Archiv für den Monat: März 2021

Momentaufnahmen

 

Bei der Verbreitung der Werke Gustav Mahlers haben die Berliner Philharmoniker von Anfang an eine entscheidende Rolle ge­spielt. Es begann mit der Aufführung von Liedern aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn mit Amalie Joachim unter Leitung von Raphael Maszkowski am 12. De­zember 1892. Am 4. März 1895 stellte Mahler in einem ansonsten von Richard Strauss dirigierten Konzert der Philharmoniker die drei Instrumental­sätze (1, 2, 3) seiner zweiten Sym­phonie vor. Am 13. Dezember 1895 leitete er die Uraufführung der vollständigen Zweiten. Seine Musik fand allerdings beim Publikum und bei großen Teilen der Kritik eine gemischte, eher negative Aufnahme. So sehr man Mahler als Dirigent bewunderte, so wenig hielt man von seinem Komponieren.

Arthur Nikisch, der zweite philharmonische Chefdirigent, setzte sich stark für Mahler ein. Wichtige Mahler-Interpreten von 1911 bis 1932 waren Oskar Fried, Bruno Walter, Klaus Pringsheim, Otto Klemperer und Jascha Horenstein. Einer wichtigsten Mahler-Dirigenten seiner Zeit, Willem Mengelberg, leitete am 17. Mai 1912 im Zirkus Schumann die Berliner Erstaufführung der Achten Symphonie. – Wilhelm Furtwängler, dritter künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker, hatte kein genuines Interesse am Oeuvre Gustav Mahlers. Seine Dirigate der Ersten, Dritten und Vierten Symphonie hinterliessen keine große Wirkung. Allerdings gewann er große Anerkennung mit Dirigaten und Aufnahmen der „Lieder eines fahrenden Gesellen“ und der „Kindertotenlieder“.

In den Jahren der NS-Diktatur war Mahlers Musik wie die aller jüdischen Komponisten verboten. Am 13. Oktober 1932 war zum letzten Mal eine seiner Kompositionen in einem philharmonischen Konzert zu hören. Erst 16 Jahre, am 2. Mai 1948, stand mit der Vierten Symphonie, dirigiert von Otto Klemperer, zum ersten Mal wieder ein Werk von Mahler auf dem Programm.

Die beiden ersten Chefdirigenten nach dem Krieg, Leo Borchardt und Sergiu Celibidache, spielten keine Rolle als Mahler Dirigenten. Überhaupt waren es nach 1945 eher Gastdirigenten, die sich Mahlers Musik annahmen – genannt seien Hans Rosbaud, Hermann Scherchen, Joseph Keilberth und die folgenden wichtigsten Mahler-Interpreten wie Rafael Kubelik, Georg Solti, Bernard Haitink und vor allem Sir John Barbirolli, der Brite italienischer Herkunft. Barbirolli, der selbst erst relativ spät zu Mahler fand, hat die Mahler-Tradition der Philharmoniker entscheidend geprägt. Er war es, der den Philharmonikern, unter denen es viele Mahler-Skeptiker gab, diese Musik nahebrachte. Er dirigierte in der Philharmonie fast alle Symphonien mit Ausnahme der Siebten und Achten. Seine Interpretation der Neunten Symphonie, veröffentlicht von EMI, gilt immer noch als exemplarisch. Fast alle Aufführungen wurden seinerzeit vom SFB mitgeschnitten und erschienen über die Jahre bei Testament Records. Mahlers Neunte dirigierte auch Leonard Bernstein bei seiner einzigen Begegnung 1979 mit den Berliner Philharmonikern.

Herbert von Karajan fand erst spät und nur begrenzt zu Mahler. Ihm lagen vor allem die Fünfte, Sechste und Neunte Symphonie sowie das „Lied von der Erde“. Karajan feilte, wie so oft, wieder und wieder an den Interpretationen. So entstanden exemplarischen Einspielungen der Fünften, Sechsten und vor allem der Neunten Symphonie. Mit seinem Nachfolger Claudio Abbado, kam ein Dirigent zu den Philharmonikern, dessen Karriere und Erfolg mit Mahlers Musik verbunden war. Abbado dirigierte in seinem Berliner Antrittskonzert kurz nach der Wahl zum Chefdirigenten eine aufregende und mittreissende Erste Symphonie. Mahler-Symphonien zählten zum festen Repertoire seiner Konzerte in Berlin und auf zahlreichen Reisen. Seine Aufnahme der Neunten Symphonie ist ein kongeniales Vermächtnis Abbados.

Kyril Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

Simon Rattle, der im November 1987 mit Mahlers Sechster sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern hatte, brachte in seiner Amtszeit als Chefdirigent sämtliche Symphonien Mahlers zur Aufführung, dabei hat er immer wieder neu über die Interpretationen nachgedacht. – Kirill Petrenko, Rattles Nachfolger, ging schon vor seinem Amtsantritt der Ruf eines interessanten Mahler-Dirigenten voraus. Mit einer Aufführung der Dritten Symphonie hatte er bereits Aufsehen in München erregt. In Berlin dirigierte er (einstweilen) die Sechste Symphonie und (in Zeiten der Corona-Pandemie passend) die Vierte in einer Kammermusikfassung in der Philharmonie – mit großem Erfolg.

Die Mahler-Tradition der Berliner Philharmoniker ist lebendig und kann jeden Vergleich mit derjenigen der Wiener Philharmoniker oder des Concertgebouw Orchesters bestehen. Die Mahler-Edition legt Zeugnis von der Vertrautheit des Orchesters mit Mahlers Oeuvre ab. Gleichwohl ist sie eher eine Momentaufnahme denn ein großer, gar ultimativer Wurf. Wenn man nun nur die neueren, zwischen 2011 und 2020 entstandenen Interpretationen präsentiert, so ist zu fragen: Repräsentieren diese Aufnahmen den Stand der Mahler-Interpretationen der Berliner Philharmoniker? Da drängen sich immer wieder auch Vergleiche mit früheren Aufnahmen auf.

Claudio Abbado dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

Deutlich wird zunächst, dass es einige ernstzunehmende noch jüngere Mahler-Dirigenten gibt. Kirill Petrenko, Yannick Nézet-Seguin, Daniel Harding, Andris Nelsons und Gustavo Dudamel, zwischen 1972 und 1981 geboren, sind mit sechs Symphonien vertreten. Ihnen stehen der Mittsechziger Simon Rattle mit zwei Symphonien und die „Altmeister“ Bernard Haitink (Jahrgang 1929) und Claudio Abbado (1933-2014) mit jeweils einer Symphonie gegenüber.

Daniel Harding liefert eine insgesamt nur ordentliche Erste Symphonie ab. Im ersten Satz fehlt es an der geheimnisvollen Stimmung, an Naturlaut-Idylle, an Charme und überhaupt an Überraschungen. Seine Interpretation bleibt insgesamt nüchtern und unter- statt überzeichnend. Im Finale lässt Harding das Orchester nicht mit der von Mahler geforderten „großen Wildheit“ auftrumpfen, dem Scherzo fehlt das Wienerische, die „Lindenbaum“-Episode geht nicht ans Herz.

Andris Nelsons überrascht angenehm mit einer fast restlos überzeugenden, klar disponierten, immer spannenden Inszenierung der Zweiten Symphonie. Er lässt nicht seiner manchmal zu beobachtenden Neigung zum Überhitzen von großorchestralen Partituren freien Lauf, lässt viele Nuancen und Stimmungen herausarbeiten. Gemessen der Kopfsatz, mit sehr langsamen Schlußtakten; das Andante moderato fließend, das Scherzo nicht knallig, aber sehr markant; zart das „Urlicht“, der Schlußsatz mit seinen gewaltigen Steigerungen voller Spannung, Kontraste, ohne pathetisch zu enden. Und wie deutlich sind die Haupt- und Nebenstimmen zu hören, wie stark wirken Nelsons rubati!

Gustavo Dudamel dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

Gustavo Dudamel hat längst das Image des „Hitzkopfs“ überwunden. Seine Interpretation der Dritten Symphonie liess schon im Konzert aufhorchen; sie hat nichts an Wirkung verloren. Schon im gewaltigen Kopfsatz mit dem Nebeneinander von lyrischen und Marschcharakteren wird das ganze Panorama, ein eigener musikalischer Kosmos entfaltet. Das geschieht in einem einzigen großen Bogen, ohne nachlassende Spannung Die Philharmoniker musizieren vom „entschieden“ des Hauptthemas am Beginn bis zum ausschwingenden Schluss perfekt, brillant, klangsatt, subtil, kein Detail wird ausgelassen.

Mit der Fünften Symphonie hat Dudamel eine weniger glückliche Hand, hier erreicht er nicht die Tiefe, Intensität, klangliche Auslotung und Empfindung wie bei der Dritten. Die Inszenierung istvirtuos, spannend, führt die hervorragenden Musiker:innen des Orchesters im Ensemble und in Soli vor. Es gibt viele eindrucksvolle Stellen, die sich indes nicht zu einem kohärenten Ganzen fügen. Beispielhaft zu beobachten am zweiten Satz: Hier ist wenig vom Grimm, von der Zerrissenheit, von der Wehmut, die in dem Satz stecken, zu vernehmen (man höre nur einmal zum Vergleich John Barbirollis Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra oder die Berliner Philharmoniker mit den Dirigenten Jascha Horenstein, Herbert von Karajan, Claudio Abbado und Simon Rattle).

Yannick Nézet-Seguin rückt die Vierte Symphonie ins rechte Licht, gibt ihr den klassischen Charakter, den sie am stärksten unter den Mahlerschen Symphonien hat. Das Orchester spielt subtil, abwechslungsreich in Tempi und Dynamik, die Partitur wird sehr gründlich strukturell durchleuchtet; manche Passage hört man neu. Manchmal wirkt die Detailarbeit aber auch leicht maniriert. Im Finale allerdings ist man, auch mit dem nicht optimal besetzten Vokalsolo von Christiane Karg weit vom „behaglich“ der „himmlischen Freuden“ entfernt.

Gustav Mahler Foto: Sammlung Manskopf

Die neueste Aufnahme der Edition ist der Mahler-Einstand des neuen Chefdirigenten Kirill Petrenko. Er tritt gegen markante Vorgänger – Barbirolli, Karajan, Abbado und Rattle an – auf seine Weise. Zunächst setzt Petrenko in der Sechsten Symphonie auf zügige Tempi, im Kopfsatz, im Scherzo, im Finale, sogar auch im Andante. Das wirkt drängend, manchmal aber auch hastig. Die große Spannung, der große Kontrast zwischen dem typischen Drängen und Innehalten, zwischen Überwältigung und Nachdenken und auch pianissimo und fortissimo fehlen dabei zum Teil noch. Manchmal scheint die Dynamik weniger subtil als in der Partitur notiert. Wie schon Abbado, Rattle und Barbirolli entschied sich Petrenko für die Satzfolge, bei der das Andante an zweiter und das Scherzo an dritter Stelle steht. Dafür gibt es gute Gründe, die teils von Mahler selbst, teils von den Mahler-Forschern und –Herausgebern angeführt werden. Dennoch kann (sollte?!) man dieser Reihung die „alte“ entgegensetzen. Bernard Haitink hat in einem Interview seinerzeit starke Argumente dafür ins Feld geführt: Das Scherzo solle unmittelbar auf den ersten Satz folgen: „Kurz vor dem Finale braucht man eine Pause. Wenn Sie das Scherzo dorthin setzen, werden sich diese beiden Sätze gegenseitig umbringen. Aber wenn Sie das Scherzo direkt nach dem Eröffnungssatz setzen, schaffen Sie einen Atem für das Finale.“ Zum Glück kann man sich zuhause die passende Reihenfolge mit wenigen Handgriffen einstellen.

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Simon Rattle dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

imon Rattle hat über die Jahre an seiner Lesart der Siebten Symphonie gefeilt und im Konzert seinen (vorläufigen, endgültigen?) Stand dokumentiert. Die Interpretation überzeugt jedoch nur zum Teil. Sie hat eine gewisse Glätte, es wird zu wenig hinterfragt, es fehlt an Leidenschaft. Das Scherzo könnte abgründiger sein. Andererseits kommt die Zweite Nachtmusik dem Charakter des „amoroso“ sehr nahe. Das Finale ist teils furios, drängend, aber nie wie zu oft brutal oder vulgär.

Die Achte Symphonie führten die Berliner Philharmoniker in 45 Jahren immerhin fünf Mal auf: 1975 mit Seiji Ozawa, 1982 mit Moshe Atzmon, 1994 mit Claudio Abbado, 1999 mit Bernard Haitink und 2011 mit Simon Rattle. Der Mitschnitt des Konzertes 2011 zeigt eine große Annäherung an das Werk, das in seiner teils irrwitzigen Komplexität vermutlich gar nicht optimal aufführbar ist. Schwierig ist es dazu aufgrund seines Charakters als Zwitter zwischen Chorsymphonie und Oratorium und das Gegenüber von zwei nicht recht zusammen passenden Teilen – dem christlichen Pfingsthymnus „Veni creator spiritus“ und dem Schlußteil von Goethes „Faust“. Die enorme Leistung aller Beteiligten ist von einer exzellenten Aufnahmetechnik eingefangen worden. Rattle zügelt sein Temperament, er balanciert geschickt zwischen den schier überwältigenden klangrauschenden und den subtileren Passagen. Die vielen Feinheiten der Partitur werden nicht unterschlagen. Neben den glänzend disponierten Philharmonikern geben die solistischen und chorischen vokalen Kräfte ihr Bestes. Bei aller Anerkennung für diese Leistung bleibt freilich Skepsis. Mahlers Achte ist, wenn überhaupt, nur im Konzertsaal einigermaßen adäquat zu hören (und zu genießen). Sie überfordert jede häusliche Musikanlage.

Bernard Haitink zieht mit seiner Lesart der Neunten Symphonie die Summe seiner langjährigen Erfahrungen mit Mahlers Symphonik, eines langen Dirigentenlebens und natürlich der Zusammenarbeit und Vertrautheit mit dem Orchester. Man spürt, wie die Berliner Philharmoniker ihn auf sehr suggestive Weise unterstützen ihm viel zurückgeben. Es ist, aufs Ganze gesehen, ein „Abgesang“ der starken Art – ohne Ermatten oder Schwäche, hoch konzentriert, mit elegischen, vielleicht melancholischen, aber nie sentimentalen Zügen. Beim Hören dieser Aufnahme meint man noch die Ergriffenheit des Publikums im und nach dem Konzert zu spüren. Es war eine Sternstunde.

Bernard Haitink dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

Dass der große Mahler-Interpret Claudio Abbado hier ausgerechnet (nur) mit Mahlers Zehnter Symphonie d. h. mit deren Kopfsatz, Adagio, Berücksichtigung findet, mutet merkwürdig, ja befremdend an. Das Ergebnis ist allerdings eine Glanzleistung an Spannung, Versenkung, Intensität. – Die Präsentation der Symphonie Nr. 10 bleibt aus anderen Gründen halbherzig. Natürlich gibt es eine nicht enden wollende Diskussion darüber, wie fragmentarisch oder fertig diese Symphonie ist. Puristen wie Claudio Abbado, Pierre Boulez, Bernard Haitink stehen „Entdecker“ wie Simon Rattle, Riccardo Chailly, Berthold Goldschmidt und Kurt Sanderling stehen sich gegenüber. Revolutionär, und für manche direkt frevlerisch, war das Unternehmen des englischen Musikforschers Deryck Cooke, aus der von Mahler hinterlassenen Partitur, dem Particell oder den Skizzen einzelner Sätze eine „Aufführungsfassung“ zu erstellen. Wer sich über die Seriosität und Ernsthaftigkeit dieser Arbeit informieren will, der höre nur einmal Cookes „illustrated BBC talk“ aus dem Jahr 1960 sowie zwei von Berthold Goldschmidt dirigierte Aufführungen der Zehnten aus den Jahren 1960 und 1964 an (Testament, 3 CD, SBT3 1457)! Auch nach Cooke gab es weitere Versuche, diese fragmentarische Symphonie in eine Aufführungsform zu bringen: genannt seien nur die Fassungen von Clinton Carpenter, Remo Mazzetti oder Rudolf Barschai – allesamt diskussionswürdige und gewichtige Versionen. Wenn die Berliner Philharmoniker sämtliche Symphonien Mahlers im Jahre 2020 herausgeben, dann hätten sie neben dem Adagio doch die komplette Symphonie wenigstens „zur Diskussion stellen“ sollen. Immerhin plädierte ihr Ex-Chef Rattle immer wieder für die Zehnte, wobei er nicht bei einem einmal gefundenen Resultat stehen blieb. Selbst wenn Zweifel bleiben, ist die Cooke-Fassung allemal hörenswert.

Die Mahler-Edition der Berliner Philharmonikka/Buchbeilage

Zu fragen ist am Ende, warum in dieser glänzend aufgemachten Edition – Fertigung, Begleitbuch, Illustration sind wie immer von höchster Qualität, die Aufnahmtechnik ist größtenteils sehr gut – „Das Lied von Erde“ fehlt, immerhin doch ein symphonischer Liederzyklus, ein Werk zwischen Liedzyklus und Symphonie (Mahler-Edition der Berliner Philharmoniker, 10 CDs, 8 Dirigenten, 10 Jahre, hier klicken)Peter Heissler

 

P.S. Meine persönliche Bestenliste der Aufnahmen Mahlerscher Symphonien mit den Berliner Philharmonikern (Mitschnitte, die zum Teil später veröffentlicht wurden, und Studioproduktionen): Symphonie Nr. 1 – Claudio Abbado (1989, DG) Mariss Jansons (2007, RBB-Mitschnitt); Symphonie Nr. 2 – John Barbirolli (1965, Testament), Simon Rattle (2010, EMI);; Symphonie Nr. 3 – John Barbirolli (1969, Testament), Bernard Haitink (1990, Philips), Claudio Abbado (1999, DG);; Symphonie Nr. 4 – Simon Rattle (Sopransolo Christine Schäfer, 1998, RBB – Mitschnitt);; Symphonie Nr. 5 – Claudio Abbado (1993, DG);; Symphonie Nr. 6 – John Barbirolli (1966, Testament), Claudio Abbado (2004, DG), Simon Rattle (1987 und 2018, Berliner Philharmoniker Recordings);; Symphonie Nr. 7 – Claudio Abbado (2002, DG), Michael Gielen (1994, Testament);; Symphonie Nr. 8 – Claudio Abbado (1994, DG), Simon Rattle (2011, BPHR);; Symphonie Nr. 9 – John Barbirolli (1964, EMI), Claudio Abbado (1999, DG);; Symphonie Nr. 10 : Adagio – Claudio Abbado (2011), fünfsätzige Aufführungsfassung – Simon Rattle (1999, EMI). P. H.

