

Grümmer, Araiza, Podvalová, Levko

Elisabeth Grümmer ist auf Tonträgern vergleichsweise wenig vertreten. Elisabeth Schwarzkopf dominierte in jenen Jahren einen Großteil dieser medialen Szene, vor allem ihrem Gatten Walter Legge, Produzent der EMI, hat sie das zu verdanken. So ist es erfreulich dass immer mehr Aufnahmen Elsabeth Grümmers aus den Rundfunkarchiven den Weg auf CD und DVD finden. Ein Schwetzinger Liederabend vom Mai 1958, der seit 2009 bereits auf hänssler classic erhältlich ist, ist nun auch bei Andromeda erschienen. Er präsentiert Elisabeth Grümmer als kluge Interpretin bekannter Lieder von Mozart, Schubert, Brahms und Wolf. Ihr regelmäßiger Partner am Klavier, Hugo Dietz, bleibt dabei allerdings recht passiv. (ANDRCD 9085).

grümmerNeu hingegen ist die fabelhafte Kompilation von Mozart-Aufnahmen des Bayerischen Rundfunks aus den Jahren 1952, 1960 und 1962 auf dem hauseigenen Label (BR Klassik 900308). Mit Hans Altmann hat sie hier einen sensibleren Begleiter für sieben Mozart-Lieder und das Münchner Rundfunkorchester unter Kurt Eichhorn und Horst Stein hat mit ihr auf Deutsch Figaro-Gräfin, Donna Anna und Pamina, sowie auf Italienisch Fiordiligi-Arien eingespielt. Man kann hier alles hören, wofür sie gerühmt wurde, die Leuchtkraft des Soprans, die feinen Nuancen, ihre Ausdrucksfähigkeit, die natürlich klare Artikulation und vor allem die lyrischen, duftig und leicht schwebenden Phrasen, das jugendliche Strahlen in der Höhe. Ihre Intensität wirkt glaubwürdig, authentisch. Freilich ist das stilistisch auch dem Zeitgeschmack um 1960 verpflichtet, doch ihre „Wärme und Innigkeit“ – wie Thomas Voigt es in seinem lesenswerten Booklettext nennt, war im Stande, den „Körper in die Lage zu versetzen, mühelos in Klang zu verwandeln, was Geist und Seele zum Ausdruck bringen möchten.“

Hauptsächlich aus den Archiven des Bayerischen Rundfunks stammen auch die Opernarien auf 4260123641948Francisco Araiza – Legendary Live Recordings bei Solo Musica (SM 194), vom Interpreten höchstselbst mit einem Vorwort begleitet. Sie spiegeln in ihrer Auswahl von Mozart und Rossini über Bizet, Gounod, Massenet hin zu Verdi, Puccini, Giordano, Tschaikowsky und schließlich Wagner den Karriereweg des Tenors. Leider ist der Hauptteil der Aufnahmen (vieles stammt aus Münchner Sonntagskonzerten) zwischen 1987 und 1994 entstanden und blendet (mit Ausnahme von Rossinis „Ecco ridente in cielo“  aus dem Jahr 1978) die ersten zehn, spektakulären Karrierejahre des eleganten Mozart- und Belcanto-Tenors aus, der nicht nur (aber vor allem dort) in München, Wien und Zürich die Frauenherzen höher schlagen ließ. Mozart ist nur mit den beiden Don Ottavio-Arien vertreten (wobei „Il mio tesoro intanto“ von 1994 dem Tenor schon seine ursprünglich Unbeschwertheit fehlt), seine Paraderollen Tamino, Belmonte und Ferrando fehlen leider. Mit Ausnahme eines sehr lyrischen, kräftigen „Ein Schwert verhieß mir der Vater“ aus Gustav Kuhns Walküre in Erl von 2007 (und dem Almaviva von 1978) stammen die Tondokumente also aus jener Zeit, als Araiza den Schritt vom lyrischen Mozarttenor hin zum lirico spinto machte. Nicht jeder, der diesen Karriereschritt miterlebte, hat ihn  verstanden, die Leichtigkeit ging verloren, vieles was früher mühelos kam, klang plötzlich deutlich erarbeitet, exponierte Töne wurden an einigen Abenden zu Wackelpartien, egal ob Rodolfo in München oder Riccardo in Zürich. Was Mitte der Achtziger mit Gounods Faust oder Massenets Des Grieux und Werther noch gut gelang, löste sich mit Verdis Duca oder Manrico nicht ein. Davon ist in dieser Auswahl jedoch wenig zu hören, sie gilt einem Künstler, der vor allem mit strahlender Stimme, klarem Sitz und Eleganz überzeugt, selbst da wo Kleinigkeiten nicht perfekt sind, wie im „La donna e mobile“ oder Lohengrins Gralserzählung.

podvalovaAus tschechischen Archiven kommt eine Porträt-CD mit Aufnahmen Marie Podvalovás, die zwischen 1936 bis 1978 an der Prager Nationaloper engagiert war. Hier war auch der Mittelpunkt ihrer Karriere, in der sie alle wichtigen Partien ihres Faches, bis hin zu Senta und Tosca sang. Bei Supraphon (SU 3504-2 611) ist sie nun in vier ihrer wichtigsten tschechischen Partien zu erleben. Eine technisch beeindruckende, lyrisch-dramatische Sopranstimme von großer dramatischer Suggestionskraft. Die hervorragend remasterten Aufnahmen mit der Anfang Vierzigjährigen entstanden zwischen 1949 bis 1953 und sind Auskopplungen aus Gesamtaufnahmen von Smetanas Dalibor (Milada) und Libuse, Dvoráks Rusalka (Fremde Fürstin) und Fibichs Sarka. Klima, Krombholc und Chalabala sind die Dirigenten dieser idiomatischen Referenzaufnahmen. Beindruckend ist noch immer Marie Podvalovás Fähigkeit zur klangschönen Attacke, die dramatische Kraft ihrer Bögen und das geschmeidig, flexible Rhythmusgefühl. Außerhalb ihres Heimatlands trat sie, die auch für ihre präsente Bühnenerscheinung und ihr Spiel bekannt war,  kaum auf und so blieb die internationale Karriere zu Zeiten des Kalten Krieges aus. Die bewusste Bekanntschaft mit dieser Stimme, die in zahlreichen Supraphon-Aufnahmen mitwirkte, lohnt unbedingt.

5029365940627Großes editorisches Verdienst hat sich Brilliant Classics mit der Veröffentlichung der 11-CD-Box Valentina Levko – Star of the Bolshoi errungen. Die zwischen 1959 und 1991 entstandenen Studioaufnahmen und Livemitschnitte, vornehmlich aus sowjetischen Archiven (Melodiya), aber auch ein paar Lizenzen des Deutschen Rundfunkarchivs sind darunter, decken die große Spannbreite ihres Mezzo- und Alt-Repertoires ab. Von Bach bis hin zu zeitgenössischer sowjetischer Propaganda und Volksliedern reicht die Spanne. Liedern von Tschaikowsky und Rachmaninow ist jeweils eine ganze CD gewidmet. Von den etwa 40 Jahren ihrer Karriere, war sie 25 Jahre Sängerin des Bolshoi, wo sie seit 1956 alle wichtigen Partien ihres Fachs sang und als eine der bedeutendsten Künstlerinnen ihrer Generation verehrt wurde. Heute im Westen kaum noch bekannt, gab sie in den 60ern und 70ern erfolgreiche Gastspiele u.a. in Mailand, New York, Tokio, in Frankreich und der BRD. 1968 und 1970 tourte sie mit Programmen in Westdeutschland, in denen sie vor allem russische Kunst- und Volksieder sang. Die Stimme hat ein charakteristisches, durchaus warmes Timbre, ist beweglich in allen Registern und hat trotz aller Stimmschönheit auch eine gute Anlage für dramatische Momente. Die Interpretationen stehen selbstredend in der Tradition der russischen Schule, stilistisch ist vieles aus der Zeit heraus zu sehen, entbehrt aber nicht einer gewissen Faszination. Die Natürlichkeit, die die Stimme bei aller Wandelbarkeit von dramatischem Impetus für die Oper, über die Gefühlswelten romantischen Liedrepertoires bis hin zur Schlichtheit ihrer Interpretationen von arie antiche hat, bleibt die faszinierende Konstante dieser auch technisch makellos ausgebildeten Stimme. Die Ausstattung der Box ist wie stets bei Brilliant sparsam gehalten, dennoch informiert ein kleines Beiheft über biographische Daten und die Programme der einzelnen CDs (Brilliant Classics 9406).

Moritz Schön

Diesseits und Jenseits

Grenzenlos nennt sich die Festschrift zum 75. Geburtstag des Saarländischen Staatstheaters und schafft damit bewusst einen Kontrast zu der Aufgabe, die ihm bei seiner Eröffnung im Jahre 1938 zugedacht war, nämlich ein Bollwerk gegenüber dem „Erzfeind“ Frankreich zu bilden. Es folgte im Krieg die Bespielung auch der von den Deutschen besetzten Gebiete, nach dem Krieg nach einer kurzen amerikanischen Besetzung die Einflussnahme der französischen Besatzungsmacht, ehe wie bereits 1935 in bezug auf das Dritte Reich die Saarländer für die Eingliederung in die Bundesrepublik stimmten.

Die Kapitel, die sich mit der Geschichte des Theaters befassen, sind für den Historiker ebenso interessant wie für den Kunstinteressierten, denn sie schildern einmal exemplarisch das, was sich an allen deutschen Theatern in der Nazizeit mehr oder weniger ausgeprägt abspielte, erhalten aber durch die geographische Lage des Hauses eine besondere Zuspitzung sowohl was das Wohlwollen der Nazispitzen als was die Zuweisung besonderer Aufgaben an das „Gautheater Saar-Pfalz“ als „Bollwerk deutscher Kultur“ betrifft.

Nach dem Grußwort von Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer, das bereits auf zwei weitere Besonderheiten, die Beziehung zu Frankreich nach dem Krieg und die Kontaktaufnahme zu Georgien, hinweist, dem Geleitwort des Kulturministers und dem Vorwort der jetzigen Intendantin, Dagmar Schlingmann, von der noch ein weiterer, ausführlicherer Beitrag stammt, befasst sich Dieter Bartetzko mit der Architektur dieses neben Dessau einzigen Theaterneubaus der Nazizeit. Zur „Stimmungsarchitektur“ zählt er den Bau von Paul Baumgarten, der auch für den Umbau der Städtischen Oper Berlin und den Bau der Wannsee-Villa Liebermanns verantwortlich war. Viele Fotos aus der Entstehungszeit des Theaters und seiner Vollendung ergänzen den Text, der auch begründet, warum man das stark bombengeschädigte Haus nach 1945 wieder aufbaute.

