Archiv für den Monat: Oktober 2025

Weit vor Puccini

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Freunde seltener und kaum aufgeführter Opern werden begeistert gewesen  sein, als die Nachricht kam, dass das Teatro Sociale Como Antonio Bazzinis Oper Turanda von 1867 (mit nur einer Aufführung an der Mailänder Scala) im Oktober 2025 gegeben werden sollte. Bazzini, Lehrer von Puccini, mit einer Oper fast gleichen Titels wie die seines Schülers? Zudem seine einzige? Doch außerordentlich spannend, zumal sich kaum etwas dazu im Netz findet, nicht einmal die Premierenbesetzung. Deshalb war die Nachricht aus Como um so bedeutender. In der Folge haben wir drei Artikel zur Oper versammelt, die – leider – weniger auf die Musik, aber doch auf die Textlage und die Umstände eingehen. Und genügend Material für eine weitere in unserer Reihe Die vergessene Oper bieten. G. H.

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Unser Bild von Turandot, das weitgehend die größte Anzahl von Interpretationen in verschiedenen Genres, insbesondere in der Oper, beinhaltet, wurde durch die von Giacomo Puccini geprägt. Dennoch sind über zehn ihrer Opernvorläufer noch immer relativ unbekannt, unter denen ein besonderer Platz der Oper Antonio Bazzinis gebührt – dem bekannten Geigenvirtuosen, Komponisten, sozial-kulturellen Persönlichkeit und Professor am Mailänder Konservatorium Antonio Bazzini, in dessen Klasse Giacomo Puccini Schüler war. Bazzinis einzige Oper „Turanda” aus dem Jahr 1867 skizziert das Imagologem der grausamen Prinzessin in der Interpretation von Bazzini. Unter Verwendung imagologischer Methoden von Nationen, Kulturen oder Gruppen, die in Literatur und anderen kulturellen Ausdrucksformen dargestellt werden. (Die Bedeutung von „imagologisch“ bezieht sich auf die Untersuchung von Vorstellungsbildern, Stereotypen und Klischees. G. H.) (…)

Antonio Bazzini/Teatro Sociale Como

Entstanden fast 100 Jahre nach Carlo Gozzis fiaba und 50 Jahre vor Giacomo Puccinis Turandot, findet Antonio Bazzini neue, unerwartete Dimensionen des Werks zu diesem Thema im Operngenre. Ausgehend von den Elementen der Commedia dell’arte, die die Eckpfeiler von Gozzis Favola bilden, definiert Bazzini, obwohl er im Bereich der märchenhaften Handlung bleibt, das Genre seiner Oper als „asiatische Fantasie”, die trotz des dekorativen Harem- und Staatsimperiumsbildes des Orients den Prinzipien der lyrischen Oper nach französischem Vorbild folgt und sich an der Oper von Vincenzo  Bellini orientiert. Die weibliche Hauptfigur ist eine femme fatale, die im Verlauf der dramatischen Handlung einige weiche Züge annimmt und sich von einer Prinzessinnenmörderin zu einer liebenden Frau wandelt. Bazzinis Eklektizismus manifestierte sich in der Abkehr vom chinesischen Inhalt und der Erweiterung der geokulturellen Grenzen: Die Handlung spielt in Persien (der angestammten Heimat Turandots, deren komplexes  Prototypbild in Nizamis Gedicht „Sieben Schönheiten“ beschrieben wird), Prinz Calaf wird zum indischen Prinzen Nadir, wobei er die Rolle des lyrisch-dramatischen Helden beibehält. (Nizamis „Sieben Schönheiten“ – persisch Haft Peykar – ist das vierte Epos des persischen Dichters Nizami, geschrieben um 1197. Es erzählt die Geschichte von König Behram, der an sieben Tagen der Woche von sieben Prinzessinnen aus verschiedenen Ländern unter sieben unterschiedlich farbigen Kuppeln Märchen hört. Das Werk gilt als ein Juwel orientalischer Erzählkunst und verbindet die Geschichten mit der Symbolik von Gestirnen und Farben. G. H.)

Zu Antonio Bazzinis „Turanda“: Busto di Antonio Gazzoletti/Trento/Foto Nicolò Carantì/Wikipedia

Bazzini verzichtet auf die Masken und führt stattdessen eine neue, farbenfrohe Figur ein – den Zauberer Ormut, der die bösen Mächte repräsentiert, da er hoffnungslos in Turandot verliebt ist und sie mit Hilfe von Zauberei zu Morden inspiriert. Die erhabene mystisch-orgiastische Szene der Verehrung Ahrimans ist eine der besten Darstellungen spektakulärer theatralischer Exotik. Und obwohl mehr als ein Dutzend Komponisten der Romantik versuchten, die Figur der Turandot zu adaptieren, fand die Heldin ihre optimale Verkörperung in der Aura des hohen Verismus, zu dem Turanda von Antonio Bazzini als einer der Schritte auf dem Weg dorthin angesehen werden kann. Yu Wang

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Von den Manuskripten auf die Bühne: 1867 – Bazzinis Oper Turanda erhält auf der Bühne des Teatro alla Scala seine Premiere. Das Publikum reagiert zurückhaltend, die Kritiker urteilen negativ, und innerhalb weniger Tage verschwindet alles, umgeben von einer Aura des Geheimnisvollen und des Unglücks.

Pagina dal ritrovato libretto di Turanda, con le annotazioni manoscritte sceniche e di regia della prima rappresentazione al Teatro alla Scala del 1867. (Milano, Biblioteca del Conservatorio)

Das Libretto von Antonio Gazoletti wurde in Bazzinis Autograph als „fantastische Handlung” untertitelt, ein für die Opernwelt ungewöhnlicher Begriff. Aus diesem Grund bezeichneten die Kritiker es als „dramatische Absurdität”, „ein Märchen, das sich als Episode aus dem wirklichen Leben ausgeben will” und von „einer schrecklichen Verschlingerin ihrer Liebhaber” handelt (Ghislanzoni).

Ein fantastisches Thema also, vielleicht zu gewagt und inakzeptabel für die damalige Zeit, das jedoch mehr als fünfzig Jahre später in Puccinis Turandot seine endgültige Legitimation finden sollte, der übrigens auch ein Schüler Bazzinis am Konservatorium von Mailand war.

Kurz nach der Uraufführung an der Scala wurden die autographe Partitur, die Entwürfe und Kopien, die zahlreichen Orchesterstimmen, die Partituren der Sänger und des Chores, die vom Impresario und Verleger Francesco Lucca (einem erbitterten Gegner von Ricordi) vorbereitet worden waren, eine Wanderung zwischen Schenkungen und Hinterlegungen in Bibliotheken, Katalogisierungen und unverständlichen Verschwindensfällen, zufälligen Funden in jüngerer Zeit.

Bozzetto per il Primo Atto della prima rappresentazione moderna al Teatro Sociale di Como, realizzati dagli studenti del Biennio di Scenografia dell’Accademia di Belle Arti di Brera

Bazzinis persönliches musikalisches Vermächtnis wurde nämlich von seiner Schwester der Società dei Concerti di Brescia geschenkt und gelangte von dort zum Istituto Musicale Venturi, dem heutigen Konservatorium von Brescia, um dann teilweise zu verschwinden. Die vollständige autographe Partitur, die als verloren galt, wurde erst vor wenigen Jahren wiedergefunden, halb vergessen in den Archiven der Bibliothek des Konservatoriums von Mailand.

Zum ersten Mal wurden in diesem imposanten Projekt des Konservatoriums von Como die Teile dieses wiedergefundenen Materials zusammengesetzt und verglichen, und nun wird mit der qualifizierten Zusammenarbeit von Casa Ricordi zum ersten Mal eine vollständige Transkription in kritischer Überarbeitung und einer neuen Inszenierung zurückgegeben.

Die wiedergefundenen Papiere von Turanda lassen uns in der Zeit hin und her reisen. Erst vor wenigen Monaten, gerade aufgrund des Interesses, das dieses Projekt geweckt hat, wurde unglaublicherweise eine weitere unbekannte Perle wiederentdeckt: das Libretto der Uraufführung an der Scala mit allen handschriftlichen Anmerkungen zur Regie und zu den Szenen, zu den Bewegungen der Figuren und sogar zur Beleuchtung. Ein wahres historisches Dokument für alle, die sich mit der Turanda von 1867 beschäftigen möchten, während wir heute diese neue Turanda von 2025 erleben. Marcoemilio Camera/ Direktor der Bibliothek des Konservatoriums von Como

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Bazzinis „Turanda“/ Laboratorio di Ormut destinato agli studii e alle evocazioni magiche  bozzetto di Carlo Ferrario per Turanda_(1867) Archivio Storico Ricordi ICON012272

Eine wallfahrende Schönheit: Die Aufgabe, einer Partitur, die so viele Jahre lang ungespielt geblieben ist, wieder eine Stimme zu geben, ist eine Erfahrung, die neben der Freude der Entdeckung immer auch Zweifel und Ängste mit sich bringt. Die große Wertschätzung für ihren Komponisten trug dazu bei, die Fragen und Unsicherheiten bei dem ehrgeizigen Versuch zu verstärken, einen Weg zu finden, der den kompositorischen Reichtum jeder Seite voll zur Geltung bringen könnte.

Ein Reichtum, der in dieser Partitur, wie auch in verschiedenen anderen Werken Bazzinis, oft in der Reinheit einer einfachen Phrasierung, im plötzlichen Aufleuchten einer Melodie, in einem spontanen Gesang enthalten ist, der so leicht ist, dass man sich fast verpflichtet fühlt, ihn in gewisser Weise vor übertriebener Ausdruckskraft schützen zu müssen, die das edle, erhabene Gefühl seiner Kunst verraten könnte, das vielleicht sein charakteristischstes Stilmerkmal ist. Und dann der Reichtum der Form, der Führung der Stimmen, die immer in kontrapunktischem Dialog miteinander stehen, und der Orchestrierung, die in jedem instrumentalen Detail auf der Suche nach nie vorhersehbaren Klangmischungen ist.

Bazzinis „Turanda“: 18th century Persian or Indian Miniature Of Khoshrow Seeing Shirin Bathing Naked/nazmiyalantiquerugs.

Bazzini mochte den „piazzoso-Effekt” nicht, wie der Kritiker Filippo Filippi damals schrieb, als er über Turanda sprach. Seine Schönheit ist zurückhaltend, oft schamhaft, als wolle er den Zuschauer zu einem intensiveren Zuhören einladen, um ihm die Geheimnisse zu offenbaren. Das hindert ihn natürlich nicht daran, Szenen zu schreiben, die von Eindringlichkeit und Imposanz geprägt sind, wie zum Beispiel die Finales des ersten und zweiten Aktes oder das Duett zwischen Turanda und Ormut im dritten Akt. Szenen, die jedoch niemals in Effekthascherei oder in den verwirrenden Nebeln einer leichtfertigen futuristischen Romantik versinken. Das Erstaunlichste an seinem Operndebüt ist außerdem sein angeborener Sinn für das Theater, der sich in einem ständigen Dialog zwischen Bühne und Orchestergraben ausdrückt, der stets darauf bedacht ist, jede narrative Nuance des Librettos hervorzuheben.

All dies machte Turanda zu einer wichtigen, vielleicht sogar einzigartigen Forschungsgelegenheit für alle beteiligten Dozenten, vor allem aber für die Studenten des Orchesters und die jungen Solisten und Chorsänger, die sich von Anfang an bereit zeigten, eine lange Studienzeit auf sich zu nehmen, immer motiviert von dem Wunsch, diesem zunächst unbekannten Komponisten Tribut zu zollen, der dann, Probe für Probe, von allen immer mehr geliebt und geschätzt wurde. Studenten und Kollegen, denen ich meinen aufrichtigen Dank ausspreche. Bruno Dal Bon/Dirigent

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Antonio Bazzini (before_1897)/ Archivio Storico Ricordi FOTO 000436

Der Komponist: Antonio Bazzini (* 11. März 1818 in Brescia; † 10. Februar 1897 in Mailand) war ein italienischer Komponist, Violinist und Musikpädagoge. Er wurde als Geigenvirtuose international bekannt und unterrichtete später am Mailänder Konservatorium. Zu seinen bekanntesten Werken zählt das Violinstück La ronde des lutins.

Antonio Bazzini erhielt seine musikalische Ausbildung bei Faustino Camisani (1772–1830) und trat im Alter von zwölf Jahren erstmals öffentlich als Violinist auf. Ab 1842, gefördert von Niccolò Paganini, unternahm er Konzertreisen durch Europa und Antonio wurde dabei unter anderem in Deutschland bekannt. Verdient machte sich Bazzini auch durch seine Bemühungen um die Einführung deutscher Instrumentalmusik in Italien. Ab 1852 lebte er in Paris, von wo aus er seine Konzertreisen fortsetzte. Eine letzte Konzertreise führte ihn 1864 durch die Niederlande. 1873 wurde er Professor für Komposition am Mailänder Konservatorium, zu seinen bedeutendsten Schülern zählten Pietro Mascagni und Giacomo Puccini. 1882 übernahm er die Leitung des Konservatoriums.

Von ihm stammen mehrere Streichquartette, Violinkonzerte, Ouvertüren und Symphonien, sowie die Oper Turanda (Mailand, 1867). Für die von Verdi angeregte Messa per Rossini komponierte Bazzini das dritte Stück, Dies Irae. Außerdem hinterließ er eines der wichtigsten Stücke der virtuosen Geigenliteratur, den Tanz der Kobolde op. 25 („La Ronde des Lutins“). Wikipedia

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Bazzinis „Turanda“: Zahra Khanom Tadj al-Saltana, Persian Princess/ Pinterest

Zum Inhalt: Erster Teil.  In Modain, der Hauptstadt Persiens, singen die Tempelpriester eine Hymne zum Gebet an die aufgehende Sonne. Bürger und Händler ehren den Gott an diesem Festtag. Nadir, ein in Ungnade gefallener indischer Prinz, bleibt stehen, um die an den Wänden hängenden Begräbnistrophäen asiatischer Prinzen zu betrachten, und trifft zu seiner großen Überraschung seinen alten Freund und Lehrer Ormut, den Hohepriester des Königreichs. Nadir erzählt Ormut von seinem Unglück und bittet ihn, seinen Namen niemals auszusprechen Der Zauberer erzählt seinerseits von seinen Wechselfällen und erklärt Nadir den Grund, warum die Begräbnis-Trophäen ausgestellt sind: Turanda, die stolze Tochter von Cosroe, König von Persien, weigert sich, aus politischen Gründen zu heiraten und sich den Regeln der Gesellschaft zu fügen: Sie hat versprochen, nur denjenigen zur Heirat zu akzeptieren, der drei Rätsel lösen kann, und stattdessen jeden zu töten, der die Prüfung nicht besteht. Ormut lädt Nadir ein, sich selbst von der Schönheit der Prinzessin zu überzeugen, die inzwischen mit dem königlichen Gefolge eintrifft. Nadir ist hingerissen vom Anblick Turandas, die in ihrem Gesang die Sonne anfleht, in ihrem Willen standhaft zu bleiben. Nachdem er Turandas Gesang gehört hat, beschließt Nadir entschlossen, den Gong zu schlagen, um sein Schicksal herauszufordern. Cosroe, der alte und unsichere König, fleht seine Tochter an, ihre Entscheidung zu überdenken, aber Turanda bleibt standhaft in ihrem Vorsatz, sich für das weibliche Geschlecht einzusetzen: Alle Könige der Welt müssen sich ihrem Willen beugen. Ormut eilt herbei, um Turanda und Cosroe mitzuteilen, dass der achte Prinz bald sein Glück versuchen wird.