„Echt japanisch“

 

Wer möchte schon eine Oper sehen, in der eine naive Kindfrau entführt, als Ausstellungstück für ein Bordell missbraucht, vom eigenen Vater verflucht wird, sich in die Gosse stürzt und hier elendiglich verendet?! Den Erfolg eines solchen Librettos bezweifelten wohl auch Luigi Illica und Piero Mascagni,  und so stellten sie an Anfang und Schluss ihrer Oper Iris einen mit seiner Klangfülle überwältigenden Inno del Sole, der der Elendsgeschichte einen beinahe versöhnlichen Rahmen verleiht, wenn die Nicht-Heldin einzugehen scheint in eine Welt der duftenden Blumen und wärmenden Sonnenstrahlen. Dem Publikum von heute ist wohl noch weniger Misere  zuzumuten, so dass die Regie sich in der Geburtsstadt des Komponisten Livorno  entschloss, Iris, der eigentlich Lumpensammler auch noch die kostbaren Kleider vom sterbenden Leib hätten reißen müssen, in Glanz und Gloria und unversehrt  in vollem Luxus-Geisha-Ornat in eine sonnige Zukunft schreiten zu lassen, umgeben von einem Teil des Chors, jungen Mädchen, die zuvor leblos auf der Bühne gelegen hatten. Das Bordell scheint offensichtlich generell kranke und sterbende Prostituierte in der Gosse zu entsorgen, die zum Totenlager der Iris wird.

In japanische Hände hatte man die Optik der Produktion gelegt, und Regisseur  Hiroki Ihara hatte offensichtlich das Hauptaugenmerk auf die tadellose Beherrschung der Trippelschritte gelegt, die der Europäer für das Kennzeichen asiatischer Frauen hält, die angemessen wohl für das Personal des Bordells, weniger für die arbeitsamen Wäscherinnen schienen. Auch windradartiges Armeschwenken für die Erscheinung des Blinden im letzten Akt und anderer Figuren  sind kein besonders guter Einfall. Für die Szene war 2017 Sumiko Masuda verantwortlich, sorgte für phantastische Hintergrundprospekte, so im 2. Akt für riesige Irisblüten oder bedrohliche Krakenarme. Der spärliche Blütenregen zum Schluss wäre allerdings besser unterblieben. Prachtvoll sind die Kostüme von Tamao Asuka für die Geishas und besonders natürlich für die Protagonistin.

Mit Paoletta Marrocu hatte man eigentlich einen guten Namen für die Titelpartie verpflichtet, für die sie zunächst einen kindlichen Ton hat, deren Sopran in der mezza voce angenehm klingt und die mit reicher Agogik singt. Anrührend wirkt ein zartes „di lacrime ho gli occhi pieni“.  Wird es dramatischer, kann die Stimme auch unangenehm schrill werden. Paolo Antognetti kann sich zu Recht seiner voce acuta rühmen, aber damit ist schon alles Positive über seinen Tenor gesagt, der eher zu einem Goro oder einer  ähnlichen den Charaktertenor erfordernden Partie, nicht aber zum Osaka passt.  Wie der Prototyp eines Stehtenors bleibt er unbeweglich, singt scharf und durchdringend, aber auch die berühmte Serenade ohne tenoralen Schmelz. Einen strapazierfähigen Bariton setzt Carmine Monaco d’Ambrosia für den Bordellbesitzer Kyoto ein und zeigt auch darstellerisches Engagement. Rollendeckend ist Il Cieco mit dem Bass Manrico Signorini besetzt. Eine hübsche, zarte Sopranstimme hat Alessandra Rossi für die Dhia. Recht verhangen klingt der Tenor von Didier Pieri für den Cenciaiuolo. Eher durch Masse als durch Klasse können die vereinigten Chöre Coro Ars Lyrica plus ein nicht näher bezeichneter Chor unter Marco Bargagna überzeugen, das Orchestra Filarmonica Pucciniana unter Daniele Agiman zaubert feine Stimmungsbilder, so mit dem verhaltenen Vorspiel zum dritten Akt (Bongiovanni AB 20039). Ingrid Wanja    

Jevgenij Nesterenko

 

Nach kurzer, schwerer Krankheit ist der russische Bassist Jewgenij Nesterenko, den viele Kritiker als einen neuen Schaljapin feierten, am 20. März im Alter von 83 Jahren in seiner Wahlheimat Wien gestorben.

Am 8. Januar 1938 in Moskau geboren, absolvierte Nesterenko ein Ingenieur-Studium (Schiffbau) in Leningrad und erhielt daneben Gesangsunterricht bei Vasily Lukanin am dortigen Konservatorium. Noch während der Ausbildung debütierte er 1963 am Malij-Theater als Gremin und war in den folgenden Jahren Ensemble-Mitglied des Kirov-Theaters. 1970 gewann er den 1. Preis im Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb und wurde daraufhin ans Bolschoj-Theater berufen, dem er für mehr als drei Jahrzehnte als aktiver Sänger angehörte. Durch Gesamtgastspiele dieses Hauses wurde er auch im Westen bekannt. An der Wiener Staatsoper, an der er 1975 als Filippo II seinen Einstand gab, fand er ein zweites Stammhaus. Bis 1993 sang er hier 56 Vorstellungen mit überwiegend italienischem Repertoire und wurde danach zum Kammersänger ernannt. Durch die Fernsehübertragung des fünfaktigen (italienisch gesungenen) „Don Carlo“ aus der Mailänder Scala (Januar 1978 unter Claudio Abbado) wurde er auch international bekannt und gehörte in den 80er Jahren zu den  Spitzenstars in seinem Stimmfach. Er trat in der Arena von Verona und auf anderen italienischen Bühnen auf wie am Teatre Liceu in Barcelona und an der Covent Garden Opera in London. Bei den Bregenzer Festspielen 1986 war er Enrico in „Anna Bolena“.

Nesterenko unterhielt gute Beziehungen zum Sowjet-Regime, das ihn mit mehreren Orden auszeichnete. Das tat seiner Beliebtheit beim westeuropäischen Publikum aber, selbst in Zeiten des Kalten Krieges, keinen Abbruch. An den großen deutschen Bühnen war er ein regelmäßiger und gern gesehener Gast. An der Bayerischen Staatsoper erlebte man ihn neben anderen auch in deutschen Partien wie Sarastro und Daland, an der Hamburgischen Staatsoper sang er neben Gremin italienische Partien wie Filippo, Fiesco, Basilio und Don Pasquale. Daneben war er als Konzertsänger sehr aktiv, brachte Schostakowitschs Michelangelo-Suite op. 145 in beiden Fassungen (mit Klavier und mit Orchester) zur Uraufführung (1974) und war ein gefragter Gesangsprofessor, erst am Moskauer, später auch am Wiener Konservatorium. Über seine pädagogische Arbeit hat er zwei Bücher geschrieben.

Sein diskographischer Nachlaß, darunter etwa 20 komplette Opernaufnahmen (die Live-Mitschnitte noch nicht mitgerechnet), ist stattlich und dokumentiert die wichtigsten seiner etwa 50 Bühnenpartien. Neben dem Boris waren dies vor allem Khan Kontchak („Fürst Igor“), Gremin, Kotschubej („Mazeppa“), Ivan Susanin („Das Leben für den Zaren“), Dosifey („Chowanschtchina“) und Rachmaninows „Aleko“. Die meisten russischen Aufnahmen aus dem Bolschoj-Theater erschienen auch auf dem deutschen Markt und machten das hiesige Publikum mit vorher nicht beachteten Werken wie Glinkas „Ruslan und Ludmilla“ und Rimsky-Korsakovs „Die Zarenbraut“ bekannt. Nesterenkos internationale Stellung dokumentieren Gesamteinspielungen von „Nabucco“ (unter Giuseppe Sinopoli, DG) und „Faust“ (unter Colin Davis, Decca). Beim Bayerischen Rundfunk zeigte er sich in kompletten Aufnahmen von Donizettis „L’elisir d’amore“ und „Don Pasquale“ an der Seite von Lucia Popp von seiner humoristischen Seite (Eurodisc).

Meine Eindrücke von seinen Aufnahmen sind gemischt. In seinen Glanzrollen als Boris Godunow und Filippo II, die in kompletten Videos dokumentiert sind, brillierte er mehr durch üppigen Klang als durch psychologische Innensicht. Auch in Verdi-Partien wie Attila, Zaccaria und Fiesco tritt voluminöses Auftrumpfen an die Stelle geschmeidiger Kantilene. In den Mephisto-Rollen von Gounod und Boito (davon findet sich ein kompletter Konzert-Mitschnitt aus Moskau von 1983 im Netz) fehlt es seinem Vortrag an Hintergründigkeit. Da würde ich Boris Christoff und Nicolai Ghiaurov in beiden Fällen den Vorzug geben. Dagegen ist der Khan Kontchak, mit dessen Arie Nesterenko schon beim Wettbewerb 1970 „abräumen“ konnte, in seiner Interpretation ein Kabinettstück: Mit zahlreichen mimischen und textlich-musikalischen Nuancen bringt er die Verschlagenheit des Charakters auf den Punkt. Und dass er weit mehr als ein stolzer Stimmbesitzer sein konnte, erkennt man auch bei einigen seiner Lied-Recitals, die ihn als subtilen Gestalter ausweisen und von denen mich ein Konzert mit dem Pianisten Vladimir Krainev (Moskau 1986) besonders beeindruckt (Foto Moskau News). Ekkehard Pluta

Ungewöhnliche Ostereier

 

Rechtzeitig vor dem Osterfest gibt CAPRICCIO als Weltpremieren auf einer CD Oster-Kantaten von Christoph Graupner heraus, die zwischen 1719 und 1743 entstanden (C5411). Christian Bonath leitet das auf Originalinstrumenten musizierende Pulchra Musica Barock Orchester, welches er 2011 gründete. Mit ihm bringt er die Musik in ihrer asketischern Strenge zu eindringlicher Wirkung. Weiterhin wirkt der Knabenchor capella vocalis aus Reutlingen mit, wo die Aufnahme im Sommer 2019 auch entstand.

Graupner war Schüler an der Leipziger Thomasschule, ab 1705 als Cembalist und Komponist an der renommierten Hamburger Oper am Gänsemarkt tätig. 1711 wurde er zum Hofkapellmeister in Darmstadt ernannt, wo er bis zum Ende seines Lebens 1760 wirkte. Anfangs widmete er sich der Oper, später der geistlichen Vokalmusik, was sich in nicht weniger als 1400 Kantaten widerspiegelt. Die vier in der vorliegenden Aufnahme umspannen den Bogen vom Gründonnerstag über den Karfreitag bis zum Ostermontag und bestehen aus jeweils sieben Sätzen – zwei Arien, einem Schlusschoral sowie Chören und Rezitativen.

Als Auftakt erklingt die Kantate zum Gründonnerstag, GWV 1126/33, von 1733 mit dem Titel Die Frucht des Gerechten, welche den Aspekt der Liebe, die Jesus seinen Jüngern im letzten Abendmahl angedeihen lässt, in den Fokus rückt. Alle drei Solisten der Einspielung wirken hier mit – der Tenor Sebastian Hübner im eröffnenden Dictum Accompagnato, der Bass Johannes Hill in der Arie „Mein Herz“, die das Liebesmahl zum Thema hat, und der knabenhafte Altus Jan Jerlitschka in der Arie „Jesus ist mein Baum“. Sie alle deklamieren die spartanischen Gesänge präzise und eindrücklich. Die Kantate zum Karfreitag, GWV 1127/25, stammt aus dem Jahre 1725 und ist betitelt Eröffnet euch ihr Augenquellen. Sie beginnt mit einem fünfstimmigen Chorsatz, in dem sich der  Knabenchor mit kultiviertem Gesang auszeichnet. Von besonders eindringlicher Wirkung in ihrer Todessehnsucht ist die Bassarie „Ich will mit Jesu gerne sterben“. Freude über die Auferstehung prägt die Kantate zum 1. Ostertag, GWV 1128/43, von 1743 mit dem Titel Der Sieg ist da. „Freude über Freude“ jubelt der Tenor in seiner Arie, in deutlichem Kontrast dazu steht die Bassarie „Jesus Sieg“. Der zunächst befremdliche Titel Ihr werdet traurig sein der Kantate zum 2. Ostertag, GWV 1129/19, von 1719 erklärt sich aus der Traurigkeit der Jünger nach dem Tod Jesu. Sie haben die frohe Botschaft von seiner Auferstehung noch nicht erfahren. Bass und Alt vereinen sich im klangvollen Duett „Ach, Zions Hoffnung“, der nachfolgende Chor „Bleibe bei uns“ bildet den Höhepunkt der Kantate und versinnbildlicht den Sieg über den Tod. Bernd Hoppe

Wasserspiele in Catania

 

Eigentlich hätte man gern den Blick noch auf dem prachtvollen Interieur des Teatro Massimo Bellini von Catania verweilen lassen, doch die Kamera wendet sich schnell und abrupt Orchestergraben und Bühne zu und damit den kühlen Farben, die sich Dario Gessati für des Sohnes der Stadt Vincenzo Bellini Frühwerk La Straniera ausgedacht hat. Ein Graben echten Wassers dominiert die Szene, durch das alle Protagonisten und auch der Chor im Verlauf der Vorstellung waten müssen, La Straniera selbst muss sogar Gesicht und Haare darin baden , Tenor und Bariton darin scheinertrinken und das nicht im Hochsommer, da wird auf Sizilien  Oper nur all‘aperto gespielt, sondern im Januar 2017. Eine wichtige Rolle spielt die Lichtregie von Fiametta Baldiserri, die zwischen Violett, Grün und Blau changiert, Wolkenungetüme unterstreichen die Dramatik der Handlung, die Kostüme von Tommaso Lagattolla sind zeitlos und machen die Chordamen zu taillelosen Ungetümen. Für den einleitenden Chor trägt derselbe goldene, die Jäger wenig später rote Masken, ohne ersichtlichen Grund werden viele Kerzen angezündet, die sich, ein Kreuz formend, im Himmel widerspiegeln und von der Titelheldin schließlich zum Erlöschen gebracht werden. Die Optik ist eine typisch italienische unserer Zeit: Man will nicht hinter modernen Inszenierungen des German oder mittlerweilen European Trash ganz zurückbleiben, lässt es aber auf ästhetisch nicht anfechtbaren, aber sinnlosen Detailänderungen  wie plötzlichem Laubfall beruhen. Die Regie von Andrea Cigni begnügt sich damit, die Darsteller sicher durch das Wasser zu geleiten, für mehr dürften sie auch nicht die Kraft gehabt haben. Die Optik scheint unter dem Motto zu stehen: „Seht her, wir können auch modern sein, aber nie hässlich und vulgär“.

Die krude Handlung von der anonym auf einer Insel lebenden verbannten Königin, die einen Bräutigam kurz vor dessen Hochzeit in den Liebeswahnsinn treibt, von zwei tot geglaubten Herren, die so plötzlich wiederauftauchen wie die Straniera wieder in ihre königlichen Rechte eingesetzt wird und so Schauplatz und sterbenden Liebhaber verlässt, kann eigentlich kein großes Interesse erwecken, wohl aber die Musik besonders für den Sopran, die immerhin Scotto, Caballè und Aliberti dazu veranlasste, sich der Partie anzunehmen.

Sebastiano Rolli sorgt mit dem Orchester des Hauses für eine sichere, einfühlsame Begleitung der Sänger. Mit Elan vertritt der Chor unter Ross Craigmile seine häufig wechselnde Meinung.

Das unglücklich liebende Paar ist von angenehmer, rollenadäquater Optik, was schon einmal viel wert ist. Francesca Tiburzi, die auch in Verismopartien unterwegs ist, hat einen runden, dunkel getönten Sopran interessanten Timbres für die Alaide bzw. Straniera, klingt leicht und angenehm verhangen  als Ausdruck der Trauer im ersten Akt oder im abschließenden „Un ultimo addio“. Nur in der Extremhöhe lässt sich eine leichte Schärfe nicht überhören. Einen tenore di grazia setzt Emanuele D’Aguanno für den Arturo ein, in der Mittellage noch ausbaufähig,  mit einer Höhe wie einem Fanal, besonders im rasanten Duett mit dem Bariton. Das deutsche Publikum kennt ihn bereits u.a. aus Augsburg und Magdeburg. Unausgeglichen zu Beginn, sich aber ständig steigernd ist Enrico Marrucci ein höhensicherer, besonders im „Meco tu vieni o misera“  vokal höchst präsenter Valdeburgo. Glaubwürdig seine bösen Intentionen vermittelnd singt Riccardo Palazzo mit strengem Charaktertenor den Osburgo. Sonia Fortunato spinnt als Isoletta unverständlich, aber angenehm klingend mit leichtem Mezzo die unendliche Melodie Bellinis. Zwei wackere Bässe werden mit Alessandro Vargetto für den Vater Isolettas und Maurizio Muscolino für den Priore aufgeboten. Man fühlt sich wohl und gut aufgehoben bei diesem Opernabend aus Bellinis Heimatort. (Bongiovanni AB 20038). Ingrid Wanja

Venedig für Opernfreunde

 

Die 25 Kriminalfälle Commissario Brunettis und ihre Schauplätze kann der Venedig-Verrückte (und wer ist das nicht, wenn er die Stadt auch nur einmal besucht hat) schon seit langem erforschen und  anhand eines Stadtplans und genauer Beschreibungen aufsuchen. Nun ist das auch seit einiger Zeit für Holländer und seit kurzem für Deutsche möglich, die der Oper verfallen sind, denn Willem Bruls hat mit seinem Buch Venedig und die Oper- Auf den Spuren von Vivaldi, Verdi und Wagner die Möglichkeit dazu geschaffen. Auf einem kleinen Plan der Stadt sind die immerhin 36 Stätten markiert, die der Auto für seine Forschungen aufgesucht hat, dazu kommen noch einige weitere mit Buchstaben versehene. Zwei darauf folgende Seiten bekunden, wie sehr Schriftsteller aus ganz Europa von der Lagunenstadt verzaubert waren und welche Dichtungen sie ihr gewidmet haben. August von Platens „Venedig liegt nur noch im Land der Träume“ kommt der Einstellung des Verfassers am nächsten, der auf den folgenden 250 Seiten nicht müde wird zu beteuern, dass Venedig nicht nur eine sterbende, sondern ein bereits seit langem tote Stadt sei, deren Blütezeit und damit auch die der Oper in ihren Mauern aus Wasser gerade einmal von ca. 1600 bis ca. 1800 dauerte, als Napoleon den letzten Dogen absetzte. Der Totgesagten allerdings widmet er eine höchst poetische Sprache, wenn er von „Fassaden, die auf dem Wasser treiben“ schreibt und manchmal versteigt er sich auch zu gewagten Vergleichen, wenn er ihr Siechtum nach 1800 mit dem der Gralsritter in Wagners Parsifal vergleicht.

