Archiv für den Monat: März 2021

Leichte Kost als hohe Kunst

 

Peter Schreier musste sich oft anhören, dass seine internationale Karriere erst nach dem Unfalltod von Fritz Wunderlich so richtig Fahrt aufnahm. Fakten sprechen dafür, die tragischen Umstände aber dürften ihm genauso nahegegangen sein wie dem Rest der Welt. Beide kannten sich. Ein zweiter Wunderlich aber wurde Schreier nie, wollte das auch wohl nicht. Warum auch? In der DDR, wo nichts dem Zufall überlassen blieb, wäre es gewiss sehr gern gesehen worden, wenn die Popularität Wunderlichs nahtlos auf Schreier übergegangen wäre. Beide sangen das gleiche Fach, in Teilen sogar dieselben Partien. Selbst Pfitzners Palestrina gehörte dazu. Von Mozart und Bach ganz zu schweigen. Nur in Operetten und in der so genannten heiteren Muse ganz allgemein war der um fünf Jahre ältere Pfälzer seinem Kollegen aus Sachsen um Längen voraus. Das dürfte auch an ihrer unterschiedlichen biographischen Prägung gelegen haben. Wunderlichs Eltern waren zwar musikalisch gebildet und verdingten sich zweitweise als Gastwirte. Der Sohn entwickelte ein frühes Interesse an Tanzmusik. Schreier Vater war Kantor und legte bei ihm die Grundlagen für die Aufnahme in den Dresdener Kreuzchor. Und doch hat sich auch Schreier an leichter Kost versucht. Dabei ist unter anderen die Eterna-Platte Schöne, strahlende Welt herausgekommen, die nun von Berlin Classics erstmals eins zu eins auf CD übernommen wurde (0301746BC). Um die Kapazität auszulasten, wurden noch fünf Titel des Albums O sole mio dazu gepackt.

„Granada“, „In mir klingt ein Lied“, „Heute Nacht oder nie“, „Grüß mir die süßen, die reizenden Frauen“ aus Kalmans Operette Gräfin Mariza … Technisch ist am Vortrag nicht herumzumäkeln. Schreier singt ungemein genau, mit perfekt verblendeten Registern und mit absolut sicherer Höhe. Die Töne fließen ihm regelrecht aus der Kehle, und er hat auch hörbaren Spaß an diesem Repertoire. Und doch nimmt man es ihm nicht ab. Es klingt zu gewollt, zu eingeübt, zu verklemmt, nicht selbstverständlich genug. Auch nicht frech, und schon gar nicht erotisch. Was er abliefert, ist hohe Kunst. Als verströmten die süßen Frauen ihre Reize in Kirchenbänken. Noch am meisten überzeugen kann er mit der Arie im alten Stil „Vaghissima sembianza“ von Stefano Donaudy. Verstärkt wird der gemischte Eindruck bei der Wiederbegegnung mit den historischen Aufnahmen von 1977 noch durch die klischeebehafteten und verzuckerten Arrangements von Gerhard Kneifel (1927-1992). Der komponierte Operetten und Revuen und wirkte als Chefarrangeur am Berliner Friedrichstadtpalast. Begleitet wird Peter Schreier vom Großen Rundfunkorchester Berlin unter der Leitung von Robert Hanell. Der Klang der CD ist ohne jeden Tadel. Rüdiger Winter

Lieder-Album als Gesamtkunstwerk

 

Wer turnt denn da auf den Bühnen herum, die in schweren Nebel gehüllt sind? So, als ragten sie nicht aus dem Meer hervor, sondern aus einer Schlucht des Hochgebirges. Ein junger Mann setzt ein Bein vorsichtig vor das andere. Als taste er sich nach vorn, mehr entschlossen und neugierig denn ängstlich. Unter ihm der unberechenbare Abgrund. Am Himmel fliegen schwarze Vögel. Unglücksvögel. Alte Bekannte aus Mythen, Liedern und Opernstoffen. Sie verheißen nichts Gutes. Wird der waghalsige Wanderer sein unbestimmtes Ziel erreichen? Die Abstände, die zu überwinden sind, werden von Mal zu Mal größer. Das Basecap auf seinem Kopf scheint der einzige Schutz bei dem gefährlichen Abenteuer über dem Abgrund zu sein. Nicht der Tenor Ilker Arcayürek geht durch das Bild auf dem Cover seines neuen Albums bei Prospero. Es ist der marokkanischen Foto-Künstler Achraf Baznani auf einem wagehalsigen Selbstporträt. Sein Werk wurde mit Bedacht gewählt für das Programm aus Liedern von Franz Schubert. Der Titel des Coverbildes: Das Unvermeidliche (The Inevitable). 

Wie in einer Galerie sind im Innern des Booklets der aufwändig gestalteten Neuerscheinung weitere Kunstwerke von Baznani zu sehen (PROSP 0009). Die CD selbst ist mit The Path of Life überschriebenen. Es handelt sich um eine Limited Edition mit einer Auflage von tausend. Jedes Exemplar ist handschriftlich nummeriert und damit formal einzigartig. Baznani wird mit den Worten zitiert, er mache keine Fotos, sondern erzähle Geschichten. Gerät bei so viel bildender Kunst die musikalische Seite der Neuerscheinung nicht etwas ins Hintertreffen? Die Frage ist falsch gestellt. Das als kleines Buch mit festem Einband gestaltete Album ist der Versuch, beides zusammenzubringen, für Lieder einen optischen Ausdruck zu finden. An sich ist das nicht neu. Neu ist, dass diese Bilder gegenwärtig sind und Gegenwart illustrieren wollen. So soll und kann uns Schubert noch näher rücken. Mittlerweilen trennen uns bald zweihundert Jahre vom Tod des Komponisten, der nicht annährend so alt wurde wie es seine Interpreten sind. Arcayürek zählt siebenunddreißig Jahre, zweiundvierzig sind der britische Pianist Simon Lepper und Baznani, der aus unerfindlichen Gründen auf dem Cover nicht genannt wird, was bedauerlich, wenn nicht gar peinlich ist.

Der in Istanbul geborene Tenor, der in Wien aufwuchs, schon als Kind in namhaften Chören sang, ist Österreicher und lebt mit seiner Familie in Zürich. Arcayürek hat also gut reden, wenn er seinen eigenen Text im Booklet mit dieser Feststellung beginnt: „Die schweizerische Liebe zum Detail, englische Finesse kombiniert mit Wiener Charme und einem Hauch orientalischer Melancholie machen dieses Album zu dem, was es ist – eine Melange an Emotionen, Kulturen und Epochen.“ Aufgenommen wurde im Juli 2020 im Rundfunkstudio Brunnenhof in Zürich, weshalb auch der SRF unter den Produzenten auftaucht und dafür überschwänglich gelobt wird. Bei der Auswahl gibt sich der Sänger nicht eben bescheiden. Selbstbewusst greift er zu den Meisterstücken aus Schuberts Werkstatt, die einzelnen Kategorien zugeteilt sind: Liebe, Sehnsucht, Suche nach innerem Frieden, ResignationErlösung. Zu den einzelnen Kapiteln gibt es auch ambitionierte aktuelle Deutungsversuche von Richard Stokes, dem renommierten Professor für Kunstlied an der Royal Academy of Music in London. Erfreulich großen Wert legt er auf die Texte, über die sich das Konzept für die Neuerscheinung zuerst und vor allem mitteilt. Stokes mäkelt nicht an jenen Vorlagen herum, die es literarisch nicht mit Friedrich Rückert aufnehmen können. Er respektiert die Auswahl des Komponisten. Bei einigen Titeln hält er mehr inne als bei anderen. So ein Fall ist Der Wanderer mit der berühmten Schlusszeile „Dort, wo du nicht bist, ist das Glück!“, in der die Romantik einen ihrer treffendsten literarischen Ausdrücke fand.

Das Gedicht stammt von Georg Philipp Schmidt von Lübeck (1766-1849). Hauptberuflich war er Kaufmann und brachte es in dänischem Staatsdienst zu hohem Ansehen. Er stammte aus Lübeck und liegt im Hamburger Stadtteil Ottensen neben Klopstock begraben. Schriftsteller war er nebenbei. Sein Gedicht überlebte nicht nur durch Schubert, der es leicht veränderte und den ursprünglichen Titel „Des Fremdlings Abendlied“ verwarf. Der Berliner Oberlehrer Georg Büchmann (1822-1884) hatte die Schlusszeile in seine berühmte Sammlung geflügelter Worte übernommen, die 1864 erstmals erschien und bis in die Gegenwart in unzähligen Auflagen und Ausgaben weitergeführt wurde als eines der Deutschen liebsten Bücher. Es ist als habe sich die Zeile von ihrem Verfasser gelöst. Sogar in Christa Wolfs Novelle Kein Ort. Nirgends über die fiktive Begegnung von Heinrich von Kleist mit Karoline von Günderrode, die beiden den Freitod suchten, ging sie ein.

Eines der Werke des marokkanischen Foto-Künstler Achraf Baznani aus dem Booklet des kunstvoll gestalteten Albums in limitierter Auflage bei Prospero. 

Es darf also geschaut, gelesen und schließlich auch gehört werden. Selten dürfte ein Album so anregend gewesen sein wie dieses. Es ist nichts für Nebenbei oder für den Player im Auto. Ein digitales Angebot, so zeitgemäß es auch sein würde, verfehlte die Wirkung. Als Gesamtkunstwerk fordert die Neuerscheinung viel Aufmerksamkeit ein und kommt vielleicht deshalb gerade richtig in einer Situation, die zu Ruhe und Einkehr zwingt und Besuche von Konzerten so gut wie unmöglich macht. Musikfreunde waren selten so auf sich allein gestellt wie jetzt. Produziert und veröffentlicht in der Pandemie. Es braucht keinen gesonderten Aufdruck auf dem Cover. Man wird sich auch so lange daran erinnern. Die Folgen sind noch nicht absehbar: „The Path of Life“.

Arcayürek, der auch auf der Opernbühne aktiv ist, hat Erfahrung mit Franz Schubert. Bereits 2017 hatte er bei Champs Hill Records London eine ausschließlich diesem Komponisten gewidmete CD vorgelegt. Damals schrieb er im Booklet: „Franz Schuberts Musik und auch die Einsamkeit begleiten mich seit meiner Kindheit. Einsamkeit kann aus meiner Sicht durch viele Begebenheiten entstehen – durch Liebeskummer, einen Verlust, aber auch durch Umzug in ein neues Land.“ Die Vielfalt in Schuberts Gefühlswelt und seiner Musik hätten ihn „schon früh in ihren Bann gezogen“. Daran knüpft er nun an: „Wir hatten die Intention, ein Programm zu kreieren, das wie ein langes, durchgehendes Lied zum Erklingen gebracht wird: Dieser emotionalen Aufgabe habe ich mich gestellt, in dem ich jedes Lied persönlich nehme und auf mich beziehe.“ Junge Sänger, die auch gern in den sozialen Medien unterwegs sind, neigen zur Mitteilsamkeit wie es sie früher nicht gab. Sie sind viel offener als jene Künstler es waren, die ihre Groß- oder Urgroßeltern sein könnten. Sie haben kein Problem damit, sich zu ihren Gefühlen und Herzensangelegenheiten zu bekennen. Hohe Kunst des Liedgesangs wird mit ganz konkreter Lebens- und Alltagserfahrung angereichert. So muss man sich um den Fortbestand des Genres nicht sorgen. Nie gab es so viele Lieder auf dem Musikmarkt wie jetzt. Auch wenn Arcayürek seine neue CD mit achtzehn Liedern als fließendes in sich verbundenes Stück verstanden wissen möchte, gelingen die einzelnen Titel auf durchaus unterschiedliche individuelle Weise.

Franz Schubert: So idealistisch porträtierte ihn der Maler Wilhelm August Rieder 1875 nach einer Aquarellvorlage von 1825/ Wikipedia

Der Auftakt mit der sehr bewegten Fischerweise klingt etwas belegt. Bereits beim Liebhaber in allen Gestalten auf Platz zwei verfliegt dieser Eindruck. Nun würde man sich den Aufstieg zur Höhe etwas eleganter wünschen. Obwohl nicht klar wird, in welcher Reihenfolge die Lieder aufgenommen wurden, bleibt der Eindruck, als müsse der Solist erst hineinfinden in seine Aufgabe. Mit Alinde gelingt eine erste Glanzleistung. Unterstützt von seinem Pianisten findet er für die unterschiedlichen balladesken Szenen, in denen mit wörtlicher Rede nicht gespart wird, auch rhythmisch angemessene Ausdrucksformen. Die Geschichte, die bei Sonnenuntergang beginnt und in „schwarzer Nacht“ endet, verlangt nach viel Farbe in der Stimme. Arcayürek hat sie zu bieten – und zwar reichlich. Du bist die Ruh wäre ein Lehrbeispiel für Legato, würde die Steigerung – wie in einigen anderen Liedern auch – etwas weniger forciert ausfallen. Für Ausdruck wird schon mal Schönheit geopfert. Eine Reihenfolge, die nicht die schlechteste ist für einen Liedsänger, der sich abheben will ohne abgehoben zu sein.