Bazzinis „Turanda“/Memoirs of Taj al Santana – From the Harem to Modernity/Pinterest

Zweiter Teil. Im großen Gerichtssaal sind Priester, Richter und Magier bereit, den Kandidaten zu empfangen. Cosroe drückt seine Traurigkeit aus. Turanda tritt ein, gefolgt von ihrem Gefolge aus Dienstmädchen und Sklavinnen, sowie Nadir, der sich entscheidet, den Richtern seinen Namen nicht zu verraten. Turanda stellt die ersten beiden Rätsel, die Nadir lösen kann. Beim dritten Rätsel beschließt Turanda, ihre Augen zu enthüllen, um Nadir mit ihrem Blick zu verzaubern und ihn zu verwirren. Der Prinz schafft es jedoch nach anfänglichem Zögern, auch das dritte Rätsel zu lösen. Die allgemeine Begeisterung und Jubel werden sofort durch Turandas Entschluss gebremst, lieber zu sterben, als sich dem Gesetz zu beugen. Nadir schlägt ihr daher einen Waffenstillstand vor und schlägt ihr seinerseits eine Herausforderung vor: Wenn Turanda es am nächsten Tag schafft, seinen Namen zu nennen, wird sie frei sein. Die Prinzessin nimmt an.

Vittorio Zago (Direttore del Conservatorio di Como)/Foto Zago

Dritter Teil. In seinem Laboratorium drückt Ormut seine Zuneigung zu Nadir aus, den er wie einen Sohn betrachtet. Der Zauberer ist entschlossen, seinen Namen nicht preiszugeben, wenn Turanda um Hilfe bittet. Turanda kommt in die Werkstatt, um durch Ormut die Sterne des Himmels und der Unterwelt zu befragen und so den Namen des unbekannten Prinzen zu erfahren. Die Antwort der Geister und dunklen Mächte, die Ormut beherrscht, enttäuscht jedoch ihre Erwartungen: Sowohl die Sterne als auch die Unterwelt weigern sich dreimal, den Namen des Prinzen preiszugeben. Turanda bricht in Wut und Tränen aus.

Cosroe und Nadir feiern unterdessen ein Festmahl, während Adelma, die insgeheim den Prinzen liebt, mit dem Harfenchor ein Lied anstimmt. Nadir zieht sich in seine Gemächer zurück und ruft das Bild seiner Geliebten herbei, während er in einen tiefen Schlaf fällt, verursacht durch das Schlafmittel, das Adelma ihm auf Befehl Turandas eingeflößt hat.

Turanda und Adelma betreten das Zimmer des Prinzen, der in schlafwandlerischen Visionen unter vielen Frauen nach Turanda sucht. Als er sie erblickt, verrät er in einem Anflug von Zuneigung unbewusst seinen Namen und fleht die Prinzessin an, ihn in ihre Arme zu schließen. (Aus dem Programmheft Teatro Sociale Como)

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Bazzinis „Turanda“/ Premierenbericht 1867/UGA

Wie stets bei uns haben Artikel über seltene oder unbekannte Operntitel viele Väter. In diesem Falle danken wir dem  Conservatorio Como für die Bereitstellung des Programmheftes zur Aufführung in Como im Oktober 2025, Alissa Balocco von der Organisation Skil & Music sowie dem Musikwissenschaftler Yu Wan, dessen Einleitung zu seiner Untersuchung „Der wenig bekannte Vorläufer von Giacomo Puccinis „Turandot“ – „Turanda“ von Antonio Bazzini“ vom Januar 2019 in „Wissenschaftliche Sammlungen der Nationalen Musikakademie Lemberg, benannt nach M. V. Lysenko“; DOI:  10.33398/2310-0583.2019.45.290.308 wir mit Dank übernahmen. Übersetzung aus dem Italienischen und Englischen DeepL/G. H.; Redaktion G. H.

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Turanda;  Azione fantastica in quattro parti (1867) ; Musica di Antonio Bazzini ; Libretto di Antonio Gazzoletti ; Turanda Anna Cimmarrusti ; Nadir Weihao Du ; Ormut Yonghyun Kim ; Cosroe Minsu Kim ; Adelma Aziza Omarova ; Lee Juhyeon ; Direttore Bruno Dal Bon ; Regia Stefania Panighini ; Scene e costumi  Studenti del Biennio di Scenografia Teatro e Costume per lo Spettacolo dell’Accademia di Belle Arti di Brera ; Maestri del coro Matteo Castelli e Domenico Innominato ; Assistente alla regia Ai Takagi Donno ; Coro del Conservatorio «Giuseppe Verdi» di Como ; Filarmonica del Conservatorio «Giuseppe Verdi» di Como ; Nuovo allestimento del Conservatorio «Giuseppe Verdi» di Como; Aufführungen 26. Oktober 2026 im Teatro Sociale di Como, mit einer Wiederaufnahme am Montag, 8. Dezember 2026 im Teatro Lirico „Giorgio Gaber” in Mailand. Die Oper ist eine Produktion und ein Projekt des Conservatorio Como, aufgeführt im Teatro Sociale Como.

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Abbildung oben: A Persian princess with her courtesans in a 17th century garden. Fresco from the Palace of the 40 Columns (Chehel Sotoun) in Isfahan (Isfahan or Espahan, Esfahan), Iran./instagram

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Sonnig bis neblig

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Welcher im italienischen Fach reüssierende Tenor möchte auf eine Aufnahme neapolitanischer Lieder verzichten und seine Stimme nicht mit Sole mio, Funiculi und Cor `Ngrato verewigt sehen und hören, obwohl einiger Mut dazu gehört, sich mit Giuseppe Di Stefano, José Carreras oder Luciano Pavarotti zu messen. Da muss manchmal auch ein hoch gestecktes Ziel dafür herhalten, sich der Konkurrenz zu stellen, so wenn der samoanische Tenor Pene Pati durch den Mund seines Begleiters Antonello Paliotti erklärt: „Unser Ziel besteht darin, die kultivierten Elemente hervorzuheben, die bereits in den gesungenen Stücken vorhanden sind…..mit Verweisen auf Debussy, Ravel usw., während in den Instrumentalstücken die Verweise auf die mündliche Überlieferung mit unregelmäßiger Formstruktur, den frenetischen Rhythmen, den harten und dissonanten Melodien, die typisch für die Popkultur und insbesondere für die neapolitanische Tradition sind, deutlicher hervortreten.“

Wichtiger dürfte allerdings erst einmal sein, über die stimmlichen Mittel und das Einfühlungsvermögen in eine fremde Kultur zu verfügen, über welche Voraussetzungen der Tenor, wenn man seine bisher in USA und Europa sehr erfolgreich verlaufene Karriere betrachtet, zu verfügen scheint. Neben vielen anderen Preisen gewann er den der Operalia von 2015 und von Cardiff, er wurde von Dennis O’Neill und Kiri Te Kanawa gefördert, hatte bereits in Neuseeland mit seinem ebenfalls als Tenor erfolgreichen Bruder Amitai Pati und seinem Cousin  als Teil eines Trios auf sich aufmerksam gemacht. 2024 erschien eine CD mit dem ebenfalls den Hang zum Populären offenbarenden Titel Nessun dorma.

Ausgerechnet im einleitenden O sole mio überrascht der Tenor mit einem gar nicht strahlenden, sehr verhangen wirkenden Timbre, als hätte sich eine Nebelbank auf die Stimmbänder gelegt, manches ist fast gehaucht, klingt tränenschwer, es fehlt jeder Glanz und auch das Volkstümliche, Spontane, während die sehr raffiniert instrumentierte Begleitung in den Vordergrund tritt.

In abgeschwächter Form muss man das auch über Costas Napolitanata sagen, auch wenn die Stimme klarer erscheint, während in Di Capuas Maria Mari zwar im Text nur eine Gitarre erwähnt wird, das Orchester Il Pomo d’Oro (also keinesfalls Pomodoro) unter Antonello Paliotti stark in den Vordergrund tritt.

Dieses erfreut mit vom Dirigenten, aber auch von Paolo Tosti stammenden Stücken wie Tarantellen oder Romance und zeigt sich angenehm flink, straff und verspielt.

Gefallen kann auch das populäre A Marechiare, das temperamentvoll dargeboten und von einem schönen Spitzenton gekrönt wird, während man in Silenzio cantatone zu schätzen weiß, wie einfühlsam sich die Begleitung gibt. Im Funiculi, funiculà gibt Pene Pati noch einmal alles, und das mit Gewinn (Warner classics 5021732727800). Ingrid Wanja       

Barockes Gemeinschaftswerk

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Über 70 Jahre vor Glucks bekannter Oper Iphigénie en Tauride gab es bereits eine Vertonung des auf Euripides fußenden Stoffes, die ALPHA auf zwei CDs als Weltersteinspielung herausgebracht hat (1106). Sie stammt von Henry Desmarest, der von 1661 bis 1741 lebte. Neben Campra, Marais und Destouches zählte er zu den führenden Komponisten seiner Generation, hatte mit mehreren Tragödien, darunter Didon und Venus et Adonis, bereits beträchtliche Erfolge erzielt. Ab 1695 arbeitete er gemeinsam mit seinem Librettisten Joseph-Francois Duché de Vancy an dem neuen Werk, bis seine Heirat mit einem jungen Mädchen ohne Einwilligung dessen Vaters ihn ins Exil zwang. Die Partitur war unvollendet, gelangte über einen Freund des Komponisten in die Hände von André Campra, der den Librettisten Antoine Danchet zur Mitarbeit hinzuzog. Das finalisierte Werk erlebte 1704 in der Académie Royale de musique seine Uraufführung, zunächst mit nur mäßigem Erfolg. Erst als 1711 Françoise Journet die Titelrolle übernahm, fand es die verdient starke Resonanz.

Die musikalische Substanz der Oper ist vielfältig. Zu hören sind Ouvertüren, Arien, Duette und eine Vielzahl von Tänzen (Sarabande, Marche, Chaconne, Loure, Menuet).

Das auf den Barock spezialisierte Ensemble Le Concert Spirituel musiziert das reizvolle Werk unter Hervé Niquet mit lebhaftem Duktus, vermittelt einen nachhaltigen Hörgenuss. Véronique Gens, eine Tragödin von hohen Graden, füllt die Titelpartie mit Stilempfinden, Engagement und Emphase aus.  Auch der Tenor/Haute-Contre Reinoud Van Mechelen ist ein Fels in der barocken Landschaft. Sein Pylade imponiert mit kultiviertem Gesang. Thomas Dolié als Oreste singt mit bassbaritonaler Resonanz. Vielbeschäftigt in den Aufnahmen des Labels (wie auch bei Château de Versailles) ist der französische Bariton David Witczak, dessen Thoas durch die energische Tongebung seiner klangvollen Stimme beeindruckt. Im Prologue wird auf der Insel Délos der Geburtstag der Göttin Diane gefeiert, die von der Mezzosopranistin Floriane Hasler solide gesungen wird. Pylades Schwester Électre ist die Sopranistin Olivia Doray mit warmer, angenehmer Stimme.

Die Einspielung, welche im Januar 2024 im französischen Puteaux entstand, ist eine interessante und willkommene Alternative zu Glucks bekanntem Werk (17. 10. 25). Bernd  Hoppe                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              

Neues vom Musensitz

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Argenore, ein hartherziger König, ist die Titelfigur der gleichnamigen einzigen Oper von Wilhelmine von Bayreuth. Das dramma per musica hat nicht weniger als fünf Akte und würde bei einer Aufführung nach dem Original mehr als ebenso viele Stunden dauern. Ob die Oper L’Argenore zum Geburtsfest ihres Mannes, des Markgrafen von Bayreuth, am 10. Mai 1740 tatsächlich aufgeführt wurde, ist unklar.


Friederike Sophie Wilhelmine von Preußen bzw. Wilhelmine von (Brandenburg-)Bayreuth (* 3. Juli 1709 in Berlin; † 14. Oktober 1758 in Bayreuth) war das älteste von zehn überlebenden Kindern des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I. und Sophie Dorothea von Hannover. Sie wurde als zukünftige Königin von England erzogen, musste aber letztendlich – nach jahrelangem Hin und Her – Friedrich III. von Brandenburg-Bayreuth heiraten und wurde als dessen Ehefrau Markgräfin. Literarische, historische, sowie musikhistorische Bedeutung erlangte sie u. a. durch den Briefwechsel mit ihrem Bruder Friedrich dem Großen und durch die Veröffentlichung ihrer Memoiren, die durch ihre teils unverblümten Schilderungen des Lebens am preußischen Hofe von besonderem kulturgeschichtlichem Wert sind. Besonders als Kunstmäzenin, Komponistin und Opernintendantin prägte sie in bedeutendem Maße das kulturelle Leben der Stadt Bayreuth bis in die heutige Zeit. Das von ihr initiierte Markgräfliche Opernhaus wurde 2012 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erhoben./ Wikipedia

In neuer Fassung ist sie jetzt bei Coviello herausgekommen (COV 92504), ergänzt durch ein Sprechspiel von Marlene Streeruwitz, das die Dialoge ersetzt. Musikalisch bleibt alles erhalten. Die inzwischen 75jährige Österreicherin machte sich als Schriftstellerin weit über ihr Heimatland hinaus einen Namen. Ihre Werke sind preisgekrönt. In Deutschland erschein sie meist im renommierten Fischer-Verlag. In dieser ganz besonderen Form ist die Mischung aus Musik und Wort zwar gewagt, geht sich aber aus – wie die Österreicher zu sagen pflegen. Weil die Idee, auf der die Konzeption beruht, in sich stimmig erscheint. Auf solcher Grundlage böte sich eine Umsetzung auf dem Theater durchaus an. Alle musikalischen Bestandteile – es gibt nach einem Einleitungschor fünfundzwanzig Arien – sind den Angaben im Booklet zufolge übernommen worden. An Stelle der Dialoge tritt Wilhelmine selber in Erscheinung. Durch ihre Monologe aus der Feder einer heutigen Autorin, die sich zwischen die Musiknummern schieben, erfährt die Oper eine formale und auch inhaltliche Weiterung.

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Es spielt das Göttinger Barockorchester unter der Leitung von Antonius Adamske. Die Besetzung der Titelrolle mit der Mezzosopranistin Magdalena Hinz ist durch die Überlieferung bestimmt, dass sie für einen Kastraten komponiert worden sein soll. Sie war Stipendiatin der Internationalen Bach-Akademie Stuttgart unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann, der als herausragender Heinrich-Schütz-Dirigent gilt, sowie der Liedakademie des Heidelberger Frühlings  bei Thomas Hampson, ist im Booklet nachzulesen. Erste Opernengagements führten sie mit Telemanns Don Quichotte an das Theater Osnabrück und als Mercédes in Carmen zur Opernakademie Schloss Weikersheim. Weitere Stationen waren Münster und Passau. Zu hören ist sie auch bei Liederabenden sowie in Kantaten von Johann Sebastian Bach. Als freie Mitarbeiterin beim RIAS Kammerchor geht Magdalena Hinz weltweit auf Konzertreisen. Den Widerspruch zwischen der sanften und wohlgeformten Stimme und den Abgründen des Charakters ihrer Rolle muss die Phantasie der Zuhörer ausgleichen. Eumene unter dem Namen des Feldherrn Ormondo wird von der aus Bern stammenden Sopranistin Marysol Schalit gesungen, die ihr Konzert-, Solisten- und Operndiplom an der Hochschule der Künste in ihrer Heimatstadt Bern mit Auszeichnungen abschloss. Alle anderen Rollen sind nach ihrem Geschlechte besetzt: Pia Davila als die heimliche Braut von Ormondo, Palmide; Gerald Tompson als ihr Verehrer Leonida. Die vermeintliche Schwester des Ormondo, Martesia singt Lena Spohn, den Königsberater Alcasto Janno Scheller, in dessen Händen zugleich künstlerische Konzeption und Produktionsleitung liegen. Produziert wurden die musikalischen Teile zwischen dem 13. und 20. Oktober 2024 im Konzertsaal der Waldorfschule im Bremer Stadtteil Osterholz.