Dem deutschen Komponisten ist natürlich ein Kapitel des Buches gewidmet, denn er komponierte in Venedig den zweiten Akt vom Tristan und starb im Palazzo Vendramin, heute das Casinò der Stadt im Winter. Hier und bei der Beschreibung anderer sehenswerter Orte hat der Autor die Erfahrung vieler Besucher  gemacht, dass man  viele Orte nur vom Wasser her erreichen kann, ansonsten kann man stundenlang ohne Erfolg in den engen Gässchen umherirren. Im Wagnerkapitel gibt es auch Hinweise zum Grab von Hasse und seiner italienischen Gattin Faustina Bordoni in der Kirche San Marcula und auf das Ghetto, ein Begriff, der auf getto, die venezianische Schmelzerei, zurückzuführen ist. Das Buch konfrontiert den Leser mit einer Fülle von interessanten Fakten, manchmal auch mit Behauptungen, die ohne Beweise im Raum stehen gelassen werden wie die, im Ring gebe es „unzählige antisemitische Bezüge“. Und reichlich oft wird wie auch in diesem Kapitel wiederholt, das Dasein Venedigs sei wie „regloses Warten auf das Ende“.  Noch schlimmer wird es auf Seite 152, wo es über die Zeit ab 1797 heißt: „Der morbide Leichnam dieser Erinnerung wird nun schon mehr als zwei Jahrhunderte einbalsamiert bewahrt. Doch unter den Schichten von Schminke, Stuck und Spachtelmasse dringt ein fürchterlicher Gestank hervor und lauert eine gähnende Leere“.

Der eher noch häufiger erhobene, aber durchaus nicht strafende Zeigefinger gilt der ungebremsten Wollust, derer man sich in der Blütezeit der Stadt hingab. Zuvor wird aber mit dem Kapitel über Attila, über seinen Regierungssitz auf der Insel Torcello  Verdis gleichnamiger Oper und der Gründung Venedigs gedacht, in Forestos Arie findet sogar schon „la fenice“ Erwähnung.

Gleich fünf Kapitel gelten Claudio Monteverdi und der Geburt der Oper, dem Übergang von der Renaissance zum Barock, der Zerstörung des christlichen Konstantinopels durch die Intrigen der Venezianer. Der Leser lernt die Opern des Maestro kennen und die Orte, an denen sie uraufgeführt wurden. Fast jede der reichen Patrizierfamilien hielt sich ihr eigenes Theater, noch erhalten für den ursprünglichen Zweck, wenn auch nicht in der ursprünglichen Form sind La Fenice, Teatro Goldoni oder Teatro Malibran.  Bei der Einsicht in die Partitur von Cavallis La Calisto gibt es ein interesantes Gespräch mit dem verantwortlichen Musikwissenschaftler, beim Besuch der Fondazione Luigi Nono ein solches mit der Witwe des Komponisten.

Zwischen beiden aber liegen noch die Kapitel über Händel und seine für den aus Venedig stammenden Kardinal Grimani komponierte Agrippina, über den Zwist zwischen Vivaldi und Benedetto Marcello und über die Chöre von himmlisch singenden und hässlich aussehenden Mädchen. Interessant ist es auch, dass es bereits vor Mozarts Don Giovanni in Venedig eine Oper gleichen Namens als Angriff auf das Lotterleben Casanovas gab.

Von Mozart über Rossini zieht Bruls eine Entwicklunglinie,  die vom edlen Bassa Selim zum lächerlichen Ausländer Mustafa reicht und die er als eine verhängnisvolle Wandlung vom Humanismus zum extremen Nationalismus ansehen möchte. Der Lido, Thomas Mann und sein Tod in Venedig, Visconti, Djagilew, Frederick Rolfe, Britten, die Homosexualität, der schöne Tadzio und sein Darsteller Björn Andrésen, der Helmut Berger eifersüchtig werden ließ, dürfen natürlich nicht fehlen. Und noch immer steht das  Grand Hotel des Bains leer, in dem sie alle einst logierten, und im Café Florian kostet der Cappuccino inzwischen zehn Euro. Für den nächsten Venedig-Besuch aber muss man mindestens eine Woche einplanen, um alle die interessanten Orte zu besuchen, von denen der Autor berichtet hat und die man nun mit anderen, wissenderen Augen wahrnehmen wird.

Hinweise zum Weiterlesen und Weiterhören und Wegbeschreibungen finden sich am Ende des Buches (264 Seiten, Henschel Verlag 2021; ISBN 978 3 89487 818 4). Ingrid Wanja

Nationales Erbe am Klavier

 

Der dänische Komponist Peter Heise (1830-1879), dessen einzige Oper im Laufe der Zeit zur Nationaloper avanciert ist (siehe Artikel von Rolf Fath), hat sich vor allem mit Liedern beschäftigt. Nachdem er ein begonnenes Jurasdtudium nach einem Jahr abgebrochen und auch sonst keinen Ehrgeiz in Karrieren jeglicher Art entwickelt hatte, machte er letztendlich die Musik zu seinem Lebensinhalt. 1830 in eine Akademiker-Familie in Kopenhagen geboren, begann er bereits mit 13 Jahren, Lieder zu schreiben; erste Kompositionsstudien betrieb er seit dem 18.Lebensjahr bei dem dänischen Komponisten Andreas Peter Berggreen. Da er seinem Talent allein nicht vertraute, ging er zur Vertiefung seiner Theorie-Studien 1852 nach Leipzig. Bei Thomas-Kantor Moritz Hauptmann studierte er Komposition und Theorie, spielte auf Bachs Orgel und engagierte sich im breit gefächerten musikalischen Angebot dieser lebendigen Stadt. Anstatt seine guten deutschen Verbindungen zu einer Karriere zu nutzen, kehrte er 1854 als Musiklehrer nach Kopenhagen zurück. 1857 nahm er die einzige Festanstellung in seinem Leben an der Musikakademie in Sorö an, wo er Choräle, Vokal-Quartette und Kantaten für den Universitätschor sowie Schauspielmusiken für Kopenhagen schrieb. In diese Zeit fällt die Hochzeit mit Vilhelmine Hage, Tochter aus sehr reichem Hause, so dass finanzielle Not ihn nicht anspornte, eine Komponisten-Karriere voran zu treiben.

Nachdem das Paar sich 1865 wieder in Kopenhagen – mit einem großen Landhaus in Tarbaek für den Sommer – niedergelassen hatte, schrieb Heise, der ein fähiger Pianist war und auch Geige spielte, mehrere Kammermusikwerke, allerdings ohne nachhaltigen Erfolg auf den Konzertpodien. Er wurde nie eine öffentliche Berühmtheit, obwohl seine Lieder gedruckt wurden und im Laufe der Zeit mehr und mehr bekannt wurden. Drei längere Italienreisen in den 1860er Jahren, auf denen Heise italienische Kultur, Kunst und Leben lieben lernte, wirkten sich nicht entscheidend auf seine Kompositionen aus. Er starb 1879 an Nierenversagen, kurz nachdem der Druck einer dreibändigen Edition seiner Lieder begonnen hatte, die sich nach seinem Tod in Dänemark schnell verbreitete.

Fast sein gesamtes Liedschaffen ist nun erstmals in einer Kassette mit 11 Silberscheiben bei Dacapo erschienen. In der Zeit von Oktober 2016 bis Februar 2020 wurden 272 Lieder – darunter drei bislang unveröffentlichte – eingespielt, gesungen von 18 Sängerinnen und Sängern meist dänischer Muttersprache. Sie wurden alle von Christian Westergaard am Klavier begleitet, der sich als Assistent-Professor an der Königlich-Dänischen Musikakademie in Kopenhagen unermüdlich mit der weiteren Erforschung und Veröffentlichung dänischer Komponisten beschäftigt.

Westergaard teilte die Lieder auf in verschiedene Gruppen entsprechend den Hauptthemen von Heises Arbeit. Wie auch in seiner Oper grif  Heise gerne auf historische Vorlagen und Ereignisse zurück, wobei ihn die Frauengestalten mehr reizten als kriegerische Gesänge. Dass die Psychologie der Frauen ihn so interessierte, mag wohl auf ein zentrales Ereignis seines Lebens zurückzuführen sein, den Tod seiner Mutter bei seiner Geburt.

Zu den musikalischen Frauenporträts nach historischen Vorlagen gehören u.a. Dyvekes Sange, Lieder der Geliebten des Königs Christian II, in denen Heise deren Träume und Ängste nuanciert vertonte. In der Gesamtedition sind die sieben Lieder gleich zweimal enthalten: Die dänische Fassung wird von Mari Eriksmoen mit leichtem, hellem Sopran vorgetragen, während auf Deutsch Clara Cecilie Thomsen mit aufblühendem Sopran und mit dramatischen Akzenten aufwartet.

Das lange Gedicht Bergliot verfasste der norwegische Dichter Björnstjerne Björnson extra für Heise, den er in Italien kennengelernt hatte. Es entstand auf der Basis einer alten nordischen Sage über König Harald Harderade, der Bergliots Ehemann Einar und ihren Sohn Endride ermordete. Heise vertonte den Text in einer Verbindung von Liederkreis und Solokantate. Johanne Thisted Hoejlund gelingt es, mit vollen Mezzo-Timbre die dramatische Entwicklung deutlich herauszuarbeiten.

Gudruns sange, Lieder auf Passagen der nordischen Edda-Sage, drücken die Trauer und auch den Hass auf männliche Gewalttaten aus. Da singt zuerst Francine Vis mit hellem Mezzo die sechs tieftraurigen Lieder im dänischen Original, während J.T. Hoejlund sie in englischer Übersetzung mit dunklerem Mezzo auslotet; beides sind beeindruckende, zum Inhalt passend Interpretationen.

Zu Liederkreisen mit anderen Themen gehört die Gruppe der sieben Sydlandske sange, die Bo Kristian Jensen vorstellt: Mit jugendfrischem, lyrischen Tenor bringt er die italienisch anmutenden Lieder über Karneval und südländisches Leben rüber, darunter eine typische Tarantella mit Rossini-Zitat.

Wenig Raum in Heises Themenwahl nahm z.B. Nationalismus ein. Da gibt es hier nur sechs Krigssange nach dem verheerenden Krieg mit Preußen 1864; seitdem vertonte er überhaupt keine deutschen Texte mehr. Stig Fogh Andersen und Jakob Bloch Jespersen haben sich dieser Lieder angenommen: Dem Wagnertenor Andersen gelingen das ruhige Guds fred med vore doede und das die glückliche Heimkehr preisende Indtoget besonders gut. Jespersen trumpft mit markantem Bass-Bariton bei Krigssalme und Til kamp mächtig auf.

Ein Themenschwerpunkt von Heise waren Erotik- und Liebeslieder. Bei den unter Erotiske digte zusammengefassten Liedern aus dem letzten Lebensjahr des Komponisten zeigt Lars Moeller seine baritonalen Vorzüge: Er gestaltet das ruhige Skovensomhed mit gebundenen innigen Aufschwüngen, setzt  dramatische Impulse bei Til en veninde und beweist gute Tiefen in Advarsel. Zum Vergleich präsentiert J.B.Jespersen die Lieder mit feinen dynamischen und artikulatorischen Abstufungen am Ende derselben CD in deutscher Übersetzung. Bereits in den 60er Jahren vertonte Heise sechs Liebeslieder nach Emil Aarestrup, die der vorwiegend als Konzertsänger gefragte Adam Riis mit leicht ansprechendem Tenor vorstellt; reiner Jubelgesang sind das schwungvolle Hvile pa vandringen sowie das mit Emphase vorgetragene I hjemmet.

Ebenfalls aus dem letzten Jahr stammt der Zyklus Farlige drömme (Gefährliche Träume) nach Texten von Holger Drachmann, dessen sechs Lieder Bo Skovhus erst im dänischen Original, danach in deutscher Übersetzung mit ruhiger Stimmführung gekonnt vermittelt; sein viriler, flexibler Bariton passt gut zu den höchst anspruchsvollen Liedern.

In sieben Liedern zu den historischen Digte fra middelalderen bringt Astrid Nordstad ihren bestens durchgebildeten Mezzosopran zur Geltung; mit klaren Spitzentönen (Gammel fransk romance), dramatischer Attacke (Unge George Campbell) und lockeren Verzierungen (Skoenne fru Beatriz) erfreut sie besonders. Elsa Dreisig präsentiert mit leuchtendem Sopran dieselben Lieder auf Französisch, so dass sie einen ganz anderen Charakter bekommen.

In drei Duetten in Form von Wechselgesängen verbindet sich Astrid Nordstads Mezzo gut mit Simon Duus‘ rauem Bass-Bariton (Gudbrand og Astrid ); bei den beiden Anderen ist Aleksander Nohr mit leicht ansprechendem Tenor ihr kongenialer Partner, der auch mit den Einzelliedern – wie z.B. dem spannungsvollen Nomadeliv – Vielversprechendes hören lässt. Sofie Elkjaer Jensen stellt ihren warmen, lyrischen Sopran mit nahezu perfektem Schöngesang ganz in den Dienst der melodiösen Heise-Lieder.

Bei Vertonungen von englischen Texten im Original sowie Shakespeare in dänischer Übersetzung fühlt sich Signe Asmussens kultivierter Mezzo mit Höhe hörbar wohl wie z.B. mit dem ausdrucksstarken Kom nu kun, doed. Zu dem Drama Bertrand de Born von Ernst von der Recke schrieb Heise sieben abwechslungsreiche Lieder, die David Danholt mit kernigem Tenor (Mod syden i kvaeld), aber auch weicheren Tönen in den lyrischen Passagen (Rosamunde) darbietet. Sehr guten Eindruck macht Jens Söndergaard mit Nikolaus Lenaus fünf Schilfliedern. Mit kräftigem Bariton deutet er die deutschen Texte intensiv aus, was ihm bei Trübe wird’s, die Wolken jagen auch in den ruhigen Momenten zwischen den Boen gelingt.

Nicht hoch genug loben kann man Christian Westergaard, der über die 4 Jahre all diese Sänger und Sängerinnen verschiedener Altersstufen am Klavier begleitet und geführt hat. Wie er pianistisch die Vielfalt der Melodien und spielerischen Charakteristika klingen lässt, hat hohes Niveau. Vom schlichten Schlaflied Childe Harold mit unerwarteten kompositorischen Wendungen bis zu der geforderten Dramatik in Krigssange oder dem extremen Nachspiel von Kaeden sig spraenger – de kaemper ej laenger meistert er die kompositorischen Finessen Heises hervorragend.

Insgesamt lässt sich sagen, dass Peter Heise viele melodische Ideen hatte, die er in seinen Liedern verwirklichte. Vom schlichten Strophenlied bis zu den letzten filigran und abwechslungsreich durchkomponierten Liedern lässt sich durchaus eine Entwicklung erkennen. Insofern hat sich der Aufwand der Gesamteinspielung gelohnt.

Leider stehen die meisten Lieder nur mit dem dänischen Text im Beiheft; genauere Angaben zu den Liedern, wie z.B. die Entstehungszeiten, kurze Inhalte der vielen übrigen Lieder, die nicht noch in anderen Sprachen gesungen werden, fehlen. So kann man beispielsweise nicht immer beurteilen, ob die Texte gut interpretiert werden; das ist dann einfach nur schöner Gesang.

Zur Verbreitung des Liedgutes in aller Welt sollte man aus den interessantesten Liedern eine CD zusammenstellen und zumindest alle dänischen Texte mit einer englischen Übersetzung versehen. Die informativen Artikel von Jens Cornelius über Heises Lebenswerk und von Christian Westergaard über sein Liedschaffen sind wenigstens auch in englischer Sprache vorhanden (DACAPO 8.201101, 11 CDs). Marion Eckels

Amis in Berlin

 

Eine der nachdrücklichsten Eindrücke an der damaligen West-Berliner (Städtischen) Oper in der Kantstrasse, im Theater des Westens noch vor dem Umzug 1964 ins neue Haus an der Bismarckstrasse, war ein Palestrina mit Helmut Krebs, Thomas Stewart und vielen anderen. Diese Buch-Seiten-Produktion, die später ins neues Haus übernommen wurde. Ich finde keine weiteren Unterlagen mehr zu meinem Besuch und erinnere mich nur an spätere Aufführungen in der Bismarckstrasse. Ich war mit meiner Schulklasse aus der Bremer Provinz in Berlin zu Besuch („Dreigeteilt niemals“, man erinnert sich, auch an die strengen Jugendherbergen), und diese ganze fragwürdige politische Indoktrinierung verschaffte den westdeutschen Schülern zumindest Fahrten in die aufregende Großstadt Berlin. Die Klasse ging einen trinken und ich in die Oper, kein Wunder, dass ich als Aussenseiter galt. Das war 1962 das erste Mal.