Zwei Artikel befassen sich mit der „Instrumentalisierung der Kunst“ in der Nazizeit, so Alexander Jansens „Blicke ins Dunkel“, der in einer sehr plastischen Erzählweise davon berichtet, wie Adolf Hitler die Saarländer für das über 90prozentige Votum für Deutschland  belohnen wollte, wie die Feierlichkeiten zur Eröffnung mit Wagners Der fliegende Holländer und Kämpfe um den Intendantenposten verliefen. Selbst Feinheiten wie die Annahme, man habe die Franzosen mit dem Spielen des 1. Satzes der 7. Beethovensinfonie ärgern wollen, weil dieser auch einst bei einem Benefiz-Konzert zugunsten der Befreiungskriegs-Veteranen gegen Napoleon erklungen war, bleiben nicht verschwiegen. Selbst der Kampf um die Kantine und um Coca Cola wird berücksichtigt, als erstaunlich ist anzusehen, dass das Eröffnungsplakat zwar einen Adler, nicht aber das eigentlich obligatorische Hakenkreuz zwischen seinen Fängen zeigt.

Ein Auszug aus den Erinnerungen des jüdischen Konzertmeisters Alexander Schneider stimmt nachdenklich, verurteilen möchte man ihn wegen einiger seltsamer Äußerungen aber nicht, da gegenüber jemandem, der Mutter und Schwester in Auschwitz verlor, jede Kritik verstummt. Auch das daneben abgedruckte Hetzblatt eines NSDAP-Organs dürfte zu unterschiedlichen  Reaktionen beim Leser führen.

Bereits 1939 wurde das Theater wegen der Evakuierung während des Frankreichsfeldzugs wieder geschlossen. Ab 1940 geriet die Spielplangestaltung zunehmend unter politischen Einfluss, besonders natürlich im Schauspiel. Eine erneute Evakuierung Saarbrückens fand im Dezember 1944 statt. Unter der Überschrift „Rückkehr nach Europa“ wird zunächst sehr anschaulich von Ursula Thinnes über die französische Zeit des Saarlands berichtet, als über dem restaurierten Theaterbau die Inschrift „Opéra de Sarrebruca“ prangte, deutsche Künstler nur mit Visum hier wirken durften und die französische Zensur sogar Rotkäppchen unter ihre Lupe nahm. Der Austausch mit französischen Bühnen blieb recht einseitig, abgesehen von einer Arabella mit der jungen Rysanek und Egks Peer Gynt. Das entpolitisierte Theater mit einer Vorliebe für die Operette war typisch auch für die saarländische Nachkriegszeit.  Der wohl beliebteste Schauspieler der Saarbrückener war August Johann Drescher, aus dessen Nachlass, ob Schminkset oder Grabschleifen,  Bettina Hanstein ein faszinierendes Lebensbild herausliest.

Holger Schröder widmet den Nachkriegsintendanten Hermann Wedekind (1960-76) und Kurt Josef Schildknecht (1991 -2006) ein Kapitel mit dem Titel „Weltoffenheit – Unterhaltung mit Haltung“. Eine sogar von Helmut Kohl gewürdigte Unternehmung waren der Kontakt mit Georgien bis zur Wende, die Zusammenarbeit mit Generalmusikdirektor Siegfried Köhler und die Entdeckung junger Sänger wie Trudelise Schmidt und Siegmund Nimsgern. Unter die Intendanz von Schildknecht fällt die Uraufführung von 15 Auftragsopern, die Einstufung von Orchester und Chor in die Besoldungsgruppe A, die Arbeit von Libeskind für Tristan und Intoleranza. Als weniger positiv schätzt der Verfasser dieses interessanten Kapitels natürlich die einsetzenden Sparmaßnahmen und die Schließung der Schauspielklasse an der Hochschule ein.

Die jetzige, seit 2006 amtierende Intendantin Dagmar Schildknecht nimmt anhand der Buchstabenfolge g-r-e-n-z-en-l-o-s Stellung zu den aktuellen Problemen und Themen wie Grenzen (von finanziellen Mitteln, was aber die Phantasie herausfordert) bis zu Sekt, der in Saarbrücken Crémant heißt. Bereits für die Spielzeit 2008/09 konnte sie sich mit dem Ensemble über die Auszeichnung für das „Beste Opernprogramm“ freuen.

Dieser und weitere Artikel über anspruchsvolle Initiativen des Theaters stehen unter der Überschrift „Theater im Herzen Europas“, die bereits viel über die Aufgaben, die man sich gestellt hat, aussagt. Dazu gehört natürlich auch die enge Bindung an die Nachbarländer, wovon einige zweisprachige Artikel Zeugnis ablegen. Tanz und Bühnentechnik finden in den Schlussartikeln ihren Platz, ehe der Leser sich einer ebenfalls reich bebilderten und umfangreichen Chronik zuwenden kann.

Ist der zweite Teil besonders für Saarländer interessant, so stellt der erste, historische Teil einen wertvollen Beitrag über Theatergeschichte in der Nazi- und in der Nachkriegszeit dar und ist auch für Leser jenseits der geographischen Grenze  aufschlussreich (Grenzenlos; Herausgegeben von Harald Müller und Dagmar Schlingmann, Verlag Theater der Zeit; ISBN 978-3-943881-57-8).

Ingrid Wanja      

Claudio Abbado

Was für ein eleganter Mann war er doch, welch unaufdringliche, diskrete  Persönlichkeit, und was für ein sprühender Geist! Ich werde seine Auftritte bei den Berliner Philharmonikern ebenso wenig vergessen wie die Essen mit ihm bei seinem Lieblingsitaliener, wo er in ansteckender  Post-68er-Begeisterung durchaus lebhaft und engagiert diskutieren konnte. Er war für uns Nach-Karajan-Berliner der Inbegriff des italienischen Intellektuellen, des eleganten Signore aus der Lombardei, ein wenig wie aus Bertoluccis 1900 entsprungen, sportlich und schick zugleich. Vor allem zu Beginn seiner Philharmoniker-Zeit freute man sich über die Themenvielfalt seiner Programme, die nach der schleichenden Lähmung nun wieder Schwung brachten, Ungewöhnliches boten, Erfrischendes. Ich erinnere mich an das Themenjahr Tristan, wo es Martins Vin herbé gab, wo Wagner ebenso wie Literarisches und Philosophisches geboten wurde, wo er es schaffte, in der Stadt eben diese künstlerische Einheit herzustellen, deren akute Abwesenheit man sonst immer beklagt, weil jedes Institut nur das Eigene macht. Unter Claudio Abbado (Foto oben © Cordula Groth/Berliner Philharmonisches Orhester) klang sein Orchester anders, war lockerer, spontaner, auch individueller. Er brachte die Musiker in die Gegenwart und nach Jahren der vereisten Stilisierung  in die Sinnlichkeit zurück. Seine Opern als Konzerte füllten die Philharmonie bis auf den letzten Platz, und was hatten alle für einen Spaß beim Viaggio a Reims! Und ich erinnere mich gut an die erste, originale Aufführung dieser Oper in Pesaro, mit der absolut himmlischen Besetzung und der köstlichen Badewannenoptik, die später auch nach Wien ging. Aber in Pesaro war´s eben zum ersten Mal, abgefahren und einfach toll. Er interessierte sich für´s Ungewöhnliche, so seine mehr als diskutable Aufnahme des französischen Don Carlos bei DG, irregeleitet in der Besetzung, aber die erste („offizielle“) Aufnahme in der Originalsprache trotz der beklagenswerten Schnitte – immerhin! Wie auch seine wenigen Auftritte an der Deutschen Oper Berlin, wo es in Urzeiten einen Tristan gegeben hatte, eine Aida (noch mit Jessye Norman), wo italienische Klangsprache zeigte, was Oper sein kann – eben Sinnlichkeit und kontrollierter Rausch. So bleiben auch seine Mendelssohn-Sinfonien bei DG für mich nach wie vor die überbordendsten, unbekümmertsten, maßstäblichen. Das gilt in Teilen auch für seinen Mahler, Brahms und Schubert, wenngleich dort die Konzerte spannender waren als die festgebannten Dokumente. Vielleicht war er – um es zusammenfassend zu sagen – der Mann für den Moment, für das spontane Erleben, für die überspringende Begeisterung eher als für die Ewigkeit der silbernen Scheiben, von denen sein Amtsvorgänger so unendliche viele (zu viele) hinterlassen hatte. Sein Wechsel von der DG zur Sony brachte nicht wirklich Glück, und schon bei der DG stand er im langen Schatten Karajans. Abbado war, vor allem später, ein unauffälliger Mann, einer, der sich im zunehmend aggressiven Dschungel des Dirigentenberufes zurückhielt, sich nicht drängelte, in der Stille arbeitete und dort überzeugte. Man musste bei ihm hinhören – da war nichts flashiges, nichts Billiges, keine kalkulierten Effekte, sondern beste Kennerschaft, Handwerk und eine ganz sichere Hand für die Valeurs. Was für ein Verlust für uns Musikliebhaber! G. H.

Im  Nachfolgenden noch einmal seine Lebensdaten, wie stets mit Dank an Wikipedia!: Claudio Abbado (* 26. Juni 1933 in Mailand; † 20. Januar 2014 in Bologna) war der Sohn des Violinisten und Musiklehrers Michelangelo Abbado, seine Mutter, Maria Carmela Savagnone, war Klavierlehrerin und Kinderbuchautorin. Bei seinem Vater studierte er zunächst Klavierspiel. Mit 16 Jahren begann er in Mailand ein Studium in Klavier, Komposition, Harmonielehre, Kontrapunkt und später erst Orchesterleitung. Außerdem belegte er einen Literaturkurs beim späteren Nobelpreisträger Salvatore Quasimodo. Als jugendlicher Organist arbeitete er intensiv an Johann Sebastian Bachs Werken; bei einem Hauskonzert spielte er 1952 Toscanini Bachs d-Moll-Konzert vor. 1953 schloss er sein Studium in Mailand ab und musizierte mit verschiedenen Kammermusikensembles – Grundlage für sein späteres Musizieren. „Es ist wie ein Gespräch, bei dem man nicht nur aufmerksam lauscht, sondern auf den anderen eingeht und versucht, auch das Unausgesprochene, Gefühle und Gedanken zu erfassen.“

Bei einem Dirigierkurs in Siena lernte Abbado den elfjährigen Daniel Barenboim und Zubin Mehta kennen. Mehta vermittelte ihn zum weiteren Studium an Hans Swarowsky nach Wien. Claudio Abbado gewann 1958 in Tanglewood einen der wichtigsten Preise für junge Musiker, den Kussewitzky-Preis für Dirigenten. Abbado vermied den Weg in die große Karriere als Dirigent, ging nach Italien zurück und nahm einen Lehrauftrag für Kammermusik in Parma an. In Triest dirigierte er mit Die Liebe zu den drei Orangen von Prokofjew seine erste Opernaufführung. Ab 1961 dann dirigierte er auch regelmäßig an der Mailänder Scala.

1963 erhielt Claudio Abbado in New York den 1. Preis bei dem Mitropoulos-Wettbewerb. Verbunden war mit dem New Yorker Preis – neben der internationalen Anerkennung – eine Assistentenzeit von fünf Monaten bei Leonard Bernstein, der damals Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker war. Während seiner Assistenzzeit bei Leonard Bernstein 1963 bekam er auch erste Einladungen zum Radio-Symphonie-Orchester Berlin und zu den Wiener Philharmonikern, mit denen er 1965 bei den Salzburger Festspielen debütierte. Auf dem Programm stand Gustav Mahlers zweite Sinfonie. Außerdem entstanden erste Schallplattenaufnahmen mit Abbado.