Zu den großen Vorzügen dieses Tenors gehört die Klarheit seines Vortrags. Seine auch schriftlich formulierten hohen Ansprüche an die Lieder gingen ins Leere, wäre nicht jedes Wort zu verstehen. Ein Vorzug, der heutzutage nicht immer selbstverständlich ist. Dabei unterstützt ihn Simon Lepper, sein hochsensibler Pianist, der den Sänger nicht vor sich her treibt sondern ihm Halt und Sicherheit gibt. Der Wanderer mit der berühmten letzten Zeile ist nach Des Fischers Liebesglück und Der Unglückliche mit gut fünf Minuten eines der längsten Lieder. Für mich stellt es den Höhepunkt des Programms dar. Es versammelt Begabung, Talent und Individualität des Tenors Ilker Arcayürek wie in einem Brennspiegel. Wer sich ein Bild von ihm machen will, wer herausfinden möchte, was er kann, wird hier fündig. Oder sollte ich mich am Ende nicht doch für die melancholischen Götter Griechenlands entscheiden? Rüdiger Winter

 

Das Foto oben zeigt den Tenor Ilker Arcayürek. Wir entnahmen es als Ausschnitt dem Booklet des neuen Albums „The Path of Life“. 

Renée Doria

 

Die beeindruckende Koloratursopranistin Renée Doria, die am 6. März 2021 im Alter von 100 Jahren verstarb, traf ich mehrfach in Paris an der Seite ihres Mannes, dem Plattenproduzenten und Inhaber des Labels Malibran, Guy Dumazert. In einem stilvollen Restaurant irgendwo in der Rue Blanche hatte ich das große Vergnügen, die entzückende ältere Dame (und eine Dame war sie, wie man sie nur in Frankreich trifft: in einem schicken Zweiteiler in Pepita, dazu ein frecher kleiner schwarzer Hut mit gepunktetem Schleier, très  elegante) mir gegenüber zu sehen, ihrem rapidem Redefluss zu folgen, ihre charmanten Sottisen zu hören und mich im ganzen einfach zu freuen, diese Person der französischen Gesangsgeschichte treffen zu dürfen. Der Gatte warf ab und zu ein paar Worte ein, Madame besorgte die Unterhaltung, einfach überwältigend in Temperament und Charme.

Renée Doria als Thais/ artlyriquefr.fr

Und wieder hatte ich mein Aufnahmegerät nicht dabei, was mich heute sehr ärgert, denn beide verkörperten wirklich eine Epoche des französischen Gesangslebens, das nun ausgestorben ist. Sie hatte mit allen gesungen, die mir lieb waren und die in Frankreich zu den großen nationalen Sängern gehörten. Die aber auch – wie sie und viele andere (etwa Vanzo, Crespin, Brumaire, Massard, Esposito, Haas, Lovano, Vessières und viele viele mehr) die Flurbereinigung durch den Neubeginn der Pariser Oper durch Rolf Liebermann nicht überlebt hatten. Der brachte 1973 seine eigenen internationalen Sänger mit (monströse Aufführungen die die Monteverdische  Poppea mit Jones, Ludwig und Vickers zeugen davon) und verdrängte die nationalen Sänger in die Provinz. Marseille oder Lyon profitierten zwar davon, mehr aber noch der nationale Rundfunk, wo auch die Doria viel und Gottseidank gut dokumentiert aufgenommen hat. Aber mit dieser Verdrängung starb ganz allmählich das nationale Repertoire, denn auch die Provinzbühnen eiferten im zentralistisch orientierten Frankreich der Metropole nach und brachten langsam aber sicher nur noch die internationalen Werke (und die in Originalsprache)  und weniger die französischen. Gab es früher auch die großen Opern Frankreichs fast an jeder Ecke so ist heute ein Fervaal D´Indys oder eine Salammbô Reyers eine absolute Seltenheit und Stoff nur noch für Festivals wie Montpellier. Schon Meyerbeers Werke sind selten, einzig Toulouse ist auf dem Gebiet tätig.

Renée Doria als Viloetta/artlyriquefr.fr

Renée Doria stand und steht für eben diese Grand Tradition, das große französische Repertoire, wie es Guy Dumazert auf sein en verschiedenen Labels (darunter auch früher  das LP-Label Vega und andere mit seinen schönen Ausgaben und tollen Besetzungen) auf Malibran versuchte im Katalog zu behalten. Die Doria war eine zupackende Fanny Legrand in der Massenetschen Sapho, eine flirrende Thais, eine verführerische Violetta und Lucia oder Mireille. Sicher, man muss sich an diesen gewissen Essigton in der hochgelagerten Sopranstimme voller Entschlossenheit gewöhnen, aber den hat sie mit manchen ihrer Kolleginnen gemein und der ist durch die Sprache bestimmt, die im Ganzen ja höher liegt als vergleichsweise Deutsch. Ihre Diktion war exemplarisch, ihre Rollenauslegung sehr individuell. Sie gehörte ganz zweifellos zu den großen Gesangsstars der französischen Nachkriegsszene, wenngleich ihr das Wort „Star“ sicher fremd gewesen wäre. Sie war eine Diva, als ich sie in den Achtzigern traf, eine im altmodischen, europäischen Sinn mit Stil und Klasse, eben eine ganz wunderbare französische Grande Dame. G. H. 

 

Im Folgenden ein Auszug aus dem verdienstvollen Wikipedia. Renée Doria (* 13. Februar 2021,  in Perpignan, Département Pyrénées-Orientales; † 6. März 2021in La Celle-sur-Morin, Département Seine-et-Marne) war eine französische Opernsängerin (Sopran). Sie wurde hauptsächlich als Koloratursängerin in französischen und italienischen Opern bekannt.

Renée Doria,im südfranzösischen Perpignan geboren, erhielt eine umfassende musikalische Ausbildung in Musik- und Harmonielehre. Sie lernte außerdem Klavier und nahm Gesangsstunden bei Umberto Valdarmini. Noch vor ihrem offiziellen Debüt sang sie im Dezember 1937 in Prades, wo sie dem Kreis um Pablo Casals angehörte, in einer konzertanten Aufführung der Oper Orphée et Euridice als Einspringerin für eine erkrankte Sängerkollegin die Rolle der Eurydike an der Seite von Alice Raveau. Im Alter von 18 Jahren gab sie in Marseille ihr erstes Konzert gemeinsam mit dem Tenor César Vezzani.Außerdem erhielt sie Bühnenunterricht bei dem Bariton Vanni Marcoux. Der Dirigent und Massenet-Schüler Paul Bastide (1879–1962) hörte sie und engagierte sie als Solistin nach Marseille.

Renée Doria als Mireille/ artlyriquefr.fr

Ihr offizielles Operndebüt erfolgte im Januar 1942 am Opernhaus von Marseille mit der Rolle der Rosina in Der Barbier von Sevilla, in der sie großen Erfolg hatte, und dort anschließend sofort das Angebot erhielt, für eine erkrankte Kollegin die Rolle der Olympia in Hoffmanns Erzählungen zu übernehmen. 1942 sang sie in Cannes unter der Leitung von Reynaldo Hahn die Konstanze in Die Entführung aus dem Serail. Es folgten Engagements an der Opéra National de Lyon (Mai/Oktober 1942 als Rosina) und am Opernhaus von Toulouse (November/Dezember 1942).

1943 ging sie nach Paris und debütierte dort im April 1943 zunächst am Théâtre de la Gaîté als Titelheldin in Lakmé von Léo Delibes und anschließend im Mai 1944[5], ebenfalls als Lakmé, an der Opéra-Comique.[2][3] An der Opéra-Comique hatte sie in den folgenden Jahren eine große Karriere als Koloratursängerin. Im April 1955 sang sie dort die Philine in der 2000. Vorstellung der Oper Mignon. Bis 1959 interpretierte sie an Opéra-Comique lyrisch-dramatische Koloraturpartien wie Manon, die sie mit Paul Bastide einstudiert hatte, Traviata, die Mireille in der gleichnamigen Oper von Charles Gounod, Leïla in Die Perlenfischer und die Norina (an der Spielstätte im Théâtre du Châtelet). Zu ihren wichtigsten Bühnenpartnern gehörten Luis Mariano, Mario Altéry und Tito Schipa.

Ihr Debüt an der Pariser Oper hatte sie im Januar 1947 als Königin der Nacht in Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Die Zauberflöte. In der 900. Aufführung der Oper Rigoletto übernahm sie dort im August 1956 die Rolle der Gilda. Sie sang an der Pariser Oper auch die Violetta (mit Alain Vanzo und Ernest Blanc als Partnern), Sophie in Der Rosenkavalier (Saison 1957/58), sowie die Hébé in Les Indes galantes (Premiere: Dezember 1955) und die Blanche in den Dialogues des Carmélites.

Doria sang im Verlauf ihrer Karriere an den großen Opernbühnen in Frankreich, Belgien und der Schweiz. Sie gastierte an der Opéra du Rhin in Straßburg (u. a. in den drei weiblichen Partien in Hoffmanns Erzählungen), an den französischen Opernhäusern in Toulon, Tours, Vichy, Bordeaux, Dijon, Nizza und Nîmes, an der Flämischen Oper in Antwerpen und in Brüssel. In Straßburg trat sie auch als Fiordiligì, Susanna, Pamina, Ophelia, als Gräfin in Le comte Ory (1961) und als Concepción in Die spanische Stunde auf. International gastierte sie auf Einladung von Vanni Marcoux auch in Italien und den Niederlanden, wo sie die Marguerite (Faust), die Juliette und die Titelrolle in Lucia di Lammermoor sang. Gastspiele gab sie auch in Tunesien (November 1954) und in Oran (Algerien).

Ende der 60er Jahre zog sich Doria von der Opernbühne zurück und war im pädagogischen Bereich als Gesangslehrerin am Pariser Konservatorium tätig, lehnte es jedoch ab, Meisterklassen zu geben. Sie trat jedoch weiterhin bei Konzerten auf und machte Schallplattenaufnahmen. Ihre Karriere dauerte sehr lange. Erst 1981 gab sie ihre Karriere als Sängerin endgültig auf. Renée Doria starb am 6. März 2021 im Alter von 100 Jahren in La Celle-sur-Morin in der Nähe von Paris.

Repertoire und Tondokumente: Neben ihren Opernrollen, hauptsächlich im französischen und italienischen Repertoire, sang Doria auch Barockmusik sowie einige zeitgenössische Werke. Während ihrer Karriere, die mehr als 35 Jahre umfasste, sang sie über 70 verschiedene Bühnenrollen in vier Sprachen.[4] Zu ihren besonderen „Glanzpartien“ gehörten insbesondere die Frauenrollen (Olympia/Antonia/Giulietta) in Hoffmanns Erzählungen, wo sie bei späteren Engagements stets darauf bestand, alle drei Rollen zu singen, und nicht nur die Koloraturpartie der Olympia.

Einige ihrer Rollen spielte sie auch für die Schallplatte ein. Renée Doria machte mehrere komplette Studioaufnahmen, u. a. als Olympia in Hoffmanns Erzählungen (1948/50, Dirigent: André Cluytens), als Mireille (1955, Dirigent: Jésus Etcheverry) und in der Titelrolle von Thais (1961, Dirigent: Jésus Etcheverry). 1976/77 sang sie in der ersten vollständigen Schallplattenaufnahme der Oper Sapho (1978, bei EMI France veröffentlicht) die Rolle der Fanny Legrand. 1982 erschien eine 1980 aufgenommene Arien-Platte, 1993 schließlich noch eine Schallplatte mit Liedaufnahmen. Außerdem existieren mehrere Live-Mitschnitte.

Ab 1944 wirkte sie auch in Rundfunksendungen von Radio Nationale France mit. Bei Rundfunkaufnahmen sang sie 125 verschiedene Rollen und war im Verlauf ihrer Karriere insgesamt in über 2.500 Aufführungen auf der Bühne und im Rundfunk zu hören. 1946 sang sie in der ersten Opernproduktion des Französischen Fernsehens die Rosina in Der Barbier von Sevilla. (Quelle Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9e_Doria; alle Fotos artlyriquefr.fr)

Franco Alfanos „Risurrezione“

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„Mit jener Nacht begann für Nehlyudoff ein völlig neues Leben, und zwar weniger infolge der veränderten Bedingungen seines Lebens, sondern deshalb, weil alles, was er erlebte, für ihn fortan eine ganz andere Bedeutung gewann als früher. Womit dieser neue Abschnitt seines Lebens enden wird, das wird die Zukunft lehren“, heißt es am Ende von Lew Tolstois umfangreichem Roman Auferstehung von 1899. Für den reichen Fürsten Dimitri Nehlyudoff, der vor Jahren die damals 16jährige Katjuscha verführte und schwängerte, bedeutet dies laut Tolstois Appell an Menschlichkeit und Nächstenliebe eine Umkehr zum wahren Leben. Franco Alfanos vieraktiges Drama, das nur fünf Jahre nach dem Roman am Teatro Vittorio Emanuele in Turin unter Leitung des erst 25jährigen Tullio Serafin auf die Opernbühne gelangte, endet die Liebe Katjuschas und Dimitris in der Erkenntnis, dass es ein gemeinsames Leben nicht geben wird, doch gleichwohl mit einem großen Liebesduett, das zu den Höhepunkten der zweistündigen Partitur gehört. Hier erreicht der 29jährige Alfano mit seiner in Paris, Berlin, Moskau und Neapel komponierten Oper – der dritten nach seinem unveröffentlichten Erstling und der in Breslau uraufgeführten Quelle von Enschir – eine Macht der sinfonisch-sängerischen Überwältigung, die sich auch in der Aufführung am Teatro del Maggio Fiorentino im Januar 2020 mitteilte.