DOB: Barry McDaniel als Wolfram 1964/ Archiv Hei

1963 folgte vor dem Abschluss, bis ich 1964 nach dem Abitur aus Gründen der Bundeswehr in Berlin fest ankam und hier studierte, mehr Zeit allerdings in der neuen Oper im dritten Rang und am Bühnenausgang verbrachte. Wir waren da eine feste, lautstarke Clique (keine Claque, die hatte das Haus auch). Opernfans fanden schnell zusammen, selbst wenn mir schon damals eine gewisse rabiate Künstlerverehrung nicht lag. Am Bühnenausgang sammelten sich rivalisierende Gangs, die Autogramme tauschten oder einforderten (und ganze Folianten mit eben diesen mit sich rumschleppten – Fotos in abgegriffenen, ekligen Plastikfoldern: was für eine Art der Konservierung von Passionen, nicht immer zum Vergnügen der Sänger, die sich trotz der obligaten Pelzmäntel im Winter den Frost holten. Viele Aufführungen aus jener Zeit erinnere ich nur aus der Vogelperspektive des 3. Ranges (die Kartenverkäufer kannten uns und gaben uns die besten Plätze in der 1. Reihe), aber der Klang war toll da oben und mehr konnten wir uns eh‘ nicht leisten. Es gab substanziellen Studentenrabatt.

DOB: Glamour für Evelyn Lears Lulu bei der Deutschen Gramophon/ Archiv

Eigentlich lief an der nachfolgenden Deutschen Oper nichts ohne die „Amis“, wie man respektlos das amerikanische Kontingent dort nannte. Ohne sie ging der Vorhang nicht auf. Ein Blick in das nicht immer hilfreiche Buch von Gisela Huwe über die Deutsche Oper (Die Deutsche Oper Berlin im Quadriga Verlag 1984 und ausgesprochen Götz-Friedrich-hörig) nennt bereits 1961 ein starkes Aufkommen von Amerikanern. Das Ehepaar Evelyn Lear (sie damals noch wirklich mit unzureichender Gesangstechnik, die sie später behob und z. B. in Genf eine betörende Berlioz-Didon sang) mit Ehemann Thomas Stewart (der Wotan und Gurnemanz meiner Träume) gehörten zu den ersten. Die Lear wurde gerne ausgebuht (auch als Lulu 1968), was Ehemann Stewart aus der Seiten-Loge mit wütendem Beifall umzuwenden suchte. Ihre Madeleine (Capriccio) an der Harfe, alternierend mit Grümmer, Della Casa später und anderen, war wirklich keine aufregende Leistung. Er hingegen war stets aufregend, ob in den genannten Rollen oder in Klebes Alkmene (1961) oder in Milhauds Orestie 1963. Seine intelligente Textführung und diese typisch amerikanische Metalleinlage ließen die Stimme größer erscheinen als sie vielleicht war. Er sang so ungemein kommunikativ! Bei seinem Gurnemanz bin ich nie eingeschlafen (ein starkes Kompliment). Er gab sogar den Rigoletto 1965, der nicht wirklich seine Partie war. Und er war ein gutaussehender Mann. Er hat bei mir nachhaltige Erinnerungen hinterlassen. Ein wunderbarer Künstler, der dem Hause einige Jahre erhalten blieb.

DOB: James King und Christa Ludwig im „Fidelio“ des Umzugs, der auch als DVD bei Arthaus herausgekommen ist/ Arthaus/ DOB

Das amerikanische Paket verstärkte sich mit frühen Auftritten von James King, 1962 in Fidelio neben Christa Ludwig, vorher als Don José neben Patricia Johnson 1962 (und eine ganze Revue von Carmens erscheint vor meinen Augen: sogar Vera Little und Sieglinde Wagner, da fiel Pat Johnson nicht weiter auf; erst Alicia Nafé und Agnes Baltsa mischten die Partie in der späteren Beauvais-Inszenierung dann auf, Agnes zerschlug den Teller statt Castagnetten – ganz enorm, und Wehe der Teller war nicht da …). Die Engländerin Johnson habe ich sehr geliebt, trotz der schmalen und oft auch schimpfenden hellen Mezzostimme. Sie war eindrucksvoll als Gesamt-Künstlerin, eher denn rein stimmlich. Ihre Fricka war toll, ihre Carmen gewöhnungsbedürftig, aber damals eben da. Sie war im besten Sinne eine gute Hauskraft, der man übel mitspielte. Als der Macbeth 1987 zur Generalprobe kam, hatte Sinopoli Olivia Stapp überraschend für die Lady eingeflogen. Pat erfuhr das am Bühneneingang vom Pförtner und hat sich von dieser Ungeheuerlichkeit nicht erholt. Sie verließ die DOB danach und zog nach Brighton, wo sie mit Pendel wahrsagte … Aber ihre spätere Mozart-Marcellina (anfangs  noch mit Arie) ist für mich unerreicht und extrem lustig. Und bei YouTube gibt’s den Macbeth mit ihr und Bailey als Film von der BBC. Ätsch, von der Stapp nicht, wenngleich die toll war und bewundernswert um die Löcher in ihrer aufregenden Stimme herumsang. Ajour vocal …

DOB: Erika Köth und Donald Grobe in der „Heimlichen Ehe“/ Arthaus

James Kings Stimme war mir in der Höhe zu eng, und sein Timbre war nicht meins. Leider sang Jess Thomas zu wenig an der DOB, und an Hans Beirer denke ich für diese (Florestan) und andere Partien mit Schütteln (jedoch hat niemand hat so intensiv gebügelt wie Lisa Otto als Marzelline; Lustiges erinnere ich von der Physis des hohen Paares Brouwenstijn/Beirer in Fidelio, wo sein Bauch ideal unter ihre Oberweite passte …). Donald Grobe ließ mit dem Jaquino in dieser und anderen Produktionen bereits sein Dauerengagement an der DOB ahnen. Später mehr. Der britische Sänger Thomas Hemsley machte einen Abstecher in Henzes Elegie 1962, wo zu meinem Leidwesen eben auch Catherine Gayer erschien, die mich bis zu ihrem Abschied in den Achtzigern mit schlechtem Ami-Deutsch plagte. Sie war tüchtig und am besten in Zimmermanns Soldaten, wo’s vielleicht nicht so auf den Schönklang der Stimme ankam. Aber wir waren froh, wenn sie nicht auftrat. Was sie auch im heiteren Fach leider sehr oft tat.

DOB: Vera Little in einem, undefinierbaren Kostüm auf einer Künstlerpostkarte/ merkeronline

An Vera Little erinnere ich mich ganz genau, ihre Röhre als Wahrsagerin im Ballo war erstaunlich, alles zuerst in Deutsch und Carmen noch im alten Haus (1950 und damals vor meiner Zeit), ihre Azucena – alternierend mit der von mir geschätzten Patricia (Pat) Johnson – vielleicht etwas unsubtil, aber eindrucksvoll. Aber die eindrücklichste Erinnerung an sie war später die Cieca in der hinreißenden Inszenierung der Gioconda (1974, immer noch im Programm!) von Regisseur Filippo SanJust, der die alte originale Pappe der Uraufführung in Rom auf einem Speicher gefunden und für Berlin aufgehübscht hatte. Wenn Vera Little – blind – im ersten Akt sich rückwärts zum „Voce di Donna“ bewegte, fürchteten wir alle um den Leichtbau-Brunnen, dessen Kante gefährlich dicht in die Nähe der voluminösen Breitseite der Little geriet. Wir wetteten sogar darum. Sie riss den Brunnen nie um, aber es war doch der spannendste Moment in der Oper, Rysanek und manche andere (Janku!) hin oder her.

Ich erinnere mich gut auch an die Quickly der Little. In Deutsch wie das meiste, dass dann an der DOB im neuen Haus peu-a-peu in die Originalsprache umstudiert wurde. Ihre Quickly war satt und prall und absolut präsent. Wir waren so unschuldig und wunderten uns in diesen Rollen nicht, warum nun z. B. in Windsor eine schwarze Quickly wohnte. Aber ich erinnere mich auch an die erhitzte Debatte, an der die Boulevard-Presse ihren Anteil hatte, dass eine schwarze Frau diese Partien sang. Die Little wollte wohl auch die Amneris singen, was eine weitere Debatte (mit Intendant Sellner) auslöste. Sie war zudem meines Wissens die erste schwarze Sängerin an der Städtischen und der Deutschen Oper überhaupt. Was sich durch die absolut amerikanische Ausrichtung von West-Berlins Kultur erklärte.

So zum Beispiel auch das das Berliner Wirken von Jessye Norman, die 1968 nach einem glanzvollen Liederabend im Amerika-Haus (das später als Inbegriff des amerikanischen Kapitalismus mit Steinen beworfen wurde, auch von mir, und fortan auf Jahre nur Plastikscheiben aufwies). Die Norman wurde 1969 in das damalige Opernstudio der DOB aufgenommen und sang alle Partien ihres jugendlich-dramatischen Fachs, von der 2-Etagen-Aida (jahrelang auf einem Riesenposter neben Georg Fortunes Amonasro im U-Bahnhof Deutsche Oper zu sehen) bis Wagners Elisabeth (mit blonder Perücke der Grümmer) auf einer Schräge der Mitte gefährlich auf die Rampe zurollend … Die Verwechslungsszene im letzten Akt des Figaro gab für uns oben zu Schmunzeln Anlass, wenn Fischer-Dieskau im Halbdunkel versuchte, die Hand der Norman mit der zierlichen von der Köth zu verwechseln … Später leugnete sie diese Berliner Anfangszeit, und wenn von Berlin die Rede war (wie in einem Gespräch mit mir), war’s die Zeit mit Herbert von Karajan und ihren fulminanten Kleidern im Konzert der Philharmonie. Sie hatte sich in Frankreich neu erfunden. Und betrat nie wieder die Bühne der DOB.

DOB: Annabella Bernard als Verdis Elisabetta/ Künstlerkarte/ Buhs-Remmler

Vera Little sang – wie sich das für ein festes Ensemblemitglied gehörte – die üblichen Partien ihres Fachs, eine ganz fulminante Gäa/Daphne, viel Modernes, auch die Hoffmann-Mutter (1969) in der Drehbühneninszenierung von Kaszlick, die Gesichter weiß gekalkt und gruselig. Tschechisches Regietheater der Anfangszeit. Mit Vera Little (die dann 1972 als Mamma Lucia Little-Augustitis hieß und denselben Herrn geheiratet hatte, zur allgemeinen Überraschung) stand im Hoffmann eine weitere schwarzen Sängerin auf der Bühne, die Sopranistin Annabelle Bernard als Antonia,  die dann (oft neben der Little) auch als Troubadour-Leonora in der immer lichtärmer werdenden Inszenierung Karajans zu sehen war. Die Bernard war Amerikanerin wie die Little und in Berlin verheiratet, und sie sang das volle Repertoire ihres Spinto-Fachs.

William Dooley war aus dem dramatischen Bass-Bariton-Fach nicht wegzudenken, ohne Barry MacDaniel und Donald Grobe gab’s weder Mozart noch eine Operette, und ohne McDaniel natürlich auch nicht den Jungen Lord neben dem betörend schönen Loren Driscoll in der Titelpartie (wie man auf der DVD nacherleben kann). Was für ein schöner Mann war doch Driscoll. Wir vom Rang waren alle verliebt in ihn (oder vielmehr in sein Bühnenabbild, später auf der Straße normalisierte sich die Begeisterung). Barry MacDaniel hatte für mich eine der schönsten lyrischen Baritonstimmen meines Opern-Lebens. Von der Met gibt es mit ihm einen betörenden Pelléas zu hören, in Wien und anderen Städten der Welt war er ein gesuchter Sänger. Aber Berlin war seine Heimat, auch aus privaten Gründen. Sein immer etwas melancholisch wirkender, wunderbar weicher und so schön timbrierter, zudem sehr individueller Klang ist mir bis heute im Ohr. Zumal er viel aufgenommen hat, auch herrliche Bachkantaten unter Werner bei Erato. Auf der Bühne liebte ich seine Erscheinung und vor allem seinen noblen Gesang in Mozart, auch in Offenbachs Operetten. Namhaft im Rundfunk war er viel zu hören, wo er meterweise Lieder und Arien beim SFB und BR dokumentiert hat.

Glayds Kuchta als Brünnhilde mit Josef Greindl in Berlin/Buhs/DOB

Das amerikanische Kontingent füllte sich substanziell natürlich mit Gladys Kuchta entscheidend auf. Nach ihrer Try-out-Elektra 1961 kam Ihre Lady Macbeth 1963 in der alten Inszenierung (die ich dann nach meiner Übersiedlung nach Berlin 1964 sah) in Sellners kompakter Regie und – Luxus – unter Mario Rossis Leitung. Das war war nichts weniger als elektrisierend. Das hatten wir noch nie so gehört. Sicher nicht besonders italienisch (ich meine sogar noch in Deutsch wie Turandot und andere), aber die schiere Power war enorm. Sie war keine Bühnenschönheit, und wir spotteten gemeiner Weise über ihre prägnante Silhouette, die sich nur mit der von Liane Synek oder Gitta Mikesch am Haus vergleichen ließ (jetzt schmunzeln die Kenner), und eine gewisse Nasalität bestimmte auch ihren Ton. Ich leiste ihr heute akute Abbitte, weil wir sie damals – vielleicht auch wegen Dauerpartner Beirer – nicht so geschätzt haben. Wir waren undankbar. Ihre Isolde war wirklich jugendlich-leuchtend und kraftvoll, ihre Senta leidenschaftlich, ihre Turandot ungeschlagen. Eine besondere Aufführung der Turandot (wohl später mit der Mastilovic) bleibt mir im Gedächtnis, als ein italienischer Tenor den Calaf nur  in seiner Sprache kannte, und bis auf den Chor sich der Abend langsam in einen originalsprachigen verwandelte, weil sich die Kollegen nicht lumpen ließen, sehr lustig. James King stemmte sich durch den originalen Erst-Calaf (nicht sein Ding), Loren Driscoll, der Schöne, machte einen der drei Ping-Pang-Pongs. Aber Driscolls Triumph blieb ungeschlagen der Junge Lord (1965). Er verlor leider wegen einer Lungengeschichte die Stimme und gab jahrelang nur noch den Spoleta, allerdings mit Erfolg und nachdrücklich.

Meine Zuneigung galt damals auch Lou-Ann Wyckhoff (die nicht bei der Huwe auftaucht, naja): eine Entdeckung Abbados von der Scala. Flamboyant mit ihren roten Haaren und von üppig-erotischer  Erscheinung war sie eine wunderbare Ballo– Amelia oder Odabella (als solche versang sie sich grundsätzlich in der ersten Arie, während „Gundel“ Janowitz sich mit der zweiten schwer tat…/ Premiere 1971). Die Wyckhoff, der man Amouren mit Dirigenten in Mailand und an der DOB nachsagte, war eine unglaublich attraktive Frau, verführerisch und knackig. Der Rang liebte sie. Sie ging nach Amerika zurück, wüste Gerüchte umrankten sie von dort …

DOB: William Dooley als „Figaro“-Conte, hier an der Met/ Met Archives/Malancon

William Dooley (als „Tom Dooley“ nach dem gleichnamigen Schlager bei uns auf dem Rang benannt) war der Bass-Bariton-Felsen neben Stewart. Man bedauerte ihn, wenn er als stimmgewaltiger Jochanaan auf den silbernen Strickbikini von Siljas Salome (1962 und später) in Wieland Wagners Sparinszenierung aus seinem Kerkerloch starren musste. Ich hab‘ den Hype um die Silja nie so recht verstanden und war von der Salome der Rysanek im eigenen Baby-Doll-Kurz-Nachthemd mehr begeistert (auch natürlich von der intelligent-schmäleren Barstow später an der Staatsoper). Bei der Rysanek gab es neben vielen falschen Tönen eben Sinnlichkeit und tollen Ton, nicht diese fahle „Kindertrompete“. (Wir sagten immer, an 8 Abenden hätte man sie wegen der falschen Noten morden mögen, aber an zweien war sie einfach göttlich.) Dooley war eine Wucht, auch als Macbeth oder Figaro-Graf, stets sehr präsent und darüber hinaus erfolgreich in der Berliner Unterwelt „socializing“ …

Glora Davy und Vera Little überraschten in der für heutige Sicht ziemlich abstrusen Poppea 1963 in der dto. Inszenierung Margherita Wallmanns, die uns eine ebenso alberne Forza bescherte. Aber die Davy war schon was, dazu schwarz und schön und so unglaublich exotisch. Das hatte Berlin auch noch nicht gesehen. Ihre gewisse Kinderstimme war meine Sache nicht, und sie hielt sich nicht in Berlin. Sie lebt durch ihre LPs weiter.

DOB: Tomas Stewart, der Wotan meines Lebens, hier an der Met/ Met Archive/ Melancon

Noch einmal zu Gladys Kuchta, denn ihre Färbersfrau und vor allem ihre Wagnerpartien waren doch von solcher Kraft, dass sie mich in die Welt von Strauss und Wagner bleibend einbetteten. Sie hatte nicht die Helligkeit der Rysanek, deren „Vater bist du’s“ mir bis heute unvergesslich ist (und natürlich Ursula Schröder-Feinen als Partnerin daneben unerreicht, ach Uschi!!!). Aber sie hatte doch gerade in dieser Partie so was unerhört Menschliches, Eigenes. Und ihre Brünnhilden 1967 (alle drei und die aus Siegfried ohne Probleme auf der Höhe) setzten für mich Maßstäbe, die später nur wenige übertroffen haben. Erstes Hören ist ja immer wichtig, aber da denke ich, dass ich objektiv bin. Die Tetralogie war natürlich eng mit Thomas Stewart verbunden, der in der Wotrubas-Sellners- Hobelspänen-Inszenierung seinen unvergessenen und unübertroffenen Wotan und Wanderer/Gunther zeigen konnte (und Gott-sei-Dank Josef Greindl abhängte). Selbst gegenüber seiner späteren Karajan-Einsätze in Salzburg konnte Berlin mithalten. 1965 sang eine steife und ältliche Hilde Güden abwechselnd mit der von vielen vergötterten Pilar Lorengar die Violetta (und überzeugte auch nicht als Donna Elvira).