1966 kam es zu einer ersten Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern. 1968 eröffnete Abbado die Opernsaison der Mailänder Scala. Er debütierte an der Covent Garden Opera in London mit seiner ersten Verdi-Oper (Don Carlo). Später überraschte er das Publikum in London mit Strawinskis Oedipus Rex und Alban Bergs Wozzeck.

Wichtige Impulse für die Musik der Moderne bekam Abbado in dieser Zeit von Maurizio Pollini und Luigi Nono. 1969 erhielt er eine feste Anstellung als Dirigent an der Mailänder Scala und wurde 1971 zusätzlich Musikdirektor der Scala. 1979 bis 1987 war er Chefdirigent beim London Symphony Orchestra. Von 1980 bis 1986 war er Chefdirigent der Mailänder Scala. In den Jahren 1982 bis 1985 arbeitete er als Erster Gastdirigent mit dem Chicago Symphony Orchestra. Von 1983 bis 1986 war er Musikdirektor beim London Symphony Orchestra. 1984 gab Abbado sein Debüt an der Wiener Staatsoper, wurde 1986 Musikdirektor und 1987 Generalmusikdirektor der Stadt Wien. 1988 gründete Abbado das Festival Wien Modern, das sich Aufführungen internationaler zeitgenössischer Musik widmet.

Im Oktober 1989 wurde Abbado von den Berliner Philharmonikern als Künstlerischer Leiter des Orchesters zum Nachfolger Herbert von Karajans gewählt. Im Jahr 1994 wurde Abbado auch Leiter der Salzburger Osterfestspiele. Die Zeit in Berlin war nicht frei von Spannungen. Abbados offenes Musizierverständnis, das im Kontrast zum eher autoritären Auftreten Karajans stand, provozierte beim Orchester Widerspruch. Im Jahr 2000 erkrankte Claudio Abbado an Krebs, von dem er zwischenzeitlich geheilt war. Im Jahr 2002 beendete er, wie bereits 1998 angekündigt, seine Arbeit als Künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker – mit einem für ihn typischen breitgefächerten Programm: mit Brahms’ Schicksalslied, Mahlers Rückert-Lieder und Schostakowitschs Musik zu König Lear.

Claudio Abbado ging nach Italien zurück, war zunächst in Ferrara und ging dann nach Bologna, wo er das Mozart Orchestra mit jungen Musikern aufbaute und wo er bis zu seinem Tod lebte. Mit diesem Orchester aus Bologna begann er später die Arbeit für den Aufbau des neu gegründeten Lucerne Festival Orchestra – zusammen mit Musikern der weltweit großen Orchester, die Abbado von früher kennt, und die sich als Lehrer mit den jungen Musikern des Mozart Orchestra Bologna zu gemeinsamen Konzerten im Frühjahr und Sommer in Luzern trafen.

Diese Art des Musizierens junger Musiker gemeinsam mit erfahrenenen Solisten, die sich als Teamer im Orchester engagieren, war für Claudio Abbado typisch. Schon als Gründer des European Community Youth Orchestra (1978) und später des Gustav Mahler Jugendorchesters (1986) widmete er sich der Förderung des musikalischen Nachwuchses. Daraus entstanden die Gründung des Chamber Orchestra of Europe (1981) sowie die Gründung des Mahler Chamber Orchestra (1997), die wiederum die Basis für die Gründung des Lucerne Festival Orchestra (2003) und des Orchestra Mozart in Bologna in den Jahren 2003 / 2004 bildeten.

1958 gewann Claudio Abbado den Kussewitzky-Preis für Dirigenten in Tanglewood, 1963 den ersten Preis beim nach Dimitri Mitropoulos benannten Mitropoulos-Wettbewerb in New York, der mit einer fünfmonatigen Assistenzzeit bei Leonard Bernstein verbunden war. 1984 erhielt er das Großkreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik. 1994 erhielt Abbado den Ernst von Siemens Musikpreis, den Ehrenring der Stadt Wien sowie das Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, 2001 den Würth-Preis der Jeunesses Musicales Deutschland. 2002 wurde er vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau mit dem Großen Verdienstkreuz mit Sterndes Bundesverdienstkreuzes ausgezeichnet. 2002 bekam Abbado den Deutschen Kritikerpreis, 2003 den Praemium Imperiale, 2004 den Kythera-Preis und 2008 den Wolf-Preis. Seit 2005 war Abbado Ehrenbürger der Stadt Luzern. 2013 wurde sein Buch „Meine Welt der Musik“ als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet. Am 30. August 2013 wurde Claudio Abbado vom Staatspräsidenten Giorgio Napolitano zum Senator auf Lebenszeit ernannt.

Von Abbado sind CDs mit Werken von nahezu jedem namhaften Komponisten erschienen. Er dirigierte auch die Werke zahlreicher Gegenwarts-Komponisten wie Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, György Ligeti, György Kurtág, Wolfgang Rihm und Beat Furrer. 1965 führt er an der Scala die Oper Atomtod von Giacomo Manzoni auf. Trotzdem gibt es Komponisten, die auffallend oft vertreten sind: Gustav Mahler, Claude Debussy, Franz Schubert und auch Wolfgang Amadeus Mozart. Besonders in letzter Zeit fiel eine Rückkehr zu seinen „Favoriten“ auf. So dirigierte er 2009 die Berliner Philharmoniker mit einem Programm bestehend aus Schubert, Mahler und Debussy; im Mai 2010 bestand das Programm an derselben Stelle aus Schubert, Schönberg und Brahms.

Doch nun von Wagner . . .

 

Neulich ist mir beim Aufräumen ein Interview mit Klaus Zehelein untergekommen, das er 2012 der Osnabrücker Zeitung gab. Ich hatte es wohlweislich aufgehoben, weil ich mich darüber geärgert hatte. Der Präsident des Deutschen Bühnenvereins beklagt das Überangebot an Inszenierungen von Werken Richard Wagners. Als Intendant der Stuttgarter Staatsoper habe er im Mozartjahr 2006 – damals wurde dessen 250. Geburtstag begangen – bewusst keine Mozart-Premiere in den Spielplan genommen. „Das sind doch alles enzyklopädische Ereignisse ohne jede künstlerische Relevanz“, so Zehelein und schob gleich die Frage nach: „Warum also auch im Wagner-Jahr mal überhaupt keinen Wagner aufführen?“ Eine Provokation – oder doch ein sehr weiser Gedanke?

Das Wagnerjahr 2013 ist vorbei, die Polemik Zeheleins verflogen. Es gab und gibt Wagner ohne Ende. Mit zehn verschiedenen Werken innerhalb eines Monats dürfte Hamburg Anlauf aufs Guinnessbuch der Rekorde genommen haben. Das schaffte nicht einmal Bayreuth in guten Zeiten. Die sind lange vorbei. Vielmehr rutschten die Festspiele im Jubiläumsjahr auf einen neuen Tiefpunkt. Das Festspielhaus mit Bauplanen verhüllt, Haus Wahnfried – Pflichtprogramm jedes Bayreuth-Besuchers – wegen Umbau geschlossen. Zur Eröffnung gab es den aufgewärmten Holländer vom Vorjahr. Der war zudem noch immer vom peinlichen Rummel um die ursprüngliche Besetzung der Titelpartie umweht. Der Russe Evgeny Nikitin hatte 2012 abgesagt, weil eine Körpertätowierung als Nazisymbol hätten gedeutet werden können. Kaum war Gras über diese Geschichte gewachsen, fand sich der Aktionskünstler Jonathan Meese, der 2016 einen neuen Parsifal auf die Festspielbühne bringen soll, vor Gericht wieder. Ausgerechnet im Wagnerjahr wurde ihm vorgeworfen, sich öffentlich des Hitlergrußes bedient zu haben. Es folgte der Freispruch, weil es sich bei der verdächtigen Geste nach Auffassung des Gerichts um eine Kunstaktion gehandelt habe. Das ist so gut wie richtig in einem Rechtsstaat, in Bayreuth dürfte man sich aber noch lange daran erinnern.

So frei war das Bayreuther Festspielhaus im Wagnerjahr nur auf Bildern zu sehen. Foto  Winter

Mit seinem schrillen Ring fuhr Frank Castorf nicht einmal mehr einen Skandal ein wie weiland der Franzose Chéreau im Festspieljubiläums-Sommer 1976 mit seinem genialen Entwurf, der bis jetzt nichts von seiner Wirkung eingebüßt hat. Der eigentliche Skandal spielte in Düsseldorf. Dort wurde der mit deftigen Gewalt- und Holocausts-Szenarien gespickte Tannhäuser vier Tage nach der Premiere wieder abgesetzt. Proteststürme ließen offenbar keine andere Wahl. Zurück nach Bayreuth, wo jeglicher neuen Akzent, wie beispielsweise die überfällige Aufnahme des Rienzi in den Festspielkanon, ausblieb. Zumindest abgespeckt wurde der gemeinsam mit den anderen Frühwerken – Feen und Liebesverbot – in der Oberfrankenhalle gegeben. Eine vollständige Aufführung wie sie der Brite Edward Downes 1976 bei der BBC zu Wege brachte (der Mitschnitt bei Ponto ist leider vergriffen), kam auch 2013 nirgendwo zustande – ein deutsches Armutszeugnis ersten Ranges.

Ich kann Klaus Zehelein noch immer nicht ganz folgen und halte Jubiläen wie dieses durchaus für eine willkommene Gelegenheit, einen neuen Blick auf das Gesamtwerk zu wagen, wenn das Frühwerk und die so genannten Gelegenheitsübungen nicht ausgespart bleiben. Bei Wagner sind die Opus-Zahlen überschaubar. Die meisten Häuser und Veranstalter haben sich dennoch auf die guten alten Bekannten geworfen. Mainstream soweit Augen und Ohren reichen. Mutiger war das Stadttheater Gießen, das mit der hierzulande noch immer unbekannten Urfassung des Holländer unter der Leitung des jungen Dirigenten Florian Ziemen die Spielzeit im Wagnerjahr eröffnete.

Das Holländer-Projekt von Minkowski auf CD bei Naive Classique.

Holländer-Projekt von Marc Minkowski bei Naive Classique – das CD-Ereignis im Wagnerjahr.

Noch weiter ging Marc Minkowski mit seinen Musiciens du Louvre. Er überraschte zunächst in Versailles und später in Paris, Wien und Barcelona das Publikum mit einem so strapaziösen wie spannenden Holländer-Projekt: Die Oper Le vaisseau fantome von Pierre-Louis Dietsch nach einer Handlungs-Skizze Wagners sowie dessen Holländer-Urfassung von 1841 an einem langen Abend – inzwischen auch auf CD gebannt. Halbherzig beworben, gab es in Berlin beide Titel in völlig voneinander getrennten konzertanten Aufführungen, wobei der Dietsch erheblich überzeugender gelang als auf der CD von Minkowski. Das war schon mal etwas, denn die erste Aufnahme des Ur-Holländer unter der Leitung von Bruno Weil, die es auch auf CD geschafft hat, ist zehn Jahre alt.