„Risurezzione“: Szene aus der Florentiner Produktion 2020/ TMF

Da bedauert man, dass diese Oper irgendwann in den 1970er Jahren von den Bühnen verschwand – gut, Mazzola-Gavazzeni hat sie 2002 konzertant in Montpellier gesungen (und bei Accoird veröffentlich), in Freiberg habe ich sie 2010 gesehen – nachdem späte Verismo-Diven wie Virginia Zeani 1975 in Neapel, Olivia Stapp 1976 in Cagliari und natürlich Magda Olivero abgedankt hatten (davor die Diven wie Carla Gavazzi , Anna de Cavalieri sowie Mary Garden und Gianna Pederzini) , die die Katjuscha mehrfach sang, erstmals 1937 und zuletzt 1971 (jeweils für die RAI) und dazwischen auf den Bühnen in Turin und Lissabon; neben ihrer Hingabe für Cilea übersieht man leicht, dass Olivero eine eminente Alfano-Interpretin war und auch in Sakuntala, L’ultimo Lord und Cyrano de Bergerac gesungen hat. Schwer zu sagen, ob die Aufführung in Florenz eine Auferstehung einläutet. Der Musik fehlt es, bei aller Steigerungsfähigkeit und Farbigkeit an Kohärenz, wobei man anerkennen muss, dass Alfano von Risurrezione bis Cyrano und vor allem über die beiden Versionen der Sakuntala einen ganz eigen spezifischen Ton findet, der wenig mit der gängigen Vorstellung von Verismo gemein hat.

„Risurrezione“: Szene Florenz 2020/ TMF

Allerdings herrscht im spätromantischen Sprechsingen, mit dem das umfangreiche Personal beschäftigt wird, auch routiniertes Deklamieren. Den Text ließ sich Alfano von Cesare Hanau schreiben, da Henry Bataille, dessen Dramatisierung Alfano in Paris auf der Bühne erlebt hatte, zu hohe Urheberrechte verlangte. Herausgekommen ist ein relativ konventionelles bürgerliches Drama. Vier Akte, zwischen denen viel passiert und angedeutet werden muss, vier Stationen, die im Salon von Dimitris Tante Sofia Ivanova spielen, auf einer kleinen Bahnstation, wo die inzwischen aus dem Haus geworfene Katyuscha vergebens Dimitri zu sprechen versucht, in einem Gefängnis in St. Petersburg, wo Katyuscha von einem Gericht, dem auch Dimitri angehört, unschuldig eines Mordes beschuldigt und nach Sibirien verbannt wird, – Giordanos Auferstehungs-Oper Siberia nimmt darauf Bezug – worauf Dimitri sich seiner Schuld bewusst wird und sie heiraten will, und schließlich auf einer Straße in Sibirien, wo die Liebenden spüren, dass sie nur durch Entsagung ihrer Liebe „neu geboren“ und Erlösung finden werden. Die beiden letzten Bilder erinnern mit den gefangenen Frauen und den Rufen der Soldaten und schließlich der leeren Straße an Manon Lescaut. Szenisch und musikalisch ergibt sich trotz des dramaturgischen Flickwerks schlüssig der Leidensweg der Hauptfigur.

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Getragen und gegangen werden muss er von der Sängerin der Katjuscha, was Anne Sophie Duprels ganz gut gelingt. Sie hat die Katyuscha bereits 2017 in Wexford gesungen, von wo auch Rosetta Cucchis Inszenierung an den Arno entliehen wurde. Duprels hat keine große, keine bedeutende Stimme, verfügt aber über viel sängerische Energie, die aus dem opaken Timbre und der festen Höhe Kapital für eine intensive Darstellung schlägt, vor derben Schreien nicht zurückschreckt und zentrale Momente wie ihre Arie im zweiten Akt „Dio pietoso“ zu guter Wirkung bringt. Matthew Vickers, dem neben einem Arioso im dritten Akt zwei bedeutende Duette mit Katjuscha zufallen, hat trotz prächtiger Töne nicht die vokale Statur für die Partie. Den Mitgefangenen Simonson, den Katjuscha heiraten wird, obwohl sie immer noch Dimitri liebt, gibt Leon Kim mit Gewinn. Mit seinen beiden Arien im vierten Akt, darunter „Quando la vidi“, setzte er würdige Ruhepunkte; doch vor allem die vielen kleinen Partien – darunter Francesca Di Sauro als Sofia Ivanova – wirken gut und prägnant besetzt. Francesco Lanzilotta und Coro und Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino laden das musikalische Geschehen emotional auf und besitzen genügend Gespür für das elektizistische Gewirk und die feinen impressionistischen Stimmungen an den Aktenden.

Wirkungsvolle, aufrüttelnde und symbolträchtige Szenen sind Rosetta Cucchi gelungen, die vom ersten Akt, den das Bild des leidenden Dämonen Mikhail Vrubels als Hinweis auf Katjuschas Dämonen Dimitri beherrscht, über die verschneite Bahnstation bis zu dem finsteren Bretterverschlag als Gefängnis reichen. Und bis sich endlich zum Schlußchor „Cristo è risuscitato!“ ein strahlendes Kornfeld im Lichtkreis auftut, auf den Katjuscha mit einem Mädchen zuschreitet (das Kind, das sie verloren hat?). Ein bisschen kitschig, aber schön. Das ist handwerklich gut gemacht und gleicht durch die kluge Bildregie (Dynamic 57866) aus, was den rampennahen Bühnenbildern von Tiziano Santi an Tiefe fehlt und auf der weiträumigen Bühne des Florentiner Opernhauses gelegentlich wie in einem Puppenhaus wirkt.  R.F.

 Und für den, der lieber nur Hören und seinem Kopfkino freien Lauf lassen möchte gibt’s, mit Libretto und einführendem Aufsatz auch das Ganze als audio-only auf 2 CD von Dynamic (CDS7866.02), wie unterschiedlich doch Musik mit und ohne Szene wirkt (Foto oben, Szene aus der rezensierten Produktion des Maggio Musicale Florentino/Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) . G. H.

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„Risurrezione“: Denia Mazzoila-Gavazzeni in Montpellier unter Leitung von Friedemann Layer/ OFMP

Dazu ein Artikel zum Werk und zum Komponisten von Cesare Orselli: Der Neapolitaner Franco Alfano (1875-1954), der der Opernöffentlichkeit fast nur für seinen Ergänzung des finalen Duetts von Puccinis Turandot bekannt ist (obwohl kürzlich die Wiederbelebung von Werken wie La leggenda di Sakuntala und sogar Cyrano di Bergerac auch an der Met Interesse und Bewunderung geweckt hat), etablierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der am 30. November 1904 im Vittorio Emanuele-Theater in Turin unter der Leitung von Tullio Serafin uraufgeführten Risurrezione, welche einen gut ausgebildeten Komponisten erkennen ließ. Nach seinem Studium am S. Pietro a Majella-Konservatorium in Neapel hatte Alfano die Kompositionsschule von Salomon Jadassohn am Konservatorium in Leipzig besucht, das damals als europäische Musikhauptstadt galt, und sich in Berlin nicht nur dem Klavier- und Kammerlied gewidmet, sondern auch dem Theater. Bereits 1896 hatte er sich mit Miranda der Oper genähert, die an einen Roman von Fogazzaro angelehnt war, und 1898 komponierte er die arabische Fantasie La fonte di Enschir nach einem Libretto von Illica, die in Breslau „mit einem unbestrittenen Erfolg“ inszeniert wurde. Die glückliche Begegnung mit der Inspirationsquelle für Risurrezione (bis 1951 zählte die Oper rund 1.000 Aufführungen auf der ganzen Welt) stammt aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts: Er zog 1899 nach Paris, wo er seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Ballett-Pantomimen für die Folies-Bergère verdiente.

„Risurrezione“: Mary Garden feierte auch mit der Katyusha Triumpfe/Dover

Alfano las „in einem Atemzug“ Tolstois Auferstehung und eine 1902 Bühnenadaption davon von Henry Bataille, die für eine seinerzeit berühmte Schauspielerin, Berthe Bady, bestimmt war, und beschloss, die Geschichte in eine Oper zu verwandeln. Alfanos Begeisterung spiegelt das Vordringen der russischen Literatur in Europa zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des neuen Jahrhunderts wider, als Tolstois und Dostojewskis große historisch-soziale Fresken sowohl bei der Bourgeoisie als auch beim einfachen Volk zur bevorzugten Literatur wurden und eine Mode etablierten, die sich auch auf die Oper ausdehnte, wobei Werke wie Giordanos Fedra (1898) und Sibiria (1903) zu erfolgreichen Modellen wurden, die nachgeahmt werden mussten. Bereits 1899 dachte Puccini über Dostojewskis Totenhaus nach und plante nach der Butterfly ein Triptychon mit einzelnen Akten von Gorki. Leoncavallo zog den Stoff seiner Zingari aus einem Erzählgedicht von Puschkin; und Respighi ließ Alberto Donini für ihn Al mulino (den er niemals vertonen sollte) schreiben, der in Russland unter Popen und Leibeigenen spielt.

„Risurrezione“: Franco Alfano mit Hund/ Ricordi

Der junge Alfano machte sich „feurig“ an die Arbeit an einem „Libretto in Prosa, einer rhythmischen, einfachen, klaren Prosa“, das von zwei in Paris ansässigen Journalisten, Camillo Antona Traversi und Cesare Hanau, geschrieben wurde (nur Hanau würde das Libretto unterschreiben). Innerhalb von fünf Monaten wurde in Paris, Berlin, Moskau und seiner Heimatstadt Posillipo die Oper fertiggestellt. Später, für eine Aufführung an der Scala (März 1906), machte Alfano „Kürzungen, die durch die passende Gelegenheit der Bühne angeregt wurden“, und andere Modifikationen wurden für eine Aufführung in Berlin (Oktober 1909) vorgenommen. In Hanau-Alfanos Risurrezione wurde der Prolog La nuit de Pâques, der Batailles Bühnenbearbeitung eröffnete, zum ersten Akt: Bevor Fürst Dimitri Nehlyudov an die Front geht, kehrt er zu Ostern nach Hause zurück und sieht noch einmal die Waise Katyusha, eine Magd seiner Tante, in die er sich in der Vergangenheit verliebt hat. Eine großartige Liebesszene besiegelt ihre neue Begegnung und Katyushas Verführung.

„Risurrezione“: Jahrelang die einzige Aufnahme, mit Magda Olivero

Im zweiten Akt („Am Bahnhof. Es ist Nacht. Es schneit“, heißt es in der Bildunterschrift) sehen wir das Drama von Katyusha, die in Erwartung von Dimitris Kind vergeblich versucht, mit ihm zu sprechen, denn er verlässt sie mit einer anderen Frau. Die Szene des Prozesses von Katyusha, die inzwischen zur Prostituierten geworden ist und in welchem sie wegen Vergiftung eines Klienten unschuldig verurteilt wird, wurde gestrichen. Der dritte Akt bringt uns ins Gefängnis, wo der reuige Dimitri nach Katyusha sucht und vorschlägt, sie zu heiraten, aber von der verzweifelten und erniedrigten Frau abgelehnt wird. Der vierte Akt spielt „in einem Lager politischer Deportierter auf dem Wege nach Sibirien“: Dimitri hat Katyusha erneut eingeholt, aber sie gibt ihn auf, obwohl sie ihn liebt, und heiratet lieber Simonson, einen politischen Sträfling, um ein neues Leben der Erlösung in der Zwangsarbeit zu beginnen.

„Risurrezione“: Sophia Larson sang die Katyusha in Palermo/ Larson

Die endgültige Fassung dieser Oper ist von Randepisoden und charakteristischen Nebenfiguren befreit und konzentriert sich auf die Liebesgeschichte. Sie gibt alle literarischen Vorhänge auf und hält an der Logik einer prägnanten Dramaturgie fest. Der russische Rahmen der Oper ist lebendig und farbenfroh, von den volkstümlichen Ostergesängen bis zu den Liedern der Deportierten nach Sibirien, doch scheint Alfano stark von der Figur der Katyusha angezogen zu sein, die wie einige der weiblichen Figuren von Puccini und Giordano (Manon oder Stephana in Sibiria) tendenziell als einzige Protagonistin auftritt, wobei ihre Leidenschaft und ihr Leiden durch ein feuriges, lyrisch-dramatisches Sopranregister unterstrichen werden. Um uns eine „positive“ Heldin zu zeigen, entfernte Alfano die rauen Passagen, wie die Erzählung ihrer Liebe in einem Bordell, die Erinnerung an ihr totes Kind und ihre heftigen Reaktionen auf den Fürsten. Und auch von Dimitri, dem verliebten Tenor, bietet Alfano, der sein bürgerliches Publikum nicht stören wollte, das Portrait eines reuigen Mannes an und beseitigt alles Vorwurfsvolle, wie im ersten Akt die Episode der Briefe seiner Liebhaberinnen, die ihn als unverbesserlichen Verführer präsentieren würden; im zweiten Akt die Episode der Begegnung mit einer anderen Frau im Zug; und im dritten Akt verkürzt Alfano es auf einige Zeilen, als der Fürst offenbart, einer der Richter gewesen zu sein, die Katyusha verurteilten. Die Liebesgeschichte verbindet sich mit einer starken sozialen Polemik, der Darstellung des Zusammenprallens verschiedener Klassen, der Ungerechtigkeit der Gerichte sowie der menschlichen Erniedrigung in Gefängnissen. Aber diese Denunziation trägt die Botschaft eines humanitären und barmherzigen Christentums, das den Kurs des Sünders vom Irrtum zur Auferstehung versteht und ihm folgt: So findet Alfanos Katyusha Erlösung durch Opfer, wie die Sünderin Kundry und Maria Magdalena in den Evangelien.