George Fortune/ DOB Archiv

Aber der Star war eigentlich George („Georgeporgie“) Fortune, Bariton-De-Luxe am Haus in vielen Rollen, vom Rigoletto zum Don José (in eigenen neuen Samthosen). Wir spotteten über seinen wie an einen Luftballon angebundenen Gang, aber seine recht typische amerikanisch ausgebildete Stimme mit dem nach Bedarf reingeschobenen Metall und der Bombenhöhe ließen ihn zu einem Ideal im italienischen Fach werden. Sein Luna in Karajans Pappe von ursprünglich 1964 (Price, Lazzarini, Perevedi, Guelfi, Bühne Theo Otto) war schon eine Wucht. Leider musste er immer das Feld räumen, wenn die illustren Gäste kamen: Taddei, eben Guelfi und mehr. Konkurrent war auch Robert (Bobby) Kerns, der einen bedeutenden Rodrigo oder Jago gab, was Fortune sicher gekränkt hat. Sein dauerhafter Ehrgeiz brachte ihn schließlich auch an die Met, was ich ihm gönnte. Aber er hatte es nicht einfach.

DOB: Ein „scheener Mensch“ war Robert Kerns, hier als Jago/ Buhs-Remmler; mann schwärmte …

Wenn ich in dem Buch von Gisela Huwe blättere, fallen mir die vielen Abende ein, in denen ich meine Lehre an der Deutschen Oper machen konnte. Namen, Namen, Namen stehen für ebenso aufregende Erlebnisse wie für natürlich viele lässlich, wie das in jedem Opernhaus so ist. Und natürlich waren da nicht nur die amerikanischen Sänger. Doch ohne sie wäre der Spielbetrieb schwieriger gewesen. Zumal sie in der Rollendarstellung prägnanter wirkten als die deutschen Kollegen. Sie brachten auch eine andere Qualität der Stimmen-Timbres ein. Die meisten von ihnen waren musikalisch hervorragend ausgebildet, nicht immer jedoch war Deutsch ihr ideales Idiom …  Man war doch froh, dass das Haus dann doch auf die Originalsprachen umstellte. Manche haben bis zum Schluss schauriges Deutsch gesungen (wenngleich die Agathe der spanischen Lorengar auch im Esparanto angesiedelt war; Claire Watson war als  ihre Vorgängerin in der Premiere 1966 auch nicht ohne Akzent gewesen).  Das Italienisch konnte man damals nicht so nachkontrollieren. Das aber war ja Standard der amerikanischen Ausbildung. Es gab eine Finishing-Academie in Graz, wo die amerikanischen Sänger auf ihre Anfänge in Europa vorbereitet wurden, James King und viele kamen aus dieser „Fabrik“.  Insofern war die sprachliche Umstellung doch ein Segen, auch wenn das Abo protestierte und eine gewisse Nähe zu den Stücken verloren ging. Der Nacken schmerzte von den Übertiteln.

DOB: Gern geleugnet – Jessye Norma und Carlos Cossutta in Verdi „Aida“ an der DOB/ Huwe/ DOB

Die Jahrzehntwende zu den Siebzigern brachte eine internationale Ausweitung der bis dahin doch sehr geschlossenen Sängerbesetzung. Lucy Peacock, für mich die beste Martha (in Steins Hamburger Opernfilm) hörte ich 1970 mit der Klugen und dann auf Dauer –ungemein tüchtig. Dass Friedrich die Valentine der Hugenotten mit ihr und nicht mehr  mit der Lorengar besetzte (und so als Video herausbrachte), kränkte die Lorengar ungemein. Das hatte sie auch nicht verdient, auch nicht ihren popeligen Abschied auf der Bühne. Ich wusste, warum ich was gegen Friedrich hatte und habe manche Sträusse als Journalist mit ihm ausgefochten, nicht nur wegen seiner Gattin …

Aber das homogene Ensemble, das bislang nur mit einigen Gala-Gästen aufgelockert wurde, begann sich aufzulösen. Nicht wirklich merklich zuerst, aber wenn man die Besetzungen jener Jahre liest, wird’s zunehmend internationaler, auch regietheaterlicher. Noch immer hatte die DOB ihr Ensemble-Gesicht, aber viele neue und nur mehr mit Abendspielverträgen ans Haus gebundene Sänger kamen. Tagliavini, Cossutta, italienische Tenöre am Meter (man weint heute, wenn man daran zurückdenkt), Siepi, Janku, Troyanos, Armstrong … Altersstars wie die Güden oder die Della Casa arbeiteten sich recht tonlos durch Mozart oder Strauss. Die Grümmer war der Lorengar gewichen und die wurde nicht wirklich von der Norman bedroht.

Auch Ost-Berlin und die DDR hatten ihre Schönheiten, die Staatsopern-Frau ohne Schatten konnte absolut mit unserer atmosphärischen von Sellner in Jörg Zimmermanns unglaublich poetisch beleuchteten mithalten. Im Osten Eva-Maria Bundschuh als Isolde auf dem halben Schiff ist mir doch auch unvergesslich (man munkelte, sie zahlte eine Vorstellung mit drei Wochen Stimmlosigkeit …). Auch die Tomowa-Sintow in ihren Anfängen. Helga Thiede ( in Dresden glanzvoll als Chrysothemis) als Eglantine in der Euryanthe … Der tolle Freischütz der Berghaus, vieles mehr, nicht zu vergessen Jeanette Lewandowski in Schrekers Fernem Klang in Gera oder die rothaarige Rosa Steurich als Senta, Wagner-Régenys Günstling in Potsdam …

DOB: Und natürlich darf Loren Driscoll nicht fehlen, hier in den „Bassariden“/ Huwe DOB

Vielleicht war’s auch, dass ich selber zu reisen begann und vielleicht etwas genug von meinem Stammhaus hatte, den Hype um die junge Catarina Ligendza als Kuchtas Nachfolgerin nicht nachvollziehen konnte (und  sie schritt immer auf der Bühne, als hätte sie Wasser in den Knien …), akut etwas gegen Götz Friedrich und seine übersexualisierte Sicht vieler Dinge hatte, das nahende Regietheater misstrauisch wahrnahm und überhaupt mich auch beruflich zum Belcanto, nach Italien und zu Frankreichs nationaler Oper orientierte. Ich ging immer noch viel in die DOB – und gerne. Sie war ja meine Heimat. Aber da waren eben Mailand und Rom, vor allem Paris unter dem italienischen Intendanten Bogianchino mit herrlichem Rossini und dem französischen Verdi: Nach Jerusalem für mich Don Carlos erstmals im Original mit meinem bis heute von mir hochverehrten Thomas Allen und der tollen Michele Lagrange, die auch eine riskante Norma hinlegte, neben ihr Martine Dupuy als androgyne Adalgisa, später dto. in Rossinis Hosenpartien neben Cecilia Gasdia eindrucksvoll im pastosen Malibran-Ton. Dann kam 1986 Pesaro mit seinen bis heute unerreichten Programm/Besetzungen der kurzlebigen Rossini-Renaissance und dem dto. unübertroffenen Tandem Gasdia/Valentini/Scalchi/Dupuy/Blake/Merritt. Die Welt öffnete sich. Dennoch – mein Dank geht an die Deutsche Oper, wo ich den Grundstock für mein weiteres Musik-Leben und Beruf lernte. Und eben auch an die amerikanischen Sänger ebendort. Geerd Heinsen

 

(Foto oben: Gladys Kuchta, Gerd Feldhoff, Hildegard Hillebrecht und Ruth Hesse in „Die Frau ohne Schatten“/ Huwe; alle Foto, soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen aus Gisela Huwes oben zitiertem Buch über die Deutsche Oper, Fotografen sind Ilse Buhs/Jürgen Remmler, Kranichfoto, Deutsche Berlin Archiv; wir bitten um Entschuldigung, falls wir jemanden vergessen haben und werden natürlich bei Information/Zuschriften nachbessern). Geerd Heinsen

Felix Krieger

 

Mit Spannung erwartet kam die „neue“ Iris Mascagnis von der Berliner Operngruppe bei Oehms heraus – auch angesichts älterer konkurrierender Einspielungen (Tokody/CBS/Sony, Dessi/Ricordi live, Marrocu/ Bongiovanni live, 2 x Olivero/diverse live oder Petrella/dto) langerwartet, weil sie wie die Vorgängerinnen dieser konzertanten Opernversion auf besondere Publikums-Begeisterung im Konzerthaus gestoßen war. Überhaupt hat sich die Berliner Operngruppe fest in Berlin und seinem Umfeld etabliert, wie die ausverkauften Vorstellungen zeigen – angesichts mancher regielicher Verirrungen an den drei (!!!) Berliner Opernhäusern ist wohl der run auf rein konzertante Aufführungen akut gewachsen. Zumal die Operngruppe mit so hervorragenden Besetzungen aufwarten kann. Spiritus rector ist dabei der Dirigent Felix Krieger, mit dem wir im Zusammenhang mit der Rezension zur neuen Aufnahme ein Interview von Ingrid Wanja bringen. G. H.

 

Das Erscheinen der CD Iris ein Jahr nach ihrer Aufführung im ausverkauften Konzerthaus Berlin könnte ein vorläufiger Höhepunkt in der zehnjährigen Geschichte der Berliner Operngruppe sein, ist es aber dennoch nicht, denn eigentlich wäre inzwischen bereits eine neue Ausgabe der alljährlich stattfindenden Aufführungen unbekannter italienischer Opern unter Ihrer Leitung fällig gewesen. Warum sie noch nicht zu erleben war, wissen wir nur allzu gut. Wie geht es der Berliner Operngruppe und ihrem Schöpfer und Dirigenten heute? Wie die allermeisten Kulturschaffenden sind natürlich auch wir massiv von dieser Krise getroffen. Im Orchester der BOG spielen exzellente MusikerInnen der freien professionellen Berliner Szene, die Solistinnen und Solisten sind wie ich fast ausschließlich freischaffende Künstler. Viele stecken derzeit in einer prekären Situation, und wir hoffen daher sehr, dass diese Pandemie bis zum Sommer unter Kontrolle sein wird, um endlich wieder unseren Beruf ausüben zu können.  Iris war ein vorläufiger Höhepunkt in der Entwicklung der BOG, dem aber hoffentlich in Zukunft noch weitere folgen werden.

Wird es die Berliner Operngruppe in der bisherigen Zusammensetzung weiterhin geben? Fürs erste, ja: eine nächste Produktion, wenngleich sie wesentlich kleiner ausfallen wird, ist derzeit für den 1.September 2021 geplant. Wir haben in den letzten Jahren zum Glück gut gehaushaltet, so dass dies noch möglich sein wird. Ob die BOG nach dieser Krise aber mittelfristig eine Zukunft haben wird, hängt stark davon ab, ob wir auch öffentliche Fördergelder zugesagt bekommen oder nicht. Wir haben während der Krise zahlreiche Anträge geschrieben, und wir hoffen noch auf eine positive Rückmeldung.

Pietro Mascagnis „Iris“, Konzerthaus am Gendarmenmarkt, Berlin/ Foto Stefan Maria Rother/Bertelsmann

Werfen wir einen Blick 11 Jahre zurück: Wie kam es zu Gründung der Gruppe, wie hat sie sich entwickelt, wer gehört ihr an und nach welchen Gesichtspunkten gestalten Sie das Repertoire? Ich hatte 2002 erstmals in London die Chelsea Opera Group geleitet, die ebenfalls selten zu hörende Opern aufführt mit hervorragenden Solisten und deren Herz ein Chor aus wunderbaren Amateursängern ist. Auf dem Programm standen zwei sehr interessante Operneinakter von Rachmaninoff, Francesca da Rimini und Der geizige Ritter. Ich war damals sehr beeindruckt von der Qualität dieser 1950 von Sir Colin Davis gegründeten Institution, deren Ehrenpräsident er auch noch war, als ich dort verschiedene Produktionen in der Queen Elisabeth Hall dirigiert habe. Und so gründete ich 2007 den Verein Berliner Operngruppe mit dem Ziel, etwas Ähnliches in Berlin aufzubauen.  Es hat dann noch knapp 3 Jahre gedauert, bis ich genügend Geld eingesammelt hatte, um mit Verdis Opernerstling Oberto und einem hervorragenden Cast starten zu können. Dabei war zielführend, dass die Stiftung Zukunft Berlin uns eine großzügige Anschub-Förderung gewährt hat und ich 2009 bei einem Dinner den Mäzen Nicolaus von Oppenheim kennengelernt habe, der begeistert war von der Idee und der dann selbst tatkräftig mithalf, die noch fehlenden Gelder zu akquirieren.  Als ersten Aufführungsort wählten wir das Radialsystem V, es schien uns der richtige Ort in Berlin für dieses Experiment, und wir haben uns dort sehr wohl gefühlt, wenngleich die Akustik für unser großes Format an ihre Grenzen kam. Nachdem das Publikumsinteresse von Jahr zu Jahr zugenommen hatte, haben wir es 2013 gewagt, ins wesentlich größere Konzerthaus zu wechseln. Die Entscheidung war richtig, denn bereits unsere erste Aufführung dort, Beatrice di Tenda von Bellini, war ausverkauft! Es sprach sich schnell herum, dass wir ein hervorragendes Niveau bieten, nicht nur beim Publikum, sondern auch in Musikerkreisen, so dass in den folgenden Jahren immer mehr exzellente MusikerInnen der freien professionellen Berliner Szene im Orchester mitspielen wollten. In unserem wunderbaren Chor singen hingegen viele begabte Laien und semiprofessionelle SängerInnen mit, die aber alle Chorerfahrung mitbringen und in Vorsingen ausgewählt werden. Einige von ihnen sind bereits von Anfang an dabei, wie auch unser fantastischer Chorleiter Steffen Schubert, und so bildet der Chor auch bei uns das Herz der BOG.

2016 habe ich Helen Müller kennen gelernt, die Leiterin für Cultural Affairs und Colporate History bei Bertelsmann, und so konnte eine fruchtbare Verbindung zu dem zu Bertelsmann gehörenden Archivio Storico Ricordi in Mailand geknüpft werden, wo die Autographe zu all den italienischen Opern lagen, auf die wir mittlerweile spezialisiert waren.  Für mich ist das natürlich eine Fundgrube, und ich empfinde es als ein großes Glück, direkten Zugang zu den Quellen zu haben und die originalen Handschriften einsehen zu können, denn der unmittelbare Einblick in die „Werkstatt“ des Komponisten vertieft ungemein das Verständnis für seine Musik. Die Berliner Erstaufführung von Verdis Stiffelio 2017 war die erste Veranstaltung, die Bertelsmann mit unterstützt hat, und dies bedeutete in verschiedenerlei Hinsicht noch einmal einen großen qualitativen Sprung für die BOG. Auch seitdem haben wir stetig weiter an der Perfektionierung gefeilt und unsere IRIS dokumentiert, wo wir in unserer Entwicklung 2020 nach zehn Jahren kontinuierlicher Aufbauarbeit angelangt waren.

Felix Krieger während der Generalprobe zur Berliner Erstaufführung von Verdis „Stiffelio“ 2017/ Foto Thomas Ecke/Bertelsmann

Das Repertoire der Gruppe reicht vom Belcanto bis zum Verismo. Warum geht es nicht über diesen hinaus? Gab es danach keine aufführungswerten Opern mehr? Natürlich gibt es noch viele aufführungswerte Opern aus allen Epochen, aber man muss doch eine Auswahl treffen.  Als ich mit der BOG begann, hatte ich ein großes persönliches Interesse daran, den frühen Verdi besser kennen zu lernen, auch, um den späteren noch besser zu verstehen und kompositorische Entwicklungen noch besser nachvollziehen zu können.

Ich bin in meiner Kindheit und Jugend als Jungstudent (Klavier) an der Musikhochschule Freiburg hauptsächlich mit der deutschen-österreichischen Musiktradition von Bach bis zur 2ten Wiener Schule groß geworden, diese bildete das Fundament meiner musikalischen Ausbildung, und dieser Tradition fühle ich mich daher naturgemäß immer noch am nächsten. Allerdings wurde ich als angehender Kapellmeister von zwei der bedeutendsten italienischen Dirigenten geprägt, von Claudio Abbado und von Carlo Maria Giulini. Wenngleich ich mit beiden hauptsächlich deutsches symphonisches Repertoire gelernt habe, so habe ich in dieser Lehrzeit dennoch sehr viel über die italienische Kultur und die italienische Art zu denken und zu musizieren verstanden. Für Abbado habe ich dann an der Staatsoper Berlin auch den Falstaff einstudiert und viele Proben geleitet. Dies war meine erste intensive Begegnung mit einer Verdi-Oper und hat mein besonderes Interesse an italienischer Musik geweckt.

Felix Krieger und Choristen der Berliner Operngruppe anläßlich der deutschen Erstaufführung von Donizettis „Betly“ 2015/ Foto Lou Mouw

Wie gelingt es Ihnen immer wieder, hochkarätige Solisten für Ihre Aufführungen zu gewinnen?  Im Laufe der Jahre habe ich mit vielen SängerInnen zusammengearbeitet, und so konnte ich bereits für die allererste BOG-Produktion 2010 mit Francesco Ellero d´Artegna einen bekannten italienischen Bass für OBERTO gewinnen. Und so hing von Anfang an die Messlatte des gesanglichen Niveaus hoch. Grundsätzlich ist Berlin und insbesondere ein Auftritt im Konzerthaus mit der BOG sehr attraktiv, insofern ist es nicht allzu schwer, hochkarätige Solisten für unsere Aufführungen zu gewinnen. Natürlich haben wir nicht die finanziellen Mittel der öffentlichen Institutionen, aber wir versuchen immer, mit dem, was uns an Budget zur Verfügung steht, das Bestmögliche auf die Beine zu stellen.