Christian Thielemann hatte sich beim Festkonzert in Dresden wenigsten die schwungvolle Faust-Ouvertüre und die lange Fassung der „Gralserzählung“ vorgenommen. Auch auf anderen Konzertprogrammen erschienen selten gespielte Titel. Das Siegfried-Idyll, ursprünglich für dreizehn Instrumente komponiert, habe ich in dieser intimen Triebschener Ausführung vergeblich gesucht. Bernard Haitink hatte es als Vorbote auf das Jubiläum im Oktober 2013 in der Berliner Philharmonie gegeben – zum Niederknien. Doch wenig geeignet als Begleitmusik für ein rauschendes Wagner-Fest.

Wer sich eine Aufnahme davon wünscht, muss lange suchen. Ich habe nur zwei dort gefunden, wo ich sie am wenigsten erwartet hätte, nämlich bei Sony mit Glenn Gould und bei der EMI mit Otto Klemperer. Beide Einspielungen sind vortrefflich gelungen, die überirdische Transparenz von Haitink erreichen sie nicht. The other Wagner nennt EMI eine Sammlung auf drei CDs, die die meisten Kompositionen außerhalb der Musikdramen enthält: Trauersinfonie, Liebesmahl der Apostel, den Gesang an Webers Grab, die Sinfonie in E, die Columbus-Ouvertüre, den Huldigungsmarsch, den Kaisermarsch, den Großen Festmarsch, die Ankunft bei den schwarzen Schwänen und weitere Klavierwerke, die komplett bei Brilliant Classics zu haben sind. Das Siegfried-Idyll wird hier aber auch nur groß besetzt geboten. Seinen Einstand ins große Fach gab Klaus Florian Vogt mit einer bemerkenswerten Sony-CD.

Szene aus dem Stummfilm über Wagner von 1913 mit Giuseppe Becce.

Szene aus dem Stummfilm von 1913 mit Giuseppe Becce als Richard Wagner/OBA.

Oehms engagierte sich nachhaltig in Frankfurt und brachte den Ring unter Sebastian Weigle gleich im Doppelpack, nämlich als CD und als DSVD auf den Markt. Einen neuen sehenswerten Ring lieferte auch die Met ab – in glänzender Geschenkverpackung bei der Deutschen Grammophon. Wie bei den meisten Neuerscheinungen kommen die Sänger auch hier an Grenzen – mit einer Ausnahme. Die heißt Jonas Kaufmann, der mit seinem Siegmund den Legenden der Vergangenheit das Wasser reichen kann. Warum sich Kaufmann wie zuvor schon René Kollo an den Wesendonck-Liedern bei Decca vergriff, bleibt sein Geheimnis. Nach dem Ring verlangt es auch Gergiev in Petersburg. Die einzelnen Teile werden auf seiner Hausmarke Mariinski publiziert. Mit der Götterdämmerung vollendete Janowski in Berlin den konzertanten Zyklus der Hauptwerke. Konzertant, weil er sich damit bewusst von jenem Regiestil absetzen will, der aus Wagneropern Gegenwartstücke in Gegenwartsausstattung macht. Das war gut gemeint, die bei Pentatone veröffentlichten Mitschnitte offenbaren aber auch herbe Defizite. Wagner will eben nicht nur dirigiert, er will auch gesungen sein! Vom Wiener Live-Ring unter Thielemann redet schon jetzt niemand mehr. Nein, die Labels haben sich nicht überschlagen. Etliche raumgreifende und hübsch ausstaffierte Editionen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass reichlich alter Wein in neuen Schläuchen gereicht wurde. Auf die Idee, das Gesamtwerk in all seinen Fassungen in einer Ausgabe zu versammeln, kommt natürlich niemand in Wagners Vaterland.

Das DVD-Label Morisel hat sich an Tony Palmers aufwändige Verfilmung von Wagners Leben mit Richard Burton in der Hauptrolle erinnert. Im Fernsehen gab es Wagner zur besten Sendezeit – meist auf Arte und 3Sat. Sogar der alte Stummfilm von 1913, der Episoden aus Wagners Leben erzählt, wurde ausgegraben und sorgsam restauriert. Regie führte Carl Froehlich, der unter den Nazis zum als Chef der Reichsfilmkammer aufgestiegen war. Die Begleitmusik stammt von dem in Deutschland lebenden Italiener Giuseppe Becce. Er sah Wagner verblüffend ähnlich, so dass er auch gleich noch die Hauptrolle übernahm. Die Wiederentdeckung dieses Streifens gehört für mich ohne Zweifel zu den interessantesten  Ereignissen dieses Jahres.

Alfred Pringheim. der kritische Wagnerjaner.

Alfred Pringsheim, der kritische Wagnerianer, als Gemälde auf dem Einband eines wichtigen Buches.

Regelrecht überschwemmt wurde der Buchmarkt mit neuen Titeln und Wiederauflagen. Richard Wagner und die Frauen von Hagen Kunze (Buchverlag für die Frau), Wagner mit den Augen seiner Hunde betrachtet von Kerstin Decker (Berenberg Verlag), Liebestod von Holger Noltze (Hoffmann und Campe), das dicke Wagner-Handbuch (Metzler), in dem man die werkgeschichtlichen Hintergründe des Ur-Holländer vergeblich sucht, die Wagner-Biographie von Martin Geck (Siedler Verlag), Genie und Wahn von Axel Brüggemann (Julius Beltz), Richard Wagner und seine Festspiele von Sven Friedrich (Henschel Verlag). Gleich zwei Bücher – eines von Eva Rieger (Pieper Verlag), das andere von Eva Weissweiler (Pantheon) – widmen sich der aufmüpfigen Wagnerenkelin Friedelind, die Bayreuth im Dritten Reich demonstrativ den Rücken gekehrt hatte.

Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Meine Sympathie gehört einer eher unscheinbaren Broschur, deren Inhalt die FAZ zu Recht als Sensationsfund im Wagnerjahr gepriesen hatte. Es handelt sich um die bei Königshaus & Neumann erschienenen Dokumentation Alfred Pringsheim, der kritische Wagnerianer. Pringsheim war nicht nur der Schwiegervater von Thomas Mann. Er war Universitätsprofessor, Mathematiker, Kunstsammler, musikalisch überdurchschnittlich begabt, Jude. In seinem großbürgerlichen Stadtpalais in München ging die geistige Elite seiner Zeit ein und aus. Pringsheim gehörte zu den Förderern  der ersten Bayreuther Festspiele, wohnte den Proben unter Leitung von Wagner persönlich bei, war Gast in Wahnfried. In Bayreuth hat er auch ein Tagebuch verfasst, das erst jetzt wieder entdeckt wurde. Es bringt uns Wagner näher als manche ausladende Lebensbeschreibung. Denn Pringsheim war ein glänzender Beobachter und Stilist. Parallel dazu hat Sony eine CD mit äußerst feinsinnigen Klavier-Transkriptionen von Pringsheim produziert, die in Bayreuth entstanden sind. Noch ein Buch, das ich für eine der wichtigsten Neuerscheinungen halte, darf nicht unerwähnt bleiben: Richard Wagner in der DDR – Versuch einer Bilanz von Werner P. Seiferth, erschienen im Sax Verlag.

Das neue Wagner-Denkmal in Leipzig.

Das neue Wagner-Denkmal in der Geburtsstadt Leipzig. Foto: Hartmut Winter

Erfreulich ist, dass sich die Geburtsstadt Leipzig noch stärker ihres großen Sohnes annehmen will. Es gibt Ausstellungen. Das Opernhaus, 1960 mit den Meistersingern eröffnet, hat auch Frühwerke im Programm. Wagnerpflege soll ein Schwerpunkt bleiben. Sogar ein neues Denkmal wurde auf dem Sockel von Max Klinger gesetzt, der dafür seit vielen Jahrzehnten reserviert war. Damit fand eine alte Planung ein glückliches Ende. Dieses Denkmal von Stephan Balkenhol befindet sich in unmittelbarer Nähe des einstigen Geburtshauses, das nicht mehr existiert. Im grellen Gegensatz dazu lässt die deutsche Hauptstadt Berlin, die sich selbst gern Opernhaustadt nennt, ihr großes Wagnerdenkmal im Tiergarten, dessen Einweihung 1903 sogar auf einem Monumentalgemälde von Anton von Werner festgehalten ist, demonstrativ verfallen. In seinem Jubiläumsjahr thront der Meister mit abgeschlagener Nase und halben Fingern auf dem Sockel. Als Berliner und Wagnerfreund schäme ich mich dafür.

Eine persönliche Rückschau auf das Wagnerjahr ist nicht auf Vollständigkeit der Ereignisse aus. Sind wir Wagner näher gekommen? Vielleicht. Etwas bleibt immer. Ein starker Eindruck im Theater, Ärger über hinausgeschmissenes Geld für eine dürftige Aufführung, die Freude an einer CD, ein paar neue Bücher im Regal oder eben die Wut beim Anblick eines verrotteten Denkmals. Immer wenn eine Drei am Ende einer Jahreszahl auftaucht, hat Wagner Geburtstag oder Todestag. Nach dem Jubiläum ist vor dem Jubiläum. Doch Wagner braucht derlei Werbung eigentlich nicht. Er ist gesetzt. In diesem Sinne bin ich mir mit Klaus Zehelein doch noch einig geworden.

Und war da nicht doch noch etwas 2013? Ja, Verdis 200. Geburtstag. Der ist aber nicht mein Thema. Was noch? Johann Simon Mayr, der italienische Komponist aus Deutschland – durch und durch Europäer wie Wagner und Verdi. Der hätte 2013 zu seinem 250. Geburtstag mehr Aufmerksamkeit verdient. Wie mahnt Sachs am Schluss der Meistersinger? „Verachtet mir die Meister nicht!“ Es ist mir nicht peinlich, das abgedroschene Zitat an den Schluss zu stellen. Hier ist es angebracht. Schon wegen Mayr.

Denkmale neu

Das Wagner-Denkmal im Berliner Tiergarten bei der Einweihung 1903 auf einem monumentalen Gemälde von Anton von Werner, rechts der heutige beklagenswerte Zustand. Nase und Finger sind abgeschlagen.

 

Die Canzoncine der Signora Rossini

 

Erst seit der Rossini-Renaissance in Pesaro ab 1985 ist eigentlich auch der Name seiner ersten Frau, Isabella Colbran, über die bloße Nennung als Rossini-Interpretin in das heutige Bewusstsein gerückt – jene Sängerin, die mit ihrer dunkel timbrierten Sopranstimme ihn zu den herrlichen Opern wie Otello oder Armida inspirierte. Wer war sie? Eigentlich kennt man sie nur als Anhängsel Rossinis, der sie von dem Intendanten (Domenico Barbaja) des San Carlo in Neapel „übernahm“, erstaunlicherweise sogar heiratete und für den sie für eine gewisse Zeit zur Muse wurde.

