Passionsgeschichte

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„Ich bin Maria von Buenos Aires, von Buenos Aires Maria, ich bin meine Stadt, Maria Tango, Maria Vorstadt, Maria Nacht, Maria fatale Leidenschaft, Maria der Liebe zu Buenos Aires bin ich!“ singt Maria, die der Geist durch einen Riss im Straßenasphalt beschwört. Sie ist ein Mysterium, geschaffen von dem uruguayischen Dichter Horacio Ferrer für seinen Freund Astor Piazzolla. 1955 lernte der 22jährige Ferrer den 12 Jahre älteren Piazzolla kennen, den er freilich schon lange, schon als Jugendlicher, bewundert hatte. Ferrer hatte seit Beginn der 1950er Jahre Texte für Tangos verfasst, Piazzolla, der quasi immer schon Tangos gespielt hatte, kehrte aus Paris zurück, wo er bei Nadia Boulanger ein richtiger Musiker werden wollte, denn „Tangomusiker war ein schmutziges Wort im Argentinien meiner Jugend“. Der Dichter und der Komponist begegneten sich, als Piazzollas Schiff auf der Rückreise nach Buenos Aires in Ferrers Heimatstadt Montevideo anlegte. Buenos Aires wurde zur Wohn- und Lebensort des in Mar del Plata geborenen Piazzolla, sein Seelenverwandter Ferrer nahm später die argentinische Staatsbürgerschaft an und erkor Buenos Aires zu seiner Wahlheimat.

1967 schuf Ferrer das Libretto zu Maria de Buenos Aires mit der Absicht für die verschiedenen Epochen und Existenzebenen der Maria „unterschiedliche Stilrichtungen des Tango (Traditionell, Romanze, Lied, modern), der Milongas, der Walzer und einige ländliche Weisen aus der Pampa zu verwenden“. 1968 gelangte die Tango-Operita im Sala Planeta in Buenos Aires zur Uraufführung mit einem Orchester von elf Musikern, mit Amelita Balfar als Maria, Hector de Rosas in den männlichen Gesangspartien und Ferrer als El Duende. Es folgten unmittelbar Hundertzwanzig Aufführungen sowie eine Schallplattenaufnahme. Wenige weitere folgten, darunter eine mit Gidon Kremer, bei der Ferrer 1998 nochmals die Sprechrolle übernahm.

Das Stück hat sich durchgesetzt, wurde ein internationaler Erfolg, wenngleich es geheimnisvoll bleibt wie die allegorische Titelgestalt, die als Verkörperung des Tangos seinen Aufstieg aus der Vorstadt in die glänzenden Zentren, Cabarets und Bordelle, seinen Niedergang und seine Wiedergeburt erlebt.

Die Faszination stellt sich direkt ein, auch bei der 2021 im kalabrischen Städtchen Cetraro entstandenen Aufnahme, bei der der unmittelbare Klang von Cesare Chiacchiarettas Bandoneon und die rau gesprochenen Einwürfe der wenigen Männer bei den Erzählungen des Geistes den Zuhörer in die Geschichte ziehen (2 CD Brillant Classics 96762). Filippo Arlia dirigiert das Orchestra Filarmonica della Calabria, das er 2011 als 22jähriger gründete und bis heute leitet, mit Verve und starker gestischer Eindringlichkeit. Die theatralischen Qualitäten der Vorlage bringt Arlia im zweien Teil, und da im 13 Bild, besonders stark und eindringlich zum Ausdruck, das instrumentale Allegro tangabile gegen Ende der Oper ist eine irrlichtende Großstadtsinfonie. Suarez Paz, kurz Ce genannt, eine renommierte Tango-Sängerin aus Buenos Aires, ist die Maria, deren szenische Präsenz und stimmliche Glut mitreißt und geradezu körperlich spürbar wird, sie trägt das Stück, in dem u.a. Alte Hurenmütter, Nudelwalzerinnen, Alte Diebe und Psychoanalytiker zu hören sind. Der Schauspieler Gualtiero Scola übernimmt die Rolle des Sprechers, Alberto Maria Munafò die anderen Gesangspartien, beide geben ihren Figuren ein Gesicht.. Rolf Fath