Die neuen Monologe, die von Claudia Michelsen gesprochen werden, gelangten erst im März dieses Jahres auf Band. Nicht, dass sie wie ein Fremdkörper wirkten. Die Separierung schafft eine gewisse Distanz im Gesamteindruck, der beabsichtig sein dürfte. Schließlich ist Wilhelmine nicht Teil der Handlung. Man hört der Bühnen- und Fernsehschauspielerin gern zu. Sie verzichtet auf jedwede Wehleidigkeit, tritt als kluge, selbstbewusste und erfahrwende Frau mit einem leichten melancholischen Einschlag in Erscheinung. Die Textvorgabe macht es ihr leicht, ihre höfische Umgebung und deren Kabalen zu durchschauen. Im Booklet werden ihre ausführlichen Wortbeiträge nur markiert und nicht gedruckt wiedergegeben wie die in Italienisch komponieren musikalischen Nummern, die sich auch in tabellarischen angelegter deutscher und englischer Übersetzung finden. Das fällt nicht ins Gewicht, weil die Autorin Marlene Streeruwitz sie so angelegt hat, dass sie ihren Scharfsinn ohnehin erst in gesprochener Form zu entfalten vermögen.

In ihren Monologen übernimmt die hier eingeschobene Wilhelmine verschiedene Aufgaben zugleich. Sie durschaut Motive, Absichten und Intrigen der Figuren, deutet sie psychologisch, erkennt Fallstricke und Hinterhalte. Vor ihrem Spürsinn ist niemand sicher. Als wisse sie schon Bescheid, noch bevor etwas geschieht, ohne eine Hellseherin zu sein. Ihre Warte sind Moral und Anstand. Sie ist der gute Geist. Sie reflektiert das nicht unkomplizierte Geschehen. Ohne sie wäre es noch anstrengender, zu folgen, als es ohnehin ist. So wird es eingeordnet, entfernt sich aber deutlich vom Original. Das ist der Preis, den zu zahlen sich lohnt. Wir, die Hörer, werden Zeugen eines literarischen Kunstgriffes. Wilhelmine ist also mehreres in einem: Als Kommentatorin lebt sie in der Handlung ihrer Oper, als preußische Prinzessin, Tochter von Friedrich Wilhelm I. und Bruder des späteren Friedrich II. wird sie zur allwissenden Zeitzeugin. In ihrer Person verschmelzen eine erfundener Opernstoff nach den Konstellationen ihrer Zeit mit historischer Wirklichkeit. Der tyrannische Vater, der als Soldatenkönig in die Geschichte eingegangen ist, verwandelt sich in ihren Erzählungen in Argenore und wieder zurück in den Herrscher Preußens, der seine Kinder unmenschlichen Prüfungen unterzog.

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Das Markgräfliche Opernhaus Bayreuth: Innenraum mit Logenrängen, 1879 (Gemälde von Gustav Bauernfeind)/Wikipedia

Versuche, das Werk dem Repertoire zu erschließen, sind seit 1993 vielerorts untergenommen worden – so im Markgrafentheater Erlangen, an der Neuköllner Oper, im Schlosstheater Potsdam, in Rheinsberg, Bayreuth, in Malmö. Die erste ungekürzte konzertante Argenore-Aufführung gab es am 24. November 2022 in Nienburg/Weser mit dem Orchester und Dirigenten, die nun die CD-Aufnahme unter Studiobedingen verantwortet haben. „Auch wenn die Produktion positives Echo fand, entstand im Nachgang der Wunsch, eine komprimierte Version des Werks zu erstellen, die sich mehr den heutigen Rezeptionsgewohnheiten annimmt als das etwa sechsstündige Original des Rokoko“, so Janno Scheller, der den Königsberater Alcasto singt, im Booklet. „Die Sprachbarriere der ausgedehnten italienischen Rezitative sollte durch ein deutschsprachiges Äquivalent ersetzt werden. Auf diese Weise sollte auch der Person Wilhelmine von Bayreuth als Komponistin sowie als Eingeweihte in Macht und Machtmissbrauch mehr Gehör verschafft werden.“ Da die musikalische Qualität des Werks zuvorderst in den Arien zur Geltung komme, von denen bislang noch keine Gesamteinspielung vorgelegt worden sei, sollten diese vollständig in der neuen Fassung enthalten bleiben. Mit den Arien zeichne die Komponistin nicht nur eindrücklich die Gegensätzlichkeit der einzelnen Figuren, sondern erschaffe eine Nahbarkeit der Sympathieträger. Dies vermag sie, indem sie den Zuhörenden Seelenwelten aufschließe, so Scheller.

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Markgräfin Wilhelmine (am Cembalo) und ihr Orchester 1739 (auf die Platte eines Wandtisches gemaltes, heute verschollenes Bild)/Wikipedia

Welches Leben war Wilhelmine bestimmt, dass es so viele Jahre nach ihrem Tod 1758 in einem musikalischen Kunstwerk nachwirkt und Touristen aus aller Welt an ihre Wirkungsstätten in Bayreuth mit dem einzigartigen Markgräflichen Opernhaus aus dem 18. Jahrhundert anzieht? Dirigent Antonius Adamske hat es in einem eigenen Beitrag für das Booklet mit Akribie beleuchtet. „Die Begründung für die deutlichen Abweichungen der Oper Argenore vom Ideal der seinerzeit oftmals nachgeahmten Metastasio-Libretti wurde zuweilen aus der Biographie der Verfasserin erklärt. Diese wuchs als Friederike Sophie Wilhelmine von Preußen am Berliner Hof ihres Vaters auf, des preußischen Prinzen und späteren ,Soldatenkönigs‘ Friedrich Wilhelm I. (1688-1740). Ihre Mutter, die kurhannoversche Prinzessin Sophia Dorothea, hatte ein Jahr vor der Geburt Wilhelmines bereits einen Sohn und Thronfolger zur Welt gebracht. Dieser war allerdings im Kindbett verstorben.“ Zitiert wird die Hannoversche Kurfürstin Sophie in ihrem Gratulationsschreiben zum zweiten Kind: „Es hätte zwar noch mehr erfreut, wann Euer Königliche Majestät durch ein Prinz wären gesegnet worden, doch haben Euer Majestät auch eine königliche Prinzessin nötig, Alliancen zu machen.“

Erst drei Jahre später, 1712, habe Wilhelmine einen Bruder zur Seite bekommen, jenen Friedrich, der später ,Friedrich der Große‘ genannt werden würde. Die Geschwisterschaft der beiden jungen Preußen sei geprägt gewesen durch ihren Altersabstand. Friedrich habe nur zögernd die Rolle eines Thronfolgers angenommen – „sein Vater war im Sinne des Wortes ein unerbittlicher Mensch, Konflikte waren vorprogrammiert“. Nach Angaben von Adamske heben die Memoiren von Wilhelmine als Gegensatz zum gestrengen Vater den Patriarchen und königlichen Großvater Friedrich I. (1657-1713) hervor. Anlässlich ihres dreijährigen Geburtstags habe sie von ihm eine eigene Kutsche erhalten. Mit dreieinhalb Jahren sei ihr eine italienische Gouvernante zur Seite gestellt worden, die sie neben Geographie und Geschichte auch in „guten Manieren“ unterrichten sollte – und das auch mehr als beflissen an ihrem Ziehsprössling ausgelebt habe. In den Memoiren berichte Wilhelmine von der Begebenheit, dass ihr ein schwedischer Offizier als Sechsjährige aus den Handlinien eine Kette widriger Schicksale gelesen habe. Und in der Tat sei Wilhelmine lebenslang von ständiger Krankheit gezeichnet gewesen. Im jugendlichen Alter hätten beide Geschwister Lautenunterricht vom Komponisten Silvius Leopold Weiss (1687-1750) erhalten. Darüber hinaus habe Wilhelmine einige Fertigkeit auf dem Cembalo erlangt.

Wilhelmine mit ihrem Bruder Friedrich (dem späteren Großen Fritz); Antoine Pesne/Wikipedia

Dazu Adamske: „Mit wem Wilhelmine nun zum Wohle des Staates eine ,Alliance machen‘ sollte, war durchaus umstritten. Während sich die Mutter für eine Doppelhochzeit ihrer Kinder mit dem englischen Königshaus bemühte, favorisierte der König aus territorialpolitischen Interessen im Nordischen Krieg zeitweise das schwedische Königshaus. Überhaupt verfolgten die beiden königlichen Eltern von Wilhelmine und Friedrich oft gegensätzliche Interessen, die sie gegenüber ihren Kindern mittels Anreizen und Druck gleichermaßen durchzusetzen versuchten. Erhielten die Kinder Erlaubnis vom einen Elternteil, war eine Verweigerung durch das andere geradewegs sicher. Die Kinder dienten als Spielball dieser Interessen und wurden dementsprechend instruiert. Im Alter von neun Jahren hatte die misstrauische Mutter Wilhelmine gar aufgetragen, die eigene Erzieherin auszuspitzeln.“ Diese dürfte in den Intrigen, die ganz unmittelbar von den gekrönten Häuptern selbst ausgingen, wichtige Anregungen für den Stoff ihrer Oper Argenore erhalten haben.

„Die Heiratspläne des Vaters für Wilhelmine sollten sich noch mehrmals ändern. Als der Markgraf von Schwedt in die engere Auswahl kam, ergriff der Bruder Partei für Wilhelmine und bedrohte den Markgrafen öffentlich im Falle, dass er die Hand seiner Schwester ergreifen sollte. Ohnehin im ernstlichen Zwist mit seinem Vater, versuchte der Kronprinz mehrfach die Flucht. Beim letzten aussichtsreichen Versuch am 5. August 1730 wurde der Flüchtige entwaffnet, Friedrichs musischer Freund und Fluchthelfer Hans Hermann von Katte von einem Kriegsgericht zu lebenslanger Festungshaft verurteilt. Der Urteilsspruch wurde jedoch vom König persönlich in ein Todesurteil verwandelt. Das Urteil sollte vor den Augen des Kronprinzen vollstreckt werden. Dieser entzog sich schließlich in Ohnmacht dem schrecklichen Schauspiel. Der königliche Zorn ging so weit, auch eine Hinrichtung des Kronprinzen selbst ins Auge zu fassen – was immerhin durch Eingaben mehrerer Monarchen, darunter Kaiser Karl VI., verhindert werden konnte.“

Markgraf Friedrich von Bayreuth, um 1780, Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Es falle nicht schwer, im Verhalten des Soldatenkönigs eine weitere Parallele zur Willkürherrschaft von Argenore zu ziehen. Auch für Wilhelmine sei die Flucht ihres Bruders biographisch prägend gewesen, wurde sie doch als Mitwisserin zu langem Hausarrest verurteilt, der sich mit einer schweren Lungenentzündung auswirkte. Mit dem österreichisch-englischen Vertrag vom März 1731 und der folgenden Entspannung „rückte die Notwendigkeit der Heiratsverbindung mit London für Preußen in den Hintergrund. Wilhelmine konnte aus Sicht des preußischen Monarchen also gewinnbringender verheiratet werden – etwa nach Bayreuth, das sich in den Jahren zuvor dem Einfluss Preußens entzogen hatte. Übereinen Ministerialbefehl ließ Friedrich Wilhelm seiner Tochter verlautbaren, sie habe sich einer Hochzeit mit dem Erbprinzen der Markgrafschaft von Bayreuth zu fügen, andernfalls drohe ihr Festungshaft. Wilhelmine willigte ein“.

Bayreuth sollte sich nach Auffassung des Autors in gewissen Grenzen schließlich als Glücksfalls für Wilhelmine erweisen. „Der Erbprinz teilte mit Friedrich die Leidenschaft für das Flötenspiel. Wilhelmine zog sich gern in die ,Eremitage‘ zurück, einen Landschaftsgarten, über den sie später ganz verfügen sollte. Auf dem nahegelegenen Gut ,Monplaisir‘, das ihr der Schwiegervater zum 23. Geburtstag überantwortet hatte, konnte sie sich fortan mit Musik beschäftigen. Zunächst hatten sich die kulturellen Möglichkeiten des kleinen Fürstentums bei Wilhelmines Ankunft begrenzt dargestellt. Nach dem Dreißigjährigen Krieg hatte Bayreuth wieder aufgebaut werden müssen und sich hoch verschuldet. Zur Zeit Wilhelmines herrschte ein rigoroser Sparkurs unter ihrem Schwiegervater Markgraf Georg Friedrich Carl (1688-1735).“

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Friedrich der Große ließ zum Andenken an seine 1758 verstorbene Lieblingsschwester von Carl von Gontard zwischen 1768 und 1770 in Sans-Soucì diesen „Freundschaftstempel“ bauen/Foto Winter

Mit dem Amtsantritt ihres Mannes Friedrich III. (1711-1763) sei das Pendel wieder in die andere Richtung geschlagen. Eine rege Bautätigkeit habe eingesetzt. Höfische Feste hätten sich aneinander gereiht. Ende der 1730er-Jahre scheine Wilhelmine sich deshalb vollends dem Musensitz Bayreuth gewidmet zu haben. Aus dieser Zeit stamme auch die Komposition Argenore, die eigentlich anlässlich des Geburtstags des Markgrafen, am 10. Mai 1740, aufgeführt werden sollte, wozu es aber vermutlich nie gekommen sei. –  Rüdiger Winter

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(Abbildung oben: Ausschnitt aus einem Pastell  1745, Jean-Étienne Liotard zugeschrieben / Wikipedia) 

Zuwachs im Vivaldi-Regal

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Konsequent bemüht sich das Label naïve um die Komplettierung seines Vivaldi-Kataloges. Die Edition Opere Teatrali hat es in zwischen auf beachtliche 73 Ausgaben gebracht. Neueste Veröffentlichung ist die Serenata von 1725 La Gloria e Imeneo, welche für die Hochzeit von König Ludwig XV. mit der polnischen Prinzessin Maria Leszczynska in Venedig komponiert wurde. Die allegorischen Titelfiguren Gloria, der Ruhm, und Imeneo, Gott der Ehe, wetteifern in mehreren Arien um die Lobpreisung des Königspaares, gipfelnd in einem gemeinsamen Duett am Ende. Das Stück ist eine von drei erhaltenen Serenaden Vivaldis (neben der Serenata a tre, die auf diesen Seiten bereits besprochen wurde, und der Sena festeggiante), allerdings sind das Frontispiz der Partitur mit dem Titel und die eröffnende Sinfonia verloren gegangen. Aus diesem Grund wurden die beiden Protagonisten als Titel und das Concerto RV 138 als Sinfonia eingesetzt.

Die Aufnahme mit dem Abchordis Ensemble unter Leitung von Andrea Buccarella entstand im November 2024 in Basel und wurde auf einer CD mit mehrsprachigem Booklet veröffentlicht (OP8877). Das Orchester sorgt mit dem Allegro des dreisätzigen Concerto für einen rasanten Auftakt, weiß auch wirkungsvoll zu differenzieren mit dem mittleren Adagio, welches träumerisch-schwebend erklingt und dann von einem wirbelnden Allegro abgelöst wird.

Zwei Interpreten von Rang garantieren das vokal hohe Niveau der Einspielung. Die italienische Mezzosopranistin Teresa Iervolino, Salzburg und Pesaro erprobt, singt die für eine Altstimme komponierte Partie der Gloria. Möglicherweise wurde sie bei der Uraufführung von einem Kastraten gesungen, wie auch der für Sopran notierte Imeneo. Ihn nimmt der italienische Countertenor Carlo Vistoli wahr, der kürzlich beim Festival Bayreuth Baroque erfolgreich war. Gloria fällt mit „Alle amene“ die erste Arie zu – ein bedächtiges Stück, in welchem die Mezzosopranistin ihre reizvoll androgyn getönte Stimme effektvoll einsetzt. Es folgt das stampfende „Questo nodo“, in dem die Stimme noch maskulin-harscher klingt. Im feierlich-getragenen „Al seren d´amica calma“ besitzt sie dagegen feminine Anmut.

