Von Engeln und barocker Trauer

 

Engelsmusik mit Sopran und Zink: Engel finden auch in säkularen Zeiten und Gesellschaften Interesse. Früh hat man sich gedacht, dass sie musizieren und es auch Engelsmusik geben müsse. Das Motiv freilich ist nicht nur der Musik vorbehalten. „Die Engelsmusik (oder das Engelskonzert) ist ein Motiv der christlichen Ikonographie sowie ein Bestandteil vieler Gemälde der europäischen Malerei von der Spätgotik bis zum Barock; es unterstreicht die Festlichkeit und Feierlichkeit der jeweiligen Hauptszene“ (Wikipedia). Engelsmusiken wurden seit Jahrhunderten verfasst, mal rein instrumental, mal vokal, mal für gemischte Besetzungen. Ein schönes Beispiel für Engelsmusik des 20. Jahrhunderts ist der „Engelkonzert“ genannte erste Satz von Paul Hindemiths Symphonie Mathis der Maler. Der Komponist stellt auch die Verbindung zur bildenden Kunst her. Seine Symphonie ist ein „Nebenprodukt“ der gleichnamigen Oper; sie handelt von Matthias Grünewald, dem Schöpfer des berühmten Isenheimer Altar im elsässischen Colmar.

Auf der vorliegenden, überaus gelungenen CD wird ein spezieller Aspekt der Beschäftigung mit Engelsmusik dargestellt. Dass es Posaune spielende Engel gibt, ist allgemein bekannt, weniger bekannt dürfte dagegen sein, dass das heutzutage eher unter Kennern und Interpreten Alter Musik bekannte Blasinstrument Zink eine besondere Rolle im „himmlischen Orchester“ spielte – eher im Verein mit einer Solistin sowie Seiten- und Tasteninstrumenten denn solistisch.

Für die Produktion „On the Breath of Angels“ hat sich ein (passend als „breathtaking“ bezeichnetes) Ensemble zusammengefunden: der Zinkspieler Bruce Dickey und die Sopranistin Hana Blažikova sowie Veronika Skuplik, Catherine Aglibut (Violine), Mieneke van der Velden, Matthias Müller (Viola da gamba), Kris Verhelst (Orgel & Cembalo) und Jakob Lindberg (Theorbe). Das Ergebnis ist eine interessante Entdeckungsreise, die vom 17. bis ins 21. Jahrhundert führt. Am Anfang stehen Carlo Gesualdo (1566-1613), dessen Nachwirkung bis in die Gegenwart reicht, mit den Motetten Panis angelicus, Sicut sponsus matris und Mater Hierusalem sowie das Angelus Dominus von Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594); eine Sonata a tres und O quam suavis von Francesco Cavalli (1602-1676), der vor allem durch Opern bekannt wurde, ferner das kurze, getragene Videte Miraculum von Sigismondo d’India (1582-1629), der vor allem weltliche Musik schrieb, aber auch mit mutigen Neuerungen im Komponieren eine wichtige Rolle beim Übergang von der Renaissance zum  Barock spielte. Giovanni Bononcini (1670-1747), Cellist und Komponist, der sich als Verfasser von allein 27 Opern und mehr als 300 Kantaten einen Name machte, ist allein mit fünf Werken vertreten: Il Trionfo di Camilla (Sinfonia), Se Ninfa o Dea tu sei, E‘ pur ver ch’a soffrir, Tutte armate sowie einer instrumentalen Sonate. Von Alessandro Scarlatti (1660-1725) sind das kurze Coronata di lauri, die leicht schwelgerischen Erinnerungen an eine Liebe Cara e dolce rimembranza sowie der in Musik gefasste aber doch nicht wirklich zornerfüllte Ruf nach Rache Il desio di vendicarmi zu hören.

Wie heutige Engelsmusiken klingen, zeigen die beiden zeitgenössischen Werke der CD. Der amerikanische Cembalist, Dirigent und Komponist Julian Wachner (Jahrgang 1969) ist seit 2011 Leiter des Chores und Orchesters der Trinity Wall Street Church in New York. Hier realisierte er z. B. exemplarische Aufführungen der Händelschen Oratorien. Mit The Vision of the Archangels schrieb er ein an barocken Vorbildern bzw. Mustern orientiertes Stück, im Wesentlichen getragen, schreitend, intim in Klang und Ton.