„Risurrezione“: Auch Carla Gavazzi war eine bedeutende Katyusha/ OBA

Bei der Vertonung dieser Geschichte hat Alfano nicht die Opernstruktur geschlossener Nummern berücksichtigt, sondern eine „rhythmische Prosa“ gewählt, einen ununterbrochenen Fluss, der von der elementarsten Form, fast gesprochenen Worten, zu Momenten hochfliegender Lyrik und – in den dramatischen Passagen – hämmernder Spannung in Richtung des hohen Registers reicht. Eine freie, asymmetrische Konstruktion (aus der großen sinfonischen Tradition und von Strauss) biegt seinen etwas „neapolitanischen“ Trainingsstil zu Melodien, die fast immer kurz sind, eher ein Aufflackern als Themen, während ein sich auf dem neuesten Stande befindliches Orchester voller französischer Obertöne, modaler Abfolgen und Ganztonskalen beinahe als Protagonist der Partitur erscheint. Giordanos Einfluss ist auch stark, so dass jede Phrase des Librettos durch prägnante instrumentale Gesten, zweckgebundene Zeichen gefärbt ist, die die breiten Stimmbögen ersetzen: Risurrezione ist also wie ein musikalischer Roman, eine angespannte Reihe von Segmenten in schneller Folge mit starkem Kontrast und mächtigen Effekten. Sogar die drei großen Duette zwischen Katyusha und Dimitri (erster, dritter und vierter Akt) bestehen trotz der Momente ansteigender Lyrik aus plötzlichem Aufflammen und schnellen Facetten; und wo, wenn nicht in der Bahnhofsszene, gibt es Raum für ausdrucksstarke Ergüsse, nämlich Katyushas wunderschönes Arioso Dio pietoso, das zu Recht zu einem Konzertstück geworden ist.

„Risurrezione“: Nicht zu vergessen die große Sängerin Gianna Pederzini, 1942 an der römischen Oper/ Archivio storico dell´Opera die Roma

Sehr eindrucksvoll ist auch die Beschreibung der eiskalten sibirischen Landschaft mit einem Oboensolo voll russischer Atmosphäre, dem letzten Tableau; die überzeugendsten Momente finden sich jedoch im ersten Aufzug, in welchem die ruhige menschliche Landschaft, die die jugendliche Katyusha umgibt, in zarten Farben beschrieben wird und sie sich Dimitris Verführung sinnlich hingibt, umrahmt von russisch klingenden Gesängen, die den auferstandenen Christus begrüßen. Der zweite Akt zeigt Alfano von seiner besten Seite. Hier kann das Orchester während des kurzen Vorspiels eine beständig dunkle und bedrohliche Atmosphäre heraufbeschwören, ein Gefühl der Kälte, und die Präsenz des Zuges, der wie ein Monster über Katyushas Geschichte mit einer Art Lautmalerei auftaucht, die seine Bewegung suggeriert: ein mühsames Atmen, fast eine Übertragung der gequälten Seele der Frau. In diesem kurzen Akt, nahezu einem heißblütigen, ununterbrochenen Monolog, erreicht die Protagonistin allein Momente tragischer Statur, die Auferstehung bezwingend – auch dank außergewöhnlicher Interpretinnen wie Mary Garden und Magda Olivero –, ein Ort des Respekts im Theater des frühen 20. Jahrhunderts. Ein weiterer sehr ergreifender Moment findet sich am Ende des vierten Aktes, wo die Idee der Erlösung durch die Rückkehr des im ersten Akt gehörten Ostergesangs nahegelegt wird, eine Art leuchtende idée fixe, die zurückkehrt, um den Beginn eines neuen Lebens des Opfers und Verzichts anzuzeigen: Ein einfacher, aber wirksamer Mechanismus, angemessen betont und psalmodifizierend, der sich Thomas Manns beißender Meinung der „titanischen Unbeholfenheit zu nähern scheint, die Tolstois Werk eine enorme epische Kraft verleiht“ und einer Idee Ausdruck verleiht, die Alfano in seinen Memoiren hinterlassen hat: „Ich habe mich von Katastrophen zurückgezogen und glaubte und glaube immer noch an die Erneuerung, Regeneration und endgültige Reinigung der menschlichen Leidenschaften vom Bösen zum Guten.“ Cesare Orselli (Den vorstehenden Artikel entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Booklet zur CD-Ausgabe. Übersetzung Daniel Hauser)

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

Vielversprechend

 

Nicht immer ist es zum Vorteil einer CD, wenn der aufgenommen habende Künstler sich zu ihr äußert, auch wenn sein Mitteilungsbedürfnis besonders dann verständlich ist, wenn er die Aufnahme selbst bezahlt hat. So verhält es sich auch bei Katharina Konradis Lied-CD mit Werken von Strauss, Mozart und Schubert mit dem Titel Liebende besonders mit Liedern, die nicht allzu bekannt sind, sieht man einmal vom populären Veilchen ab. Das Gespräch nicht nur mit der Sängerin, sondern auch mit ihrem vorzüglichen Pianisten Daniel Heide erweist sich aber als durchaus den Leser bereichernd, er weist auf das Silbrige in ihrem Sopran hin, sie begründet die Wahl der drei Komponisten damit, dass alle drei die Stimme zum Strahlen bringen, ihre Suche nach Schlichtheit und Ehrlichkeit im Lied belohnen.

Es beginnt mit dem Strauss-Lied Die erwachte Rose, das gleich mit dem ersten Ton an Sophie bei der Überreichung der silbernen Rose denken lässt, mit tatsächlich silbernem Klang, stets knospenhaft bleibend, wenn nicht ein Wort wie „Staunen“ die Stimme zu zartem Erblühen bringt. Außer der Schönheit des Timbres konstatiert der Hörer allerdings auch die konsonantenfeindliche Darbietung, das Verhuschte des Singens, das das Verfolgen des Textes mit dem Booklet unbedingt notwendig macht.  Du meines Herzens Krönelein verlangt und bekommt einen wärmeren Klang, die Stimme blüht auf „erfreut“ auf, ein feiner Akzent wird bei „doch“ gesetzt. In Schlagende Herzen gibt es einen schönen Jubelton, beim wiederholten „kling-klang“ vermeint man eine Glocke zu hören. In Ich schwebe bewundert der Hörer die Reinheit der Stimme, erweist sich das Pianissimo in der Höhe als gut gestützt. Voll innerer Spannung trotz scheinbarer Monotonie präsentiert sich Leises Lied und keck bubenhaft und damit von einer ganz anderen Seite präsentiert sich die Sängerin in Hat gesagt.

Viele der Lieder haben nur wegen der ihnen zugedachten Musik überlebt, während der Text teilweise kaum noch goutierbar ist. Das gilt auch für Mozarts Abendempfindung, wo der Text durch das Unprätenziöse des Vortrags, durch die schlichte Getragenheit erträglich wird. Eine zarte, aber farben- und facettenreiche Stimme offenbart sich in Lied der Freiheit, kontrastreicher hätte man sich Zufriedenheit gewünscht, genau der richtige Ton wird für Warnung getroffen. Ideal sind Stimmmaterial und Vortrag für das berühmte Veilchen, dem die silberhelle Höhe ganz besonders gut tut. Der Sopran kann auch einen elegischen Klang annehmen wie in Lied der Trennung, die Ausgewogenheit zwischen Dramatik  und Distanz wird dem Lied voll gerecht.

Schöne Bögen hat Katharina Konradi für Schuberts Luisens Antwort, zu verhuscht klingt allerdings das erste der beiden Lieder auf Texte von Marianne von Willemer, der Briefpartnerin Goethes. Da hat der Hörer nicht nur einen ganz anderen Frauen- und damit Stimmtyp in seiner Vorstellung, da erwartet er keine zarte Mädchen, sondern eine einfach üppigere Frauenstimme. Zauberhaft klingt die der Konradi in An die Nachtigall, und dramatischer kann sie werden, ohne die vokale Façon zu verlieren, wenn sie das Schicksal der Jungen Nonne nachzeichnet. Alles um Liebe, das den Schluss der CD bildet, beweist, wie variationsreich man das Wort „Liebe“ zu Gehör bringen kann. In ihrem Fach, dem des soprano leggero, berechtigt Katharina Konradi zu den schönsten Hoffnungen (3 new generation artists 8553171). Ingrid Wanja

Von Engeln und barocker Trauer

 

Engelsmusik mit Sopran und Zink: Engel finden auch in säkularen Zeiten und Gesellschaften Interesse. Früh hat man sich gedacht, dass sie musizieren und es auch Engelsmusik geben müsse. Das Motiv freilich ist nicht nur der Musik vorbehalten. „Die Engelsmusik (oder das Engelskonzert) ist ein Motiv der christlichen Ikonographie sowie ein Bestandteil vieler Gemälde der europäischen Malerei von der Spätgotik bis zum Barock; es unterstreicht die Festlichkeit und Feierlichkeit der jeweiligen Hauptszene“ (Wikipedia). Engelsmusiken wurden seit Jahrhunderten verfasst, mal rein instrumental, mal vokal, mal für gemischte Besetzungen. Ein schönes Beispiel für Engelsmusik des 20. Jahrhunderts ist der „Engelkonzert“ genannte erste Satz von Paul Hindemiths Symphonie Mathis der Maler. Der Komponist stellt auch die Verbindung zur bildenden Kunst her. Seine Symphonie ist ein „Nebenprodukt“ der gleichnamigen Oper; sie handelt von Matthias Grünewald, dem Schöpfer des berühmten Isenheimer Altar im elsässischen Colmar.

Auf der vorliegenden, überaus gelungenen CD wird ein spezieller Aspekt der Beschäftigung mit Engelsmusik dargestellt. Dass es Posaune spielende Engel gibt, ist allgemein bekannt, weniger bekannt dürfte dagegen sein, dass das heutzutage eher unter Kennern und Interpreten Alter Musik bekannte Blasinstrument Zink eine besondere Rolle im „himmlischen Orchester“ spielte – eher im Verein mit einer Solistin sowie Seiten- und Tasteninstrumenten denn solistisch.

Für die Produktion „On the Breath of Angels“ hat sich ein (passend als „breathtaking“ bezeichnetes) Ensemble zusammengefunden: der Zinkspieler Bruce Dickey und die Sopranistin Hana Blažikova sowie Veronika Skuplik, Catherine Aglibut (Violine), Mieneke van der Velden, Matthias Müller (Viola da gamba), Kris Verhelst (Orgel & Cembalo) und Jakob Lindberg (Theorbe). Das Ergebnis ist eine interessante Entdeckungsreise, die vom 17. bis ins 21. Jahrhundert führt. Am Anfang stehen Carlo Gesualdo (1566-1613), dessen Nachwirkung bis in die Gegenwart reicht, mit den Motetten Panis angelicus, Sicut sponsus matris und Mater Hierusalem sowie das Angelus Dominus von Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594); eine Sonata a tres und O quam suavis von Francesco Cavalli (1602-1676), der vor allem durch Opern bekannt wurde, ferner das kurze, getragene Videte Miraculum von Sigismondo d’India (1582-1629), der vor allem weltliche Musik schrieb, aber auch mit mutigen Neuerungen im Komponieren eine wichtige Rolle beim Übergang von der Renaissance zum  Barock spielte. Giovanni Bononcini (1670-1747), Cellist und Komponist, der sich als Verfasser von allein 27 Opern und mehr als 300 Kantaten einen Name machte, ist allein mit fünf Werken vertreten: Il Trionfo di Camilla (Sinfonia), Se Ninfa o Dea tu sei, E‘ pur ver ch’a soffrir, Tutte armate sowie einer instrumentalen Sonate. Von Alessandro Scarlatti (1660-1725) sind das kurze Coronata di lauri, die leicht schwelgerischen Erinnerungen an eine Liebe Cara e dolce rimembranza sowie der in Musik gefasste aber doch nicht wirklich zornerfüllte Ruf nach Rache Il desio di vendicarmi zu hören.

Wie heutige Engelsmusiken klingen, zeigen die beiden zeitgenössischen Werke der CD. Der amerikanische Cembalist, Dirigent und Komponist Julian Wachner (Jahrgang 1969) ist seit 2011 Leiter des Chores und Orchesters der Trinity Wall Street Church in New York. Hier realisierte er z. B. exemplarische Aufführungen der Händelschen Oratorien. Mit The Vision of the Archangels schrieb er ein an barocken Vorbildern bzw. Mustern orientiertes Stück, im Wesentlichen getragen, schreitend, intim in Klang und Ton.

Der britische Komponist, Dirigent und Musikwissenschaftler Ivan Moody (Jahrgang 1964), ist stark von der Liturgie der orthodoxen Ostkirche beeinflusst, der er selbst als Priester angehört. Das gilt auch für O Archangels and Angels, eine siebenminütige Meditation Werk für Sopran, Cornetto und Bassgambe, 2019 im Auftrag von Bruce Dickey komponiert.