Imeneos erstes Solo ist „Tenero fanciulletto“ und Vistoli kann in dieser aufgewühlten Nummer nicht nur sein dramatisches Empfinden, sondern auch die Sinnlichkeit und Virtuosität seines Countertenors ausstellen. Reizvoll beschwingt ist „Scherzeran sempre“, wo der Sänger die Stimme geradezu hüpfen und tirilieren lässt. Betörend und zärtlich klingt sie in dem wiegenden „Care pupille“.

Das erste von zwei Duetten, das hurtige „Vedrò sempre la pace“, führt die beiden Stimmen in perfekter Verblendung zusammen, und auch der finale Zwiegesang, „In braccio de´ contenti“, ist in seinem Schwung und dem kunstvollen Vortrag des Duos ein Genuss.

Die Platte ist nicht nur für den Vivaldi-Connaisseur, sondern für jeden Barock-Freund eine nachdrückliche Empfehlung. Bernd Hoppe      

Krimi an der Wiener Staatsoper

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Sie ist einfach zu gut, um wahr zu sein. Zu sanftmütig, duldend und naiv. Jossi Wieler, der mit seinem ständigen Mitarbeiter und aktuellen Staatsopern-Chefdramaturgen Sergio Morabito, diesen Lohengrin inszenierte, der bei den Osterfestspielen 2022 in Salzburg erstmals gezeigt wurde und im Mai 2024 an die Wiener Staatsoper wanderte, hat Elsa durchschaut. Während des Vorspiels, dessen „opiatische, narkotischer Wirkung“ sich Christian Thielemann nicht nehmen lässt, erleben die Zuschauer bereits, wie Elsa an einer Kaianlage steht und, leicht erschrocken über ihre Tat, Hose und Blouson auszieht, die sie bei der Ermordung ihres Bruders Gottfried trug, den sie soeben in das Wasser gleiten ließ. Heimlich streift sie in einer Ecke das blauweiße Kleid über, das sie fortan bei ihren raffinierten lämmchenfrommen Täuschungsmanövern trägt. Sie wird dabei heimlich von Ortrud beobachtet. Elsa, die Erstgeborene, hat sich des Bruders und Thronerben entledigt. Das ist eine neue Perspektive. Wieler hat sie radikal neu durchdacht. Und sie geht nicht auf. Wäre nicht die exemplarische, sich selbstverständlich und reich entwickelnde und mit den Sängern denkende Wiedergabe durch Christian Thielemann und die Wiener Philharmonikern, würde die Aufnahme (Bluray major 769504) als Dokument aus dem soliden Alltag der Wiener Staatsoper wenige Freunde finden.

Ausstatterin Anna Viebock lässt den Brudermord in der Zeit um den Ersten Weltkrieg spielen. Die graue Ufer-, Wehr- und Hafenanlage aus Beton und Stahl ist überfüllt mit Soldaten und Volk, die Frauen tragen auch ihre Babys auf den Armen, die dem Geschehen kriegs- und opferbereit entgegensehen. Wieler wäre nicht Wieler, wenn er das Wimmelbild nicht genau durchchoreographiert hätte. Das ist feinstes Regiehandwerk, von der abgefeimten Intrige der irren, schizophrenen Diva Elsa, der ungerecht behandelten Ortrud, die nach alter Märchenlogik sonst die böse Gegenspielerin gibt, nun aber allwissend Elsas große Show durchschau, ihrem verlotterten Gatten, der mit strähnigen langen Haaren, locker hängender Krawatte und hochrotem Kopf den cholerischen Loser gibt, der fast einen Herzschlag bekommt, bis zu dem seltsamen Lohengrin, den Elsa herbeifabuliert, ein Monty Python-Ritter mit dünnen langen Löckchen und aufgeschlitzter Schlapperhose, unter der so etwas wie eine Rüstung durchschimmert. Man merkt rasch, dass vieles nicht funktioniert, so fein Wielers Personenregie die Beziehungen auszutarieren versucht,

Malin Byström spielt bravourös die gegen den Strich gebürstete Elsa, die alle zu manipulieren versucht, dabei gerät ihr Singen manchmal auch grimassiert grell und überfordert. Ihr Schwanenritter ist David Butt Philip, ein jugendlicher Tollpatsch mit Ticks und Marotten; er singt mit einer kräftig frischen, etwas einfarbigen Stimme ohne Süße und Piano im Brautgemach, hat berührende, aber auch seltsam verzerrte, flache und abgehackte Phrasen. Als Telramund geht der gut deklamierende Martin Gantner bis an seine Grenzen. Anja Kampe durschaut als Ortrud sowohl den Gatten wie Elsa, bleibt immer hoheitsvoll, sarkastisch und durchwegs überlegen, selbst wenn sie sich als Krankenschwester im zweiten Akt den politischen Strömungen entgegenzustemmen versucht. Kampe verfügt über grandiose Bühnenpräsenz, ihr Singen ist stets ausdrucksvoll und dramatisch und die bösen Höhen schleudert sie kraftvoll ins Auditorium. Alle sind ausgezeichnete Darsteller, auch Georg Zeppenfelds liedhaft dezenter König Heinrich, Attila Mokus‘ nobler Heerrufer und der gesamte Wiener Staatsopernchor. Am Ende der Brautgemach-Szene schlüpft Elsa wieder in ihre Männerkluft und zerrt, nachdem Lohengrin in den Kanal entschwunden ist, den Körper ihres Bruders aus dem Untergrund. Ein Schockmoment: Die Wasserleiche wird wieder lebendig, entpuppt sich als Doppelgänger Lohengrins, dessen letzte Zeilen er mimt, während das Alter Ego noch aus dem Untergrund singt, „Seht da den Herzog von Brabant! Zum Führer sei er euch ernannt!“ und erdolcht die böse Schwester.  Rolf Fath

 

Ausfall der Titelpartie

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Transylvania State Philharmonic Orchestra und ein ebensolcher Chor lassen erst einmal sich gruselnd an Graf Dracula und sein blutiges Geschäft denken, aber rumänische Sänger wecken zugleich positive Erwartungen, selbst an eine Aufnahme von Bellinis Norma, denn rumänische Sänger sind oft für eine positive Überraschung gut, haben sie doch außer der dolcezza eines italienischen Timbres zusätzlich ein gewisses Etwas, das sie besonders interessant macht. So sieht man auch einer Norma-Aufnahme mit entsprechender Besetzung mit positiver Erwartung entgegen, die einen gehörigen Dämpfer erhält, wenn ausgerechnet die Titelpartie von einer amerikanischen Sängerin wahrgenommen wird, womit nichts generell gegen diese gesagt werden soll..

Melody Moore ist ein Vielzweck-Sopran, der sich mit Dorabella und Amneris auch im Mezzofach versucht hat, was sich in der warm klingenden, sicher beherrschten Mittellage bemerkbar macht, die einer Druidenpriesterin gut ansteht. Sie ist keine Norma. Leider zeigt sich bereits bei den Rezitativen, dass es der Stimme für die Partie an corpo fehlt, dass anstelle einer schönen Melancholie eine weniger ansprechende Larmoyanz vorherrscht, es in der Höhe oft klirrt, diese recht dünn und klingt und nicht lustvoll ausgekostet , sondern recht schnell wieder verlassen wird. Zu Beginn des zweiten Akts erfreut immerhin ein schöner canto elegiaco, in der höhenfreien Szene mit Clotilde im ersten Akt kann der Sopran angenehm ausschwingen, aber allzu oft klingt er auch affektiert, so im Duett mit Adalgisa, und immer wieder irritiert die spitze Höhe, auf der sie nicht gern verweilen möchte.

Der Tenor Stefan Pop ist Rumäne, hat eine bedeutende internationale Karriere gemacht und ist auf dem Papier erst einmal eine gute Besetzung. Pollione ist sicherlich kein Elvino, aber auch kein Canio, und Belcanto ist kein Verismo. Sein Gesang ist von Anfang bis Ende kein emphatischer, sondern viel eher martialischer, worüber auch ein gehauchtes „Adalgisa“ nicht hinwegtäuschen kann. Die Stimme klingt hart, viele Töne wirken wie gewaltsam hervorgestoßen,  in seiner Auftrittsarie mit dem Gefährten Flavio findet insbesondere in der Cabaletta ein vokales Gemetzel statt mit Timbreverfärbungen und ohne die Eleganz der Phrasierung, die hier so wichtig ist.  Da wird Belcanto auf der ersten Silbe mit einem Doppelkonsonanten geschrieben.

Ein solider Oroveso ist Adam Lau, nicht weniger, aber auch nicht mehr, denn dazu hat die Stimme zu wenig Autorität, wird sie nicht ebenmäßig genug geführt. Eusebiu Hutan als Flavio und Noemi Modra als Clotilde erfüllen ihre Aufgaben zuverlässig und mit angenehm klingenden Stimmen.

Eine ganz und gar angenehme Überraschung ist die Adalgisa von Roxana Constantinescu, die die Erwartungen, die man an rumänische Sänger hat, nicht enttäuscht. Der geschmeidige Mezzosopran klingt jung, mädchenhaft und unangestrengt und hat dabei noch Charakter und eine schöne Farbe. Die Stimme erscheint wie aus einem Guss, voll angenehmen Ebenmaßes und ohne Registerbrüche. An ihrer Darbietung hat der Hörer seine ungetrübte Freude und ihretwegen lohnt sich das Anhören der CD .

Mächtig ins Zeug legt sich der Chor, besonders die kriegslüsternen Mannen, ein erfahrener Dirigent, Pier Giorgio Morandi, weiß, dass das Orchester sich aufs Begleiten beschränken sollte, kostet aber auch genüsslich das schöne Vorspiel zum zweiten Akt aus (Euroarts 2011163). Ingrid Wanja   

 

Glück mit Gluck

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Erst in jüngster Zeit ist das Interesse an selteneren Opern von Christoph Willibald Gluck erwacht, so dass außer dem populären Werk Orfeo ed Euridice auch andere Titel den Weg auf die CD finden. Jetzt hat das Label Signum ein Recital mit der schwedischen Mezzosopranistin Ann Hallenberg herausgebracht, welches den Titel Gluck Arias trägt und noch weit mehr unbekannte Musik offeriert. Zwei Nummern in der Arienauswahl sind sogar Weltpremieren auf Tonträgern. Das Album wurde im Juli 2024 in London aufgenommen (SIGCD921).

Die durchdacht zusammengestellte Auswahl beginnt mit einer Arie aus Il trionfo di Clelia („Resta, o cara“), geschrieben für die Einweihung des Teatro Comunale di Bologna 1763. Die Oper auf ein Libretto vom Metastasio behandelt die erfolgreiche Verteidigung Roms gegen einen Überfall der Etrusker, angeführt von der noblen Clelia und ihrem Verlobten Orazio. Später folgen aus diesem seltenen Werk noch zwei weitere Ausschnitte: „Saper, ti basti“ und „De´ folgori di Giove“. Alle drei Arien singt Orazio, die beiden ersten als Liebesgeständnisse für Clelia, die letzte als Aufruf zum Kampf. Die Stimme der Mezzosopranistin nimmt sogleich in der ersten Arie mit ihrem warmen, schmeichelnden Klang für sich ein. Perfekt ausgeführt sind die Koloraturläufe, das Da capo wird geschmückt mit zusätzlichen Verzierungen und einer virtuosen Kadenz. Purer Wohllaut auch in der zweiten Arie, und fulminant die dritte als heroischer Aufruf mit Trompeten und Schlagwerk. Sie steht am Ende der Auswahl und steht mit ihrem virtuosen Anspruch für einen brillanten Schlusspunkt.

Die Arie „O del mio dolce ardor“ ist das bekannteste Stück der 1770 im Wiener Burgtheater uraufgeführten Oper Paride ed Elena. Hier fließt die Stimme in nobler Linie und edler Empfindung. Noch immer eine Rarität ist die 1744 in Venedig herausgekommene Ipermestra, aus der die Arie des Linceo, „Io non pretendo“, erklingt. In diesem Stück von energischer Entschlossenheit fehlen nicht beherzte Koloraturen und resolut auftrumpfende Töne. Natürlich gibt es im Programm auch einen Titel aus Glucks populärster Oper Orfeo ed Euridice: „Che puro ciel“. Hallenberg wählte die Version von 1769 aus Parma, welche Gluck für den Kastraten Giuseppe Millico adaptierte, und findet zu betörenden Klängen. Auch Ezio existiert in mehreren Versionen, denn die Oper wurde 1750 in Prag uraufgeführt und vom Komponisten für die Aufführung in Wien 1763  bearbeitet. Die Arie der Fulvia „Ah, non son io che parlo“ stammt aus dem Original. Nach dem erregt deklamierten Rezitativ wird auch die Arie bestimmt von stürmischem Duktus und hastig hervorgestoßenen Wortfetzen.

Es folgen weitere seltene Titel – das sanft-kantable „Di questa cetra in seno“ aus Il Parnasso confuso (1765/Wien), das hochmütig-anmaßende „Maggior follia“ aus La Semiramide riconosciuta (1748/Wien) und das zärtliche, von Flöten und Oboen reich geschmückte „L´augellin da´ lacci sciolto“ aus Le nozze d´Ercole e d´Ebe“ (1747/Pillnitz). In diesen drei Stücken von ganz unterschiedlichem Charakter offenbart sich noch einmal die hohe Kunst der Sängerin im Vortrag und in der Charakterisierung.

Die Solistin wird vom Ensemble THE MOZARTISTS unter Leitung von Ian Page begleitet, der ihr lebhafte Impulse gibt, welche das Zusammenwirken von Sängerin und Orchester auf ein beglückendes Niveau heben. Im „Reigen seliger Geister“ aus Orfeo ed Euridice hat das Orchester auch Gelegenheit für einen solistischen Auftritt, den es mit nobler Kultur wahrnimmt.  Bernd Hoppe

Erika Grimaldi

 

Ein Gespräch über Entwicklung und die Lust, vertraute Rollen immer wieder neu zu vertiefen: Erika Grimaldi steht in Bonn vor einem wichtigen Rollendebüt: als Abigaille in „Nabucco“. Im Interview mit Beat Schmid spricht die Sopranistin unter anderem über die Faszination einer Rolle, in der Stärke und Zerbrechlichkeit unmittelbar nebeneinander stehen, warum für sie alles beim Libretto beginnt, und weshalb Respekt vor dem eigenen Instrument wichtiger ist als jeder Effekt.

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Frau Grimaldi, Sie geben in einer Neuproduktion von „Nabucco“ ihr Debüt in Bonn und in der Rolle der Abigaille. Was hat Sie an dieser Partie gereizt und wie haben Sie die Rolle vorbereitet? Da ich bereits Lady Macbeth interpretiert habe – eine Rolle, die mir großen Spaß gemacht hat -, hatte ich das Gefühl, dass mich diese Erfahrung in gewisser Weise auch Abigaille näherbringt. Sie ist eine Figur, die sehr weit von dem entfernt ist, wie ich im Alltag bin, und gerade deshalb bietet sie mir die Möglichkeit, über mich hinauszugehen, zu übertreiben und beim Spielen umso größeren Spaß zu haben. Der erste Schritt in der Vorbereitung der Rolle war die Frage, was für eine Frau Abigaille ist und woher ihre Bosheit und ihr Machtstreben kommen, der Wunsch, den Thron zu erobern und sich als Nummer eins durchzusetzen. Deshalb habe ich beim Wesentlichen begonnen: beim Libretto.

