„Magie live erleben!“

Er hat mit den Topstars der Opernszene gearbeitet und setzt sich vehement für Neue Musik ein, ganz aktuell beispielsweise für Mark Andres „wunderzaichen“ (Uraufführung im März 2014): Mit Sylvain Cambreling (65), dem Generalmusikdirektor der Oper Stuttgart, unterhielt sich Hanns-Horst Bauer über Provokationen, Bühnenintelligenz und Kulturpolitik.

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Gleich drei wichtige Dirigentenposten hier in Baden-Württemberg sind mit französischen Maestri besetzt. Stéphane Denève beim SWR-Sinfonieorchester in Stuttgart, François Xavier Roth in Baden-Baden und Freiburg und Sie an der Oper Stuttgart. Wie erklären Sie sich diese französische „Übermacht“? Ich glaube nicht, dass da eine Strategie dahintersteckt, es ist sicher reiner Zufall. Bemerkenswert ist allerdings, dass diese drei Dirigenten sehr wenig in Frankreich dirigieren. Ich dirigiere überhaupt nicht mehr in Frankreich, obwohl meine Karriere ja dort begonnen hat. Mit französischen Orchestern und dem französischen Publikum hatte ich eigentlich schon immer Probleme. Wenn ein Franzose einen Großteil seiner Karriere außerhalb von Frankreich macht, dann nimmt man ihm das ein wenig übel. Aber ich muss ganz klar bekennen, ich fühle mich nicht als Franzose, sondern als Europäer.

Sie haben 1998 bei den Salzburger Festspielen in Mozarts „Hochzeit des Figaro“ bei den Rezitativen das Cembalo durch einen Synthesizer ersetzt. Das wurde in Salzburg wie danach auch  bei der Wiederaufnahme der Produktion in Paris als Skandal empfunden. Wollten Sie das Publikum ganz bewusst provozieren? Nein, ganz bestimmt nicht! Auf der Opernbühne können und dürfen Regisseure sehr viel wagen, wohingegen im Orchestergraben musikalisch alles immer gleich ablaufen muss. Aber in einer modernen Produktion dieser Mozart-Oper muss man auch mal die sich doch etwas in die Länge ziehenden Rezitative hinterfragen dürfen, ohne das gleich zum Modell machen zu wollen. Das Publikum sollte sie nicht als bloße Wartezeit auf die nächste Arie empfinden. Nach dieser Aufführung hat man mehr über die Rezitative diskutiert als über die ganze Aufführung. Ich versuche, das Stück, das wir machen, echt und glaubwürdig, jenseits von Routine zu musizieren. Denn es gibt in jedem Musikstück ein Geheimnis, etwas, was wir noch nicht entdeckt haben. Mir kommt es darauf an, dem Publikum die Musik nahezubringen und zu zeigen, welche Gefühle sie heute in uns provozieren kann.

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sie sind jetzt in der zweiten Spielzeit Generalmusikdirektor der Oper Stuttgart. Was hat Sie gerade an diesem Haus  gereizt? Stuttgart war in der Opernlandschaft schon immer etwas ganz Besonderes. Als Opernintendant Jossi Wieler mich gefragt hat, ob ich Lust auf das Amt des GMD hätte, habe ich deshalb auch ganz spontan Ja gesagt. Ich hatte den Eindruck, dass hier eine ganz besondere, eine „gesunde“ Atmosphäre herrscht. Stuttgart ist ein Haus mit einem sehr großen, breit angelegten Repertoire, wo die Produktionen nicht blockweise gespielt werden, sondern parallel auf dem Spielplan stehen, sodass die Gefahr eines „Herunterspielens“ gar nicht erst aufkommen kann. So etwas funktioniert allerdings  nur mit einem richtigen Ensemble. Und damit meine ich das ganze Haus. Für mich gehört dazu, dass ich neben meinen anderen Verpflichtungen sechs Monate in der Saison in Stuttgart bin. Schließlich dirigiere ich hier nicht nur Premieren, Repertoire-Aufführungen und Konzerte, sondern fühle mich insgesamt für die Musik am Haus verantwortlich.

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sind Jossi Wieler und sein Chefdramaturg Sergio Morabito für Sie auch das Regie-„Dreamteam“, als das sie oft bezeichnet werden? Wohl schon, denn wir sind alle neugierig, Routine kommt da nicht auf. Vor allem aber steht bei unserer gemeinsamen Arbeit der Mensch im Mittelpunkt. Wir fragen uns bei jeder Inszenierung, was das Stück über uns erzählt, so wie jetzt auch bei dem von Andrea Moses neu inszenierten „Falstaff“ von Giuseppe Verdi.

Was erwarten Sie von den Sängern? Die Zeiten der großen Diven sind vorbei. Heute werden an die Sänger ganz andere Anforderungen gestellt. Nur an der Rampe stehen und schön singen, das reicht schon lange nicht mehr aus. Heute müssen die Sänger über die Rollen, die sie verkörpern, auch nachdenken. Da sind Bühnenintelligenz und Charakter gefragt.

Sie haben mit vielen Top-Stars zusammengearbeitet, bei Mozarts „Don Giovanni“ auch mit Anna Netrebko an der New Yorker Met. Wie sehen Sie den Starkult, der mit ihr und neuerdings auch mit Jonas Kaufmann und anderen getrieben wird? Anna Netrebko war und ist immer noch eine ganz unkomplizierte Person und eine wunderbare Sängerin. Mit Jonas Kaufmann habe ich schon viel gemacht, aber für Stuttgart, wo er  früher auch regelmäßig gesungen hat, ist er jetzt leider nicht mehr bezahlbar. Kaufmann gehört heute ganz sicher zu den besten Tenören der Welt; aber ich will nicht immer die gleiche Person mit der gleichen Frisur auf der Bühne sehen. Egal, was er singt, Kaufmann ist auf der Bühne immer nur Kaufmann. Das ist ähnlich wie bei Pavarotti, nur sieht Kaufmann besser aus.