Die drei großen Opernhäuser in Berlin können mit riesigen finanziellen Mitteln aufwändige, oft aber bei der Premiere in einem Buhgewitter untergehende Produktionen auf die Bühne bringen. Die von Ihrer Gruppe aufgewendeten Mittel hingegen sind äußerst bescheiden, finden jedoch durchweg die Zustimmung des Publikums. Warum entscheiden Sie sich nicht gleich für konzertante Aufführungen? Ich persönlich mag keine rein konzertanten Opernaufführungen, und mir ist es sehr wichtig, dass das Wesentliche einer Handlung durch eine szenische Einrichtung mit geschickter Personenführung verdeutlicht und lebendig wird. Die BOG hat kein Budget für aufwendige Inszenierungen, und so fokussieren wir uns ganz bewusst auf die Musik und auf die wesentlichen szenisch-dramaturgischen Vorgänge. Wir bekommen allerdings tatsächlich sehr oft von Zuschauern zu hören, dass ihnen bei uns gar kein Bühnenbild gefehlt hat und sie gerade von diesem sehr konzentrierten Format mit wenigen Requisiten und angedeuteten Kostümen begeistert waren. Dies spricht allerdings nicht gegen große szenische Produktionen und Regietheater, denn Oper ist grundsätzlich immer für das Theater gedacht und lebt von neuen, auch umstrittenen Deutungen, es spricht vielmehr für die BOG, dass sie mit ihren begrenzten finanziellen Mitteln überzeugende Aufführungen schafft.

Durch Corona fielen für Sie persönlich nicht nur Dirigate in Deutschland, u.a. auch an der Semperoper Dresden, weg, sondern auch international. Wie geht man dort, wo sie auch regelmäßig arbeiten, nämlich in Lateinamerika oder in Italien, mit der Pandemie um, gibt es dort Arbeitsmöglichkeiten für Sie? Momentan ist es leider fast überall gleich, es herrscht weltweit eine extreme Ungewissheit und dadurch ein enormes Planungschaos. Man setzt vielerorts mehr auf nationale/regionale KünstlerInnen, auch weil Reisen zusätzliche Unsicherheiten bringen und für die Veranstalter teurer sind. Ich kann mir leider vorstellen, dass sich diese Entwicklung aufgrund leerer Kassen nach der Pandemie weltweit fortsetzen wird und die Möglichkeiten daher begrenzter werden.  Eine Neuproduktion von Ariadne auf Naxos, die ich im letzten Jahr in Sao Paulo hätte dirigieren sollen, wurde damals verschoben auf den kommenden Herbst. Nun wurde diese Produktion gerade wegen des Infektionsgeschehens schon wieder abgesagt und soll vorsichtshalber nach 2022 verschoben werden. Diese Absagen und ständigen Verschiebungen sind sehr mühsam und belastend.

Sie sind nicht nur Dirigent, sondern auch Komponist. Konnte der Letztere von Corona profitieren?  Wie sind Sie sonst mit Ihrer freien Zeit umgegangen? Tatsächlich habe ich die Zeit so kreativ wie möglich zu nutzen versucht, und so sind drei neue Werke entstanden. Zunächst habe ich ein komplexes Werk für dreizehn-köpfiges Kammerensemble komponiert, Cantus III – Íthymbus.  Außerdem ist ein Duo für Altflöte und Kontrabass entstanden, dieses wurde erfreulicherweise bereits im November 2020 auf dem 53. Festival Musica Nova Gilberto Mendes in virtueller Form uraufgeführt. Und zuletzt habe ich Lieder für Sopran und großes Orchester nach Gedichten von Peter Härtling und Ulla Hahn geschrieben, diese sind gerade fertig geworden. Ich hoffe nach der Krise Möglichkeiten zu finden, diese Werke uraufzuführen. Immerhin ist  die UA des dreiteiligen Cantus-Zyklus bereits anvisiert.

Ansonsten habe ich viel gelesen und mich um die von mir mitbegründete Al-Farabi Musikakademie (www.al-farabi.de) gekümmert, deren Vorstand ich angehöre. Dass es der Musikakademie gelungen ist, trotz Pandemie in den letzten Monaten zu wachsen, darüber freue ich mich in dieser Zeit besonders.

Mascagnis „Iris“ im Konzerthaus/ Foto Stefan Maria Rother/Bertelsmann

Im Privaten habe ich mich im letzten Herbst ein paar Wochen lang intensiv mit Familiengenealogie beschäftigt und gründlich recherchiert. So habe ich herausgefunden, u.a. anhand alter Dokumente in digitalisierten Berliner Archiven, aber auch in Rahel Levin Varnhagens Familienbriefen, dass mein Ur-Ur-Urgroßvater eigentlich gebürtig Oppenheimer hieß und seinen Nachnamen später in Oppert geändert hat, um antisemitischer Diskriminierung zu entgehen, als er als Arzt 1814/15 in der preußischen Armee an den Befreiungskriegen teilnahm. Und so kam heraus, dass es bei mir nicht nur eine direkte Blutsverwandtschaft zum langjährigen Hauptförderer der BOG, Nicolaus von Oppenheim gibt, sondern auch zu Felix Mendelssohn Bartholdy, Heinrich Heine und Arnold Schönberg.  Ohne die Pandemie und die „freie“ Zeit hätte ich diesen schönen Zusammenhang vermutlich nie herausgefunden, allerdings kann ich auf weitere freie Zeit sehr gut verzichten.

Es bleibt jetzt zu hoffen, dass Corona durch ausreichende Testungen und Impfungen bald unter Kontrolle ist und bald funktionierende Lösungen zur Öffnung der Kultureinrichtungen gefunden werden, damit der Schaden nicht noch größer wird als er bereits ist.

Und was wünschen Sie sich, auch an die Adresse der Politik gerichtet, für „Ihre“ Berliner Operngruppe? Nach dieser Pandemie wird es schwerer denn je sein, Produktionen fast ausschließlich privat zu finanzieren.  Ich bezweifle stark, dass die BOG angesichts der bevorstehenden Wirtschaftskrise ohne eine öffentliche Förderung mittelfristig wird weiterexistieren können. Wir hoffen daher sehr, dass auch die Politik unsere bereits 10-jährige erfolgreiche künstlerische Arbeit in Berlin würdigt und sich für eine institutionelle Förderung der BOG entscheidet. Wie sehr Institutionen wie wir auch als Arbeitgeber für die exzeptionelle professionelle freie Musiker-Szene in Berlin benötigt werden, gerade dies hat diese Krise doch sehr deutlich gemacht. Natürlich ist es mein Wunsch, dass die BOG die nötige finanzielle Unterstützung erhalten wird, um sich auch in den kommenden Jahren weiterentwickeln und ihrem Publikum weiterhin interessante vernachlässigte Werke in Berlin präsentieren zu können (Foto oben Lou Mouw). Ingrid Wanja

Mascagnis Butterfly

 

Eigentlich hätten bereits ihre Vorgänger verdient, was nun der vorerst letzten der Aufführungen der Berliner Operngruppe beschieden ist: die Verewigung auf zwei CDs mit Mascagnis Iris. Gern hätte man die Entwicklung des Orchesters nachverfolgt, das Felix Krieger gegründet und  auf- und ausgebaut hat (dazu auch ein separates Interview in operalounge.de) , und die vom kleinen Orchester mit teilweise Laien-, teilweise Berufsmusikern, von Belcanto- und frühen Verdiopern und damit vor allem auf eine Begleiterfunktion beschränkt, zu einem vollwertigen Klangkörper aus freischaffenden Berufsmusikern reicht, die den hoch anspruchsvollen Orchesterpart des Verismo und Symbolismus beherrschen. Nun liegt also der vorläufige Höhepunkt der künstlerischen Arbeit der Operngruppe in einem Doppelalbum mit informationsreichem Booklet mit einführendem Artikel, zweisprachigem Libretto und Künstlerbiographien vor, dazu reich bebildert mit Fotos von japanischen Figurinen und Landschaften.

Iris war die erste italienische Oper im japanischen Milieu, wie es sich die Europäer um die Jahrhundertwende vorstellten. Butterfly folgte erst später, wird als Figur oft als Nachfolgerin von Iris gesehen, obwohl Welten die beiden voneinander trennen. Es handelt sich bei der Ihren um eine Phantasiewelt, in der die Sonne, die als machtvoller Chor persönlich auftritt, und viele bunte Blumen die Welt der Kindfrau Iris und ihres blinden Vater darstellen, aus der sie brutal durch das Begehren eines Reichen, der sich der Unterstützung eines Bordellbesitzers  bedient, herausgerissen wird. Als sie dem Werben des Kidnappers nicht nachgibt, verliert dieser sein Interesse an ihr, überlässt sie dem Bordellbesitzer als Werbeobjekt. Ihr Vater verflucht Iris, nachdem er sie in dieser Funktion ausfindig gemacht hat, sie stürzt sich in einen Abgrund und wird sterbend von Lumpensammlern ihrer goldenen Kleider beraubt. Ihre geliebten Blumen und der Gesang der Sonne begleiten Iris in den Tod, und auch die  aus der Ferne an ihr Ohr klingenden Bekenntnisse der drei Männer, die für ihr Schicksal verantwortlich sind, führen ins Metaphysische.

Das einst erfolgreiche Werk ist inzwischen ein fast unbekanntes, nur die Serenade „Apri la tua finestra“, wegen der hohen Tessitura so bang gefürchtet wie wegen ihres Effekts von Tenören heiß geliebt, und der Gesang der Sonne als gewaltiger Chor sind ab und zu zu hören.

De Partitur stellt beachtliche Anforderungen an Gesangssolisten wie Orchester, ist von großer chromatischer und harmonischer Raffiniertheit, die von den Instrumentalisten voll ausgekostet wird, eingeschlossen des ihr innewohnenden „tocco di manierismo“. Das Orchester zeichnet den Wechsel von der Nacht zum Tag gleich zu Beginn des Stücks bruchlos  aus dem akustischen Dunkel aufbrechend und in ein immer reicher und raffinierter werdendes Farbspektrum  nach, in nahtloser Steigerung und schönem An- und Abschwellen des Klangs sich entfaltend. Wunderbar werden im Verlauf der Oper die wechselnden Stimmungen erfasst, besonders das Vorspiel zu Iris‘ Arie im zweiten Akt, ihrer Vision vom Himmel, ist von großer atmosphärischer Dichte. Nicht makellos, aber mit überwältigendem Einsatz bringt der von Steffen Schubert einstudierte Chor aus Laien und Berufssängern die Hymne der Sonne, Gänsehaut beim Zuhörer erzeugend, zu Gehör.

Wie immer und bereits von Anfang an mit Francesco Ellero d‘Artegna auf vorzügliche Besetzungen bedacht und damit erfolgreich, hatte Felix Krieger  für ein angemessenes Sängerensemble gesorgt. Bereits in ihrer Auftrittsarie lässt Karine Babajanyan einen leicht ansprechenden Sopran mit farbenreicher mezza voce hören, der auch im Forte weich bleibt und dessen Vibrato sie auch in der großen Arie im 2. Akt gut unter Kontrolle behält. Die Farben ihres Soprans harmonieren mit denen des Orchesters. In der kleinen Rolle der Geisha / Dhia lässt Nina Clausen eine kristallklare Stimme vernehmen.  Mit viel tenoralem Enthusiasmus geht Samuele Simoncini die Partie des Osaka an, sein Tenor ist weitaus schöner als der Charakter seiner Figur, er weiß echtes Gefühl und hymnischen Elan ebenso zum Ausdruck zu bringen wie die fahle Rechtfertigung seines Egoismus‘ in „Così la vita. Addio!“ Einen durchaus auch für Verdi einsetzbaren Bariton hat Ernesto Petti für den Kyoto, die Stimme kann einfach schön oder auch verschwörerisch –verrucht wie im Duett mit Osaka im 2. Akt oder im „Mi comprendi“ klingen. Tadellos und ausdrucksstark gibt David Oštrek den Cieco, angenehm klingt der Tenor von Andres Moreno Garcia für den Lumpensammler.

Für den September plant die Berliner Operngruppe ihren nächsten Auftritt. Das Werk steht noch nicht fest, unbestreitbar  aber ist die Sehnsucht ihres Publikums nach der Entdeckung weiterer interessanter italienischer Opern und möglichst auch ihrer Aufzeichnung zum nachfolgenden häuslichen Genuss (Oehms classics 991, 2 CDs; weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Ingrid Wanja

Erforschung der Liebe

 

Uli Fussenegger streicht und schlägt und zupft auf seinem Kontrabass, erzeugt tremolierend irrende Klänge. Dann sehen wir auf den Videosequenzen, die während des folgenden Geschehens immer wieder die Bühnenaktion überblenden, zwei Menschen fortgeschritten mittleren Alters durch die Stadt gehen: He, Dietrich Henschel, und She, Patrizia Ciofi. „Pass auf, wenn du etwas aufhebst“, sagt sie auf Englisch und schreitet vorsichtig eine Treppe hinunter, die er hinaufgeht. „Während ich durch das Haus gehe, wächst ein Baum“, sagt er und zeichnet an einem Tisch; er könnte ein Architekt sein, jedenfalls jemand, der es gewohnt ist, einen solchen Tisch zu benutzen, ein schlurfiger Akademiker. Unterstrichen werden seine Worte von seiner inneren Stimme, his internal voice, dem Countertenor Terry Wey, während die im biederen Rock brav wirkende Frau sich in der Küche ein Warmgetränk zubereitet und von der tiefstimmigen Noa Frenkel begleitet wird. Er beschaut ein Modell eines Hauses, sie betrachtet die Ameisen, die über ein Marmeladenglas krabbeln. Jedes Wort, jede Geste scheint in Chaya Czernowins im November 2019 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführten Oper Heart Chamber auf die Goldwaage gelegt zu werden. Jedes Wort und jeder Ton sind abgewogen, bis aufs äußerste konzentriert und gefiltert. Und stoßen in das Innerste einer Beziehung vor, deren Quintessenz dem Zuhörer und Betrachter in 90 Minuten wie unter einem Vergrößerungsglas bloßgelegt wird. Eine lineare Geschichte wird in den 13 Abschnitten nicht erzählt, eher Stationen und Momentaufnahmen zwischen Anziehung und Abstoßung, Freude und Traurigkeit. Heart Chamber, Herzkammer, ist der Obduktionsbericht einer Beziehung, für den Czernowin eine Riesenapparatur benötigt, wobei auf der Bluray (Naxos NBD0120V) mehr Claus Guths ingeniös den beiden Protagonistinnen folgende Inszenierung zu bewundern ist als die mit enormem Kraftaufwand betriebene, Risse und Zerklüftungen aufzeigenden Töne, die von schier unhörbaren Flüstern und Flattern bis zu exaltierten Naturlauten und hämmernden Schlägen reichen. Bewerkstelligt wird das unter der souveränen Leitung von Johannes Kalitzke, der bereits die vorausgegangenen Opern der Czernowin uraufgeführt hatte, u.a mit dem groß besetzten Orchester der Deutschen Oper Berlin, einem 16köpfigen Vokalensemble, dem Ensemble Nikel mit Schlagzeug, E-Gitarre, Klavier und Saxophon sowie Live-Elektronik des SWR Experimentalstudios.

Mit der Akribie einer Wissenschaftlerin – der Untertitel An inquiery about love verweist auf ein medizinisches, naturwissenschaftliches Experiment – nimmt sich Czernowin in dem selbst geschriebenen Libretto, in das ursprünglich auch medizinische Zitate einfließen sollten, der Zweierbeziehung an, „Mich interessiert auch der analytische Blick auf die Gefühle… Was bedeutet ein bestimmtes Gefühl? Was heißt es, wenn zwei Menschen zum ersten Mal in einen echten Dialog treten? Bewundernswert, wie sich der deutsche Bariton und die italienische Koloratursopranistin, wobei letztere mit zeitgenössischer Musik bislang vermutlich eher selten zu tun hatte, auf die sprechflüsternde Singdeklamation einlassen, die sich mittels Mikroports zur Hörerbarkeit erhebt. Und wie durchaus nicht unspannend sich Henschel und Ciofi in der Inszenierung von Guth behaupten, die effektiv und faszinierend zwischen aufwendiger Aktion, den filmisch sehr schön umgesetzten Großaufnahmen der beiden und Intimität, wobei sich Mann und Frau auf zwei Stühlen gegenübersitzen, pendelt und von Uli Aumüller perfekt für die Aufnahme eingefangen wurde. Aumüller steuerte auch den umfangreichen und sehenswerten Hinterbericht I did not rehearse to say I love you bei.  Rolf Fath

Nicht nur ein Wandergesell

 

Opera in German mit Rudolf Schock zweiter Teil: In der zweiten Box bei Profil Edition Günter Hänssler wurden Werke von Jacques Offenbach, Wolfgang Amadeus Mozart, Daniel Francois Esprit Auber und Peter Tschaikowsky zusammengefasst (PH200066). Im Einzelnen sind dies Hoffmanns Erzählungen, Cosi fan tutte, Fra Diavolo, Eugen Onegin und Pique Dame. Vorausgegangen war eine Sammlung von italienischen Opern mit einem der seinerzeit beliebtesten Tenöre Deutschlands. Überraschungen sind auch diesmal nicht dabei. Im Gegensatz zur ersten Box gibt es mit vier Liedern von Tschaikowsky nur einen Appendix auf der letzten, der zehnten CD: In dieser Mondnacht, Herrschet der Tag, Inmitten des Balles und Pimpinella. Sie wurden 1948 produziert. Eine genaue Quelle konnte offenkundig nicht ermittelt werden. Begleitet wird Schock von Erhard Michel, der mit bürgerlichem Namen Hans Rainbach hieß und aus der Gegend um das frühere Aussig stammte. Sammler kennen ihn von einer frühen DDR-Eterna-Platte aus dem Jahr 1951, auf der er gemeinsam mit dem Tenor Gert Lutze vierzehn Lieder aus Schuberts Schöner Müllerin zum Besten gibt. Obwohl Schock als Liedersänger bis in seine späten Jahre sehr aktiv gewesen ist, steht dieses Genre in der Wahrnehmung etwas im Abseits. Er hätte auf diesem Gebiet durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient. In seinem Fall kritische Aufmerksamkeit, denn seinen Interpretationen wirken auch dann noch relativ gut gelaunt, wenn ihn Komponist und Textdichter vor Abgründen stellen. Bei den Tchaikowsky-Liedern gerät er nicht in diese Zwickmühle. Sie sind sehr lyrisch, verträumt, überschwänglich, und Schock nimmt diese Stimmung auf.