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Erika Grimaldi: Tosca am Teatro Regio di Parma, Credit: Roberto Ricci

Abigaille ist eine widersprüchliche Figur, letztlich die Antagonistin der Oper. Gibt es Momente, in denen Sie Mitgefühl für sie empfinden? Sicherlich ist Abigaille eine der widersprüchlichsten Gestalten der Opernliteratur. Sie ist eine äußerst kämpferische Frau, und trotz all ihrer Aggressivität glaube ich, dass ihre Wut daraus entsteht, dass ihr Liebe fehlt. In ihrem gewaltsamen Handeln steckt der tiefe Wunsch nach einer Art sozialer Rehabilitation.
Es gibt viele Seiten, die man berücksichtigen muss: Zum einen die intime, persönliche Dimension, die mit ihrer Vergangenheit zusammenhängt und der Entdeckung, die Tochter von Sklaven und adoptiert zu sein. Zum anderen ihre politische Ambition, um jeden Preis den Thron zu erobern. Und es fehlt auch nicht der Liebesaspekt: die nicht erwiderte Leidenschaft für Ismaele, die in ihr ein Rachegefühl auslöst, auch gegenüber der Schwester.
Aus diesem Grund weiß ich nicht, ob ich Mitgefühl für sie empfinde, außer am Ende der Oper, kurz vor ihrem Tod, wenn sie um Vergebung bittet und sich ihrer Fehler wirklich bewusst wird. In diesem Moment erwacht die Frau, die sie ursprünglich war, wie auch ihre Kavatine erzählt: einfach, gut, empathiefähig.

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Es handelt sich in Bonn um eine Neuproduktion: Wie wird Abigaille gezeigt, und wo setzen Sie Ihre persönlichen Akzente? Es ist eine moderne Inszenierung. Die Handlung ist in die Gegenwart verlegt, das Konzept eindeutig zeitgenössisch.
Meine interpretatorischen Akzente sind natürlich von den musikalischen und szenischen Entscheidungen dieser Produktion geprägt, die jedoch der Natur der Figur treu bleiben. Meine Abigaille bewahrt daher ihre gesamte dramatische Kraft und ihre Momente der Verletzlichkeit, so wie es Verdi und das Libretto vorsehen, lediglich in einen anderen Kontext übertragen als den ursprünglichen: in einen modernen, der heutigen Zeit nahen Rahmen.

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Aus technischer Sicht gilt Abigaille als extreme Partie (Lage, Registerwechsel, Koloraturen, Tiefe und Höhe). Wie gehen Sie diese Rolle stimmlich an? Ich muss sagen, es handelt sich wirklich um eine extreme Partie und meiner Erfahrung nach wahrscheinlich um eine der schwierigsten. Die Schreibweise ist in jeder Hinsicht heikel: Die Koloraturen zum Beispiel haben nichts Leichtes oder Schwebendes, sondern sind dramatisch. Dazu kommt der ständige Wechsel von einem äußerst tiefen in ein äußerst hohes Register, was eine zusätzliche technische und interpretatorische Herausforderung darstellt.
An Sanftem, Zartem oder Lyrischem gibt es fast nichts – abgesehen von wenigen Momenten wie der Kavatine und der finalen Todesszene, die ein intimeres, introspektiveres Intermezzo bieten. Ansonsten ist es eine Rolle, die keine Improvisation zulässt: Man muss sie von Anfang an mit äußerster Sorgfalt angehen, weil sie aus technischer Sicht gefährlich werden kann. Man muss Note für Note, Übergang für Übergang abwägen und sie sich nach und nach aneignen.

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Erica Grimaldi: Mimì am Teatro Regio di Torino, credit: Edoardo Pica

Seit 2022 haben Sie in fünf große Verdi-Rollen debütiert: Leonora in „Il trovatore“, Leonora in „La forza del destino“, Aida, Lady Macbeth und Amelia in „Un ballo in maschera“. Gab es eine Rolle, die Ihnen die Richtung der Entwicklung Ihrer Stimme besonders deutlich gezeigt hat? Und haben diese Debüts Ihren Blick auf Ihr Instrument verändert? Die erste wirkliche Repertoireveränderung kam mit Leonora im „Trovatore“. Im Nachhinein würde ich diesen Einstand jedoch nicht als echten Wendepunkt bezeichnen, denn es ist eine Rolle, die viel Lyrisches hat und nicht ausgesprochen dramatisch ist. Die wahre Offenbarung war Aida: eine lange, komplexe Rolle, die viele Nuancen vereint und für jeden, der sie zum ersten Mal angeht, einen wirklichen Meilenstein darstellt. Obwohl auch sie eine sehr lyrische Ader hat, hat mir Aida erlaubt, über mich hinauszugehen, und von dort aus kamen Rollen wie Leonora in „La forza del destino“, Lady Macbeth, Amelia in „Un ballo in maschera“ und weitere.
Diese Debüts haben jedoch nie meinen technischen Ansatz oder meinen Blick auf mein Instrument verändert. Ich glaube, jede Stimme durchläuft eine natürliche Entwicklung, die respektiert werden muss, ohne Zwang oder Abkürzungen. Meine Stimme war nicht von Anfang an dramatisch: Ich habe mich diesem Repertoire später genähert, mit mehr Erfahrung und Reife.
Mein Instrument hat sich sicherlich entwickelt und ist gereift, aber mein technischer Ansatz beim Erarbeiten dieser Rollen ist absolut derselbe geblieben. Wobei das Ziel selbst bei der Interpretation einer „schweren“ Partie immer darin besteht, eine gewisse Leichtigkeit und stimmliche Reinheit zu bewahren, ohne je zu übertreiben oder dem Wunsch nachzugeben, mehr zu geben, wenn das nicht zur eigenen physischen Stimmstruktur passt. Das ist sehr wichtig: der Respekt vor dem eigenen Instrument.

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Wie ordnen Sie Abigaille innerhalb Ihrer Verdi-Rollen ein: als vorläufigen Höhepunkt oder als Ausgangspunkt? Nach Lady Macbeth und Abigaille würden Rollen wie Odabella in „Attila“ oder Elvira in „Ernani“ naheliegen… Das ist eine schwierige Frage, denn Abigaille kann nicht als Ausgangspunkt gelten, sondern eher als Zielpunkt. Es ist eine Rolle, zu der man nur mit viel Erfahrung gelangt, die man nicht jeden Tag singen kann. Sie stellt die Stimme auf eine harte Probe, und um die stimmliche Gesundheit zu bewahren, sollte man sie nur bei entsprechender Gelegenheit und mit den richtigen Abständen angehen.
Natürlich kann man, blickt man in der Zukunft auf Rollen wie Odabella, sagen: Abigaille – zusammen mit Lady Macbeth – kann auch als Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen gesehen werden. Persönlich finde ich Lady Macbeth leichter als Abigaille, während ich Odabella noch nicht beurteilen kann, da ich sie nie gesungen habe. Elvira in „Ernani“ hingegen würde ich nicht zu diesen „extremen“ Heldinnen zählen: Im Gegenteil, ich glaube, ich hätte sie auch vor Lady Macbeth oder Abigaille singen können.
Kurz gesagt: Abigaille ist eine Rolle, zu der man erst mit solider Erfahrung gelangt, die zugleich aber den Weg zu neuen Debüts öffnen kann. Sie ist also – je nach Perspektive – sowohl ein Ziel- als auch ein Ausgangspunkt.

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Gibt es in Bonn einen besonderen Ort, der während der Proben zu Ihrem Rückzugsort geworden ist? Ich muss sagen, ich kannte diese Stadt und das Theater nicht, ich war vorher noch nie dort. Sie hat mich sehr beeindruckt: Es ist keine große Stadt, aber gerade deshalb lebt es sich dort sehr gut. Ich habe eine herzliche Aufnahme und ein wirklich positives Umfeld gefunden. Auch das Theater war eine schöne Entdeckung für mich. Es gibt keinen konkreten Ort, der zu meinem Rückzugsort geworden wäre, aber ich habe die Stadt und das Theater als Ganzes als sehr entspannt erlebt.

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Im Juni kehren Sie als Tosca nach Bonn zurück, eine Rolle, die Sie erstmals im vergangenen Jahr gesungen haben. Wie hat sich die Rolle seit Ihrem Debüt entwickelt? Wie bei jeder neuer Rolle wächst mit der Zeit die Vertrautheit mit der Figur. Tosca ist ein Charakter, den ich besonders liebe und den ich mittlerweile mehrfach gesungen habe: Jedes Mal, wenn ich sie interpretiere, fühle ich mich ihr näher. Ich würde nicht sagen, dass sich meine Interpretation gegenüber dem Debüt radikal verändert hat, sie ist vielmehr gereift.
Das Schönste, wenn man eine Rolle mehrmals interpretiert, ist, dass Passagen und Intentionen, die man anfangs nur im Kopf klar hat, die aber nicht immer sofort zum Vorschein kommen, mit der Zeit natürlicher werden, mehr zu den eigenen werden. Diese wachsende Vertrautheit bringt eine größere Ausdrucksfreiheit mit sich: Die Interpretation an sich ändert sich nicht, aber die Art, sie zu vermitteln, weil man mehr Mittel hat, den Charakter lebendig und authentisch zu gestalten.

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Erica Grimaldi: „La forza del destino“ in Bologna, Credit: Andrea Ranzi

In weniger als zwei Jahren haben Sie in drei großen Puccini-Rollen debütiert: Manon Lescaut, Madama Butterfly und Tosca. Was verbindet diese Figuren für Sie, und worin unterscheiden sich ihre stimmlichen Anforderungen? Ich würde sagen, alle drei sind sehr leidenschaftliche und zugleich tragische Frauen. Sie leben die Liebe absolut, doch wird die Liebe für sie zu einer zerstörerischen Kraft, geprägt von Betrug, Eifersucht oder, im Fall von Butterfly, gesellschaftlichen Zwängen. Und alle drei enden mit dem Tod: Tosca, die sich von der Engelsburg stürzt; Butterfly, die sich ersticht; und Manon, die in der Wüste stirbt. Drei unterschiedliche Schlüsse, aber alle mit einem fatalen Ausgang.
Ein weiteres verbindendes Element ist das Verhältnis zu dem Mann, den sie lieben und der auf unterschiedliche Weise die Ursache ihres Schmerzes und ihres Endes ist. Tosca mit Cavaradossi – und indirekt mit Scarpia; Butterfly mit Pinkerton; Manon mit Des Grieux. Diese Männer sind der Motor ihrer Geschichte, aber auch ihres Endes.
Natürlich gibt es wichtige psychologische Unterschiede. Tosca ist vielleicht die Stärkste: impulsiv, mutig, stolz, fähig, Scarpia die Stirn zu bieten. Butterfly hingegen ist das Gegenteil: zerbrechlich, ihrem Gefährten absolut treu, bereit, sich bis zum Äußersten zu opfern. Ihre Tragödie entspringt der Illusion, zu glauben, dass Warten und absolute Treue Sinn haben und sich lohnen könnten. Manon schließlich ist eine ambivalentere, komplexere Figur: Einerseits liebt sie Des Grieux aufrichtig, andererseits fühlt sie sich vom Luxus und vom Vergnügen angezogen, darin ist sie sehr viel irdischer. Man könnte sagen: Tosca ist eine Heldin, Butterfly ein Opfer und Manon die widersprüchlichste der drei.
Auch stimmlich gibt es grundlegende Unterschiede. Für mich ist Madama Butterfly die anspruchsvollste: eine sehr lange Oper, in der die Protagonistin die Bühne nie verlässt und keinen Moment zum Atemholen hat. Die Schreibweise verlangt eine kontinuierliche Intensität, große Bögen, die in die Höhe steigen und in den dramatischsten Momenten in die Tiefe gehen, ohne Möglichkeit, sich zu schonen. Manon Lescaut ist technisch etwas weniger heikel, aber sehr kompliziert wegen der ständigen Stilwechsel: Es gibt typisch puccineske, weite, leidenschaftliche Seiten, die sich mit fragileren, fast sogar „frühklassischen“ Momenten abwechseln. Und das führt dazu, dass man stimmlich und darstellerisch ständig umzuschalten muss. Tosca hingegen ist vokal geradliniger, gewiss nicht einfach, aber weniger strapaziös als die beiden anderen, während die größte Schwierigkeit darin besteht, ihrem feurigen, leidenschaftlichen Temperament stets Ausdruck zu verleihen.

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Im nächsten Jahr folgen Giorgetta („Il tabarro“) und Suor Angelica in Washington, D.C., und in der Carnegie Hall. Was fasziniert Sie an diesen beiden Frauen des „Trittico“, auch im Kontrast zu Tosca und Manon? Vorweg: Es handelt sich um zwei Debüts, das der Giorgetta und das der Suor Angelica. Rollen also, die ich noch nicht ganz als „meine“ empfinde. Was mich jedoch sofort beeindruckt hat, ist der Unterschied zwischen diesen beiden weiblichen Welten. Es sind sehr unterschiedliche Figuren, die beide zutiefst menschliche Aspekte des Lebens erzählen.
Giorgetta ist eine sehr leidenschaftliche Frau, die in ihrer Ehe gefangen ist und ihr Glück anderswo sucht. Suor Angelica hingegen ist eine transzendentalere Figur, die konstant im Schmerz lebt und im Finale Erfüllung findet, wenn sie ihren Weg mit totaler Hingabe beschließt. Giorgetta und Angelica leben intimere, alltäglichere Gefühle als etwa Tosca oder Manon.
Ich glaube, die große Besonderheit des „Trittico“ ist, dass Puccini sich dazu entscheidet, Frauenfiguren zu zeichnen, die vielleicht weniger heroisch, aber unseren Alltagserfahrungen näher sind. Frauen, die lieben, die Fehler machen, die leiden und die – auf unterschiedliche Weise – einen Weg suchen, sich vom Schmerz zu befreien.

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Die Rolle, die Sie am häufigsten gesungen haben, ist Mimì. Inwiefern hilft Ihnen diese lange Erfahrung, die dramatischeren Puccini-Figuren wie Butterfly oder Tosca anzugehen? Mimì war für mich – das sage ich jetzt und bestätige es im Rückblick – eine fundamental wichtige Rolle und ist es bis heute. Ich kann in der Gegenwartsform sprechen, weil ich sie weiterhin singe und mich ihr verbunden fühle. Es ist die Puccini-Rolle, die ich mit Abstand am häufigsten interpretiert habe, mit der ich am vertrautesten bin und die ich am besten kenne, und gerade deshalb ist sie auch die Partie, von der ich am meisten gelernt habe.
Aus stimmlicher Sicht ist die Schreibweise typisch für Puccini, die sich dann in Tosca und Butterfly weiterentwickelt. Mimì ist ein junges Mädchen, und deshalb verlangt ihre Interpretation Reinheit: Reinheit des Gesangs, Reinheit der Linie und eine große Fähigkeit, stets „auf dem Atem“ zu singen. Sie ist eine unschuldige Figur, und man muss ihre Emotionen mit größtmöglicher Natürlichkeit und Intimität wiedergeben.
Diese lange Beschäftigung mit Mimì hat mir solide technische Grundlagen gegeben, aber auch ein szenisches Bewusstsein, das ich dann in dramatischere Rollen wie Butterfly und Tosca mitnehmen konnte. Mit Butterfly gibt es sogar eine gewisse Kontinuität: Im ersten Teil finden wir dieselbe Zartheit und Unschuld von Mimì wieder, die sich dann aber ab dem zweiten Akt entwickelt. Tosca hingegen ist völlig anders: eine theatralische, stolze, dramatische Figur. Und doch hat mich auch hier die Erfahrung mit Mimì gelehrt, nie die Intimität und die emotionale Wahrheit zu verlieren, selbst in Momenten größter dramatischer Kraft.
Letztlich war Mimì für mich eine wertvolle Wegweiserin, weil sie mir geholfen hat, das Gleichgewicht zwischen rein lyrischem Gesang und szenischer Wahrheit zu finden, das man auch für die „heroischeren“ Puccini-Figuren braucht.