Mit starkem spanischem Profil.../Rossini Festival Pesaro

Mit starkem spanischem Profil…/Rossini Festival Pesaro

Den Begriff Mezzosopran gab es da noch nicht, nur Sopran I /prima donna und II/seconda donna sowie alto, aber es ist nach Lage der Noten kein Zweifel daran, dass die Colbran ein dunkler Sopran war, ähnlich dem Falcon in Frankreich nach der Sängerin Cornelie Falcon, eben ein kurzer Sopran mit guter Tiefe. In moderner Zeit sind das Stimmen wie die der Cecilia Gasdia oder Anna Caterina Antonacci mit ihrem leidvoll-poetischen Timbre – ein wirklicher im oberen Bereich knapper Sopran voller Poesie und nicht das energisch-tüchtige Geratter einer Joyce Di Donato ohne Charme und Kern oder die angestrengte Hochleistungsbalance einer Cecilia Bartoli (ich weiß, ich handele mir jetzt einen Sturm der Entrüstung ein). Die Colbran schuf einen neuen Stimmtyp und war für Rossini das ideale Instrument zum Ausdruck seiner zunehmenden Hinwendung zu Menschlichkeit voller dunkler Tragik. Mit der Trennung von der Colbran wandte sich Rossini anderen Stimmen zu und die Aufteilung in Kategorien, wie wir sie heute spätestens seit Verdi kennen (der das klassische Quartett Sopran/Mezzosopran/Tenor/Bariton „erfand“), bahnte sich mit Bellini und Donizetti an (wenngleich auch Donizetti durchaus an dem stimmlich flexiblen Modell der beiden Soprane festhielt und sich für Bellinis Norma die Damen durchaus abwechselten als Norma und Adalgisa, was als Karikatur später in unserer Zeit das Tandem Verrett-Bumbry oder auch Sutherland-Caballé vorführte, letztere beide Normas von Rang). Rossini liebte die dunklen Stimmen, und seine frühen Opern sind voll mit Partien für schnurrbärtige Altistinnen in der Folge der Kastraten – nicht umsonst nennt man Rossini auch den letzten Barockkomponisten. Aber mit der Colbran änderte sich auch seine Ästhetik in Richtung weniger stereotyper Rattermaschienen und zugunsten von dunkler Poesie, Seelenängsten, individuellerem Ausdruck, wie die frühromantische Donna del Lago so überzeugend zeigt.

Der gesellschaftliche Mittelpunkt ihrer Zeit und von Rossini in seinem "Viaggio á Reims" verewigt: Madame de Stael/OBA

Der gesellschaftliche Mittelpunkt ihrer Zeit und von Rossini in seinem „Viaggio á Reims“ verewigt: Madame de Stael/OBA

Eine neue CD bei Tactus wirft nun Licht auf einen ganz anderen Aspekt der Isabella Colbran – sie war wie alle Künstler der Epoche hochmusikalisch und ebenso ausgebildet und dazu eine Komponistin von nicht unbeträchtlichen Graden (ähnlich wie die Vorgängerin Malibran und andere Kollegen/-innen): Lieder zur Harfe, ein Klassiker für die Salons des Adels und des Bildungsbürgertums einer Madame de Stael und der Pariser Gesellschaft. Der nachfolgende Artikel von Marianne Gubri im Beiheft zur Tactus-CD nimmt sich dieses Themas (in Englisch, jaja!) an. Bienvenue, Madame Colbran! G. H.

 

The four books of Canzoncine ou Petits Airs Italiens by Isabella Colbran (1784-1845) were composed between 1805 and 1809, during her youth, before her marriage to Gioacchino Rossini (1822) and the beginning of her career as prima donna of Italian opera. Isabella Colbran was born in Madrid, received her initial musical education from her father, Juan Colbran, violinist in the Capilla Real, and studied singing under the guidance of the celebrated Italian opera singers and castratos Carlo Martinelli and Girolamo Crescentini. She dedicated to the latter one of her song collections, and sang many of his compositions.

Eine interessante CD bei Naxos vereint Auftragsmusik des Intendanten Barbaja (8.578237)

Eine interessante CD bei Naxos vereint Auftragsmusik des Intendanten Barbaja (8.578237)

After a few concerts in Madrid, she was appointed as court singer by the Queen of Spain, and held this post from 1803 to 1808, as declared in the front page of her first three song collections. In 1804, Isabella and her father went to Paris in quest of success. She sang in the house of Rodolphe Kreuzer, who had founded the publishing house Le Magasin de Musique two years before, together with Cherubini, Mehul, Rode, Isouard and Boiledieu. Le Magasin de Musique subsequently published three of Isabellas collections. She probably referred to the above-named musicians in her dedication to the Queen of Spain, when she mentioned them as promoters of the edition, with an attitude of obsequious humility that was customary at that time (…) It was published by Miles Erard, a publishing house that had been established by the daughters of the famous harp- and piano-maker (one of the two sisters, Celeste, later married Gaspare Spontini).

Maria Chiara Pizzoli und Marianne Gubri/Tactus

Maria Chiara Pizzoli und Marianne Gubri/Tactus

On 21 November 1806, while she was still travelling between Spain and Italy, she became a member of the Accademia Filarmonica of Bologna, where she performed in 1807: this title was mentioned in the song collections subsequent to that date. In the portrait by an anonymous painter that we present on the cover, (which was donated to the Liceo Musicale of Bologna during that stay of hers, and is now preserved in the Museo della Musica of Bologna), she is depicted as a young woman holding a lyre, which rests on a copy of her first book of songs. On the cover of this book, her new title of academician has been added by the painter, though at the time of the printing of that work the title had not been awarded to her yet: so it is possible to conclude that the portrait was painted in 1807.

Die "KLonkurrenz": Maria Malibran, selber Spanierin, als Desdemona in Rossinis "Otello/Gemälde von Bouchot/OBA

Die „Konkurrenz“: Maria Malibran, selber Spanierin, als Desdemona in Rossinis „Otello“/Gemälde von Bouchot/OBA

After her stay in Bologna, where she probably met Gioacchino Rossini, who was then a student and was eight years younger than her, in 1808 Isabella returned to Paris with her father. There she held both private and public concerts; she sang often in aristocratic houses, for the Empress and for ambassadors, but her greatest success was in her public concerts. The press extolled the range of her voice, which included almost three octaves, and its clear, resounding timbre, her mastery in the art of the messa di voce, her expressive, sweet interpretation, her good Italian, and the variety of her repertoire, which was formed of arias by Zingarelli, Portogallo, Nasolini, Mayr, Haydn and her teacher Crescentini.

In 1808 she dedicated her compositions to Louise Marie of Baden (wife of Emperor Alexander I of Russia), and in 1809 to Marie Julie Clary Bonaparte, wife of Joseph Bonaparte, who hired her as a chamber-music singer as soon as he became King of Spain. The last months of the year 1809 marked the beginning of a long, uninterrupted career for Isabella Colbran as an opera singer, first at the Teatro alia Scala of Milan, then at the Teatro Comunale of Bologna, at the Fenice of Venice, in Rome, and eventually, from 1811 onwards, in Naples, where she was consecrated as „Prima cantante assoluta‘ („the first singer by far“) and sang in the operas by her future husband.

Frontespiece für den Klavierauszug des "Otello"/OBA

Frontespiece für den Klavierauszug des „Otello“/OBA

La Vestale by Gaspare Spontini was staged in Italian, in the translation by Giovanni Schmidt: Isabella sang in the role of Giulia. The opera was so successful that its performances were repeated until 1816. The aria „O nume tutelary” is included in this CD as an addition to Isabellas compositions, in the handwritten, probably autograph, version preserved in her collection, now housed in the Library of the Conservatoire Royal of Bruxelles. This version is particularly interesting, because, in addition to Spontini’s original part, the singer has written down her own embellishments on a further staff, according to the customary bel canto practice of that period. This sheds light on the virtuosic and dramatic aspect of the performance, and reveals the fact that the performer enjoyed a certain independence of interpretation in relation to the original composition.

Nicht zu vergessen: sexy Rossini/OBA

Nicht zu vergessen: sexy Rossini/OBA

The Barcarola Gia la notte s’avvicina has been drawn from a collection of Passatempi musicali o sia raccolta di Ariette e duettini per camera inediti, Romanze francesi nuove, Canzoncine Napolitane e Siciliane, Variazioni pel canto, Piccoli Divertimenti per Pianoforte, Contradanze, Walz, Balli diversi etc. published in 1824 and containing,, besides Isabella Colbrans arietta, pieces by Cottrau, Donizetti, Filed, Leiderdorf, Pacini, Rossini, and Schubert. The title of this collection emphasises the fact that it was meant for amateur performers.

Und noch einmal Rossini als fescher Mann/OBA

Man vergisst leicht über den Altersbildern, wie fesch Rossini in seiner Jugend aussah/OBA

Isabella’s stay in Naples was a very rich, complicated period, not only for her artistic activity, but also for her private life. On 16 March 1822, almost in secret, she married Gioacchino Rossini (by then quite famous) in the Chiesa del Santuario della Vergine del Pilar at Castenaso (a few kilometres away from her father Juan’s villa). The extraordinary rise of Rossini’s career as a composer allowed him to expand into new theatres and new cities, particularly Paris and London; but it also led him to embark on new liaisons, above all that with the courtesan Olympie Pelissier, whom he married when Isabella died at Castenaso, years after she had left the stage and had been abandoned by her husband.

Noch einmal eine berühmte Kollegin: Giulia Grisi/OBA

Noch einmal eine berühmte Kollegin: Giulia Grisi/OBA

In this recording of pieces composed by Isabella Colbran, we have not included the cantata Pelgiorno natalizio di Giovanni Colbrand,for voice and piano, now preserved at the Conservatory of Bruxelles, because it is incomplete. Other two songs Alma delValma mia and No, che lasciar non posso, now preserved in Madrid at the Biblioteca Nacional de Espana in a manuscript entitled Canzonifate aproposito del Sig.re Gerolamo Crescentini have been ascribed to Isabella Colbran by Sergio Ragni in his book Isabella Colbran, Isabella Rossini, but it is more likely that they were composed by Girolamo Crescentini1 and dedicated to her. The first of these two songs has actually been included in several collections of Crescentini’s arias.

Isabella Colbran’s compositions are typical of the chamber-music repertoire for amateurs: they consist of short, melodious, through-composed arias with two texts: one in Italian, drawn from Metastasio’s poems, the other a free translation into French. The vocal characteristics they require are those of a voice that is seemingly average but includes some unusually high notes for a soprano.

Und als Vierte: Giulia Pasta/OBA

Und als Dritte: Giuditta Pasta/OBA

The four song books offer the choice of a harp or piano accompaniment, as customary during that period, particularly in the French repertoire: Marie Antoinette, and after her all the French ladies at court, completed their education by learning to play the harp. Empress Josephine de Beauharnais, for whom Isabella Colbran performed, was the inspirer of the composition of a great number of chamber-music pieces for harp. Since the end of the eighteenth century, the harp was equipped with a single pedal movement that allowed the performer to achieve modulations and chromaticisms. In the first years of the nineteenth century, Sebastien Erard, a well-known Parisian piano maker, began his research for the creation of a harp with a double pedal movement that gave greater freedom to the player: he patented this device in 1811. The new instrument was soon adopted also by professional harpists.