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Kann man mit solchen Stars, die es sogar bis in die Popcharts schaffen, Begeisterung für die Gattung Oper wecken? Wirklich begeistern und überzeugen kann man die Leute nur, wenn sie zu uns ins Opernhaus kommen und diese Magie, diesen Klang live erleben. Gerade junge Leute sind dann, diese Erfahrung habe ich gemacht, immer wieder fasziniert und können es kaum glauben, dass Stimmen ohne Mikrophon und Verstärker ganz locker einen so großen Raum füllen können.

 Weitaus schwieriger dürfte es sein, Menschen für die Musik der Gegenwart zu begeistern, für die Sie sich seit vielen Jahren  nicht nur bei den Donaueschinger Musiktagen einsetzen. Auch diese neue Musik muss man live erleben. Leider haben viele Orchester sie in den vergangenen Jahrzehnten mit wenig Begeisterung und deshalb schlecht gespielt. Das Publikum hat das vielleicht nicht wirklich gehört, aber doch gespürt und gesehen. Ich erwarte vom Orchester genau das, was es vom Dirigenten erwartet: Die größten Meister sind nicht die Musiker und nicht die Dirigenten, sondern die Komponisten selbst. Für die müssen wir Emotionen spüren und produzieren, Lust auf die Musik haben und vibrieren. Und der Dirigent muss optimal vorbereitet sein, Charisma ausstrahlen und vor allem eine perfekte Dirigier-Technik haben.  Das alles ist extrem schwierig, und das Lernen ist eigentlich nie zu Ende. Wenn man am Pult den Kopf nur in der Partitur hat, dann hat man keine Chance. Die Musiker wollen Blickkontakt, wollen etwas lernen. Dabei sollte man so wenig wie möglich mit Worten erklären, am wichtigsten sind die Arm- und Handbewegungen. Der Gestus produziert den jeweils ganz persönlichen Klang eines Dirigenten.

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Wie sind Sie eigentlich zur Musik gekommen? Ich stamme aus einer richtigen Musikerfamilie. Meine Großmutter war Opernsängerin, mein Großvater Fagottist und meine Mutter Klavierlehrerin. So haben meine acht Geschwister und ich schon sehr früh gemeinsam musiziert. Zunächst habe ich Posaune, Tuba, Kontrabass und Schlagzeug gespielt, wusste aber bis zum Alter von 17 Jahren noch nicht, ob ich nun Musiker oder doch lieber Schauspieler werden sollte. Als Posaunist im Orchester habe ich dann bei manchen Dirigenten gedacht, so wie die kann ich das auch. So habe ich dann Dirigieren studiert und im Verlauf nur eines Jahres in Rekordzeit mein Diplom geschafft.

Das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg haben Sie verlassen, als noch nicht bekannt war, dass es mit dem Orchester in der Landeshauptstadt zusammengelegt werden sollte. Was empfinden Sie bei dieser Fusion? Ich bin wütend und sehr traurig. Empört hat mich vor allem, dass mit meinem Nachfolger in Baden-Baden und mit dem Nachfolger von Sir Roger Norrington in Stuttgart Verträge abgeschlossen wurden, ohne sie über die Fusions-Absichten zu informieren. Wenn die Politik jetzt auch noch rigoros an den Musikhochschulen des Landes den Rotstift ansetzt, dann zeigt das, welchen Stellenwert die Kultur mittlerweile in Deutschland einnimmt. Für den Sport wird viel Geld locker gemacht, für Kultur leider nicht. Ich bin enttäuscht und entsetzt.

 

 

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Sylvain Cambreling/ © Hanns-Horst-Bauer

Biographie Sylvain Cambreling, 1948 in Amiens (Frankreich) geboren, wurde nach Studien in seiner Heimatstadt und am Conservatoire de Paris Co-Direktor der Opéra Nouveau Lyon. 1978 gab er mit Jacques Offenbachs Les contes d`Hoffmann sein Debüt an der Opéra National de Paris. Von 1981 bis 1991 war er Generalmusikdirektor des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel und danach, von 1993 bis 1997, GMD und Künstlerischer Intendant an der Oper Frankfurt. Wegen „Inkompetenz und Gleichgültigkeit“ der Kulturpolitiker verließ er Frankfurt und wurde  1999 Chefdirigent des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. 2012 übernahm er als Nachfolger von Manfred Honeck das Amt des Generalmusikdirektors der Oper Stuttgart. Hier war er in der Saison 2013/14 für die Neuinszenierungen von Falstaff, Tristan und Isolde und für die Uraufführung von Mark Andres wunderzaichen (sic) verantwortlich. Cambreling gastierte unter anderem regelmäßig bei den Wiener und  den Berliner Philharmonikern, beim BBC Symphony Orchestra und dem Cleveland Orchestra sowie bei den Salzburger Festspielen. Seit 1997 ist er Erster Gastdirigent beim auf Neue Musik spezialisierten Klangforum Wien und seit 2010 Chefdirigent des Yomiuri Nippon Symphony Orchestra in Tokyo. 2012 erhielt er das Bundesverdienstkreuz für seine „überragenden künstlerischen Leistungen, die das Musikleben Baden-Württembergs und der Bundesrepublik unermesslich bereichert haben“. hhb 

 

 

 

Fotos: Hanns-Horst Bauer