Boni entfalten vor allem dann ihren ganz besonderen Reiz, wenn es sich – wie hier – um Ausgrabungen und Wiederentdeckungen handelt. Hingegen sind alle Opern der Editionen im Laufe der Jahre teils mehrfach von Nischenlabels – darunter Walhall – verbreitet worden. Ganz besondere Wertschätzung wurde dem Sänger beim schweizerischen Label Relief zuteil. Der Mehrwert der Neuerscheinung besteht darin, die Aufnahmen beisammen zu haben. Sammler lieben das. Ausschließlich handelt es sich um Rundfunkproduktionen, die zwischen 1947 und 1954 beim NWDR, später NDR, WDR und beim Berliner Rundfunk, als der noch nicht nach Ostberlin umgezogen war, entstanden sind. Das war Schocks beste Zeit als Sänger. Die Stimme klang noch nicht so eng in der Höhe, das unverwechselbare Timbre, dieses Alleinstellungsmerkmal, das ihn von allen seinen Kollegen unterschied, war voll ausgeprägt. Es bestand nicht der geringste Zweifel, dass ihm eine glänzende Karriere beschieden war. Die Aufnahmen sind wie ein Wechsel auf diese Zukunft. Und sie sind musikhistorisch interessant, weil sie vom Gründergeist des noch jungen öffentlich-rechtlichen Rundfunks getragen sind. In den Studios wurde wie am Fließband produziert, um aus diesem Vorrat die im Anwachsen begriffenen Sendezeiten bestücken zu können. Nicht alles gelang in Perfektion. Es wurden oft alte Fassungen und Übersetzungen verwendet, die heutzutage den Verfechtern historischer Aufführungspraxis die Haare zu Berge stehen lassen.

Sena Jurinac setzte sich mit der Tatjana in Tschaikowskys „Eugen Onegin“ selbst ein musikalisches Denkmal. Foto: OBA

Ein besonders krasser Fall ist Offenbachs Hoffmann (WDR 1950) mit drei Akten, Vor- und Nachspiel. Giulietta (Martha Mödl) tritt noch vor Antonia (Elfride Trötschel) auf, während Olympia (Wilma Lipp) der Akt zuvor vorbehalten bleibt. Dirigent ist Eugen Szenker. Nach dem Hessischen Rundfunk nahm 1954 auch der NDR seine vom Hans Schmidt-Isserstedt geleitete Cosi fan tutte mit Schock als Ferrando und Horst Günter als Guglielmo auf. Die Damen waren Suzanne Danco (Fiordiligi) und Ira Malaniuk (Dorabella). Ebenfalls beim NDR wurde Schock im selben Jahr als Fra Diavolo besetzt mit der Lipp als Zerline. Es dirigierte der im Nachkriegsdeutschland ungemein tüchtige Wilhelm Schüchter, der zwei Jahre zuvor bei dem Sender Eugen Onegin eingespielt hatte. Der Grund, warum diese Produktion über sich selbst hinaus gewachsen schien, ist allerdings nicht der Lenski von Schock oder schon gar nicht der Schwede Hugo Hasslo in der Titelpartie und auch nicht Gottlob Frick als Gremin: Der knapp dreißigjährigen Sena Jurinac ist mir Tatjana ein Porträt gelungen, das seinesgleichen sucht. Es gipfelt in der nächtlichen Briefszene. Indem sie sich zu ihren Gefühlen für Onegin bekennt überschreitet sie alle konventionellen Grenzen, die ihr als Frau ihrer Zeit gesetzt sind. Sie will ausbrechen wie der Vulkan, der in ihr lodert. Sie fürchtet den Untergang nicht. Schon bevor sie auf Onegin traf, spürte sie das „Zaubergift Verlangen“. Ihn ihm hat es seinen lebendigen Ausdruck gefunden. „Wie sonderbar, es schaudert mich.“ Deutsch hin, Originalsprache her. In der Dichte ihrer künstlerischen Mitteilsamkeit wird diese Erwägung genauso zur Nebensache wie der enge Radiosound der frühen fünfziger Jahre, der sich in der zwischen 1946 und 1947 eingespielten Pique Dame noch etwas deutlicher bemerkbar macht. Auch diese Aufnahme mit Schocks Hermann bezieht ihre Bedeutung durch Sängerinnen – Elisabeth Grümmer als Lisa und Margarete Klose als Gräfin. Das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester spielt unter der Leitung von Artur Rother.

 

Mit Verdis Rigoletto unter Ferenc Fricsay von 1950  war die erste Box – Fünf italienische Opern – eröffnet worden (PH20012). Diese Aufnahme hat auf dem Musikmarkt ein enormes Beharrungsvermögen entwickelt. Myto brachte ihn heraus, später konnte Audite mit dem verbesserten Klang der originalen Rundfunkbänder punkten. Zwischendurch gab es einen Querschnitt bei Membran. Jetzt also Hänssler. Verdient ist diese Fürsorge allemal. Für die RIAS-Aufnahme wurde das Symphonie-Orchester dieses Senders herangezogen. Fricsay war dessen Chef und stand damals am Beginn einer großen Karriere, die mit seinem Tod 1963 ein allzu frühes Ende fand. Für mich ist der Rigoletto eine seiner besten Leistungen. Was für ein Drive! Takte ticken wie Zeitzünder. Wenn Monterone (Wilhelm Lang) seinen Fluch gegen den Herzog (Rudolf Schock) und Rigoletto (Josef Metternich) schleudert, entlädt sich ein gewaltiges Gewitter, das sich bei der unheimlichen Begegnung des Hofnarren mit dem Mörder Sprafucile (Fritz Hoppe) grummelnd verzieht, um sich mit dem Erscheinen von Gilda (Rita Streich) ganz aufzulösen. Fricsay beherrscht derlei dramatische Situationen aus dem Effeff. Seine Sänger folgen ihm bedingungslos. Schock, damals fünfunddreißig, hat für den Herzog genau das richtige Alter. Er singt die Partie verschwenderisch. Allein mit dem Wohlklang seines Tenors versieht er die Figur auch mit positiven Zügen und macht sie dadurch vielschichtiger. Ich nehme ihm sogar ab, dass er in Gilda tatsächlich verliebt ist – wenn auch nur für die Momente, in denen er sich zu ihr bekennt. Metternich lässt keinen Zweifel daran, dass er die Titeltrolle verkörpert – und zwar immer mit hundert Prozent. Er versenkt sich in die letzten Winkel der widersprüchlichen Seele des Narren. Singend befördert er letzte Dinge ans Licht als läge er auf der Couch eines Psychoanalytikers. Ich kann es nachvollziehen, dass Metternich mit Verdi selbst an der Met, wo die internationale Konkurrenz lauerte, reüssieren konnte. Seine Antrittspartie im November 1953 war übrigens der Don Carlo in La forza del destino.

In deutscher Übersetzung ist die Oper genau ein Jahr zuvor, beim Norddeutschen Rundfunk (NDR) in Hamburg als Die Macht des Schicksals produziert worden. Auch diese Aufnahme drehte bereits die große Runde auf dem Markt, wobei darauf zu achten ist, dass es mit Schock als Alvaro – wie übrigens als Herzog in Rigoletto – noch einen Querschnitt gibt. Der stammt von 1965 als er zunehmend in die Unterhaltungsbranche wechselte und – wie ich finde – auch stimmlich unverbindlicher und beliebiger wurde. Der Hamburger Alvaro lässt diese Entwicklung bereits erahnen. Diesmal dirigiert Hans Schmidt-Isserstedt das NDR-Sinfonieorchester ohne den rasanten Schmiss von Fricsay, den wohl auch das Werk so nicht hergibt. Carla Martinis ist die Leonora. Sie stammte aus Kroatien und hatte erfolgreiche Debüts in Salzburg, Wien und Mailand hinter sich. Offenbar sollte ihre Mitwirkung der regionalen Rundfunkproduktion besonderen Glanz verleihen. Doch die große Arie „Gnade, Gnade, mein Heiland“ klingt unstet und überzeugt mich nicht. Auch Martha Mödl enttäuscht in der kleinen aber wichtigen Rolle der Preziosilla. Nach ihren furiosen Auftritten als Kundry und Isolde bei den Bayreuther Festspielen, ist so viel Stadttheater-Routine nicht zu erwarten gewesen. Sie konnte mit diesem Engagement nicht viel anfangen. Gottlob Frick ist als Pater Guardian die Güte selbst. Müsste ich einen der Mitwirkenden herausheben, es würde Gustav Neidlinger als Franziskanermönch Melitone sein. Er holt aus seiner Rolle am meisten heraus und macht aus seiner Predigt im Feldlager ein brillantes Kabinettstück.

Hänssler geizt in dieser ersten Box nicht mit Zutaten und lässt im Anschluss an die Radioeinspielung gleich noch den bereits erwähnten Eurodisc-Querschnitt springen. Was bereits bei den diversen Plattenauflagen auffiel, bliebt auch hier ein Rätsel: Warum dirigiert Wilhelm Schüchter nur den ersten Track mit der von der Orgel begleiteten Szene „Der ew’ge Name des Vaters im Himmel“, in der Guardian (wiederum Frick) die Mönche beschwört, der Klause von Leonora (Hildegard Hillebrecht), deren Identität nur er kennt, fern zu bleiben, der Rest aber von Heinrich Hollreiser? Und weil es so schön ist, folgt noch die so genannte Klosterszene der Deutschen Grammophon von 1954/1955 mit Annelies Kupper (Leonora), Josef Greindl (Guardian) und abermals Neidlinger als Melitone. Endlich kann ich die alte Platte ausrangieren, die ich auf einen Flohmarkt entdeckt hatte und der man ihr Alter ansah und anhörte.

Dieser Eurodisc-Opernquerschnitt ist eine der vielen Zutaten der Edition: Hildegard Hillebrecht, Brigitte Fassbaender, Rudolf Schock, Thomas Tipton und Gottlob Frick in Verdi „Macht des Schicksals“.

Auf Verdi folgt Puccini. Um Tosca im NDR-Studio gemeinsam mit dem Dirigenten Wilhelm Schüchter aufzunehmen, sind die Martinis für die Titelrolle, Schock für den Cavaradossi und Metternich für den Scarpia ein Jahr nach der Macht des Schicksals wieder nach Hamburg gereist. Sie waren nun – so sollte man meinen – ein eingespieltes Team, zu dem sich noch Benno Kusche als Messner, Horst Günter als Angelotti und Kurt Marschner als Spoletta gesellten. In diesem Fall aber muss Teamgeist kein Vorteil gewesen sein. Alle Solisten bleiben unter ihrem eigenen Niveau. Sie finden nicht zusammen, jeder agiert irgendwie für sich und interessiert sich zu wenig für sein Gegenüber. Es knistert nicht, es kommt keine Spannung auf, was bei diesem Selbstläufer von Oper wundert. Die Aufnahme gleicht ehr einer akustischen Stellprobe. Als würden alles nochmal schnell durchgesungen, um sicher zu gehen, dass alles sitzt und gut genug memoriert ist. Selbst Metternich mit seinem ausgeprägten Instinkt für dramatische Situationen, verharrt müde in Routine. Wenn nun noch in Betracht gezogen wird, dass sich fast gleichzeitig in Mailand Maria CallasGiuseppe di Stefano und Tito Gobbi mit dem Dirigenten Victor de Sabata anschickten, dasselbe Werk in der Originalsprache wirkungsmächtig einzuspielen, bedarf es keines Kommentars: Deutscher Puccini war keine Option mehr. Während in Hamburg die Asche verglomm, wurde in Mailand ein Feuer entfacht, das bis heute lodert.

Die Arienplatte mit Carla Martinis von der Electrola ist komplett als Bonus in die Edition aufgenommen worden und erscheint damit erstmals auf CD.

Und die damals hochgerühmte Martinis? Es wird erzählt, dass Herbert von Karajan dem Met-Chef Rudolf Bing telegrafierte: „Brauche schönste Stimme der Welt. Wo ist sie?“ Bing soll geantwortet haben: „Carla Martinis. Hier.“ Mir „hier“ meinte er aber nicht sein Haus, sondern die Stadt. Die Martinis war an der City Opera engagiert. Met-Auftritte sind nicht dokumentiert. Die Anekdote ist auf der Rückseite einer Schallplatte nachzulesen, die bei der Electrola in Berlin mit dem Orchester der Staatsoper unter Schüchter produziert wurde. Im Booklet der Edition wird sie etwas verkürzt wiedergegeben. Auch wenn es so dasteht, ist für mich die Fragen angebracht, wie der führende Ostberliner Klangkörper im Mai 1956 zu dieser Mugge im Neuköllner Wintergarten kam? Dort wurde aufgenommen. Weil bisher nicht auf CD gelangt, gewann diese Platte Seltenheitswert. Bis jetzt. Als Bonus wurde sie in die Edition integriert und dürfte die Neuerscheinung für Sammler begehrlicher machen. Und hören wir nun die schönste Stimme der Welt? Darüber ließe sich trefflich streiten. Gesungen werden Arien von Verdi, Puccini und Mascagni. Oben drauf gibt es das Lied von der Weide und das Ave Maria aus Otello, die klanglich abfallen, weil es sich um den Salzburger Mitschnitt unter Wilhelm Furtwängler von 1951 handelt. Dafür schneiden die Liveszenen künstlerisch deutlicher besser ab, was die Vermutung nahelegt, dass sich die Martinis im Studio nicht so entfalten konnten wie auf der Bühne. Ihre Desdemona befindet sich in einem Schwebezustand. Als würde sie ihren Tod ganz bewusst durchleben. Sie stirbt singend und nicht durch Otellos Hände. Das ist sehr bewegend und überzeugend und kommt nach meinem Empfinden dem Ideal dieser Rolle sehr nahe. Hingegen sind bei den Plattenatrien derlei individuelle Auslegungen und Anpassungen an die Figuren ehr die Ausnahme. Mit „Ritorno vincitor!“ fällt der Auftakt der Bonus-CD robust und entschlossen aus. Mit der sich anschließenden Arie der Mimi aus dem ersten Akt der Boheme, in der sie von versklavter äthiopischer Königstochter auf kleines Mädchen umschaltet, fühlte ich mich in ein Wechselbad getaucht. „Pace, pace, mio Dio“: Den Beginn der Arie der Leonore aus La forza del destino lässt die Martinis mit langem Atem wunderbar aufblühen, um nach gut fünf Minuten mit einer fulminanten Steigerung zu schließen. So gehört sich Verdi gesungen. Dagegen fällt die Arie der Elisabetta „Tu che le vanità conoscesti del mondo“ aus dem Don Carlo ab. Veristisches Beiwerk stört die Stringenz dieser großdimensionierten Szene. Als Santuzza agiert die Martinis zu übertrieben, als Butterfly zunächst zu niedlich. Erst in der Todesszene findet sie in ein angemessenes Format. Neben dieser Platte, den Rundfunkaufnahmen und Mitschnitten ist lediglich ein Maskenball-Querschnitt bei der Decca mit Helge Rosvaenge als Alvaro überliefert. Hat Carla Martinis mit „der schönsten Stimme“ am Ende die die Erwartungen der Plattenindustrie nicht erfüllt? Die Fakten sprechen dafür. Bereits 1962 zog sie sich nach dem Unfalltod ihres Sohnes erst neununddreißigjährig ins Privatleben zurück. Sie habe durch das tragische Geschehen „buchstäblich ihre Stimme verloren“, heißt es im Booklet.

„Heimlich aus ihrem Auge“: Rudolf Schock als Nemorino in der Fernsehproduktion von Donizettis „Liebestrank“ (Screenshot). Tonspur und Eurodisc-Einspielung der Edition sind identisch. 

Als heiteres Intermezzo der Edition kommt Gaetano Donizettis Liebestrank daher. In breitem Stereo entstand die Aufnahme 1962 mit dem Berliner Kammerchor und den Berliner Symphonikern, die von Ernst Märzendorf für meinen Geschmack etwas zu deftig dirigiert werden. Für ungetrübtes Hörvergnügen muss das keinen Abbruch bedeuten. Schock singt den Nemorino. Mit seinen damals siebenundvierzig Jahren ist er der Rolle des einfältigen Bauernburschen entwachsen. Doch Schock wäre nicht Schock, würde er dieses Defizit nicht durch Professionalität wenn nicht völlig ausgleichen, so doch wenigstens mindern. Die Schwedin Stina-Britta Melander, nicht eben überrepräsentiert auf dem aktuellen Musikmarkt, ist als spielfreudige Adina besetzt, Ludwig Welter als Quacksalber Dulcamara und Lothar Ostenburg als Belcore. Die Fassung trägt zwar zum besseren Verständnis der Handlung beim hiesigen Publikum bei, verstärkt aber zusätzlich den Eindruck, als würde eine deutsche Spieloper gegeben. Die Übertragung aus dem wesentlichen flüssigeren italienischen Original wirkt wie eine kulturelle Vereinnahmung. Während sich Nemorino den Liebestrank, mit dem er seine angebetete Adina für sich gewinnen will, erhandelt, klingt im Cembalo des Dialogs so spielerisch wie überflüssig der berühmte Tristan-Akkord an. Donizettis Oper wurde 1832 in Mailand uraufgeführt, Wagner Musikdrama mehr als dreißig Jahre später. Gewiss, es gibt im Stück einen Hinweis auf die mittelalterliche Legende von Tristan und Isolde und deren Liebestrank. Mit Wagner hat das aber nichts zu tun. Der Gag geht ins Leere. Ältere Jahrgänge werden sich an die westdeutsche Fernsehproduktion erinnern, die erstmals Anfang 1963 ausgestrahlt wurde. Sammler hielten sie für verschollen oder gelöscht, bis sie kürzlich unverhofft bei YouTube in ansprechender Bild- und Tonqualität auftauchte. Ein Vergleich offenbart, dass deren Tonspur und die Produktion in der Edition identisch sind. Einen Hinweis im Booklet gibt es allerdings nicht.

Verwegen gewandet wie für ein Kostümfest: Rudolf Schock, Hildegard Hillebrecht und Eberhard Waechter auf dem Plattencover der Eurodisc-Produktion, die nun bei Hänssler erstmals auf CD erscheint.