Die nicht zu vergessende Rarität dieser Produktion ist Erik Saties Les Anges, die Nr. 1 der „Trois Mélodies“, die Vertonung eines Gedichts von J.P. Contamine de Latour, gesetzt für hohe Stimme und Klavier. Sehr verhalten, intim, „Engel schweben im Äther“ heißt es im Text, und so soll die Musik auch klingen. Hier, apart begleitet von der Laute und überaus deutlich artikuliert, klingt das Ganze aber doch vokal zu diesseitig, fehlt die Poesie, der Zauber (On the Breath of Angels;  mit Werken von: Carlo Gesualdo di Venosa, Giovanni Pierluigi da Palestrina, Sigismondo d’India, Francesco Cavalli, Julian Wachner, Giovanni Battista Bononcini, Erik Satie, Ivan Moody, Antonio Maria Bononcini, Alessandro Scarlatti; Mitwirkende: Hana Blazikova, Bruce Dickey, Veronika Skuplik, Catherine Aglibut, Mieneke van der Velden, Matthias Müller, Kris Verhelst, Jakob Lindberg; Passacaille 10399187; 2020). Helge Grünewald

 

Keinesfalls düster oder monochrom: Voces Suaves ist ein 2012 gegründetes Vokalensemble aus Basel, das Musik der Renaissance und des Barock in solistischer Besetzung aufführt. Es besteht aus einer Kernbesetzung von acht Sängerinnen und Sängern, die zumeist eine Verbindung zur international bekannten Schola Cantorum Basiliensis haben. Abhängig von der aufzuführenden Musik werden Instrumentalisten hinzugezogen. Seit 2016 arbeitet die Gruppe ohne Leiter und erarbeitet ihre Programme kollektiv. So sind künstlerische Verantwortung und Gestaltungswille jedes einzelnen Mitglieds gefordert. 

Das Repertoire des Ensembles umfasst zwar vor allem italienische Madrigale, Werke des deutschen Frühbarocks und grösser besetzte italienische Oratorien und Messen. Doch bei der Wahl der Werke und Gestaltung der Programme wird darauf geachtet, dass neben Werken bekannter Komponisten wie Claudio Monteverdi oder Heinrich Schütz auch solche von heute eher in Vergessenheit geratenen Komponisten aufgeführt werden. Ein gutes Beispiel für diese künstlerische Politik ist die vorliegende CD. Um die ersten drei Teile der Musikalischen Exequien von Heinrich Schütz gruppieren sich Werke von Hermann Schein, Johann Schelle, Johann Rosenmüller sowie von weniger bekannten Komponisten wie Andreas Gleich, Johannes Knüpfer, Johann Georg Ebeling und Johannes Kessel.

Die sachlich-nüchterne Bezeichnung der CD, „Deutsche Trauermusiken des 17. Jahrhunderts“, mag eine gewisse Gleichförmigkeit der Musiken suggerieren. Das Gegenteil ist der Fall. Schon die Titel der aufgeführten Werke verraten, dass es nicht um die Aneinanderreihung ähnlicher Kompositionen geht. Trauermusik meint nicht nur Musik für Tote, sondern für Lebende – eine „Botschaft“, die Johannes Brahms mit seinem Deutschen Requiem zwei Jahrhunderte später großartig formulierte. Die Trauermusiken des 17. Jahrhunderts sind Meditationen oder Reflexionen über die Vergänglichkeit des Lebens, zumeist Werke, in denen Endlichkeit und Tod eine positive Konnotation haben oder aber Zuversicht zum Ausdruck kommt, ja sogar die „Lust abzuscheiden“ wie im gleichnamigen Werk von Johannes Kessel.

Absolute Präzision, sehr gute Artikulation und Textverständlichkeit sowie ein insgesamt warmer Klang zeichnen die Produktion aus. Die Transparenz könnte noch brillanter sein. Im Vordergrund steht immer das Vokale, das Instrumentale wird in den Gesamtklang einbezogen. Das Ensemble wird nur durch eine Continuo-Gruppe verstärkt. Im dritten Stück der Schützschen Exequien, dem Canticum Simeonis, stellen die Sängerinnen und Sänger unter Beweis, wie zurückgenommen und leise sie singen können. Wie verschieden man allerdings dieses großartige Werk, das Schütz in einer dunklen, todbringenden Zeit komponierte – er verlor allein innerhalb weniger Jahre Eltern, Ehefrau, zwei junge Töchter und den Bruder –, interpretieren kann, zeigt ein Vergleich dieser Einspielung mit der Aufnahme der Chapelle Royale unter Leitung Philippe Herreweghes. Während das Baseler Ensemble auf Strenge, Schlichtheit in Klang und Ausdruck, setzt Herreweghe mit den französischen Musiker:innen mehr, lässt noch andere Farben hören und stärkere Affekte walten. Beide Lesarten haben ihre Berechtigung, und letztlich ist es eine Geschmacksfrage, welche man bevorzugt.

Fazit: Eine sehr gelungene Produktion, herausragende Interpretationen spannender und zum Teil sehr bewegender Musik, die zu jeder Jahreszeit und Stimmungslage passt und letztlich die bedrückenden wie hoffnungsvollen Aspekte des Todes zum Ausdruck bringt (Deutsche Trauermusiken des 17. Jahrhunderts; Heinrich Schütz: Musikalische Exequien + Werke von Johann Hermann Schein, Andreas Gleich, Sebastian Knüpfer, Johann Schelle, Johann Georg Ebeling, Johannes Kessel, Johann Rosenmüller; Voces Suaves, Johannes Strobl; Arcana / Outhere Music 483). Helge Grünewald

Höllenhunde

 

Der König liegt im Sterben. Die dutzend Tänzer der Compagnie Eastman aus Antwerpen rütteln sich und schütteln sich, führen schwingende Bewegungen aus. Der Chor spreizt bei „Non“ die Hände geziert von sich. Im klassizistischen Kastenbild, das Henrik Ahr anlässlich einer der raren Produktionen von Glucks Alceste auf die Bühne der Bayerischen Staatsoper gestemmt hat, herrscht edle Einfalt und schlichte Größe (Bluray C major 756804). Dann kommt Alceste, im gelben Kleid, schreitet durch wallende schwarze Tücher, die ihr die Tänzer ausbreiten und auf die sie von diesen wie auf einer Lotusblüte drapiert und anschließend hoch gehoben wird. Der Belgier Sidi Larbi Cherkaoui arrangiert Schmerz in edlen Posen, zelebriert die Trauer der Monarchin, deren Gatte Admète im Sterben liegt, mit wohlgefälligen Bildern und Schattenspielen unter fast durchgängiger Beteiligung des weiß- khaki-tarnfarbenen gekleideten Tanzensembles (Kostüme Jan-Jan van Esche), dem sein Hauptaugenmerk gilt, dabei jedes sinfonische Zwischenspiel, Pantomime, ausnützend. Gluck hatte die erste Fassung seiner Alceste 1766 mit dem italienischen Text des Calzabigi in Wien als Reaktion auf den Tod des Kaisers geschrieben und Alceste, die ihr Leben für das des Gatten opfern will, mit Maria Theresia assoziiert. Zwei Jahre nach der 1767 erfolgten Uraufführung stellte er der gedruckten Partitur einige Aussagen voran, die sie zu einem bedeutenden Manifest seiner Opernreform werden ließen, die sich in der französischen Zweitfassung mit dem Text von Du Roullet verwirklicht, „Ich dachte die Musik wieder auf ihre wahre Bestimmung zu beschränken, der Poesie durch den Ausdruck und durch die Situationen der Fabel zu dienen, ohne die Handlung zu unterbrechen oder sie durch unnütze, überflüssige Verzierungen zu erkälten.“

Ein Orakel verkündet der thessalischen Königin Alceste, dass ihr Gatte Admetos/ Admète am Leben bleibe, wenn sich ein anderer an seiner Stelle opfere. Alceste ist dazu bereit. Der König wird gesund, erfährt vom Opfer seiner Gattin und ist bestürzt. Ein Ehekonflikt bahnt sich an. Gastfreund Herakles/ Hercule richtet die Sache, worauf Apoll selbst eingreift und das Königspaar schont. So ziel- und ideenlos die Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper, so engagiert die musikalische Umsetzung der französischen Fassung von 1776 unter Antonello Manacorda, durch die Glucks Musik breit aufgefächert zwischen Schlichtheit und Pathos in dunkelleuchtenden Farben erscheint. Vor allem ist Dorothea Röschmann eine überzeugende Alceste. Mit ebenmäßig sattem Sopran, reifem Timbre und guter Diktion ist sie eine interessante Interpretin, wenngleich ihr die Partie nicht immer ideal liegt. Ich höre ihr gerne zu: fesselnd die Selbstverständlichkeit in ihrer großen Szene im ersten Akt mit der Arie „Non, ce n’est point un sacrifice“ und der nach einem Einwurf des Oberpriesters zum Ende des ersten Aktes anschließenden Arie „Divinités du styx“ mit pfeilscharf angepeilter Höhe und bemühter Tiefe. Gut sind Michael Nagy als Oberpriester und Hercule, der feine Manuel Günther als Évandre, Sean Michael Plumb als Herold und Apoll, gerne höre ich auch den ansonsten im französischen und italienischen Repertoire tätigen Charles Castronovo als beherzten, sicherlich nicht ganz stilechten Admète. Personenregie findet übrigens nicht statt. Dafür viel Rampensteherei. Zum Finale pure Hilfslosigkeit.

Leider dekoriert Sidi Larbi Cherkaoui diese handlungsarme Leidensgeschichte mit bestürzend platten Tanzaktionen und ärgerlich einlullendem Augenfutter der Eastman Truppe und herzigen Chorszenen, lässt den König über kniehohe Stufen schreiten oder bettet ihn wiegend auf die Arme der Tänzer und sorgt erst am Eingang zur Unterwelt mit den auf Stelzen staksenden Höllenhunden für magische Momente in der ansonsten enttäuschenden Aufführung (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.).  Rolf Fath

(Zu) Hochgelobt?

 

Ist es geschickt, eine Debüt-CD mit einem Booklet zu befrachten, dass einerseits bei einer so jungen Karriere wie der von Hera Hyesang Park bereits von einer Stimm- wie einer Lebenskrise berichtet und andererseits den Anspruch erhebt, mit eben diesem Erstlingswerk den Menschen in schwerer Zeit Zuspruch zu erteilen mit einem: „Ich bin für euch da, verliert nicht die Hoffnung“? Hätte es nicht gereicht zu schreiben: „Ich singe jetzt Arien aus Partien, die ich zu beherrschen glaube, und ich hoffe, dass ich euch damit Freude bereiten kann“.  Sogar „Ermutigung an eine Welt im Aufruhr senden“, möchte sie stattdessen mit ihrer CD,, und so  klaffen ein Versprechen, das auch große Stars kaum erfüllen könnten, und tatsächlich Geleistetes doch zu extrem auseinander, und man muss sich bemühen, von der Sängerin selbst gestellte Ansprüche nicht als Messlatte an die sehr anständige, aber nicht überwältigende Leistung anzulegen.

I am Hera  beginnt mit der Arie der Gluck-Eurydike, die wie die gesamte CD von Bertrand de Billy und den Wiener Symphonikern so einfühlsam wie souverän begleitet wird, und in der die Koreanerin einen lieblichen, weichen Sopran hören lässt, der einem Amore noch besser angestanden hätte, während die unglückliche Gattin akzentuierter hätte gesungen werden können. Als Pergolesis Serpina trifft sie das Neckische sehr gut, wäre etwas mehr Biss denkbar und führt das Intervall in die Tiefe ins Fahle. Eine feine Melancholie zeichnet Hänels Cleopatra aus, die Stimme wird sehr schön instrumental geführt. Über diesen Track kann man sich uneingeschränkt freuen. Mozarts Susanna kennt man auch beherzter, das Rezitativ klingt recht soubrettig, was die resche Kammerzofe nicht ist, der Arie hätte man mehr Erotik gewünscht, so wie auch Rossinis Rosina zu tändelnd klingt, zu behänd durch ihre Arie huscht und nicht einmal aus dem „ma“ wirklich etwas macht. So sehr man sich hier wie anderswo über die Intonationsreinheit des Gesangs freut, so schmerzlich vermisst man das Setzen von mehr Akzenten.