Die Siegerin: Olympie Plessier, die Rossini mit Syphilis ansteckte.../OBA

Die Siegerin: Olympie Plessier, die Rossini mit Syphilis ansteckte…/OBA

Isabella had the chance to meet two of the greatest harpist/composers of her time: on 16 April 1808 she sang during the same evening in which Charles Bochsa performed in the premiere of his concerto n. 1 op. 15. In August 1827, at Arques, she sang together with Francis Joseph Naderman. Moreover, in February 1811 she sang with a Mrs Rega, Neapolitan amateur harpist.

The accompaniment to these little songs, which is simple but varied and follows the pattern adopted by composers such as Cherubini, Crescentini, Spontini, Isouard, and Boiledieu, with a melodic introduction and a realisation based on chords or arpeggios, can easily be adapted to the harp without any particular changes. Publishers such as Le Magasin de Musique and Miles Erard were doubly interested in offering works for both instruments: the prospect was that the French ladies would be keen both to perform new repertoires and to own instruments often made expressly for them.

Das Buch über Isabella Colbran von Sergio Ragni im Verlag Zecchini (978-8865400210)

Das Buch über Isabella Colbran von Sergio Ragni im Verlag Zecchini (978-8865400210)

Although a newspaper published at the end of the nineteenth century states that Isabella Colbran also played the harp, it is likely that this assertion stemmed from a misinterpretation of the pictures in which she held a lyre in her hands. During that period several paintings portrayed her and other female singers in Empire-style dress and with Apollo’s instrument: it was a clear allusion to the classical antiquity from which the Napoleonic neoclassical style drew inspiration.

Actually, the funerary monument for Isabella’s father – Juan Colbran, who died in 1820 – designed by Gioacchino Rossini and made by the sculptor Adamo Tadolini – shows a cherub who is playing the lyre while Isabella is weeping and looking at her father’s memorial bust. This grave also accommodates the bodies of Rossini’s parents, Anna Guidarini and Giuseppe Rossini, and of Isabella, who died in 1845 in her villa at Castenaso.The monument can still be seen in the Chiostro Maggiore Levante, Arco VI, of the cemetery of the Certosa of Bologna: the recording of this CD has been carried out in the adjoining Chiesa di San Girolamo.

Den Artikel von Marianne Gubri, selber Harfenistin von Rang,  entnahmen wir in der englischen Übersetzung dem neuen Album bei Tactus (TC 780302): Isabella Colbran – Arie italiane per voce e (!) arpa, auf der die Autorin die Mezzosopranistin Maria Chiara Pizzoli auf der Harfe begleitet. Die Fußnoten in dem Artikel von Marianne Gubri wurden aus Platzgründen fortgelassen. Redaktion G. H.)

Isabella Colbran auf dem gemälde von reiter, defintiv nicht glücklich/OBA

Die alternde Isabella Colbran auf dem Gemälde von Reiter, definitiv nicht glücklich/OBA

Und dazu noch kurz den Auszug aus WikipediaIsabella Colbran (Geburtsname Isabel Colbrandt) (* 2. Februar 1785 in Madrid; † 7. Oktober 1845 in Bologna) war eine Mezzosopranistin und Komponistin. Sie gehörte zu den berühmtesten Sängerinnen ihrer Zeit. Sie begann ihre Karriere am Teatro San Carlo in Neapel, wo sie nicht nur vom Publikum, sondern auch vom König von Neapel bewundert wurde. Mit dem Impresario des Theaters, Domenico Barbaja, hatte Isabella Colbran eine Affäre. Barbaja engagierte Gioachino Rossini, der für Isabella Colbran einige Paraderollen schrieb (unter anderem Elisabetta, Desdemona/Otello und Armida). 1822 heirateten Rossini und Colbran. 1837 trennten sie sich wieder, Rossini hielt sie jedoch immer für eine der besten Interpretinnen seiner Werke. Isabella Colbran schrieb vier Liedersammlungen, die sie der russischen Zarin, ihrem Lehrer Crescenti, der spanischen Königin sowie der Prinzessin Eugenie de Beauharnais widmete.

Auf die interessante Ausgabe aller Lieder von Spontini bei Tactus haben wir bereits hingewiesen/TC 771960.

Aus besseren Kölner Zeiten

Leider nicht Brian Large, sondern José Montes-Baquer ist die Aufzeichnung von Mozarts zum x-ten Male wiederaufgelegten Don Giovanni aus Köln zu verdanken, wo 1991 Michael Hampe inszenierte, nachdem er das Werk bereits  gemeinsam mit Herbert von Karajan 1987 bei den Salzburger Festspielen auf die Bühne gebracht hatte. Damals gab es eine Bombenbesetzung mit u.a.  Ramey und Varady, die Szene stammte von Mauro Pagano. Auch die Kölner Besetzung brauchte sich nicht zu verstecken, war doch die Zeit unter Michael Hampe und James Colon eine der besten des rheinländischen Hauses und konnte des öfteren mit Starbesetzungen prunken. Letzterer sorgte 1991 mit dem Gürzenich-Orchester für einen schlanken, durchsichtigen, dabei federnden Klang. Die Bühne und sogar die Kostüme sehen Don Giovanni als Nachtstück trotz des hellblauen Himmels, der im Kontrast steht zu den dunklen Gebäuden, selbst zu den raren, ebenfalls fast schwarzen Bäumen und den Kostümen (Carlo Diappi, Ulrike Zimmermann), allenfalls in Schwarz-Weiß für die bäuerliche Hochzeitsgesellschaft. Die Regie respektiert Libretto und Musik, glänzt  durch viele Feinheiten in der Personenregie, so wenn Don Giovanni Donna Elvira einen Brocken zuwirft wie einem Hund („mangi con me“) oder wenn Donna Anna dem fliehenden Don Giovanni den Umhang entreißt und ihn ihm zum Schluss des ersten Akts als Beweisstück vor die Füße wirft. Leider zeigt sich die Video-Regie weniger einfühlsam, ganz besonders schlimm macht sich das beim Schluss-Sextett bemerkbar, wenn die Darsteller mit abgeschnittenen Füßen und nur als kleine, graue Nebelgestalten auszumachen, an der Rampe stehen.

Mit Thomas Allen sieht die Produktion einen der besten Don Giovanni der Achtziger und Neunziger auf der Bühne. Mit fast durchgehend schwarzer Perücke und ebensolcher Kleidung wirkt er ausgesprochen satanisch, kann auch ein teuflisches Grinsen aufsetzen und seinen schwarzen Umhang dämonisch wie ein Todesengel wehen lassen. Dazu singt er mit weichem Tonansatz, sehr verführerisch im Piano oder der mezza voce in der Serenade oder dem „La ci darem la mano“ und mit rasanter Virtuosität in der sogenannten Champagnerarie. Nur in seiner Schlussszene scheint er nicht über die von ihm gewohnten Kräfte zu verfügen. Sein Leporello hat mit Ferruccio Furlanetto noch die Rossini-Gewandtheit der frühen Jahre in der Stimme, erfreut durch ein beredtes Mienenspiel, durch basslastige Vollmundigkeit („ma in Spagna“) und eine vorbildliche Diktion. Ein sehr ansehnlicher und gar nicht langweiliger Don Ottavio ist Kjell Magnus Sandve mit schönem lyrischem Tenor, der auch mit den Koloraturen der zweiten Arie keine Probleme hat und  in „Dalla sua pace“ überhaupt nicht anämisch klingt. Ein überstattlicher Masetto mit reicher Stimme ist Reinhard Dorn. Matthias Hölle singt einen überaus markanten Commendatore.

Die Donna Anna von Carolyn James kann leider nur vokal mit einer weichen, kristallinen Sopranstimme leicht hysterischen Anstrichs erfreuen. Schön ist der leichte Schimmer, der auf ihr zu liegen scheint, sind es auch die mühelosen Schwelltöne, doch optisch bleibt sie auch wohl wegen der Leibesfülle zu statuarisch, zu unbeweglich im nicht vorhandenen Mienenspiel. In zärtlichen Tönen kann die Donna Elvira von Carol Vaness in den Rezitativen schwelgen, in den Arien geraten die Höhen  oft recht steif, die Intervallsprünge zu gewaltsam der Stimme abgezwungen. Darstellerisch allerdings schlägt sie ihre Kollegin um Längen. Eine sehr gute Besetzung für die Zerlina ist Andrea Rost, die auch an der Scala sogar als Traviata Furore machte und hier eine lieblich-kesse Bäuerin ist, die mit schöner lyrischer, nicht soubrettiger Stimme singt und die Verführbarkeit der jungen Braut hinreißend spielt.

Nicht nur wer keinen drogensüchtigen Don Giovanni im Nadelwald mag ist mit dieser hoch besetzten Aufführung gut bedient (Arthaus 102 319).

Ingrid Wanja

Eterna? Da war doch noch was

Giuseppe Verdi – Opern-Highlights, deutsch gesungen. So steht es auf einer Box des Labels Berlin Classics (0300563BC). Früher hätte es Opernquerschnitte geheißen. Denn es handelt sich tatsächlich um Querschnitte durch die Opern Don Carlos, Die Macht des Schicksals, Aida, La Traviata und Rigoletto. Pro CD eine Oper, macht zusammen fünf. Was wir darauf hören, ist ein interessantes Kapitel deutsch-deutscher Musikgeschichte. Die Querschnitte wurden zwischen 1965 und 1974 in der DDR mit der Staatskappelle Dresden produziert. Bis zum Fall der Mauer sollten noch viele Jahre ins Land gehen. Partner im Osten war seinerzeit der VEB Deutsche Schallplatten Berlin mit seinem Label Eterna. Dieser Name ist auf CD-Hüllen längst getilgt. Bei Eterna wird heutzutage an die berühmten Hemden und allenfalls an Uhren aus der Schweiz. gedacht. Die Hemden sind aber gar nicht so weit hergeholt. Der Name des DDR-Labels soll tatsächlich darauf zurückzuführen sein. Ernst Busch, der legendäre linke Sänger – auch Barrikaden-Tauber genannt – hatte die Plattenfirma gleich nach Kriegsende mit Billigung der sowjetischen Besatzer gegründet und für die Klassiksparte eben diesen Namen gewählt, weil er selbst gern Eterna-Hemden trug. Die nämlich gibt es seit 1863, wenngleich zunächst lediglich als halbsteife Kragen. Jetzt sind sie der Hingucker in jedem guten Bekleidungshaus. Im Booklet ist davon keine Rede, es ergeht sich stattdessen in einem kurzen Abriss durch Verdis Leben.