Mit einer CD-Premiere geht Vol. 1 der Edition ins Finale: Cavalleria rusticana von Pietro Mascagni. Gleich dem Liebestrank handelt es sich um eine Eurodisc-Produktion, die 1963 mit Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin entstand. Heinrich Hollreiser hat die Leitung. Wieder wird die bekannte Übersetzung, in der die Orangen „duftig erglänzen“, bemüht. Die Interpreten aber geizen mit Duft und Glanz. Schlicht und ergreifend liefern sie eine Aufnahme für den Hausgebrauch ab. So war das offensichtlich auch gewollt. Puristen und Freunde der italienischen Oper sind ganz bestimmt nicht die Zielgruppe gewesen. Es wurde ein Publikum angesprochen, das seinen Rudi Schock liebte und hören wollte. Egal wie und womit. Der süße Wein, den er als gutgelaunter Turrido besingt, stammt von der Mosel und nicht aus Sizilien. In heutiger Wahrnehmung kann diese Interpretation nicht mehr punkten, geschweige denn überzeugen. Kein Wunder, dass die Einspielung bisher nicht den Weg auf CD fand. Dabei ist die übrige Besetzung nicht ganz uninteressant. Hildegard Hillebrecht singt die Santuzza, Alice Oelke die Lucia. Eberhard Waechter ist der Alfio und Bella Jasper die Lola. Achtlos und hochmütig sollte diese Cavalleria nicht beiseite geschoben werden. Aufnahmen sind auch zeitgeschichtliche Dokumente. Oper sollte einem breit gefächerten Publikum nahegebracht werden, das einfach nur entspannt zuhören und nicht fachsimpeln will. Das ist doch auch schon mal was. Auf die Fortsetzung der Rudolf-Schock-Edition darf man also gespannt sein. Dem Vernehmen nach soll die nächste Box Eugen Onegin und Pique Dame von Tschaikowski, Hoffmanns Erzählungen von Offenbach, Cosi fan tutte von Mozart und Frau Diavolo von Auber enthalten. Rüdiger Winter 

Osteuropa holt auf

 

Aufnahmen mit dem ungarischen Orfeo Orchestra unter seinem Leiter György Vashegyi und dem Purcell Choir wurden auf diesen Seiten schon mehrfach besprochen. Zumeist handelte es sich um Raritäten auf dem Musikmarkt, wie Gregor Joseph Werners Oratorium Der Gute Hirt oder Joseph Bodin de Boismortiers Ballett Les Voyages de l’Amour. Nun gibt das Label GLOSSA auf drei CDs eine weitere Einspielung heraus, welche ein nicht ganz so unbekanntes Werk in den Fokus stellt – Rameaus Tragédie lyrique Dardanus von 1744  (GCD 924010/ Note 1). Die Aufnahmen fanden im März 2020 in Budapest als Koproduktion der Orfeo Music Foundation und dem Centre de musique baroque de Versailles mit Unterstützung des Institut français de Budapest statt. Nach der alten Erato- und neueren DG-Auifnahme also die dritte des Werkes, ob das der Markt trägt?

Dardanus war – nach Hippolyte et Aricie und Castor et Pollux – die dritte von Rameaus Tragédies lyriques, die in Paris uraufgeführt wurden. Das Libretto von Leclerc de La Bruère schildert eine Liebesgeschichte zwischen Dardanus, der gegen den König der Phryger, Teucer, kämpft und dessen Tochter Iphise. Nach ihrer Verlobung mit Anténor, einem Verbündeten von Teucer, heiratet sie schließlich – mit Hilfe der Vénus – den Titelhelden.

Im Prologue loben Vénus (Chantal Santon Jeffery) und Amour (Judith van Wanroij) die Freuden der Liebe. Beide Soprane lassen im Charakter typisch französische Stimmen mit dem bekannt larmoyanten, gelegentlich säuerlichen  Klang hören, was beider Duos anzuhören nicht eben leicht macht. Der Chor nimmt ihre Gesänge auf oder wiederholt sie, was dem Purcell Choir Gelegenheit gibt für einen kultivierten und akzentuierten Vortrag. Der 1. Akt schildert Iphises Konflikt zwischen ihrer Pflicht (der Heirat mit Anténor) und ihrer Liebe zu Dardanus. Judith van Wanroij formt das Air „Cesse cruel Amour“ als eindringliches Lamento mit Momenten von energischem Nachdruck. Als ihr Vater Teucer ist Thomas Dolié mit autoritärem Bariton zu hören. Ähnlich viril klingt der Bariton von Tassis Christoyannis als Anténor – in beider Duo „Mânes plaintifs“ sind sie stimmlich kaum zu unterscheiden.

Der Titelheld wird erst im 2. Akt eingeführt, wenn er den Magier Ismenor (Thomas Dolié) aufsucht, um von ihm Beistand zu empfangen, Iphise zu gewinnen. Mit Cyrille Dubois ist die Titelrolle prominent besetzt. Mit weichem, klangvollem Tenor profiliert er die Figur eindrücklich, so in seinem klagenden  Air zu Beginn des 4. Aktes, „Lieux funestes“ oder dem jubelnden „Triomphe, Amour“ im letzten Akt.

Einmal mehr sorgt das Orfeo Orchestra unter seinem Dirigenten für die Höhepunkte der Aufnahme. Das inspirierte, dynamisch akzentuierte Spiel ist bereits in der munteren Ouverture oder dem stürmischen Prélude zum 2. Akt zu vernehmen. Im Prologue imponiert die Marche pour les Peuples de différentes nations mit ihrer pompösen Festlichkeit, wenn Amour Völker verschiedener Nationen einlädt, ihm zu huldigen. Besonderen Effekt macht der aufgewühlte Bruit de guerre am Ende des 4. Aktes. Wie stets bei Rameau sorgen die Tänze für hinreißende Effekte – graziöse Menuets, spritzige, rhythmisch rasante Tambourins, vitale Rigaudons pour les Guerriers, gravitätische Loures, beschwingte Contredanses und eine ausgedehnte Chaconne, mit der das Werk in gemessener Feierlichkeit endet. Für alle Stimmungen findet der Klangkörper die passenden Farben und einen spannenden agogischen Zugriff. Bernd Hoppe

Geniales aufgefrischt

 

Walter Felsenstein (1901-1975) gründete 1947 die Komische Oper in Berlin und war bis zu seinem Tod ihr Intendant. Seine Bedeutung für die Wiederbelebung der Oper als theatralische Kunstform ist immens: Felsenstein setzte neue Maßstäbe im Bereich der Opernregie und prägte den Begriff des „Musiktheaters“. Zeit seines Schaffens lag sein Fokus auf dem Ensemble – vom künstlerischen Personal bis hin zum Bühnentechniker. Das Œuvre dieses genialen Regisseurs umfasste über 190 Inszenierungen und war den Werken, ihren Schöpfern, dem Ensemble und dem Publikum gleichermaßen verpflichtet. Die konsequente Arbeit Walter Felsensteins an einer musikalisch-szenischen Bildsprache des Opernfilmes ist auch heute noch wegweisend.

Vor allem sein Ritter Blaubart (109437) gehört für mich zu den genialsten Umsetzungen von Oper(ette) auf die Bühne und in den Film (wenngleich Einblicke in die Originalproduktion von 1963 auch die Unterschiede sowohl des zeitlichen wie des konzeptionellen Abstands zeigt). Gerade wieder bei Arthaus als erstaunlich aufgefrischter Bluray-Streifen erschienen belegt eben diese Operette (nun 10 Jahre später verfilmt) den ungemeinen Witz und die Genialität Felsensteins. Sein irrwitziges deutsches Libretto ist mir noch heute eines der Besten seiner Zunft. Sein Sinn für komisch-groteske und bissige Details bleibt mir unerreicht gegen andere Neuschöpfungen. Sicher, die wunderbare Pappe der alten Inszenierung von 1963, ins Defa-Studio 1973 geholt und dort abgefilmt, ist wirklich historisch, und man sieht die Limitierungen der damaligen ökonomischen Bedingungen. Aber auch das hat seinen Reiz: Hier gibt es unverstelltes Entertainment, das allen Spaß macht. Denn in den ganz sicher vom Zahn der Zeit benagten Kostümen und Kulissen tummelt sich eine absolut grandiose Sachar an Darstellern, wie man sie heute nicht mehr finden würde.

Wie oft habe ich – bei obligatem 12.- Mark Zwangsumtausch – Anny Schlemm als dralle und freche Boulotte auf eben dieser Bühne erlebt, und weder stimmlich noch darstellerisch konnte und kann ihr irgendwer das Wasser reichen. Für mich IST sie einfach die Boulotte Offenbachs, eine Idealbesetzung mit Stimme und derbem Charme. Werner Enders als fieser König Bobêche war immer ein toller Charakterdarsteller, dass er auch Stimme hatte, erfuhr man hier, genial auch er. Meine besondere Liebe gilt Ruth Schob-Lipka als busenmächtige Königin der ganz großen Attitüde und der geübten Opernstimme. Und auch Rudolf Asmus als dusseliger Popolani, der die restlichen Frauen Blaubarts im luxuriösen Verließ versteckt und sie von ihrem Schicksal bewahrt ist eine Wucht. Altes Komische-Oper-Eisen vom Feinsten. Und da ist noch der robuste Hanns Nocker in der Titelpartie, die er mit viriler Wirkung und sozusagen offener Hose vorführt, nicht sehr subtil und auch stimmlich grob, aber dafür ein toller Charakter in Felsensteins Reigen. Es ist das ganze Ensemble, das diese immer noch überwältigende Wirkung ausmacht, von Karl-Fritz Vogelmann arrangiert und musikalisch geleitet. Sowas gibts eben einfach nicht mehr, auch nicht bei Barry Kosky. Das Phänomen Felsenstein ist ei n historisches, das nicht wiederholt werden kann.

Die anderen Opern aus dieser Reihe, die zuerst (ebenfalls bei Arthaus) in einer samtroten eleganten Luxusschachtel herauskamen, sind vielleicht nicht so ganz von diesem genialen Charme, aber sie haben ihre Wirkung und belegen, dass gerade im heiteren Genre Felsenstein unerreicht für seine Zeit war. Über die seriösen Opern mag man sich streiten, hier sind mir oft die Sänger nicht gut genug, und die Verfilmungen lassen sie oft zu steril in ihren Effekten erscheinen, zumal manches wirklich sehr historisch wirkt. Dennoch – als Dokumentation eines großen Theatermanns sollten sie in keiner Sammlung fehlen (Das schlaue Füchslein, Fidelio, Othello, Hoffmanns Erzählungen). G. H.

James Levine

 

Er war der bedeutendste US-amerikanische Dirigent seit Leonard Bernstein und doch beherrschte er zuletzt aufgrund von Missbrauchsvorwürfen die Schlagzeilen. James Levine, geboren am 23. Juni 1943 in Cincinnati, Ohio, galt bereits früh als Überflieger. Sein Debüt – allerdings als Pianist – erfolgte schon 1954 mit dem Cincinnati Symphony Orchestra. Es folgte Klavierunterricht bei niemandem Geringeren als Rudolf Serkin. Gleichwohl schlug er nach dem Besuch der renommierten Juilliard School of Music in New York (1961-1964) vornehmlich die Dirigentenlaufbahn ein. Einen ersten Höhepunkt stellte die Lehrzeit beim berühmt-berüchtigten George Szell und „seinem“ Cleveland Orchestra dar, den er zwischen 1965 und 1970 als Assistenzdirigent unterstützen durfte.

Von da an ging es Schlag auf Schlag. Es folgten erste Gastdirigate bei so berühmten Klangkörpern wie dem Philadelphia Orchestra und dem Chicago Symphony Orchestra. Sein Debüt am Metropolitan Opera House in New York City fand im Juni 1971 mit Tosca statt. Bereits 1973 wurde er, gerade 30-jährig, zum Chefdirigenten der Met berufen. 1976 schließlich wurde er dortiger Musikdirektor, was er bis 2016 bleiben sollte, und amtierte von 1986 bis 2004 zusätzlich auch als künstlerischer Leiter, womit seine Macht ins Unermessliche stieg. 85 Opern und über 2.500 Aufführungen leitete er in all den Jahrzehnten bis zu seinem letzten Auftritt im Dezember 2017 an der Met. Trotz seiner Opern-Omnipräsenz blieb Levine immer auch als Konzertdirigent im Geschäft und machte sich gerade als Mahler-Interpret einen Namen.

Der junge James Levine/courtesy of Ravinia Festival

Seine musikalische Beschäftigung abseits der Oper fand in den Chefdirigentenposten bei den Münchner Philharmonikern (1999-2004) und beim Boston Symphony Orchestra (2004-2011) ihren Höhepunkt (zuvor hatte er schon von 1973 bis 1993 das sommerliche Ravinia Festival des Chicago Symphony Orchestra geleitet). Allerdings blieben sowohl seine Münchner als auch seine Bostoner Chefdirigentenzeit vor allem auch wegen seiner häufigen, nicht zuletzt gesundheitlich bedingten Absenzen in Erinnerung. Anfang des 21. Jahrhunderts galt er als der bestverdienende Dirigent Amerikas. Daneben war er gern gesehener Gastdirigent bei den Wiener und Berliner Philharmonikern, bei der Staatskapelle Dresden sowie beim Philharmonia Orchestra in London. Sowohl bei den Salzburger als auch bei den Bayreuther Festspielen und zuletzt beim Verbier Festival gehörte er jahrelang gewissermaßen zum unverzichtbaren Inventar.

In Bayreuth dirigierte Levine unter ganz überwiegenden Lobeshymnen zunächst den Parsifal (1982-1985, 1988-1993) und anschließend den Ring des Nibelungen (1994-1998). Nachdem er sich aus München zurückgezogen hatte, machte er sich rar in Europa. Seine nachlassende Gesundheit zwang ihn bereits von 2011 bis 2013 zu einer Zwangspause. Bald nach seiner kaum mehr für möglich gehaltenen und umso mehr gefeierten Rückkehr auf das Podium beendeten Ende 2017 öffentlich gemachte, freilich schon lange zuvor gerüchteweise kolportierte Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs männlicher Jugendlicher seine aktive Karriere; der ihm 2016 verliehene Ehrentitel des emeritierten Musikdirektors der Metropolitan Opera wurde ihm wieder entzogen. Eine außergerichtliche Einigung zwischen Levine und der Met, deren Details nicht bekannt wurden, kam 2019 zustande (die Rede war von einer Abfindung in Millionenhöhe). Tatsächlich scharte er schon zu seiner Zeit in Cleveland einen fast kultischen Kreis ihm höriger „Leviniten“ um sich. Bis zuletzt wollte der stark angeschlagene Levine weiter dirigieren und hatte auch tatsächlich einen Auftritt beim italienischen Maggio Musicale Fiorentino 2021 in Aussicht. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Wie die New York Times berichtet, ist James Levine bereits am 9. März 2021 in Palm Springs, Kalifornien, im Alter von 77 Jahren verstorben.

James Levin, jahrelang an der Met als Chef, dirigierte auch viele Opernaufnahmen, hier die „Adriana Lecouvreur“ mit Renata Scotto, der er zu großem Rum an der Met verhalf/ Sony

Levines Vermächtnis auf Tonträgern sowohl im Opern- als auch im sinfonischen Bereich ist gewaltig. Hervorzuheben ist unbedingt sein Mahler. Die Sinfonien Nr. 1, 3, 4, 5, 6, 7, 9 und 10 spielte er für RCA ein, Das Lied von der Erde (mit Jessye Norman und Siegfried Jerusalem) für die Deutsche Grammophon. Der Zyklus kann durch Live-Aufnahmen ergänzt werden: Eine phänomenale zweite Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern sowie Kathleen Battle und Christa Ludwig (Orfeo) ist nach wie vor problemlos erhältlich; ein Mitschnitt der Achten aus Boston war zeitweise zumindest als offizieller Download zu beziehen. Neben je zwei Zyklen der vier Schumann- und Brahms-Sinfonien (RCA und DG) hat Levine eine sehr beachtliche Einspielung sämtlicher Sinfonien von Mozart, die einzige solche Gesamteinspielung durch die Wiener Philharmoniker überhaupt, vorgelegt (DG). Es ließe sich sinfonisch Unzähliges mehr hinzufügen, so auch Le Sacre du printemps und Bilder einer Ausstellung (DG), wo das Met-Orchester seine orchestrale Überlegenheit auch in ungewohntem Repertoire unter Beweis stellen konnte – überhaupt ein Verdienst der Ära Levine, der den einst ziemlich mediokren Klangkörper überhaupt erst zu Weltklasseniveau geführt hat. Im Opernfach fällt eine komprimierte Auswahl aufgrund der schier endlosen Hülle und Fülle noch schwerer. Für Levines Expertise in Sachen Wagner steht zuvörderst der Bayreuther Parsifal von 1985 (Philips), der vor allem wegen des monumentalen Dirigats in jeder Wagner-Kollektion seinen Ehrenplatz haben sollte. Ein mittlerweile legendärer Mitschnitt von Berlioz‘ Les Troyens aus der Met von 1983, bei der DG auf DVD erschienen, sollte hier ebenso genannt werden (es singen u. a. Tatiana Troyanos, Jessye Norman und Plácido Domingo). Wirklich vorzüglich gelungen ist auch die selten gespielte frühe Verdi-Oper Giovanna d’Arco (EMI), wo man mit Fug und Recht bis heute von einer Referenz sprechen darf (in den Hauptrollen Montserrat Caballé, Plácido Domingo und Sherrill Milnes). In die erste Liga gehört auch Rossinis Il barbiere di Siviglia mit Gedda, Sills, Milnes und Raimondi (EMI). Es ließe sich viel ergänzen. Unter einem gewissen Niveau war keine von Levines Einspielungen; krankte es an etwas, dann eher an der Sängerbesetzung. In der vierzigjährigen Ära Levine wurde das Met-Orchester zum ebenbürtigen Begleiter und überstrahlte das Vokalensemble zuweilen gar an Glanz, zumal in den späteren Jahren. Es wäre wünschenswert, erschiene der gebündelte diskographische Nachlass von James Levine bei den diversen Labels abermals in ansprechenden und gut aufbereiteten großformatigen Boxen (Foto oben Tagesschau). Daniel Hauser