Einen feinen Kontrast zur rabiaten Elettra könnte Parks Ilia mit sensiblem, zartem Singen, mit schönen Bögen und dem Wissen um die Behandlung eines Mozartrezitativs darstellen. Mit kristallinem Sopran tröstet Zerlina ihren Masetto, den Schelm im Nacken des Bauernmädchens hört man leider nicht, eher eine leichte, aber nicht unangenehme Schärfe in der Höhe. Ist es Deutsch, was die Koreanerin als Pamina singt? Die ist nur im Orchester zu hören, in der Stimme vermisst man Wärme und Rundung.  Da springt Rossinis Fiorilla schon eher aus den CD-Rillen, und in gläserner Durchsichtigkeit und schönem canto elegiaco lässt sich die lebensfrohe Giulietta vernehmen, während Musetta zu keusch, zu wenig mit erotischer Raffinesse bedacht in ihrem Walzer zu vernehmen ist. So wie im Booklet beschrieben, wo allerdings fälschlicherweise als „Bravourstück des Belcanto“ apostrophiert, klingt Lauretta, der man hier nicht anhört, dass sie zwar echt Liebende, aber auch ein durchtriebenes kleines Biest ist. Den Schluss bilden zwei zeitgenössische, sehr westlich beeinflusste koreanische Kompositionen und lassen den Hörer im Nachdenken darüber zurück, wie man es anstellt, dem Rat der Sängerin zu folgen, „mit einem Fuß auf dem Boden zu bleiben“, und „dann kannst du fliegen“ (DG 486 0051). Ingrid Wanja       

Mit Lohengrin fing alles an

 

Wagner alla Scala. Das klingt verlockend nach einem erlesenen Gericht auf der Speisekarte eines italienischen Restaurants. Im Italienischen wirkt vieles so als vergehe es auf der Zunge. Wir Deutsche reagieren darauf wie ein Pawlowscher Hund. Dass im Land von Verdi, Puccini, Donizetti und Mascagni Richard Wagner so hohes Ansehen genießt, ist womöglich nur die Umkehrung eines Teils jener Sehnsucht, mit der nördlich der Alpen nach dem Süden geschaut wird. Wagner selbst war Italien verfallen. Eine Leidenschaft, die er mit vielen Künstlern seines Landes teilte. In Italien hat sich sein Leben auf eine fast schon theatralische Weise vollendet. Wer auf dem Canale Grande in Venedig unterwegs ist, kommt zwangsläufig an der Villa Vendramin vorbei, in der er am 13. Februar 1883 gestorben ist.

Elisabeth Schwarzkopf als Elsa und Martha Mödl als Ortrud 1953 in „Lohengrin“. Die musikalische Leistung hatte Herbert von Karajan. Einen Mitschnitt gibt es leider nicht. Foto: Scala

Schon zu seinen Lebzeiten nahmen sich die Opernhäuser des Landes seiner Werke an. Eine herausgehobene Rolle spielte dabei die Mailänder Scala. Skira classica hat diesem Kapitel italienischer Theatergeschichte einen Titel gewidmet, der weit über eine gewöhnliches CD-Album hinausgeht. Im Grunde genommen handelt es sich um einen mit Musikbeispielen versehenen Bildband im handlichen Oktavformat (ISBN 978-88-6544-022-3). Inzwischen ist diese attraktive Memories-Serie zu stattlichem Umfang angewachsen. Es gibt auch noch lieferbare Nummern zu Verdi, der Callas und diversen Opern, darunter Così fan tutte mit der Schwarzkopf, Carmen mit der Simionato und Turandot mit der Nilsson. Sie machen sich hübsch im Regal und sind Fundgruben speziellen Wissens. In der Wagner gewidmeten Folge findet sich auch eine deutsche Textfassung. Sensationen werden nicht enthüllt. Der Mehrwert besteht in der reich bebilderten Konzentration auf Wesentliches.

„Wagner alla Scala“: Buch und CD sind  bei Skira classica herausgekommen und lieferbar (ISBN 978-88-6544-022-3).

In der Geschichte des Teatro alla Scala wurden Werke Wagners in mehr als 140 Jahren etwa tausend Mal in 127 Inszenierungen aufgeführt, ist gleich im ersten Satz des Textes von Enrico Girardi zu erfahren. Vergleichsweise ist das nicht wenig. Zuerst wurde am 20. März 1873 Lohengrin gegeben – dreizehn Jahre nach der Uraufführung unter Franz Liszt in Weimar. „Schon die schiere Zahl dieser Aufführungen bezeugt, dass Wagners Musik an der Scala nicht nur deutlich präsenter als an jedem anderen italienischen Opernhaus“ gewesen ist. Es kämen sogar mehr Vorstellungen zusammen als beispielsweise in den Musiktempeln von Paris, London oder New York. Von den frühen Werken wurde nur Rienzi 1964 in einer Inszenierung des österreichisch-amerikanischen Regisseurs Robert Graft mit Giuseppe di Stefano in der Titelrolle und Raina Kabaivanska als Irene berücksichtigt. Der Adriano war mit einem Tenor, nämlich mit Gianfranco Cecchele besetzt. Eine Praxis, die auch in Deutschland ausprobiert wurde, so 1957 mit Josef Traxel in Stuttgart. Die streng gekürzte Fassung in italienischer Sprache wurde von Hermann Scherchen dirigiert. Er lässt es gewaltig Krachen. Ein Mitschnitt in bescheidener Tonqualität hat sich erhalten, gibt die Wirklichkeit offenkundig nur verzerrt wieder. Er ist in diversen Ausgaben auf CD gelangt, zuletzt 2006 bei Golden Melodram. Wie gnadenlos die Striche ausgefallen sind, wird schon dadurch deutlich, dass auf der zweiten Scheibe noch Platz für zwanzig Minuten aus Verdis Forza übrig war.

Nach der Premiere der „Meistersinger von Nürnberg“ 1952: Wilhelm Furtwängler mit Elisabeth Grümmer (Eva, rechts) und Sieglinde Wagner (Magdalene). Foto: Buch „Wagner alla Scala“:

Lohengrin markiert also den Beginn der Wagnerpflege in Mailand wie auch im restlichen Italien. Er wurde dort auch am häufigsten gespielt und bracht es – gleich der Walküre – auf siebzehn Inszenierungen. Als sich Arturo Toscanini 1900 erstmals dieser Oper annahm, dirigierte er bereits die fünfte. Wobei unter Inszenierung nicht im Entferntesten das gemeint ist, was die Gegenwart darunter versteht. Regisseure gab es noch nicht. Die szenische Einstudierung lag in den Händen der Bühnenbildner, was auch im Buch klargestellt wird. Es dürfte darauf hinausgelaufen sein, eine neue Aufführungsserie aus Vorhandenem zu arrangieren. Kulissen wurden behutsam ersetzt, wenn sie denn verschlissen waren. Textautor Girardi wundert sich, dass nicht auch die anderen früheren Werke des Bayreuther Kanons wie Holländer (sieben Inszenierungen) und Tannhäuser (zehn), die der italienischen Oper näher stünden als die späteren Musikdramen, die gleiche Beliebtheit erfahren hätten wie Lohengrin. Die wortreichen Meistersinger von Nürnberg stehen mit vierzehn Inszenierungen in der Statistik, Siegfried mit dreizehn, Rheingold und Götterdämmerung mit jeweils zwölf.

„Die Frist ist um“: Hans Hotter als Holländer ans Land geworfen. Foto: Buch „Wagner alla Scala“.

Auffällig ist, dass das Interesse des Publikums an Wagner schwankte. So werden – um Beispiele aufzugreifen – die Meistersinger  „in den zwanziger Jahren wieder und wieder gespielt. Der Ring des Nibelungen dagegen in den Dreißigern. Und Parsifal in den Vierzigern. In den fünfziger bis siebziger Jahren wird der gesamte Wagner-Katalog praktisch regelmäßig gegeben, um dann in den Achtzigern (nur dünne zwei Titel) und Neunzigern (nur sechs) deutlich zu schrumpfen“. Danach habe es im 21. Jahrhundert ein fast vollständiges Comeback Wagners an der Scala gegeben. Auf die Gründe dieser Entwicklungen geht der Autor nicht ein. Inwieweit politische Entwicklungen eine Rolle spielen, wäre zu untersuchen. Die längste Auszeit ist Tristan und Isolde, dem charakteristischstem Bühnenwerk des Komponisten, beschieden gewesen. Es erschien nach fast dreißigjähriger Pause erst 2007 wieder auf dem Spielplan, geleitet von Daniel Barenboim, dem damaligen Musikdirektor. Für die Inszenierung war Patrice Chéreau gewonnen worden. Als hohes Paar traten Waltraut Meier und Ian Storey in Erscheinung.

Chéreau galt als sichere Bank für den Erfolg seit er 1976 in Bayreuth mit seiner spektakulären Neudeutung des Ring anlässlich der hundertsten Wiederkehr der ersten geschlossenen Aufführung für Furore gesorgt hatte. Wie damals im Festspielhaus traten auch an der Scala die Medien geballt auf den Plan. Eine einfache Radioübertragung tat es nicht mehr. Vom Fernsehen wurde die Aufführung auch in deutsche Wohnzimmer transportiert. Virgin Classics brachte eine DVD heraus. In der positiven Bewertung des künstlerischen Gehalts ist sich die Kritik weitestgehend einig gewesen, zumal die Kameras nicht nur draufgehalten hatten. Es wurde versucht, das Bühnengeschehen vor allem in den Details genau zu erfassen, ohne die Bühnentotale ganz zu vernachlässigen. Große Distanzen wie sie in Opernhäusern nun mal gegeben sind, wurden so geschickt verkürzt, dass sich die filmische Version als eigenständiges Kunstwerk behauptete. Davor war der Tristan 1964 von Lorin Maazel, 1978 von Carlos Kleiber geleitet worden. Etwas weiter zurückgeblättert in der Aufführungsstatistik, taucht auch Herbert von Karajan auf, der 1959 ans Pult trat, während auf der Bühne Birgit Nilsson und Wolfgang Windgassen, die unangefochtene Bayreuther Traumbesetzung, wirkten. Einen Mitschnitt haben unter anderen Myto und Golden Melodram veröffentlicht. Als Geheimtipp unter Sammler aber gilt seit jeher der gemeinsame Auftritt von Gertrude Grob-Prandl und Max Lorenz im Jahre 1951 (Myto und Archipel), dessen Leitung in den Händen des Italieners Victor de Sabata lag.

Verständigung bei der Probe der „Götterdämmerung“ 1950: Brünnhilde Kirsten Flagstad und Dirigent Wilhelm Furtwängler im Gespräch. Foto: Flagstad-Museum Hamar

Tristan-Dirigent Barenboim sollte dann auch seinen ersten Nibelungen-Ring der Scala medial vermarkten. Als DVD-Box kam er 2015 bei Arthaus heraus, nun sogar im detailversessenen Blu-ray. Vorausgegangen waren Veröffentlichungen der einzelnen Teile. Während die technischen Konservierungsmöglichkeiten rasant an Fahrt aufgenommen hatten, stellten sich unerbittlich Besetzungsprobleme ein. Es wurden drei Wotane für ein Unternehmen gebraucht, das sich über mehrere Jahre hinzog: René Pape für Rheingold, Vitalij Kowaljow für Walküre und Terje Stensvold für den Siegfried-Wanderer. Und Siegfried (durchgehend Lance Ryan) dürfte sich gewundert haben, als ihn in der Götterdämmerung eine andere Brünnhilde, nämlich Iréne Theorin zum neuen Taten in die Welt entließ, als jene, die er auf dem Felsen aus langem Schlag erweckt hatte (Nina Stemme). Auch für Fricka tat es nicht nur eine Sängerin (Doris Soffel und Ekaterina Gubanova), für Mime auch nicht (Wolfgang Albinger-Sperrhacke und Peter Brander).

Angesichts des enormen Aufwands wurde die Tetralogie in ihrer Gesamtheit bislang nur ganze zehn Mal gegeben. Die meisten geschlossenen Aufführungen – drei an der Zahl – gab es in der dreißiger Jahren unter der Leitung von Siegfried Wagner, dem Sohn des Komponisten, der Bayreuther Atmosphäre südlich der Alpen zu verbreiten suchte. Wie mit goldenen Lettern hat sich 1950 Wilhelm Furtwängler in die Annalen eingeschrieben. Sein Ring ist schon deshalb einzigartig, weil sich ein kompletter Mitschnitt erhalten hat, was für diese Zeit nicht selbstverständlich gewesen ist. Es folgte eine Plattenausgabe nach der anderen. Firmen überboten sich bis heute um den besten Klang und das beste Remastering. Und als der Dirigent drei Jahre später bei der RAI noch einen kompletten Ring made in Italia nachlegte, traten beide Produktionen nach dem Motto, dass zwei Ringe besser seien als einer, in eine etwas verwirrende Konkurrenz.

Birgit Nilsson (vorn) und Wolfgang Windgassen als Tristan und Isolde 1959 auf hoher See im ersten Aufzug. Foto: Buch „Wagner alla Scala“

Anders als das Nachkriegs-Bayreuth, das ein Jahr später eröffnen sollte, fühlte sich die Scala 1950 mehr der Tradition verpflichtet. Alten Glanz verbreitete Kirsten Flagstad, die sich nach langer kriegsbedingter Abstinenz noch immer alle drei Brünnhilden zutraute. Entschlossen umschiffte sie die Klippen der kräftezehrenden Partie. Gefährliche Spitzentöne passte die Fünfundfünfzigjährige den ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten an. Ihre Fähigkeit aber, Töne so zu fluten, dass der riesige Zuschauerraum ganz davon erfüllt war, hatte sie nicht verloren. Die Stimme der Flagstad schimmerte wie altes schweres Gold, dem ein paar Kratzer nichts von seinem Wert nehmen konnten. Sie sang ihre deutlich jüngeren Tenorpartner – Set Svanholm im Siegfried und Max Lorenz in der Götterdämmerung – regelrecht an die Wand. Die hatten zu kämpfen, nicht sie. Insofern ist dieser Ring nicht nur ein Denkmal für Furtwängler.