Wozzeck BergGesamtdeutsch auch das Aufgebot an namhaften Sängern. Gottlob Frick, nach dem Zweiten Weltkrieg am musikalischen Wiederaufbau in Dresden aktiv beteiligt, kam nach langer Abwesenheit für Philipp II. im Carlos zurück an die Elbe. Er ist der einzige Westimport in der Aufnahme mit Hanne-Lore Kuhse als Elisabeth, Sigrid Kehl als Eboli, Martin Ritzmann in der Titelrolle und Dan Jordachescu als Posa. Nicht nur wegen der deutschen Version ist das fürwahr keine italienische Interpretation. Mehr Schiller als Verdi. Und doch gehen von dieser Aufnahme eine Innigkeit und ein Tiefgang aus, die sehr berühren und dem Werk trotz des Zusammenschnitts auf diese Szenenfolge, einen starken inneren Zusammenhalt geben. Das trifft so in Teilen auch für die Macht des Schicksals zu, in der auch Frick als Pater Guardian noch einmal kurz in Erscheinung tritt. Den Löwenanteil dieser Plattenstunde – denn es handelte sich ursprünglich um Vinyl mit derart begrenzter Kapazität – bestreiten Grace Bumbry als Leonora, Nicolai Gedda als Alvaro, Hermann Prey als Carlos und – man höre und staune – Helga Dernesch als Preziosilla. Wer genau hinhört, fragt sich noch heute, wie diese Sängerin kaum zwei Jahre später bei Karajan die Brünnhilde im Nibelungen-Ring würde bewältigen können. Dem Rataplan fehlt jeglicher Peng.

Italienisches LiederbuchDie Besetzung ist hier schon stärker auf Prominenz abgestellt und nicht mehr nur auf Passgenauigkeit. Sie ist nahe an der Fehlbesetzung. Bei Aida (Ingrid Bjoner) und La Traviata (Anneliese Rothenberger) stehen verkaufsfördernde Aspekte durch populäre Namen schließlich gänzlich im Vordergrund. Am besten schneiden die Tenöre Ludovic Spiess als Radames und Anton de Ridder als Alfred ab. Schade, dass von der Amneris fast nichts übrig geblieben ist. Gisela Schröter, die in dieser Rolle auf der Bühne der Berliner Staatsoper ein Ereignis war, hat auf der Platte lediglich ein paar Einwürfe. Besser kommen Karl-Heinz Stryczek als Amonasro und Wolfgang Anheisser als Germont mit Duetten bzw. Arien weg. Durchweg interessanter sind die Besetzungen der Nebenrollen, beispielsweise des Ramphis und des Doktor Grenvil durch Siegfried Vogel, der auch als Sparafucile im Rigoletto auftaucht, leider nicht in der gespenstischen nächtlichen Szene mit dem Hofnarr, den Ingvar Wixel mit großer Eindringlichkeit versieht. Er gefällt mir am allerbesten, weil er der Rolle eine schlichte Würde gibt und ohne Übertreibung und ohne Weltschmerz auskommt. Robert Ilosfalvy dem Herzog, bleibt die deutsche Übersetzung im Halse stecken. Mit technischer Routine und gut gelernter Gestaltungskraft rettet sich die Rothenberger über die Klippen der Gilda, für die sie zu alt ist. Annelies Burmeister, der beliebte Berliner Mezzo, ist im Quartett als Maddalena (in der Besetzungsliste des Booklets unvermittelt als Maddalene geführt!) wohltuend stilvoll und unverkennbar zu vernehmen.

Bruckner - MessenDie Zeit der guten alten Opernquerschnitte, die auch einen speziellen Bildungsansatz darstellten, ist vorbei, selbst der Name verschwindet. Im Duden ist das Wort nicht zu finden, bei Wkipedia schon – was gut ist. Sie haben zwar das Genre Oper sehr populär gemacht, sind aber auch Zerrbilder der Werke. Nicht immer war die Auswahl glücklich, wurde auch in der Verkürzung das Stück als Ganzes erkennbar. Es wurde der Eindruck  vermittelt, als bestehe eine Oper nur aus Highlights, wie das die Verdi-Box suggeriert. Alban Bergs Wozzeck, ebenfalls eine Eterna-Produktion, die jetzt bei Brilliant neu aufgelegt wurde (94699), ist als traditioneller Querschnitt gar nicht denkbar. Die Auswahl, die der Komponist als Bruchstücke für Gesang getroffen hat, sind etwas anderes, fast schon ein eigenständiges Werk. Jedenfalls ist die Aufnahme für mich eine der besten in der immer umfänglicher werdenden Diskographie des Werkes. Sie ist ein Mitschnitt aus Leipzig von 1973 – für DDR-Verhältnisse relativ selten. In der Regel wurde im Studio aufgenommen, was mehr Sicherheit versprach. Hier also eine konzertante Aufführung, die insofern gegen das Werk spricht, das die Aktion der Bühne braucht. Wenigstens ist live auch schon etwas. Die aufregende Gisela Schröter, die im Aida-Querschnitt so kurz wegkommt, ist als Marie das Ereignis schlechthin. Ihr Unglück ist das Unglück der Welt. Ich hatte die Aufnahme lange nicht gehört und komme nun nicht davon los. Das von der Schröter und Herbert Kegel am Pult vorgegeben Niveau verteilt sich über das ganze Ensemble. Alle Mitwirkenden sind vielleicht deshalb so überzeugend, weil sie sich mit aller Kraft auf die Aufgabe werfen. Wozzeck ist kein Belcanto, da muss nicht jeder Ton sitzen, es gelten andere Maßstäbe. Theo Adam macht die grauenhaften Ängste Wozzeck sehr glaubhaft, auch wenn er hier und da einen Schuss Vornehmheit beimischt. Dann klingt sein gehetzter Soldat, als stamme er aus einer großbürgerlichen Familie und habe gerade sein Abitur abgelegt. So ist das oft bei ihm. Horst Hiestermann ist ein schriller Hauptmann, Reiner Goldberg ein aufgeblasener Tambourmajor.

LazarusEtwas unvermittelt sind bei Brilliant in einer Doppel-CD-Box das Italienische Liederbuch und Mörike-Lieder von Hugo Wolf zusammengesteckt (94705). Das Liederbuch mit der mädchenhaften Christiane Oelze, die ihren Wolf im Meisterkurs bei Elisabeth Schwarzkopf gut gelernt hat, leidet unter dem Tenorpart von Hans Peter Blochwitz, der nur noch über die Reste seines einst hellen und jugendlichen Tenors verfügt. Über diese Klippen kann auch gestalterische Delikatesse nicht hinwegtäuschen, die er noch reichlich einsetzen kann. Siegfried Lorenz, der sich mit Norman Shetler am Klavier des Mörike annahm, bringt sich als vorzüglicher Stilist in Erinnerung – mit gelegentlichem Hang zu Übertreibungen. Während das Liederbuch 2002 eingespielt wurde, stammen die Mörike-Lieder gleichfalls aus dem Eterna-Nachlass der DDR, aufgenommen 1984 in der Lukaskirche Dresden, einem berühmten Aufnahmeort.

Britten Serenade für TenorGemischt ist auch die Herkunft der drei Messen von Anton Bruckner und des Te Deum in der Fassung von 1884 bei Brilliant (94669). Die Messe Nr. 1 mit dem Tenor Daniel Sans und dem Bariton Christof Fischesser, dem Chamber Choir of Europa sowie der Württembergischen Philharmonie Reutlingen unter Nicol Matt beginnt wunderbar leicht und federnd, behält diese Durchsichtigkeit selbst in den Steigerungen des ganzen Apparates. Beim Hören der verbleibenden Werke ist mir wieder bewusst geworden, was für ein vorzüglicher Dirigent der 2001 in Leipzig gestorbene Heinz Rögner gewesen ist. Er hat eine Hand für Bruckner, bringt die Ruhe für seine Musik mit und die Fähigkeit, die Spannung über die Klippen in den ausladenden Sätzen zu halten. Rögner hat auch etliche Sinfonien von Bruckner eingespielt, die eben erst wieder auf den Markt zurückgekehrt sind und ein dankbares Publikum finden werden. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Gemeinsam mit Rögner wirken in der 3. Messe und im Te Deum Solisten, die in der DDR beliebt waren: Magdaléna Hojóssyová (Sopran), Rosemarie Lang (Alt), Peter-Jürgen Schmidt (Tenor) und Hermann Christian Polster (Bass). Die 2. Messe ist bekanntlich für Chor und Blasorchester gesetzt und schon deshalb anfällig für Langeweile, die bei Rögner aber nicht aufkommt. Einmal mehr erweist sich der Rundfunkchor Berlin seiner Meisterschaft. Es spielt das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester, dessen Chef Rögner von 1973 bis 1993 gewesen ist.

Eine der besten Aufnahmen, die Peter Schreier gemacht hat, ist für mich die Serenade für Tenor, Horn und Streicher von Benjamin Britten, der in der DDR gut gelitten war und zu einer Aufführung seines War Requiem persönlich nach Ostberlin kam. Schreier findet den sehr intimen Ton dieses Liederzyklus nach Gedichten verschiedenen Autoren. Der CD, die ebenfalls von Brilliant Classics wieder aufgelegt wurde (94728), ist der Zyklus Les illumationes, bestehend aus zehn Nummern nach Versen von Arthur Rimbaud vorangestellt. Die von Kegel betreute Aufnahme entstand 1967 in Leipzig und zeigt Schreier auf seinem  Höhepunkt als Sänger.

GurreliederFast zwanzig Jahre später nahm sich der Dirigent Arnold Schoenbergs Gurrelieder vor, jene monströse Kantate nach einer Novelle von Jens Peter Jacobson. Sie ist nun ebenfalls im Katalog von Brilliant Classics eingegangen (94724). Die Rundfunkchöre Berlin und Leipzig werden durch den Prager Männerchor verstärkt. Verstärkung holte sich auch die Dresdner Philharmonie vom Rundfunk-Sinfonie-Orchester aus Leipzig. Der gewaltige Apparat kommt nur selten in Gänze zum Einsatz, Kegel betont zudem die intimen Seiten. Eva-Maria Bundschuh, als Isolde gefeiert, gibt die Tove, Rosemarie Lang die Waldtaube, Manfred Jung, der Bayreuther Siegfried bei Patrice Chéreau, den Waldemar, Ulrik Cold – in Kegels Leipziger Parsifal der Gurnemanz – den Bauer. Als Erzähler wurde kein Geringerer als Gert Westphal engagiert, der einen merkwürdig altmodischen Zug in die ansonsten sehr diesseitige Aufnahme einbringt. Informationen über die Trackabfolge, die bei diesem Werk zwingend ist, muss man sich im Internet auf der Seite des Labels zusammensuchen. Das ist zu wenig.

Franz Schuberts Religiöses Drama Lazarus, das nur als Fragment überliefert ist, wurde öfter aufgenommen als zunächst zu erwarten wäre. Die Einspielung mit der Berliner Singakademie und der Staatskapelle unter Dietrich Knothe – entstanden 1978 im Studio – steht also in Konkurrenz. Erschienen ist sie als Neuauflage nun ebenfalls unter dem Brilliant-Etikett (94704). Der 2000 gestorbene Knothe galt als einer der renommiertesten Chorleiter der DDR und war zeitweise Direktor der Singakademie. Er steht für eine leichte, fast federnde Deutung ohne jede Erdenschwere. Dabei folgt ihm der Tenor Eberhard Büchner als Lazarus mit seinem hellen, jungenhaften Tenor. Eine sehr gelungene Aufnahme ist das, der ihr Alter überhaupt nicht anzuhören ist.

