Venedig für Opernfreunde

 

Die 25 Kriminalfälle Commissario Brunettis und ihre Schauplätze kann der Venedig-Verrückte (und wer ist das nicht, wenn er die Stadt auch nur einmal besucht hat) schon seit langem erforschen und  anhand eines Stadtplans und genauer Beschreibungen aufsuchen. Nun ist das auch seit einiger Zeit für Holländer und seit kurzem für Deutsche möglich, die der Oper verfallen sind, denn Willem Bruls hat mit seinem Buch Venedig und die Oper- Auf den Spuren von Vivaldi, Verdi und Wagner die Möglichkeit dazu geschaffen. Auf einem kleinen Plan der Stadt sind die immerhin 36 Stätten markiert, die der Auto für seine Forschungen aufgesucht hat, dazu kommen noch einige weitere mit Buchstaben versehene. Zwei darauf folgende Seiten bekunden, wie sehr Schriftsteller aus ganz Europa von der Lagunenstadt verzaubert waren und welche Dichtungen sie ihr gewidmet haben. August von Platens „Venedig liegt nur noch im Land der Träume“ kommt der Einstellung des Verfassers am nächsten, der auf den folgenden 250 Seiten nicht müde wird zu beteuern, dass Venedig nicht nur eine sterbende, sondern ein bereits seit langem tote Stadt sei, deren Blütezeit und damit auch die der Oper in ihren Mauern aus Wasser gerade einmal von ca. 1600 bis ca. 1800 dauerte, als Napoleon den letzten Dogen absetzte. Der Totgesagten allerdings widmet er eine höchst poetische Sprache, wenn er von „Fassaden, die auf dem Wasser treiben“ schreibt und manchmal versteigt er sich auch zu gewagten Vergleichen, wenn er ihr Siechtum nach 1800 mit dem der Gralsritter in Wagners Parsifal vergleicht.

Dem deutschen Komponisten ist natürlich ein Kapitel des Buches gewidmet, denn er komponierte in Venedig den zweiten Akt vom Tristan und starb im Palazzo Vendramin, heute das Casinò der Stadt im Winter. Hier und bei der Beschreibung anderer sehenswerter Orte hat der Autor die Erfahrung vieler Besucher  gemacht, dass man  viele Orte nur vom Wasser her erreichen kann, ansonsten kann man stundenlang ohne Erfolg in den engen Gässchen umherirren. Im Wagnerkapitel gibt es auch Hinweise zum Grab von Hasse und seiner italienischen Gattin Faustina Bordoni in der Kirche San Marcula und auf das Ghetto, ein Begriff, der auf getto, die venezianische Schmelzerei, zurückzuführen ist. Das Buch konfrontiert den Leser mit einer Fülle von interessanten Fakten, manchmal auch mit Behauptungen, die ohne Beweise im Raum stehen gelassen werden wie die, im Ring gebe es „unzählige antisemitische Bezüge“. Und reichlich oft wird wie auch in diesem Kapitel wiederholt, das Dasein Venedigs sei wie „regloses Warten auf das Ende“.  Noch schlimmer wird es auf Seite 152, wo es über die Zeit ab 1797 heißt: „Der morbide Leichnam dieser Erinnerung wird nun schon mehr als zwei Jahrhunderte einbalsamiert bewahrt. Doch unter den Schichten von Schminke, Stuck und Spachtelmasse dringt ein fürchterlicher Gestank hervor und lauert eine gähnende Leere“.

Der eher noch häufiger erhobene, aber durchaus nicht strafende Zeigefinger gilt der ungebremsten Wollust, derer man sich in der Blütezeit der Stadt hingab. Zuvor wird aber mit dem Kapitel über Attila, über seinen Regierungssitz auf der Insel Torcello  Verdis gleichnamiger Oper und der Gründung Venedigs gedacht, in Forestos Arie findet sogar schon „la fenice“ Erwähnung.

Gleich fünf Kapitel gelten Claudio Monteverdi und der Geburt der Oper, dem Übergang von der Renaissance zum Barock, der Zerstörung des christlichen Konstantinopels durch die Intrigen der Venezianer. Der Leser lernt die Opern des Maestro kennen und die Orte, an denen sie uraufgeführt wurden. Fast jede der reichen Patrizierfamilien hielt sich ihr eigenes Theater, noch erhalten für den ursprünglichen Zweck, wenn auch nicht in der ursprünglichen Form sind La Fenice, Teatro Goldoni oder Teatro Malibran.  Bei der Einsicht in die Partitur von Cavallis La Calisto gibt es ein interesantes Gespräch mit dem verantwortlichen Musikwissenschaftler, beim Besuch der Fondazione Luigi Nono ein solches mit der Witwe des Komponisten.

Zwischen beiden aber liegen noch die Kapitel über Händel und seine für den aus Venedig stammenden Kardinal Grimani komponierte Agrippina, über den Zwist zwischen Vivaldi und Benedetto Marcello und über die Chöre von himmlisch singenden und hässlich aussehenden Mädchen. Interessant ist es auch, dass es bereits vor Mozarts Don Giovanni in Venedig eine Oper gleichen Namens als Angriff auf das Lotterleben Casanovas gab.

Von Mozart über Rossini zieht Bruls eine Entwicklunglinie,  die vom edlen Bassa Selim zum lächerlichen Ausländer Mustafa reicht und die er als eine verhängnisvolle Wandlung vom Humanismus zum extremen Nationalismus ansehen möchte. Der Lido, Thomas Mann und sein Tod in Venedig, Visconti, Djagilew, Frederick Rolfe, Britten, die Homosexualität, der schöne Tadzio und sein Darsteller Björn Andrésen, der Helmut Berger eifersüchtig werden ließ, dürfen natürlich nicht fehlen. Und noch immer steht das  Grand Hotel des Bains leer, in dem sie alle einst logierten, und im Café Florian kostet der Cappuccino inzwischen zehn Euro. Für den nächsten Venedig-Besuch aber muss man mindestens eine Woche einplanen, um alle die interessanten Orte zu besuchen, von denen der Autor berichtet hat und die man nun mit anderen, wissenderen Augen wahrnehmen wird.

Hinweise zum Weiterlesen und Weiterhören und Wegbeschreibungen finden sich am Ende des Buches (264 Seiten, Henschel Verlag 2021; ISBN 978 3 89487 818 4). Ingrid Wanja