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Ein Blick in die Zukunft: Welche neuen Rollen würden Sie in den nächsten Jahren gern interpretieren? Was ich mir im Moment am meisten wünsche, ist, die Rollen weiter zu singen, die ich in letzter Zeit debütiert habe. Ich möchte sie oft singen, um sie wirklich zu vertiefen, sie mir vollständig zu eigen zu machen und zu hundert Prozent zu leben, natürlich einschließlich Abigaille. Das Debüt ist immer ein besonderer Moment, voller Energie und Adrenalin, aber ich glaube, die eigentliche Arbeit beginnt erst danach.
Deshalb ist mein großer Wunsch, diese Rollen, die ich zutiefst liebe und die zugleich jene sind, von denen jede Sopranistin träumt, sie mindestens einmal im Leben zu singen, häufig wiederholen zu können. Jetzt, da dieser Moment für mich gekommen ist, möchte ich ihn in vollen Zügen genießen, ohne zu sehr an die Zukunft zu denken, sondern im Hier und Jetzt zu leben.
Natürlich gibt es auch Rollen, die ich noch nicht gesungen habe und die ich gern angehen würde. Ein Beispiel? Elisabetta di Valois in Verdis „Don Carlo“. Eine Oper, die ich gut kenne und die mich immer gefesselt hat. Ich würde sie sehr gern interpretieren. Wir werden sehen, was die Zukunft bereithält.

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Sie singen regelmäßig auf den großen internationalen Bühnen. Gibt es dennoch ein Opernhaus oder Festival, auf dessen Bühne zu stehen Sie träumen? Oh ja, gewiss. Einer der großen Träume eines jeden Künstlers ist es, an der Metropolitan Opera in New York zu singen: Nun, da dieses Debüt in der Spielzeit 2026/27 endlich konkret auf dem Programm steht, empfinde ich einfach eine riesengroße Vorfreude. Ein weiterer Wunsch ist es, an eines der wichtigsten Theater nicht nur der Welt, sondern vor allem meines Landes zurückzukehren: an die Scala. Damit nehme ich den anderen Theatern nichts – ich liebe sie wirklich alle -, aber wenn ich einen besonderen Traum nennen soll, dann ist es genau dieser.

Welchen Rat würden Sie der jüngeren Erika Grimaldi am Beginn ihrer Karriere heute geben? Man darf die Dinge niemals als selbstverständlich hinnehmen – ein Grundsatz, den man sowohl in jungen Jahren als auch mit fortschreitender Karriere im Blick behalten sollte. Wenn man einen künstlerischen Weg einschlägt, gelangt man an einen Punkt der Vorbereitung, der es erlaubt, mit Bewusstsein auf die Bühne zu gehen. Das bedeutet aber nicht, dass damit alles für immer erworben wäre: Jede Rolle ist eine eigene Welt mit spezifischen Eigenschaften, die gemeinsam mit dem Künstler wachsen, unabhängig davon, ob es eine große oder kleine Rolle ist.
Deshalb gilt: Auch nach den ersten Erfolgen sollte man eine gewisse kritische Distanz zu dem bewahren, was man singt. Jede Partie hebt unterschiedliche Aspekte der Stimme hervor und bringt Schwierigkeiten mit sich, die angegangen, verinnerlicht und überwunden werden müssen. Kurzum: Man darf nie etwas als gegeben ansehen, sondern sollte jede Partitur mit Demut angehen und das Beste geben, mit den Kenntnissen, die man in diesem Moment hat. Es ist ein Beruf, der ständige Weiterentwicklung verlangt – die kontinuierliche Aneignung neuer Mittel, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern. Wer stehen bleibt, geht unweigerlich rückwärts. Deshalb sind Studium, Demut und die Fähigkeit, sich immer wieder neu zu hinterfragen, grundlegend.

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Erica Grimaldi: In ihrer Garderobe während einer Vorstellung von „Un ballo in maschera“ am Opernhaus Zürich, Credit: Tim Weiler

Wenn Sie eine Opernfigur zum Abendessen einladen könnten: Wen würden Sie wählen und worüber würden Sie sprechen? Wen ich zum Abendessen einladen würde? Gute Frage. Für mich muss das Abendessen ein Moment der Entspannung und des Vergnügens sein – eine Gelegenheit, den Alltag hinter sich zu lassen. Vielleicht könnte ich andersherum antworten: Anstatt gleich zu sagen, wer es ist, beschreibe ich die Eigenschaften – und dann müssen die Leser raten.
Also… Ich würde eine sehr witzige Frau einladen, eine Buffofigur aus der Oper des 18. Jahrhunderts: schlau, äußerst pragmatisch, schlagfertig und vor allem Meisterin der Verkleidung. Eine echte Komplizin in ihrer Rolle, skeptisch gegenüber treuer Liebe, bereit, ohne allzu viele Skrupel Ratschläge zu erteilen… und fähig, mich das ganze Abendessen über zum Lachen zu bringen.
Wer könnte das wohl sein? [* Auflösung am Ende des Interviews]

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Welche Musik hören Sie privat, wenn Sie gerade keine Opernpartitur in der Hand haben? Ich habe kein bevorzugtes Musikgenre, sondern mag ein bisschen von allem. Ich höre auch einfach die Musik, die im Radio läuft, und verfolge, wenn ich kann, gern das Festival di Sanremo. Ich habe keine besonderen Vorlieben, obwohl ich Jazz sehr schätze.
Privat hängen meine Hörgewohnheiten ein wenig vom Moment ab, von dem, was im Fernsehen oder anderswo zufällig auftaucht: Ich suche nicht gezielt nach bestimmten Dingen. Anders ist es, wenn es um meine Arbeit geht: Da suche und höre ich mit besonderer Aufmerksamkeit, mit der Konzentration, die die professionelle Vorbereitung erfordert.
Ich würde also sagen, ich höre alles – mit einer einzigen Ausnahme: Ich mag keine Diskothekenmusik, dieses etwas „hämmernde“. Mir ist wichtig, dass Musik – auch in anderen Genres als meinem – eine Entwicklung hat, einen roten Faden, etwas Interessantes aus musikalischer Sicht oder zumindest einen erzählerischen Gehalt im Lied.

 

.Auf der Bühne interpretieren Sie oft Königinnen und tragische Heldinnen. Welche ganz „alltägliche“ Rolle im Leben bereitet Ihnen die meiste Freude? Es stimmt, auf der Bühne verkörpere ich oft Königinnen oder tragische Heldinnen. Aber im Alltag ist die wichtigste Rolle leicht zu benennen: die der Mutter. Sie ist zweifellos anstrengend, manchmal sehr fordernd, aber ohne Zweifel die schönste der Welt, denn sie holt mich sofort in die Realität und in die Spontaneität zurück. Es ist eine Rolle ohne Applaus – das stimmt -, aber voller Liebe. Beat Schmid

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* Despina in „Così fan tutte”

 

 

 

Verdienstvoll mit Fleck

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Wie viele Komponisten der Nach-Verdi-Zeit sind mit nur einem Werk dauerhaft auf den Opernbühnen der Welt präsent und hätten es doch verdient, dass auch ihre anderen, oft zahlreichen Werke noch auf den Spielplänen stünden. Neben Mascagni mit seiner Cavalleria, Ponchielli mit seiner Gioconda, Giordano mit seinem Andrea Chénier oder Zandonai mit seiner Francesca da Rimini gehört auch Francesco Cilea mit seiner Adriana di Lecouvreur dazu, dessen Lamento des Federico aus L‘Arlesiana es immerhin zur Zugabenummer für Tenöre geschafft hat. Gianandrea Gavazzeni, obwohl in der Donizetti-Stadt Bergamo geboren und gestorben, liebte den Verismo und setzte sich stets für ihn ein. Seine Gattin Denia Mazzola Gavazzeni folgt im darin und hat nun die einst sehr erfolgreiche Oper Cileas La Tilda nicht nur konzertant aufgeführt, sondern bei dem so altehrwüdigen wie rührigen Verlag Bongiovanni in Bologna als CD verlegen lassen. Derartige Neuerscheinungen erfüllen den Opernfreund immer mit gemischten Gefühlen, wenn er zwischen der Freude, die Bekanntschaft mit einem ihm bisher unbekannten Werk zu machen und der Besorgnis darüber, inwieweit die Sängerin, die sich natürlich stets der Titel- oder Hauptpartie annimmt, dieser noch gewachsen ist, hin-und herschwanken muss. Die jetzt erschienene Aufnahme von La Tilda entstand im Januar 2025 im Conservatorio „G.Verdi“ in Mailand.

La Tilda ist eine römische Straßensängerin, allerdings im Unterschied zur venezianischen Gioconda bereits mit einer halbwüchsigen Tochter namens Cecilia gesegnet. Sie verzehrt sich in Liebe zum französischen Offizier Gastone, der seinerseits mit der römischen Adligen Agnese verlobt ist. Als Gastone Tilda Geld für Liebesdienste anbietet, ist diese so empört, dass sie den römischen Polizisten Geld für die Freilassung eines Räubers anbietet. Das Geschäft findet statt, und der Bandit Gasparre revanchiert sich für seine Befreiung, indem er mit seinen Kumpanen Agnese und Gastone entführt. Tilda ist gerade gesonnen, die Rivalin Agnese zu ermorden, als Glockengeläut beide Frauen ins Gebet sinken lässt. Im dritten Akt behauptet Tilda gegenüber Gastone, seine Verlobte ermordet zu haben, und erreicht so, dass er sie ersticht. Sie findet gerade noch die Zeit, die Verlobten sterbend zu segnen. Wenigstens ist sie durch die Hand des geliebten Gastone gestorben.

Süße Melancholie oder melancholische Süße zeichnet die Musik Cileas auch in diesem Werk aus, in dem zwar der Sopran den Titel einnimmt, der Tenor aber das letzte Wort hat, wenn es auch nur ein „Morta, ,morta“ ist, dem Gastone im Unterschied zu Maurizio noch ein „O sciagurata amor“ hinzufügen darf.

Natürlich kann man Denia Mazzola Gavazzeni nur dankbar dafür sein, dass sie sich des über weiten Strecken hinweg Ohrwurm Qualitäten besitzenden Werks angenommen, hat, aber unüberhörbar sind auch die vokalen Schwächen wie die schrille Höhe, die substanzlose Tiefe, das manchmal ausufernde Vibrato, und nur in der oberen Mittellage lässt sich noch Angenehmes vernehmen. Auch mangelt es ihr, vergleicht man mit dem Booklet-Text,  an Textbeherrschung, und wenn der Chor ein „Eviva, canterà“ anstimmt, kann man kaum in den Jubel ein-, eher dem „Delirio, è follia“ zustimmen.  Ihre  Partnerin auf der Bühne und Rivalin im Werk ist die Agnese von Syuzanna Hakobyan mit reifem Mezzo, der im Duett der beiden mit Erfolg, was Stimmstärke und Durchschlagskraft betrifft, mithalten kann. Einen lieblichen, zarten Sopran setzt Wonjung Kim für die Tochter Cecilia ein. Womit wir bei der Tatsache wären, dass asiatische Kräfte immer mehr auch in Italien die einheimischen Sänger ersetzen. Sie sind oft technisch perfekt, beherrschen die Sprache ebenso perfekt, und doch vermeint man ein Defizit an dem, was man als Italianità bezeichnet, zu konstatieren, so dass auch der Gastone von Yan Wang mit einem frischen Timbre, mit Musikalität und guter Diktion erfreuen, aber doch nicht hundertprozentig überzeugen kann.  Giorgio Valerio ist markant der Brigante Gasparre, Fulvio Ottelli stützt als Mario und Bista und Qu Rui Jie als Locusta, die nicht nur mit Wein, sondern auch mit Gift handelt. Angenehmes lässt der aus asiatischen Sängern bestehende Coro Ab Harmoniae unter der Leitung von Hsiao Pei Ku vernehmen. In der Sinfonia und ganz besonders in dem sehr schönen Vorspiel zum dritten Akt brilliert das Orchestra Sinfonica Colli Morenici unter Nicola Ferraresi, der sich auch als nachsichtiger, zuverlässiger Begleiter der Gesangssolisten bewährt (Bongiovanni 2 CD GB 9616/17-2). Ingrid Wanja               

 

 Passionsgeschichte

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„Ich bin Maria von Buenos Aires, von Buenos Aires Maria, ich bin meine Stadt, Maria Tango, Maria Vorstadt, Maria Nacht, Maria fatale Leidenschaft, Maria der Liebe zu Buenos Aires bin ich!“ singt Maria, die der Geist durch einen Riss im Straßenasphalt beschwört. Sie ist ein Mysterium, geschaffen von dem uruguayischen Dichter Horacio Ferrer für seinen Freund Astor Piazzolla. 1955 lernte der 22jährige Ferrer den 12 Jahre älteren Piazzolla kennen, den er freilich schon lange, schon als Jugendlicher, bewundert hatte. Ferrer hatte seit Beginn der 1950er Jahre Texte für Tangos verfasst, Piazzolla, der quasi immer schon Tangos gespielt hatte, kehrte aus Paris zurück, wo er bei Nadia Boulanger ein richtiger Musiker werden wollte, denn „Tangomusiker war ein schmutziges Wort im Argentinien meiner Jugend“. Der Dichter und der Komponist begegneten sich, als Piazzollas Schiff auf der Rückreise nach Buenos Aires in Ferrers Heimatstadt Montevideo anlegte. Buenos Aires wurde zur Wohn- und Lebensort des in Mar del Plata geborenen Piazzolla, sein Seelenverwandter Ferrer nahm später die argentinische Staatsbürgerschaft an und erkor Buenos Aires zu seiner Wahlheimat.

1967 schuf Ferrer das Libretto zu Maria de Buenos Aires mit der Absicht für die verschiedenen Epochen und Existenzebenen der Maria „unterschiedliche Stilrichtungen des Tango (Traditionell, Romanze, Lied, modern), der Milongas, der Walzer und einige ländliche Weisen aus der Pampa zu verwenden“. 1968 gelangte die Tango-Operita im Sala Planeta in Buenos Aires zur Uraufführung mit einem Orchester von elf Musikern, mit Amelita Balfar als Maria, Hector de Rosas in den männlichen Gesangspartien und Ferrer als El Duende. Es folgten unmittelbar Hundertzwanzig Aufführungen sowie eine Schallplattenaufnahme. Wenige weitere folgten, darunter eine mit Gidon Kremer, bei der Ferrer 1998 nochmals die Sprechrolle übernahm.

Das Stück hat sich durchgesetzt, wurde ein internationaler Erfolg, wenngleich es geheimnisvoll bleibt wie die allegorische Titelgestalt, die als Verkörperung des Tangos seinen Aufstieg aus der Vorstadt in die glänzenden Zentren, Cabarets und Bordelle, seinen Niedergang und seine Wiedergeburt erlebt.

Die Faszination stellt sich direkt ein, auch bei der 2021 im kalabrischen Städtchen Cetraro entstandenen Aufnahme, bei der der unmittelbare Klang von Cesare Chiacchiarettas Bandoneon und die rau gesprochenen Einwürfe der wenigen Männer bei den Erzählungen des Geistes den Zuhörer in die Geschichte ziehen (2 CD Brillant Classics 96762). Filippo Arlia dirigiert das Orchestra Filarmonica della Calabria, das er 2011 als 22jähriger gründete und bis heute leitet, mit Verve und starker gestischer Eindringlichkeit. Die theatralischen Qualitäten der Vorlage bringt Arlia im zweien Teil, und da im 13 Bild, besonders stark und eindringlich zum Ausdruck, das instrumentale Allegro tangabile gegen Ende der Oper ist eine irrlichtende Großstadtsinfonie. Suarez Paz, kurz Ce genannt, eine renommierte Tango-Sängerin aus Buenos Aires, ist die Maria, deren szenische Präsenz und stimmliche Glut mitreißt und geradezu körperlich spürbar wird, sie trägt das Stück, in dem u.a. Alte Hurenmütter, Nudelwalzerinnen, Alte Diebe und Psychoanalytiker zu hören sind. Der Schauspieler Gualtiero Scola übernimmt die Rolle des Sprechers, Alberto Maria Munafò die anderen Gesangspartien, beide geben ihren Figuren ein Gesicht.. Rolf Fath

Massenets „L´Ancêtre“ von 1906

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„Nein!“, schreit Nunciata, die eigensinnige korsische Großmutter, als sie angefleht wird, die Fehde zwischen ihrer Familie, den Fabiani, und ihren Feinden, dem Clan Pietra-Nera, zu beenden.