Kaum ein Dirigent, der sich nicht hätte sehen lassen bei Wagner-Abenden in Mailand. Es sei eine so „eindrucksvolle und lange Liste, dass man fast schneller aufzählen kann, wer auf ihr fehlt, als wer dabei ist“, vermerkt das Booklet und nennt auch Namen: Bruno Walter, Otto Klemperer, Dimitri Mitropoulos, Hans Knappertsbusch, Karl Böhm, Georg Solti, Clemens Krauss, Wolfgang Sawallisch, André Cluytens, James Levine, Giuseppe Sinopoli, Bernard Haitink, Leonard Bernstein. Dagegen ist die CD mit ihren neun historischen Dokumenten nur ein Schatten des wirklichen Geschehens. Die Hinwendung zu den Titanen Toscanini (Vorspiel zum dritten Aufzug Lohengrin, Karfreitagszauber, Meistersinger-Vorspiel), Furtwängler (Walkürenritt, Siegfrieds Tod und Trauermarsch), Karajan (Vorspiele zum ersten und dritten Aufzug Tristan) sowie de Sabata mit Isoldes Liebestod, den allerdings die Flagstad singt, ist gewollt. Macht zusammen knapp siebenundsechzig Minuten. Es hätte durchaus etwas mehr sein dürfen. Rüdiger Winter

Paris 1920

 

„Hier meine schönsten, meine allerschönsten Verse“, heißt es in dem sanftmütigen Gedicht Enfance, das zu den Trois poèmes de Léon-Paul Fargue gehört, die Georges Auric 1940 vertonte. Genau genommen gehört es damit nicht in das L’ Album des Six, das einzige Gemeinschaftswerk der sechs französischen Komponisten (fünf Männer, eine Frau), die sich um 1920 in Anlehnung an die russische Gruppe der Fünf Les Six nannten und mit modernen Formen der Musik beschäftigten. In wechselnden Zusammensetzungen arbeiteten die in den Jahren zwischen 1888 und 1899 geborenen Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius Milhaud, Francis Poulenc und Germaine Tailleferre auch bei anderen Projekten zusammen, doch in diesem Album, dem sich die Schweizer Sopranistin Franziska Heinzen und der britisch-deutsche Pianist Benjamin Mead im Juli 2020 im SRF Studio Zürich widmeten, waren ein einziges Mal alle beteiligt. Louis Durey verließ die Gruppe bald daruf, blieb ihr aber freundschaftlich verbunden. „Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius Milhaud, Francis Poulenc und Germaine Tailleferre repräsentieren mit ihren eigenen, heterogenen Kompositionsstilen die damalige Avantgarde der Metropole Paris anfangs des 20. Jahrhunderts. Alle sechs widmen sich mit unterschiedlichen Ansätzen der Erneuerung der französischen Musik …“

Heinzen und Mead haben das kurze Album quasi als Aufhänger benutzt und um die Quatre mélodies und das Premier Menuet von Erik Satie, der die Funktion eines Mentors übernahm, sowie kleine Liedzyklen der Komponisten zu einem 50minütigen Programm erweitert. Eine kluge Auswahl, die auch auf CD (Solo musica SM 357) überzeugt und bei aller Unterschiedlichkeit der Persönlichkeiten den Anspruch zu einer Abkehr oder Überwindung von romantischen und impressionistischen Traditionen zeigt. Louis Dureys siebenteiliger Zyklus Vergers nach Rainer Maria Rilke von – wie bei den Liedern Aurics handelt es sich um eine Ersteinspielung – könnte beispielsweise durchaus auch als ein Werk von Debussy durchgehen. Milhaud erteilt einen kleinen Moralkurs, Petit cours de moral, auf Gedichte von Jean Giradoux, in Élegie erinnert sich Satie an die lebenslange Freundschaft mit Debussy, Poulenc ist mit den beiden Liedern von Miroirs brulants nach Paul Éluard vertreten und Germaine Tailleferre zeigt in ihrem Liedzyklus Six Chansons françaises, bei dem sie auf ältere Verse aus dem 15. Bis 18. Jahrhundert zurückgriff, eine dezidiert emanzipierte und selbstbewusste Frau „Nein, nein, die Treu war nie was anderes als eine Dummheit“ oder „Mein Ehemann hat mich verleumdet wegen der Liebe zu meinen Liebsten“ usw. Heinzen fühlt sich, wie es auch im dt.-franz. Beiheft zu lesen ist, dem Französischen merklich verbunden, vermittelt Einsicht in die von ihr mit tiefem Stilgefühl gesungenen Lieder, deren unterschiedlichen Geist und Anspruch sie mit ihrem schwebenden Sopran überzeugend einfängt; hier und da mag eine tiefere Stimme wirkungsvoller klingen. Mead wird nicht nur durch die anspruchsvolle Lied-Begleitung, sondern auch die vielen kleinen Klavierstücke, darunter Poulencs brillante Valse in C oder Milhauds neoklassizistische Mazurka, herausgefordert – und macht das virtuos.

 

Vor etwa einem Jahr hatte die Mezzosopranistin Ekaterina Levental mit dem Pianisten Frank Petes ihre erste Ausgabe der auf fünf CDs angelegten Complete Songs von Nikolai Medtner mit Liedern aus den Jahren 1903-14 vorgestellt. In der zweiten Ausgabe (Brillant classics 96061) mit dem Untertitel Sleepless, bezogen auf op. 37/1, schließen sich vier Zyklen aus den Jahren 1915 bis 1924 an, darunter die beiden Puschkin-Zyklen op. 32 und op. 36, dazu die fünf Lieder op. 37 und die 4 Lieder op. 45 auf Gedichte von Tyutchev und Fet sowie wiederum auch Puschkin. Medtner, der sich 1935 endgültig in England niederließ, unterrichte 1915 bis 1919 Klavier am Moskauer Konservatorium, emigrierte nach der Oktoberrevolution 1921 nach Deutschland und lebte bis 1924 in Berlin. Auch ohne Kenntnisse der Gedichte vermögen Levental und Peters dem Zuhörer viel von der Faszination dieser altmodisch spätromantischen, mit Strauss-Anklängen aufwartenden, dabei oftmals eigenwillig einschmeichelnden und lange vernachlässigten Lieder zu vermitteln und im engen kammermusikalischen Miteinander eine besondere Atmosphäre zu schaffen.

 

Ob es Greensleeves oder The last rose of summer, Sail on, sail on oder The Foggy, Foggy Dew, die Benjamin Britten in Amerika an seine Heimat denken ließen, die der Pazifist 1939 verlassen hatte, um 1942 zurückzukehren und als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden, weiß man nicht. In jedem Fall beschäftigte er sich, angeregt durch Peter Pears, in diesen Jahren mit britischen Folksongs, die sich als beliebte Schlusstücke oder Zugaben bei den gemeinsamen Konzerten 1942 und 1943 herausstellten. Britten sammelte nicht einfach, sondern arrangierte und komponierte als seinen es Stücke von ihm. Ab 1943 erschienen bis Ende der 50er Jahre mehrere Ausgaben seiner Folksongs, dazu einzelne Lieder, die erst später in die Ausgaben eingefügt wurden. In Mark Milhofers Einspielung der Complete Folk Songs for voice and piano (2 CD Brillant Classics 96009) findet sich auch eines der beiden Duette, die Britten für Pears und dessen Kollegin Norma Procter schrieb, sowie die Bearbeitung des deutschen Volkslieds „Da unten im Tale“ als „The stream in the Valley“ für Tenor, Cello und Klavier, das für Konzerte mit dem Cellisten Maurice Gendron entstand. Dem vielseitigen Mark Milhofer kommt gewiss seine Purcell-Erfahrung zugute  – er singt genauso Händel, Mozart, Rossini und zeitgenössische Musik – denn er nuanciert fein, fängt die Eleganz der englischen Sprache und die Schönheit der schlichten Melodien ein und kommt in der geschmeidigen Verbindung von Wort und Ton Brittens Vorstellung von einer Wiedergeburt der englischen Musik nahe. Milhofers singt, nicht unapart, mit sentimental schmachtender Tenorsüße und säuselnden Höhen, die bei diesen Liedern einen Großteil der Wirkung ausmachen. Das kann so behutsam wie ein Windhauch im Schilf klingen (Greensleves) oder kauzig und skurril (Oliver Cromwell), breitbeinig (The Crocodile) oder keck (Fileuse) – Milhofer und sein zurückhaltender Pianist Marco Scolastra zeichnen durchgehend hübsche Genreszenen.  Rolf Fath

Szenisches Konzert

 

Händels Oratorium von 1743 Semele gibt EuroArts in einer ungewöhnlichen Fassung auf zwei DVDs heraus (2057618). Das von Thomas Guthrie inszenierte Konzert fand im Mai 2019 im Londoner Alexandra Palace Theatre statt und war Teil der Initiative Monteverdi  Choir & Orchestra. Deren Spiritus rector ist John Eliot Gardiner. 1978 gründete er die English Baroque Soloists, das Orchester wirkt auch in dieser Aufführung mit, ebenso der Monteverdi Choir, mit dem der Dirigent seit Jahrzehnten eng zusammenarbeitet.

Die von Patricia Hofstede kostümierten Gesangssolisten werden angeführt von Louise Alder in der Titelrolle, die in Ausdruck und Bravour gleichermaßen überzeugt. Im fließenden weißen Gewand führt sie sich mit dem Air „O Jove!“ ein und lässt einen klaren, leuchtenden Sopran hören. Ihr„Endless pleasure“ am Ende des 1. Aktes hat Gardiner seltsamerweise dem Wahrsager Augur zugeteilt, der im sportlichen Outfit mit Schiebermütze auf einem Fahrrad hereinfährt. Angharad Rowlands absolviert die berühmte Nummer mit lieblichem Sopran. Im 2. Akt singt Semele auf einer Ottomane das träumerische „O sleep“ und Louise Alder kann hier mit schönen lyrischen Valeurs aufwarten. Im folgenden „With fond desiring“ während Semeles Liebesspiels mit Jupiter bringt die Interpretin dagegen gurrend-sinnliche Töne ein. Mehrere Airs ganz unterschiedlichen Charakters hat die Titelheldin im letzten Akt zu bewältigen. Im kokett-selbstverliebten „Myself I shall adore“ bezaubert die Sopranistin mit fein getupften staccati, im innigen „Thus let my thanks be paid“ mit reicher Lyrik. Dem launischen „ I ever am granting“ folgt mit dem trotzigen „No, no, I’ll take no less“ der virtuose Höhepunkt der Titelpartie mit schier endlosen, rasenden Koloraturläufen, die Alder in stupender Manier meistert. Daneben ist Lucile Richardot in der Doppelrolle der Juno/Ino ein weiteres Ereignis der Aufführung. Die Altistin macht schon als griechisch gewandete Ino, Semeles Schwester, mit dem energischen dunklen Timbre auf sich aufmerksam, doch als Juno, Jupiters Gattin, nimmt sie dem Zuschauer durch ihre furios-keifende Tongebung und die donnernden Ausbrüche geradezu den Atem. So werden trotz unorthodoxer Stimmführung ihr rasendes  Air„Hence, Iris, hence away“ im 2. und das Air „Above measure“ im 3. Akt zu Höhepunkten der Aufführung.

Am Ende wird Ino auf Jupiters Beschluss mit dem Prinzen Athamas getraut, den Carlo Vistoli mit klangvollem Countertenor singt. Die Freude auf die bevorstehende Vermählung weiß er im Air „Despair no more shall wound me“ mit souverän geformten Koloraturgirlanden auszudrücken. Ungewöhnlich jugendlich besetzt ist der Jupiter mit Hugo Hymas, dessen Tenor jung und schwärmerisch klingt. Das Air „I must speed amuse her“ zeigt seine Koloraturversiertheit, das berühmte „Where’er you walk“ die lyrische Gesangskultur. Mit schmeichelnden, lockenden Tönen weiß er in „Come to my arms“ im 3. Akt sein Verlangen nach Semele zu formulieren. Gianluca Buratto gefällt mit seinem schlanken, kultivierten Bass in der Doppelrolle von Semeles Vater Cadmus und dem Gott des Schlafes Somnus. Ein zartes Geschöpf ist Angela Hicks als Liebesgott Cupid, die das lieblich wiegende Air „Come, zephyrs“ mit kindlicher Stimme singt.

Ungewöhnlich platziert bis an die Rampe ist der Monteverdi Choir, der wie stets für aufregende musikalische Momente sorgt – so mit dem dramatisch aufgepeitschten „Avert these omens“ im 1. oder dem auftrumpfenden „Now Love“ und dem feierlichen „Bless the glad earth“ im 2. Akt. In „O terror and astonishment“ drückt der Chor am Ende die Betroffenheit ob Semeles Schicksal aus, während das unmittelbar folgende „Happy, happy“ mit jauchzendem Schwung den glücklichen Ausgang preist. Denn Apollo prophezeit, dass aus Semeles Asche Bacchus aufsteigen wird – und alle sind in Sektlaune. Auch die Musiker bekommen ein Glas gereicht – mit ihrem differenzierten Spiel, ob von gravitätischem Ernst oder bewegter Munterkeit, haben sie es mehr als verdient (weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Bernd Hoppe

Cherubinis „Faniska“

Cherubinis deutsche Oper wird leicht übersehen, dabei spielt die kleinere Schwester der Lodoïska innerhalb der Gattung der Rettungsoper, pièce à sauvetage, eine nicht unbedeutende Rolle. Luigi Cherubini war 28 Jahre alt, als er sich für immer in Paris niederließ. Dort starb er 1842 im Alter von 81 Jahren, hoch dekoriert und geehrt. Surintendant de la musique du Roi, ab 1822 bis zu seinem Lebensende Direktor des Pariser Konservatoriums. Obwohl er etwa genauso viele italienische wie französische Opern schrieb, darf man ihn, nicht nur wegen seiner in Paris komponierten Messen und Requien, sondern seiner ganzen musikalischen Prägung als einen französischen Komponisten bezeichnen.