Rüdiger Winter

Don Davis: „Río de Sangre“

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Kleine Frage am Anfang. Was verbindet die Sciencefiction-Trilogie Matrix, die Kultstatus unter Filmfans genießt, mit der Oper Río de Sangre? Es ist der Komponist Don Davis. Der Amerikaner, Jahrgang 1957, ist eine Kapazität für Film- und Fernsehsoundtracks, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Im Klassikbereich aber ist er bisher weniger aufgefallen, es gibt vorwiegend Kammermusik von ihm, aber auch eine Symphonie und ein umfangreiches Chorwerk. Fehlte noch die Oper. Die Florentine Oper in Milwaukee gab Davis die Chance, sich in dem Genre auszuprobieren. 2010 erlebte dort Río de Sangre Premiere. Die Story ist, wen wundert es, packend und plakativ, eben filmreif. Sie handelt von kruden politischen Verhältnissen in einem fiktiven südamerikanischen Staat. Im Zentrum steht das Staatsoberhaupt Delacruz, der nicht nur durch Intrigen und Machtansprüche seiner Gegner das Amt verliert, sondern durch den Tod beider Kinder eine private Tragödie erlebt. Real sind die Ereignisse nicht, doch der Plot könnte tatsächlich so stattgefunden haben oder stattfinden. Das Ganze ist großes Drama, das sich im Sologesang allerdings wenig widerspiegelt. In das mehr oder weniger vorherrschende Konversationsparlando sind nur gelegentlich Arien eingestreut, vokal wirklich fesselnd sind nur die teilweise bombastischen Chöre. Viel spannender ist die Orchesteruntermalung, die die Szenen bildhaft illustriert – hier offenbart sich der gewiefte Filmmusiker. Davis mixt Minimal Music mit spätromantischer Üppigkeit und peppt sie mit südamerikanischen Tanzrhythmen auf. Die Meriten der Aufnahme, die auf der Uraufführungsproduktion basiert, liegen denn auch in der Souveränität und Vitalität, mit der Joseph Rescigno am Pult des Milwaukee Symphony Orchestra die ganze instrumentale Farbpalette ausreizt. Sängerisch erfüllt sie nicht höchste Ansprüche, nimmt aber durch die theatralische Atmosphäre für sich ein. Guido LeBron verfügt über einen stabilen Bariton, doch mangelt es ihm an Charisma für die umfangreiche Partie des Präsidenten. Sein Gegenspieler Guajardo ist bei dem scharfen Charaktertenor von John Duykers gut aufgehoben. Die bewegendsten Momente gehören Delacruz’ Gattin Antonia. Kerry Walsh singt die zwei großen Szenen, in denen sie um ihre beiden toten Kinder trauert, mit Hingabe und gut sitzendem Sopran. Von der Stimmfarbe unterscheidet sich Ava Pine als Tochter Blanca kaum von ihrer Mutter, nur klingt die Höhe angestrengter. Nicht allerdings beim Liebesduett mit Igneo, den Vale Rideout mit angenehmem Tenor ausstattet – da gewinnt der Sopran an Wärme. Gut konsumierbar ist Rio de Sangre allemal, doch solchen Kultstatus wie der enorm erfolgreiche Kinostreifen Matrix wird die Oper wohl nicht erlangen. Karin Coper

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Don Davis: Río de Sangre mit Guido LeBron (Christian Delacruz), Kerry Walsh (Antonia Delacruz), John Duykers (Jesùs Guajardo), Ava Pine (Blanca), Vale Rideout (Igneo), Mabel Ledo (Estella), Rubin Casas (Bishop Ruiz) u. a.; The Florentine Opera Chorus (William Florescu), Milwaukee Symphony Orchestra; Leitung: Joseph Rescigno; Albany Records, Troy 1296/97

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Nicht nur doppelt gemoppelt

Gleich zwei Bücher sind 2013 von Karl Löbl, dem Wiener Kritiker- und Operngiganten, erschienen, und wenn man das Nachwort des zweiten gelesen hat, wünschte man ihm von Herzen, dass er im gerade angebrochenen neuen Jahr auch noch das dritte, gerade in Arbeit befindliche vollenden kann, ihm die Krebserkrankung die Zeit dazu lässt. Das Schicksal wollte es anders. Karl Löbl ist am 27. Januar 2014 gestorben.

41iKGXOSIPLDer Balkonlöwe  nennt sich das eine Buch, das ihn mit wenig Haaren in einer der Logen der Wiener Staatsoper zeigt, Nach den Premieren das andere. auf dessen Cover er bereits kahlköpfig an einem Kaffeehaustisch sitzt. Eher den österreichischen Lesern zu empfehlen ist der Salonlöwe, denn hier geht es zunächst einmal um Kindheit und Jugend des Halbjuden in Wien, der 1943 seine Liebe zur Oper bei einem Troubadour entdeckt und ihr 70 Jahre lang treu bleibt. Das ist noch von allgemeinem Interesse, weniger der Weg des Journalisten durch die Zeitungslandschaft Wiens, durch seine Rundfunk- und Fernsehanstalten bis hin zum nicht nur Balkon-, sondern eher noch Kulturlöwen, wobei man nicht an das eher abfällige Salontiroler oder Salonlöwe denken mag. Wie ein roter Faden zieht sich durch beide Bücher die Geschichte von dem Interview, das einst Karl Böhm zur Demission als Operndirektor zwang und in dem er erklärt hatte, für die Staatsoper Wien würde er nicht seine internationale Karriere opfern. Da scheint dem Verursacher noch Jahrzehnte danach selbst bange vor der Macht der Medien zu werden. Eine ähnliche Bedeutung hatte dann wohl nur noch die „Kredenz auf Radln“, die Gertrud Grob-Prandl zu seiner Intimfeindin werden ließ. Siegreich bestand der Autor jedoch alle Prozesse von Beleidigten, so auch Tänzern im allgemeinen und Hans Beirer, der kein Dinosaurier genannt sein wollte, im besonderen. Neben „meinen Sängern“ (Jurinac, Di Stefano, Domingo u.a.), über die vieles auch im zweiten Buch zu lesen ist, „meinen Dirigenten“ mit interessanten Aussagen besonders über Karajan, Carlos Kleiber, Bernstein und Mehta, den 12 Operndirektoren der Wiener Staatsoper, die allgemein interessieren, gibt es auch viel über Chefs, Vorbilder und Kollegen zu berichten. Zum Verständnis all dessen braucht man schon recht viel Insiderwissen, weshalb noch einmal auf das zweite Buch verwiesen werden soll. Probleme der Programmgestaltung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und den Stellenwert der Kultur wird auch der nicht-österreichische Leser als für ihn relevant erkennen können. Auch mit Anekdotischem wird nicht gespart wie dem Schreck Holenders, als ihm Thielemanns Mutter in der Direktorenloge offenbart, ihr Sohn würde nur einen Tristan und nicht die ganze Serie dirigieren. Der Verfasser ist sogar Urheber einer solchen, wenn er Holender  „Herr Niederländer“ nannte, nachdem dieser seinen Dramaturgen Wagner Trenkwitz mit „Müller Thurgau“ angeredet hatte. Viermal konnte sich der Autor selbst Hoffnungen auf den heiß begehrten Direktorensessel machen, ohne je darauf zu sitzen. Nostalgisch wird es, wenn Löbl den Profilverlust der Staatsoper, aber auch der Dirigenten und ihres jeweiligen Stils  und den Niedergang Salzburgs beklagt sowie die übergroße Verfügbarkeit von Musik heutzutage. Neben vielen anderen, die den Lebens- und Karriereweg Löbls kreuzten, wird auch Marcel Prawys gedacht, den er in gewisser Weise beerbte.

Der Untertitel des zweiten Buches (Nach den Premieren) ist Mein Leben in und mit der Oper, und so spielt diese hier auch eine noch größere Rolle als bereits im ersten Band. Da ist vom Figaro im Ausweichquartier der Staatsoper die Rede, als in Deutschland noch gekämpft wurde, von dem Interesse der Sowjets am Wiederaufleben der Kultur in der Viersektorenstadt, vom Konzert der Philharmoniker bereits am 28.4.1945. Auch die „gottbegnadeten Künstler“, die nicht eingezogen werden durften und den Nazis fast so wertvoll erschienen wie der „unersetzliche“ Furtwängler auf Hitlers Spezialliste, werden erwähnt. Triumphe und Niederlagen von Direktoren, Dirigenten und Sängern werden beschrieben wie der Streik wegen des „maestro suggeritore“, den Karajan nicht für seine italienischen Sänger durchsetzen konnte. Schmunzeln muss man, wenn man liest, dass Domingo 1973 erklärte, er wisse, wann er aufzuhören habe, und wenn man erfährt, dass der Tenor an einem Abend Luigi an der Volksoper und Canio an der Staatsoper sang. Ungeheuer reich ist das Wissen Löbls um das Wiener Musikleben, und er vermittelt es da am eindrucksvollsten, wo er selbst am Geschehen beteiligt war, während bei den Kurzbiographien vor allem der jüngeren Sängern ein Lexikon einen besseren Dienst leisten würde. Kleine Ungenauigkeiten sind dabei verzeihbar wie die Annahme, die Höflinge würden dem Duca mitteilen, sie hätten Rigolettos Tochter entführt, wenn Otto Schenk Janáceks Das schlaue Entlein 2014 inszenieren soll, wenn Flavio neben Norma auf der Bühne steht. Ghiaurovs nie erfüllter Wotan-Wunsch, Frenis ursprünglicher Name Fregni, Del Monacos Sprüche über Wagner bei seinem Siegmund in Stuttgart, Siepis Musical-Ausflüge – das alles liest sich ebenso spannend wie die Erzählungen über Baltsas, Cotrubas’ und Fassbaenders schlechte Erfahrungen mit Regisseuren oder ein Vergleich zwischen Nilsson und Mödl. Dankenswerterweise beschränkt sich Löbl nicht auf die großen Namen, sondern widmet sich auch weniger bekannten Sängern, die aber unverzichtbar für das Haus waren. Dass Luis Limas Karriere in Wien abrupt endete, weil sein Pass nicht verlängert wurde, wusste man ebenso wenig wie der Betriebsunfall bekannt war, dass gleichzeitig Karajan und C. Kleiber der Tristan angeboten wurde, wovon schließlich Bernstein profitierte. Ein besonderes Kapitel ist den Wiener Stimmen gewidmet, denen immer die besondere Sympathie des Publikums galt und gilt. Manches ist Statistik wie die 41 Wotane in Wien oder die 44 Jahre, die Taddei am Haus sang. Manches ist amüsante österreichische Spezialität wie der Kampf um die Bezeichnung „Generalmusikdirektor“, anderes wieder stammt aus Memoiren von Sängern, was verzeihbar, oder aus Interviews der Gattin Hermi Löbl, was hoch interessant ist. Aufgeklärt wird der Leser über den Unterschied Staatsopernorchester und Wiener Philharmoniker, über Stehplatzfreunde und -feinde, darüber, dass Max Lorenz eigentlich Max Sülzenfuß hieß. Auch der beste Kenner der Wiener Staatsoper wird noch etwas Neues über die Institution Wiener Staatsoper und ihren Chronisten erfahren (Der Balkonlöwe/ Seifert Verlag Wien ISBN 978 3 902424 00 und Nach den Premieren/Seifert Verlag Wien ISBN 978 3 902924 06 3).

Ingrid Wanja