Vor dem Hintergrund tragischer Todesfälle, unersättlicher Rachegelüste und leidenschaftlicher Liebe auf dem Höhepunkt der Napoleonischen Kriege wurde dieses 1906 von Saint-Saëns komponierte „lyrische Drama“ L´Ancêtre an der Opéra de Monte-Carlo uraufgeführt und dem Prinzen Albert I. gewidmet, der es in Auftrag gegeben hatte. Saint-Saëns zeigt hier die ganze Bandbreite seines Stils und verwebt Debussy’sche Akkorde, Melodielinien à la Massenet und aggressive Rhythmen, die Prokofjew würdig sind. Vor allem aber beweist er ein Gespür für das Theater, das für die französische Oper so charakteristisch ist, und man kann sich nur vorstellen, wie erfolgreich diese Partitur wäre, wenn sie wieder auf die Bühne käme.

Nicht ohne Grund wurde L’Ancêtre nach seiner triumphalen Premiere in Monte Carlo in mehreren Städten in Frankreich, Belgien, der Schweiz und Deutschland sowie in Algier (Februar 1911) und Kairo (Februar 1912) aufgeführt, bevor es im März 1915 zu zwei weiteren Aufführungen in dem Theater kam, in dem es entstanden war.. (Palazzetto Bruzane/DHL)

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Diese interessante späte Oper (die x.te im Katalog des Palazzetto Bru Zane, mit der etwas eingenwillige Liebe des Künstlerischen Directors Alexandre Dratwicki zum französischen Komponisten) wollen wir mit einer ausführlichen Rezension der neuen Aufnahme von Rolf Fath würdigen, dazu ein paar Worte des Prinzipalen. G. H.

 

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Die Zuschauer in der Opéra von Monte-Carlo dürften 1906 einigermaßen erstaunt gewesen sein, als sie der 70jährige Camille Saint-Säens mit einem völlig neuen Ton überraschte. Erstmals vertonte er einen fast gleichzeitigen Stoff, erstmals näherte sich seine Musik zaghaft dem Verismo. Vielleicht erklärt sich aus dieser Überraschung auch der Anfangserfolg seiner letzten Oper. Es folgte, ebenfalls in Monte-Carlo, nur noch die Adaption der Bühnenmusik zu Dejanire zur vollständigen gleichnamigen Oper.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kokettierte der alte Saint-Säens mit der Opernmode aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, als der Verismo mit Cavalleria Rusticana, Pagliacci sodann mit Pierantonio Tascas Santa Lucia und Giordanos Mala Vita Triumphe feierte. In Frankreich hatte sich Alfred Bruneau mit L’attaque du moulin an dem Genre versucht, in Prag 1903 Eugène d’Albert mit Tiefland.

Massenet: « L’Ancêtre à l’Opéra-Comique ». Musica, mars 1911. Bibliothèque du conservatoire de Genève/Palazzetto

L’Ancêtre (Die Ahnin) ist eine ebensolch vor Rache, Hass, Mord und tödlichen Verkettungen strotzende Geschichte, die der Dichter, Librettist und Historiker Lucien Augé de Lassus im Ersten Kaiserreichs, also in den Jahren zwischen 1804 und 1815 auf Korsika verortet. Sie erzählt von den zerstrittenen Familien der Piétra Néra und Fabiani, die durch Zutun des Eremiten Raphael sich endlich dazu bereitfinden, ihren alten Zwist beizulegen. Die beiden Fabiani-Mädchen Vanina und ihre Pflegeschwester Margarita sind in den Piétra Négra-Sproß Tébaldo verliebt. Der junge Offizier aus Napoleons Armee liebt Margarita. Sie schwören sich Liebe. Die Fabiani-Großmutter Nunziata, die Ahnin, lehnt jegliche Versöhnung ab. In ihrer sturen Haltung wird sie bestärkt, als ihr Enkel Leandi von Tébaldo getötet wird. Nunziata zwingt Vanina den Tod ihres Bruders zu rächen. Als sich Tébaldo und Margarita heimlich von dem Eremiten trauen lassen, werden sich von Vanina und der Großmutter beobachtet. Nunziata will, dass Vanina den Gegner tötet. Vanina weigert sich. Nunziata greift selbst zum Gewehr und schießt. Versehentlich tötet sie dabei Vanina.

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Das Werk erklingt in gepflegter Meisterschaft. Da irritieren keine rauen und kantigen Töne, nichts Schroffes, korsisch Wildes. Der Verismo hatte sich totgelaufen. Mit schönen Auftritten des Eremiten Raphael, den Michael Arivony mit betörender baritonaler Eleganz singt, wird ein nobles Drama vorbereitet. Es folgen Szenen des Tébaldo, der Halbschwestern, das große von Raphael angestimmte Gebet und die Liebesszene Margarita und Tébaldo. Saint-Saens besinnt sich auf seine alten Tugenden und entwickelt alles sehr gefällig und kultiviert, vom stimmungsvollen, fast impressionistischen wispernden Prélude bis zu den schematischen Ensembleszenen.

Massenet: Félia Litvinne war die Hauptdarstellerin der Uraufführung, hier als Massenets Déjanire/Palazzetto

Wie stets bei Saint-Säens fehlt es jedoch an dramatischem Feuer, an musikalischem Bühneninstinkt, an Dringlichkeit und Spannung, an Gespür für Steigerungen. Alles ist allerfeinst ineinander gewoben, souverän abgetönt, wie man es kennt von dem 2017 an der Opéra Comique wiedererklungenen und dann von Palazzetto Bru Zane veröffentlichten Erstling Le timbre d’ argent, an dem er bis 1914 herumdokterte, bis zur Merowingeroper Frédégonde seines Freundes Ernest Guiraud, deren letzte Akte er nach dessen Tod fertigstellte und mit der er sich 1895 von der Bühne verabschieden wollte. Stets wird man den geschmackvollen Handwerker bewundern, der Stimmen und Orchester geschmeidig verbindet.

Stets kommt aber auch etwas Langeweile auf, was bei dem 90minütigen Dreiakter L’Ancêtre, von dem der Komponist sagte, er sei weder grand-opéra noch opéra-comique, etwas heißen will. Da kann auch die vorzügliche Wiederbelebung durch Palazzetto Bru Zane und die üppige Ausstattung nicht viel retten, so verdienstvoll sie natürlich gleichwohl bleibt. In der Stadt der Uraufführung leitet der Japaner Kazuki Yamada, der ab 2026 Chefdirigent des DSO sein wird, Anfang Oktober 2024 im Auditorium Rainier III mit dem Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo und dem Philharmonic Chorus of Tokyo eine umsichtige, geschlossene und etwas steife Aufnahme, bei der die kurzen, doch sehr elegant ausgewiesenen Préludes, insbesondere jenes zum dritten Akt, auffallen. Auch den ausgezeichneten Raphael des Michael Arivony wurde schon hingewiesen. Julien Henric singt den Tébaldo mit französischer Eleganz und italienischen Temperament, auch mit Heldenstrahl und subtiler Empfindung, beide Fabiani-Mädchen haben kleine dankbare Aufgaben, die markant aparte Mezzosopranistin Gaëlle Arquez (man hat sie noch als fulminante Carmen bei der René-Jacobs-Tournee in Erinnerung/G.H.) als Liebesschmerz leidende Vanina und Hélène Carpentier mit ihrem duftigen Sopran in der Micaela-Unschuld der Margarita. Ihr Terzett mit Tébaldo und das folgende Quartett (mit Nunziata) sind Höhepunkte der Oper, ein weiterer die ariosen Szenen der Ahnin.

Massenet: Camille Saint-Saëns and the cast of L’Ancêtre at Monte Carlo. Musica, May 1906. Bibliothèque du Conservatoire de Genève/Palazzetto

Die Titelrolle wurde von der berühmten Félia Litvinne kreiert, die Mezzo- wie Sopranpartien sang, mit Wagner, Verdi und Ponchielli und zahlreichen Partien des französischen Repertoires Akzente setzte. Entsprechend wirkungsvoll hat Saint- Säens die Primadonna in Szene gesetzt, lässt sie nur kurz im ersten Akt auftreten, wo sie mit einem knappen „No“ jegliche Versöhnung ablehnt und in der großen Anathème-Szene von Raphael verflucht wird. Nunziata gehört aber der Mittelakt, wo sie in mehreren aufeinanderfolgenden Szenen, darunter die Déploration und Malédiction, glänzen kann. Jennifer Holloway, die in Bayreuth in diesem Jahr die Sieglinde war und 2025 Adriano in Rienzi singen wird, ist wie ihre berühmte Vorgängerin u.a. auch in Saint-Säens Henry VIII. aufgetreten. In der anfänglichen Traumszene „Je révais de mon fils“ besticht Holloway durch die samtene Schönheit und das umflorte Timbre ihres höhenstarken Mezzosoprans, in den leidenschaftlichen Passagen verhärtet sich die Stimme rasch, klingt dann etwas unattraktiv und schrill.   Rolf Fath

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Massenet: Raoul Gunsbourg, der mutige und schöpferische Intendant der Opéra de Monte-Carlo/Palazzetto

Besser heute als gestern? Die 2012 begonnene Reihe von Aufnahmen aller Opern von Saint-Saëns durch das Palazzetto Bru Zane wird nun mit der Veröffentlichung eines seiner geheimnisvollsten Werke fortgesetzt. Denn L’Ancêtre ist im Gegensatz zu Phryné oder La Princesse jaune eine Partitur, die von der französischen Musikgeschichte hartnäckig ignoriert wurde und deren Titel wenig über ihren Inhalt aussagt. Man ist immer wieder  überrascht über das allgemeine Desinteresse der Opernhäuser an Saint-Saëns‘ Werken für das Theater, obwohl seine Danse macabre, seine Konzerte für Klavier und Cello und das Bacchanal aus Samson et Dalila ständig zu hören sind. Lassen Sie uns untersuchen, ob die Qualität von L’Ancêtre seine spätere Vernachlässigung rechtfertigt. Anstatt eine Antwort auf diese Frage mittels musikwissenschaftlicher Analyse zu geben, wäre es vielleicht besser, die Musikkritiker unserer Zeit zu Wort kommen zu lassen, jene Journalisten, die sich beeilt haben, ihre Meinung nach dem Konzert in Monaco im Oktober 2024 zu äußern, aus dem diese Aufnahme stammt. Und schauen wir mal, ob der heutige Diskurs mit den – durchweg begeisterten – Reaktionen der Anwesenden bei der Weltpremiere (darunter Gabriel Fauré selbst) übereinstimmt. François Laurent (Diapason) ging sogar so weit, die Oper als „ein Wunderwerk” zu bezeichnen, in dem „nichts langatmig ist, die Handlung fließt. […] Der alte Saint- Saëns versucht, sein Publikum auf Schritt und Tritt zu überraschen”. Laurent Bury (Classica) nannte es ein „kurzes, aber kraftvolles Stück” mit „gut charakterisierten Protagonisten” und einem Libretto, das „in seinem tragischen Charakter vollkommen wirkungsvoll” ist. Für Damien Dutilleul (Olyrix) ist L’Ancêtre „musikalisch sehr reichhaltig. Es ist das Werk eines kühnen, reifen Komponisten. Mehrere Nummern, insbesondere Ensembles und Chöre, sind besonders beeindruckend“. Jany Campello (Resmusica) schätzte die „Prägnanz“ und „Üppigkeit“ einer Partitur, die „einen dramatischen Faden von seltener Spannung entwirrt, insbesondere ab dem zweiten Akt. […] Die Vielfalt der Effekte und Orchesterfarben, das Fehlen von Längen und die Vitalität seiner Musik verhindern Langeweile und bieten Momente von großer Schönheit […] bis hin zu einem Vokalquartett von überwältigender Lyrik“. Laut Clément Mariage (Forum Opéra) ist die Musik besonders „inspiriert“ und erzeugt „äußerst gelungene dramatische Episoden. […] Darüber hinaus ist die Orchestrierung des Werks äußerst sorgfältig“, insbesondere der finale „leidenschaftliche lyrische Ausbruch, der durch seine Sinnlichkeit und seinen Schmerz überwältigt“.

Massenets „L´Ancêtre“: die Opéra de Monte-Carlo um 1906/Palazzetto

Schließlich lobt Laurent Bury (wiederum, diesmal jedoch für Concertclassic) „eine bei Saint-Saëns seltene Prägnanz und Freiheit, der sich nicht verpflichtet fühlt, die strenge Drapierung der Antike zu übernehmen, und sich flexiblere Formen erlaubt”; der Kritiker bekannte sich „beeindruckt von bestimmten Motiven, deren dramatische Wirkung fast schon die Filmmusik von Bernard Herrmann vorwegzunehmen scheint”.

Was können wir aus diesem Chor des Lobes schließen, dessen Einstimmigkeit sogar die Kritiken zur Uraufführung übertrifft (die man durchaus auf die höfliche Wertschätzung für den betagten Saint-Saëns zurückführen könnte)? Erstens, dass die unermüdliche Arbeit von Institutionen, die nach verborgenen Schätzen suchen, Früchte tragen kann und nicht umsonst ist. Aber auch, dass solche schlummernden Werke mit Begeisterung und Talent von Künstlern gefördert werden müssen, die sich ihre Verantwortung in dieser Mission der Wiederbelebung bewusst sind. Denn alle oben genannten Kommentatoren lobten die Qualität eines Teams von Interpreten, die sich voll und ganz für die Wiederbelebung des Werks engagierten. Aus diesem Grund möchten wir den Instrumentalisten, dem Dirigenten und den Sängern, die sich bemüht haben, L’Ancêtre zu neuem Leben zu erwecken, unsere aufrichtige Anerkennung aussprechen.

Der Musikwissenschaftler Alexandre Dratwicki ist der wissenschaftliche Leiter beim Projekt Palazetto Bru Zane/ PBZ

Denn wenn die Partitur die Voraussetzung für die Entfaltung des Talents des Künstlers ist, so sind es dessen Sensibilität und sein Anspruch, die über diese Partitur hinausgehen und sie zu neuen Höhen führen. Und schließlich möchten wir den Interpreten, die sich für die Wiederbelebung von L’Ancêtre Denn wenn die Partitur die Voraussetzung für die Entfaltung des Talents des Künstlers ist, so sind es dessen Sensibilität und hoher Anspruch, die über diese Partitur hinausgehen und sie zu neuen Höhen führen.

Und schließlich möchten wir noch ein Wort über die Begeisterung unserer Zusammenarbeit mit dem Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo und seinem Dirigenten Kazuki Yamada, eine gemeinsame Initiative, die dank Didier de Cottignies ins Leben gerufen und fortgeführt wurde. Ihm gilt unser herzlicher Dank dafür, dass er dieses Abenteuer ermöglicht hat. Dank ihm wird es von nun an ein Vergnügen sein, unseren Vorfahren zuzuhören. Alexandre Dratwicki (Palazzetto Bru Zane)/DeepL

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Camille Saint-Saens (1835-1921): L’Ancetre (Deluxe-Ausgabe im Hardcover-Buch) Michael Arivony, Gaelle Arquez, Helene Carpentier, Julien Henric, Jennifer Holloway, Matthieu Lecroart, Tokyo Philharmonic Chorus, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Kazuki Yamada 2 CDs; Palazzetto  Bru Zane

 

 

Echter Verdi

Ein großartiges Unternehmen ist das der Opernfestspiele Heidenheim, die sich deswegen zu Recht mit einem großen roten OH! schmücken dürfen, sämtliche Opern Giuseppe Verdis in chronologischer Reihenfolge aufzuführen, wobei man in der Saison 2024 bereits bei Alzira, eingerahmt 2023 von Giovanna d´Arco und 2025 Attila und nun als CD auf dem Markt. Mit dem Inka-Drama nach Voltaire, aber ohne dessen Kolonialismuskritik und rein auf das Liebesdrama  reduziert, ist Alzira  das wohl unbekannteste Werk Verdis, das in Neapel bei der Uraufführung noch positiv aufgenommen, danach in Rom mit einem Achtungserfolg bedacht und in Mailand mit einem totalen Misserfolg abgestraft wurde.