Eine kleine Besonderheit stellt die Faniska dar. Im Juni 1805 war Cherubini nach Wien gereist, wo er u.a. die Uraufführung des Fidelio erlebte, Beethoven und Haydn traf und den Auftrag für zwei Opern annahm, wovon Faniska am 25. Februar des folgenden Jahres uraufgeführt wurde. Zwei Wochen später verließ Cherubini Wien, ohne die zweite Oper in Angriff genommen zu haben. Wie bereits seine auch in Wien beliebte Lodoïska (Paris 1791), für die er im Frühjahr 1806 in Wien ans Pult trat, spielt auch Faniska in Polen, das für französische Autoren so exotisch gewirkt haben musste wie der Ardenner Wald für Shakespeare. Spielt Lodoiska um 1600, so bleibt bei Faniska alles im Ungefähren; man begreift, dieses Polen ist nur ein Dekor, das mit dunklen Wäldern und Kosaken und vielen -inski/inska-Namen aufgefüllt wird: Faniksa, ihr Gatte Rasinski, der böse Zamoski, Statthalter von Sandomirz, Oranski, Kosakenanführer in Diensten Zamoskis – entsprechend zuvor in Lodoïska die Pseudopolen Floreski, Dourlinski, Lysinka, dazu als Bösewicht der Tartarenführer Titzikan. Hier wie dort spielt ein Gefängnis eine wichtige Rolle. In Faniska residieren Zamoski und Rasinski in den benachbarten Woiwodschaften Sandomirz und Rawa. Zamoski hat sich in Rasinskis Gattin Faniska verliebt, lässt sie entführen und zusammen mit ihrer Tochter Hedwig/Edwige auf sein Schloss bringen. Natürlich eilt Rasinski zur Rettung seiner Frau herbei und wird, obwohl er sich als Bote versteckt hat, rasch entlarvt und zusammen mit Faniska in die unterirdischen Verließe des Schlosses gesteckt. Dort sehen die Eheleute ihrem Tod entgegen, da auch die Unterstützung der Zamoski-Angestellten, des Paares Moska und Rasno, fehlschlägt. Schließlich gelingt die Flucht. Rasinskis Truppen stürmen die Burg, Zamoski kommt in der Schlacht um und Oranski wird vor Gericht gestellt.

Für Faniska griff Joseph Sonnleithner auf das Stück Les mines de Pologne (1803) des ebenso erfolgreichen wie fleißigen Herstellers effektvoller Melodramen René-Charles Gealbert de Pixérécourt zurück. Anna Milder, Beethovens Leonore in allen drei Fassungen seines Fidelio, war die erste Faniska. Im Gegensatz zu Fidelio, wo Leonore ihren Florestan aus dem Gefängnis befreit, sind in Cherubinis die Aufgaben umverteilt: Faniska sitzt im Kerker, aus dem sie Rasinski befreit, doch der moralische Impetus bliebt erhalten und Cherubini feiert die Opferbereitschaft und Hingabe des verheirateten Paares. 50 Jahre lang erlebte Faniska Dutzende von Produktionen in Deutschland und Österreich, man kannte sie in Budapest, Prag und Breslau. Dann geriet sie in Vergessenheit.

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Faniska gehört nach Polen. Das dachten sich die Verantwortlichen des 24. Ludwig van Beethoven Oster-Festivals 2020, weshalb der umtriebige Lukasz Borowicz in Poznán mit den Posener Philharmonikern und dem Posener Kammerchor im August und Oktober diese Fußnote zu Fidelio zur Aufführung brachte und damit eine diskografische Lücke schloss. Das unergiebige zweisprachige (poln. /engl.) Begleitheft zu der schön verpackten Gesamtaufnahme (Dux 1694/1695) schweigt sich darüber aus, weshalb leider statt der originalen Sonnleithner-Texte die zeitgenössische italienische Fassung von Luigi Prividali gewählt wurde (und ohne Rezitative/Dialoge, warum??? G. H.). Borowicz, der im Rahmen des Festivals bereits auch Lodoïska präsentiert hatte, wirft sich mit dem Sturm und Drang-Impetus der Wiener Klassik in die Oper, lässt die umfangreiche Ouvertüre leidenschaftlich, auffahrend und die Vorspiele zum zweiten und dritten Akt, die Märsche und Finalis mit griffigem Theatertemperament erklingen, dabei kommt ihm zu Gute, dass nach dem gemächlichen ersten Akt und der auf der Stelle tretenden verinnerlichten Kerkerszene im zweiten Akt sich die Oper im dritten Akt musikalisch verdichtet und so grandios steigert, wie man es von Cherubini erwartet hätte. Natalia Rubis ist mit messerscharfem Sopran keine liebliche Faniska, unter ihren klirrenden Höheaufstiegen und Verzierungen duckt sich der Hörer ängstlich weg; zugleich merkt man ihrer Cavatine und ihrer Arie zu Beginn des zweiten Aktes einfach auch an wie zäh und uninspiriert Cherubinis Musik gelegentlich fließt, wobei er seiner Faniska dann im ersten Finale so bedeutungsvoll komponierte Zeilen wie „Il nostro, il nostro riposo, la tormba, la tomba sarà“ überlässt. Und Gatte Rasinski? In einer frühen deutschen Oper hat man ihn sich wohl als eine Mischung aus Mozart- und Rossini-Amoroso vorzustellen, was Krystian Adam elegant vermittelt. Schade, dass er keine Arie hat. Dagegen hat der zweite Tenor, der wackere Piotr Kalina als Rasno eine, was nicht nötig gewesen wäre. Robert Gierlach ist ein kompetenter Sänger, der mit hohem, gelegentlich nachtschwarz eingedunkeltem, etwas uneinheitlichem Bariton und fies knarzender Schärfe den Bösewicht Zamoski gibt, den in der Uraufführung der erste Rocco-Sänger Karl Weinmüller kreiert hatte. Tomasz Rak hat einen ganz leichten Bariton für den Oranski. Dazu kommen Katarzyna Belkius als Edwige und Justyna Orlow als Moska.

Die drei Akte sind in 19 Nummern unterteilt, darunter neben den drei großen Finali relativ viele Ensembles, jeweils ein Terzett im ersten und zweiten Akt, dazu ein Quintett sowie Quartett im dritten Akt und Chorszenen im ersten und dritten Akt, außerdem drei sinfonische Passagen (zwei Märsche und ein Ballett) und drei hübsche, kurze Melodramen. Die Musik hat die Lebendigkeit einer opéra comique, deren Floskelhaftigkeit sich erst im dritten Akt verzieht (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/). Rolf Fath

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Zur italienischen Fassung und dem Fehlen der Dialoge befragt, schrieb uns der Dirigent Lukasz Borowicz: Ich habe mich für die italienische Fassung entschieden (wir haben neue Aufführungsmaterialien vorbereitet), weil die Partitur des 19. Jh. die Breitkopf-Partitur auf Italienisch ist. Sie ist die einzige klare und vollständige Quelle. Meiner Meinung nach ist es besser, der gedruckten Fassung aus den 1840er Jahren zu folgen, als eine hypothetische deutsche Fassung zu erstellen (es gibt nur Klavierauszüge und ein unklares Autograph)… Cherubini sprach überhaupt kein Deutsch, so dass ich annehme, dass er nicht beleidigt wäre. Die italienische Übersetzung stammt aus der ersten Hälfte des 19. Jh. (von der wichtigen Figur der Epoche Mo. Prividali). Wir haben auf die Dialoge verzichtet, weil es nicht sinnvoll ist, sie für die Konzertfassung zu verwenden. Außerdem sind die Dialoge (Italienisch, Französisch und Deutsch) nicht vollständig. Aus all diesen Gründen haben wir beschlossen, nur die Musik aufzunehmen/DeepL

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

Siegentrost und Tannhäuser

 

Wer sich mit Liedern und Balladen beschäftigt, gerät schnell in ein Labyrinth mythischer und literarischer Verzweigungen und Verknüpfungen. Da tauchen Gestalten auf, die einem seit Jahrzehnten vertraut sind. Aber auch solche melden sich zurück, die man völlig aus dem Auge verloren hat. Bruder Siechentrost ist so ein Gesell. Siechentröster wurden einst jene Geistlichen genannt, die zu den Kranken und Sterbenden gingen, um ihnen beizustehen. Jener Siechentrost, um den er hier geht, entstammt einer Legende von Paul Heyse (1830-1914), dem ersten deutschen Literaturnobelpreisträger von 1910. Zahlreiche Komponisten bedienten sich bei ihm, darunter Hugo Wolf für sein Italienisches- und sein Spanisches Liederbuch. Auch Max Bruch (1838-1920) kannte sich bei seinem Zeitgenossen Heyse aus. Seine Siechentrost-Lieder op. 54 bilden das Zentrum einer CD, die bei cpo erschien (555 422-2). Maßgeblich beteiligt ist der WDR, womit sich eine schöne Tradition fortsetzt, dass der aus Gebühren finanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk förderungswürdige Projekte produziert und für die Veröffentlichung auf Tonträgern freigibt. Es singt der aus Österreich stammende Bariton Rafael Fingerlos, begleitet von Sascha El Mouissi am Klavier. Das Siechentrost-Opus setzt sich auf zwei Liedern, zwei Duetten und einem Schlussgesang zusammen. Deshalb treten Cornelia Zink (Sopran), Magdalena Rüker (Mezzosopran), Bernhard Berchtold (Tenor) und Benjamin Herzl (Violine) hinzu.

Bei Heyse verbinden sich die Schicksale zweier Männer. Der eine, Gerhard, fühlt sich bei der Rückkehr nach langer Wanderung von seiner Angebeteten verraten, der andere, Bruder Siegentrost genannt, verlor durch die Pest Frau und Kind, trat in ein Barfüßerkloster ein und opferte sich fortan selbst für andere Kranke auf. Seine Mitmenschen aber mieden ihn, weil sie fürchteten, er habe sich angesteckt und könnte die tödliche Seuche weitergeben. Nur der unglückliche Gerhard sucht unerschrocken dessen Nähe, bricht mit seinem bisherigen Leben und schließt sich ihm an. „Da erschienen sie eines Nachmittags in einem kleinen Winzernest in der Nähe von St. Goar, vor einem Haus, aus dem man am Morgen eine junger Todte hinausgetragen hatte, das einzige Kind wackerer Eltern“ heißt es bei Heyse. Die Geächteten werden von „guten Bürgern“ in einen Zusammenhang mit dem traurigen Ereignis gebracht, unter ihnen der Eschenauer, der Vater Gerhards. Schergen werden in Bewegung gesetzt, um den „verlorenen Sohn“ einzufangen. Der ist indessen schwer erkrankt. Als sich Siegentrost von Lager entfernt, um nach heilenden Kräutern zu suchen, wird Gerhard von seinen Verfolgern entführt und auf ein Schiff verfrachtet. Vom Ufer vernimmt er die Stimme des Freundes mit einem „herzstärkendem“ Liede, reißt sich los und stürzt sich in die Fluten, um zu ihm zu gelangen. Doch er ertrinkt. Siegentrostens Lieder aber sind längst im Volksmunde heimisch geworden.

Im Booklet der Neuerscheinung wird nicht gegeizt mit Zitaten aus Heyses Legende, die auf das Jahr 1375 zurückgeht. Eckardt van den Hoogen, der Autor des umfangreichen Textes, präsentiert die einzelnen Lieder und Duette im Kontext. Das macht Sinn. Ohne ihre literarische Umgebung blieben sie weniger verständlich. Heyse, in seiner Zeit sehr populär und viel gelesen, dürften längst nicht mehr in jedem Bücherschrank zu finden sein. Deshalb ist solch dezente Nachhilfe, die nicht belehren will, mehr als angemessen. Mehrfach gehört, kann man sich sogar eine Veranstaltung in kleinem Rahmen vorstellen, bei der sie gemeinsam mit dem Prosatext vorgetragen werden. Mit Unterstützung des Klaviers durch die Violine entsteht eine poetische Stimmung, von der sich auch der Sänger und seine Mitstreiter ergreifen lassen. Fingerlos singt sehr in sich gekehrt, immer um Wortverständlichkeit bemüht. In den beiden Duetten „Gott woll‘, dass ich daheim wär“ und „Wer weiß, woher das Brünnlein quillt“ findet er zu inniger künstlerischer Gemeinsamkeit mit seinem Tenorpartner Berchtold. Der als Terzett angelegte Schlussgesang beschert ein in sich geschlossenes versöhnliches Ende eines Meisterwerkes. Nicht, dass die andere Lieder dagegen etwas abfallen. Hörer müssen aber erst umschalten von der reizvollen Form des kleinen Zyklus auf klavierbegleiteten Sologesang, darunter „Tannhäuser“, „Goldne Brücken“ und das „Klosterlied“. Bruch, in dessen Schaffen Lieder einen beträchtlichen Posten abgeben, ist im Gebrauch der Melodie nicht eben zögerlich. Seine Einfälle sind üppig und sehr bildhaft. Senkt sich die Nacht in einigen der Lieder nieder, erweist sich Bruch als spätromantischer Tonmaler vom Feinsten. Rüdiger Winter