Das innerhalb von vier Wochen komponierte und nur neunzig Minuten dauernde Werk spielt in Peru und handelt von der Rivalität zwischen dem Inkakönig Zamoro und dem spanischen Gouverneur Guzmano um die Liebe des Inkamädchens Alzira, folgt der „klassischen“ Gruppierung Sopran/Tenor gegen Bariton, aber mit dem überraschenden Schluss, dass Letzterer auf die Hand der Angebeteten verzichtet, das Zeitliche segnet und so dem Glück der Liebenden nicht mehr im Wege steht, wobei die Frage nach dem Schicksal des Inkavolkes völlig offen bleibt, ja nicht einmal gestellt wird. Das Stück könnte also überall und zu jeder beliebigen Zeit spielen. Trotzdem ist es auf jeden Fall anhörenswert, denn neben viel Umtata und Bandaklängen gibt es betörend schöne Stellen, so dass lange Duett zwischen Sopran und Bariton, das an das aus dem Troubadour erinnert, nur das an dessen Ende nicht der Sopran, sondern der Bariton den Tod wählt. Insgesamt allerdings bleibt die Titelheldin, zeitlich immerhin angesiedelt zwischen einer Giovanna und einer Odabella, recht uninteressant. 2026 wird man in der chronologischen Reihenfolge mit der Urfassung von Macbeth bleiben, und macht zusätzlich einen gewaltigen Satz zum Otello.

Die heiter-tänzerisch beginnende und damit das happy end vorwegnehmende Sinfonia wird von der Cappella Aquileia unter Marcus Bosch verspielt tänzerisch dargeboten, ehe die Faust des traurigen Inka-Schicksals dazwischen haut. Ebenso rasant wie das Orchester zeigt sich der auf Festivals stets sich bewährende Czech Philha rmonic Choir Brno und sorgt ebenfalls für Italianità. Der Star des Ensembles ist Ania Jeruc mit klarem, härtefreiem, geschmeidigem Sopran, der furchtlos die Intervallsprünge vollzieht und die Finali dominiert. Der Tenor Sung Kyu Park ist der Inkahäuptling Zamoro und stattet diesen mit einem eindringlichen „Ah! perchè non moro?“ und folgender rasant klingender Cabaletta aus. Die Höhe und die Phrasierung sind gut, dem Timbre fehlt es etwas an dolcezza und nobiltà, aber insgesamt ist dies eine beachtenswerte Leistung. Der Alvaro wird von einem Bass voll vokaler Autorität, dem von Marcell Bakonyi, verkörpert, Marian Pop ist der Gusmano mit eher Brunnenvergifter- als Nobelbariton, einen angenehmen Tenor hat Musa Nkuna für den Otumbo, Julia Rutigliano einen geschmeidigen Mezzo für Alziras Vertraute Zuma.

Man beginnt mit skeptischem Hören, das sich zunehmend in interessiertes und schließlich gebanntes wandelt: Der Beweis dafür, dass es sich um einen „echten“ Verdi handelt, ist erbracht und Coviello Classics dafür zu danken, ihn allgemein zugänglich gemacht und mit einem vorzüglichen Booklet versehen auf den Markt gebracht zu haben (Coviello COV92508). Ingrid Wanja

 

Ein anderer Imperator

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Händels Oper Giulio Cesare in Egitto gehört zu den bekanntesten und am häufigsten aufgeführten Barock-Opern. Wer aber kennt die Vertonung dieses Stoffes durch den 1692 geborenen Geminiano Giacomelli, der zunächst als Hofkomponist in Parma wirkte und dann an die Kirche S. Giovanni in Piacenza wechselte? Cesare in Egitto (der Vorname fehlt also im Titel) auf ein Libretto von Carlo Goldoni und Domenico Lalli ist seine einzige Oper, uraufgeführt 1735 in Mailand und noch im selben Jahr in Venedig nachgespielt. Alpha hat das Werk als Weltersteinspielung auf drei CDs in einer schmucken Schachtel mit altägyptischer Wandmalerei auf dem Cover veröffentlicht (ALPHA1141). Die Aufnahme stammt aus dem Innsbrucker Landestheater, wo sie im August des vergangenen Jahres live mitgeschnitten wurde. Dort ist Ottavio Dantone Musikalischer Leiter der Festwochen der Alten Musik und steht daher auch am Pult der Accademia Bizantina, die er seit 1996 leitet. Von ihm (und Bernardo Ticci) stammt die kritische Edition für die Aufnahme, welche Material aus den Versionen für Venedig und Mailand verwendet.

Ungewöhnlich ist die Besetzung, denn der Titelheld ist – anders als bei Händel – ein Sopran und Cleopatra ein Mezzo. Die Italienerin Arianna Vendittelli ist eine lyrische Sopranistin, der die erste Arie des Werkes, Cesares Auftritt „Cadrà quel disumano“, zufällt. Sie singt den lebhaften Titel mit Energie, ohne naturgemäß eine maskuline Stimmung evozieren zu können. Noch weniger gelingt ihr das im getragenen „Bella, tel dica amore“, einem Liebesbekenntnis der zärtlichen Art. Am überzeugendsten sind das mit heftiger Wucht vorgetragene „Col vincitor mi brando“ im 2. Akt, in dem auch die rasenden Koloraturläufe beeindrucken, und ihr finaler Auftritt mit „A un cor forte“.

Die Ungarin Emöke Baráth, renommiert in der Alte-Musik-Szene und früher selbst Sopran, hat nun in das Mezzo-Fach gewechselt. Ihr Klang ist freilich noch immer sopranig und die Auftrittsarie „Fier Leon di sdegno acceso“ von imposanter Virtuosität. Ähnlich bravourös und souverän präsentiert ist ihre Arie „Chiudo in petto un cor altero“, welche den 1. Akt beschließt.

Das Personal der Oper ist weitestgehend identisch mit Händels Dramma per musica, also finden sich hier auch Cornelia und Tolomeo. Erstere gibt Margherita Maria Sala mit expressivem Alt, der in seiner Vehemenz an den von Lucile Richardot erinnert, die Händels Cornelia in Salzburg gesungen hatte. Das ungestüm herausgestoßene „Oppressa, tradita“ zeigt die Figur im Ausnahmezustand. Tolomeo ist ein Tenor und in Gestalt von Valerio Contaldo ein robuster Vertreter seines Faches. Dennoch lässt er in seiner Arie „A quelle luci irate“ am Ende des 1. Aktes auch weichere Töne hören. Kontrastreich dazu sein heroischer Auftritt „Scende rapido spumante“ mit stürmischen Koloraturläufen, der den 2. Akt beschließt. Die Riege der Countertenöre vertreten Filippo Mineccia als General Achilla und der junge Federico Fiorio (er sogar ein Sopranist) als Cornelias Liebhaber Lepido. Mit seiner kindlichen Stimme wirkt er in dieser Rolle etwas unglaubhaft – passender besetzt war er als Cornelias Sohn Sesto in der Aufführung von Händels Oper bei den diesjährigen Salzburger Festspielen. Gleichwohl sorgt er in seinen Arien „Vibrano i Dei talora“ im 1. und „Vendetta mi chiede“ im 2. Akt für begeisternde Meisterschaft. Auch sein letztes Solo, „Scorre per l´onde ardito“ am Ende der Oper, ist ein Bravourstück par excellence. Mineccia bringt sich mit seinem charaktervollen Timbre und vehementem Vortrag vorteilhaft ein. Eindrucksvoll trumpft er in „Al vibrar della mia spada“ zu Beginn des 2. Aktes auf und hat im 3. mit „Nel sen mi giubila“ eine melodisch reizvolle Nummer.

Ottavio Dantone bemüht sich, die Längen des Werkes, bedingt auch durch ausgedehnte Rezitative und die Häufung der Gleichnis-Arien, mit Affekt geladenem und an Farben reichem Musizieren auszugleichen. Die einleitende zweiteilige Sinfonia ist ein rasanter Einstieg, doch hält sich.  dieser Eindruck nicht durchgängig, was eher am Werk als an der Interpretation liegt. Ob es sich als Repertoire-Stück halten wird, ist fraglich. Aber viele Arien sind reizvoll und taugen durchaus für Arien-Alben von Sängern oder deren Konzertprogramme (02.10.25). Bernd Hoppe

Meilenstein

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Johann Adolf Hasses Namen verbinden wir heute fast immer mit dem Dresdner Barock. Er war dort sehr lange der führende Hofkomponist und er war berühmt für seine opulenten großen (und langen!) Opern. Jetzt finden wir ihn plötzlich ganz woanders wieder, nämlich in der Wiener Klassik. Das Label Harmonia Mundi France hat seine kleine Wiener Oper Piramo e Tispe von 1768 aufgenommen, also ein Spätwerk. Josef Haydn war da schon 36 Jahre alt, Beethoven noch nicht geboren, erst 1770. Mozart war zwölf Jahre alt.

Passt diese Oper in das übliche Bild von Johann Adolf Hasse? Eigentlich nicht, weil diese kurze Oper in jeder Hinsicht ungewöhnlich ist. Überraschend ist vor allem, dass es eben diese aufregenden Spätwerke von ihm gibt, die wir so gar nicht zur Kenntnis nehmen. Hasse ist sehr alt geworden, 84 Jahre, für die damalige Zeit eine Leistung. Er hat Mitte 60 noch diese großen Reformbewegungen der Oper erlebt, vor allem in Wien. Das fand er  sehr inspirierend und hat hier eine Musik geschrieben, bei der man schon spürt, dass die Veränderungen dieser Musik-Szene in Wien ihn sehr erreichten.

Seine kleinbesetzte Drei-Personen-Oper ist so innovativ, dass er in Wien wahrscheinlich kein großes Haus dafür finden konnte oder wollte. Der Tenor des Abends war auch der Librettist. Wien als Schauplatz war Hasse neue Heimat. Er hatte diesen schrecklichen Siebenjährigen Krieg in Dresden erlebt. Dort ist sein Haus abgebrannt. Er zog nach Wien um und erlebte nun diese gluckischen Reformbestrebungen. Piramo e Tisbe ist seine Reaktion darauf. Drei Personen, eine ganz eng zusammengedrängte Handlung, ganz viele Orchesterrezitative, Accompagnato. Nicht nur Arien, sondern auch Duette. Und die Melodien sind auch konziser als in seinen vorangegangenen Opern. Oft gibt es nur wenige Verzierungen. Hasse hat Gluck nicht direkt imitiert, aber man spürt schon dessen Einfluss.

Johann Adolph Hasse (italianisiert Giovanni Adolfo, darauf basierend verbreitet auch Johann Adolf Hasse; getauft am 25. März 1699 in Bergedorf; † 16. Dezember 1783 in Venedig)/Wikipedia

Der Plot ist ja bekannt. Es geht um ein Liebespaar, dessen Vater nicht will dass sie sich kriegen. Die Familien sind verfeindet, beide Liebenden planen die Flucht. Piramo glaubt aber durch ein groteskes Missverständnis, dass Tisbe von einem Löwen gefressen wurde und bringt sich um. Die arme Tisbe tötet sich neben dem sterbenden Piramo. Sie finden sterbend zusammen. Der hinzukommende Vater ist so erschüttert, dass er sich auch ersticht. Alle tot. Alle tot! Das klingt fast wie eine Parodie. Aber das stammt von Ovid, bei dem sich auch Shakespeare bedient hat.  Die damalige opera seria kannte bis aus wenige Ausnahmen keine tragischen Schlüsse. Hier nun sterben dann wirklich alle drei.

Die beiden Liebenden dieser Aufnahme sind wirklich superb, zwei Soprane übrigen. Sie hauchen sehr anrührend ihr Leben aus, fast schon wie bei Bellini später. Adieu, adieu, adieu. Ach, zum Sterben schön dieses Duett. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist doch  erstaunlich, dass Hasse noch in so hohem Alter diese Verwandlung oder diese so sinnliche Wandlung mitgemacht hat. Wirklich erstaunlich. Denn es gibt ja auch ganz andere Komponisten, die ihren Stil gnadenlos beibehalten haben, während alles um sie herum sich veränderte.

Hasse war, soweit wir wissen, sehr, sehr stolz auf seine späte Oper.  Er hat das Ganze als ein Hauptwerk betrachtet. Und wenn man die übliche Länge der frühen Hasse-Opern betrachtet ist dies schon ein Instant-Hasse.

Warum wird es so selten oder so gut wie nie gespielt? Die Musikwelt ignoriert diese Epoche zwischen 1750 und 1800 ist immer noch zu sehr. Man hat den Eindruck, dass wir aus den 1710er bis -40er Jahren unendlich viel serviert bekommen, zum Teil auch Drittrangiges. Das überschwemmt den Markt, während eben diese spannende Szene nach 1750, ab der es dann erst so richtig losgeht in der Oper und wo dann wirklich die großen Reformen-Bewegungen kommen, vernachlässigt werden. Traetta, Piccini, Sarti, Salieri, Johann Christian Bach spielen kaum eine Rolle auf dem Aufnahme- oder Festival-Markt. Und deshalb sind solche Produktionen wie diese aus Berlin bei dem verdienstvollen Label cpo absolut hilfreich und wichtig, weil sie auf Geniales jenseits von Gluck und Mozart hinweisen.

Diese Oper ist wirklich ein Meilenstein. Die Akademie für Alte Musik unter Bernhard Forck hat das erkannt und glücklicherweise eingespielt. Die Aufnahme macht überstreckend glücklich. Das hat nicht nur mit der Einfühlsamkeit und Leidenschaft zu tun, mit der sich hier die Ackermus an die Wiederentdeckung der Oper macht. Das Werk hat es wirklich in sich. Es erfordert relativ junge, frische Stimmen, damit die Handlung plausibel sein soll. Und zugleich müssen diese Sänger aber auch wirklich was leisten. Sie haben eine enorme Skala an Ausdrucksfacetten zu stemmen. Beide, Piramus und Tispe, haben im zweiten Akt riesige Solonummern, fast schon kleine Solokantaten, wo sie Schmerz, Trauer, Hoffnung ausdrücken müssen. Beide, Annett Fritsch und Roberta Mamelli, machen das sehr packend und eben auch sehr nuanciert und filigran.

Bei den Aufführungen letzten Sommer in Berlin, die dieser Aufnahme vorangingen, hat sofort gespürt, dass beide sich mochten, dass sie harmonierten, dass ihnen die Oper einen riesigen Spaß machte. Und eben diese Harmonie, diese Lust ist mit Geld nicht zu kaufen. Das ist dann eben einfach Glück. Und dies Glück hört man eben. Jeremy Oden als Vater manchmal ein bisschen zu introvertiert, und es gibt auch Momente, wo es in den Szenen der Sängerinnen auch ein bisschen an Opulenz fehlt. Aber bei Hasses Wiener Premiere in beengten Umständen haben ja auch keine Megastars gesungen. Insofern bildet die Aufnahme das gut ab. Dieser intime, schlanke Ton ist mit diesen kleineren Stimmen recht authentisch. Zusammen genommen ist dies hier Instant-Hasse mit hoher Qualität (harmonia mundi france 905393.94). M. K./G. H.