Der britische Komponist, Dirigent und Musikwissenschaftler Ivan Moody (Jahrgang 1964), ist stark von der Liturgie der orthodoxen Ostkirche beeinflusst, der er selbst als Priester angehört. Das gilt auch für O Archangels and Angels, eine siebenminütige Meditation Werk für Sopran, Cornetto und Bassgambe, 2019 im Auftrag von Bruce Dickey komponiert.

Die nicht zu vergessende Rarität dieser Produktion ist Erik Saties Les Anges, die Nr. 1 der „Trois Mélodies“, die Vertonung eines Gedichts von J.P. Contamine de Latour, gesetzt für hohe Stimme und Klavier. Sehr verhalten, intim, „Engel schweben im Äther“ heißt es im Text, und so soll die Musik auch klingen. Hier, apart begleitet von der Laute und überaus deutlich artikuliert, klingt das Ganze aber doch vokal zu diesseitig, fehlt die Poesie, der Zauber (On the Breath of Angels;  mit Werken von: Carlo Gesualdo di Venosa, Giovanni Pierluigi da Palestrina, Sigismondo d’India, Francesco Cavalli, Julian Wachner, Giovanni Battista Bononcini, Erik Satie, Ivan Moody, Antonio Maria Bononcini, Alessandro Scarlatti; Mitwirkende: Hana Blazikova, Bruce Dickey, Veronika Skuplik, Catherine Aglibut, Mieneke van der Velden, Matthias Müller, Kris Verhelst, Jakob Lindberg; Passacaille 10399187; 2020). Helge Grünewald

 

Keinesfalls düster oder monochrom: Voces Suaves ist ein 2012 gegründetes Vokalensemble aus Basel, das Musik der Renaissance und des Barock in solistischer Besetzung aufführt. Es besteht aus einer Kernbesetzung von acht Sängerinnen und Sängern, die zumeist eine Verbindung zur international bekannten Schola Cantorum Basiliensis haben. Abhängig von der aufzuführenden Musik werden Instrumentalisten hinzugezogen. Seit 2016 arbeitet die Gruppe ohne Leiter und erarbeitet ihre Programme kollektiv. So sind künstlerische Verantwortung und Gestaltungswille jedes einzelnen Mitglieds gefordert. 

Das Repertoire des Ensembles umfasst zwar vor allem italienische Madrigale, Werke des deutschen Frühbarocks und grösser besetzte italienische Oratorien und Messen. Doch bei der Wahl der Werke und Gestaltung der Programme wird darauf geachtet, dass neben Werken bekannter Komponisten wie Claudio Monteverdi oder Heinrich Schütz auch solche von heute eher in Vergessenheit geratenen Komponisten aufgeführt werden. Ein gutes Beispiel für diese künstlerische Politik ist die vorliegende CD. Um die ersten drei Teile der Musikalischen Exequien von Heinrich Schütz gruppieren sich Werke von Hermann Schein, Johann Schelle, Johann Rosenmüller sowie von weniger bekannten Komponisten wie Andreas Gleich, Johannes Knüpfer, Johann Georg Ebeling und Johannes Kessel.

Die sachlich-nüchterne Bezeichnung der CD, „Deutsche Trauermusiken des 17. Jahrhunderts“, mag eine gewisse Gleichförmigkeit der Musiken suggerieren. Das Gegenteil ist der Fall. Schon die Titel der aufgeführten Werke verraten, dass es nicht um die Aneinanderreihung ähnlicher Kompositionen geht. Trauermusik meint nicht nur Musik für Tote, sondern für Lebende – eine „Botschaft“, die Johannes Brahms mit seinem Deutschen Requiem zwei Jahrhunderte später großartig formulierte. Die Trauermusiken des 17. Jahrhunderts sind Meditationen oder Reflexionen über die Vergänglichkeit des Lebens, zumeist Werke, in denen Endlichkeit und Tod eine positive Konnotation haben oder aber Zuversicht zum Ausdruck kommt, ja sogar die „Lust abzuscheiden“ wie im gleichnamigen Werk von Johannes Kessel.

Absolute Präzision, sehr gute Artikulation und Textverständlichkeit sowie ein insgesamt warmer Klang zeichnen die Produktion aus. Die Transparenz könnte noch brillanter sein. Im Vordergrund steht immer das Vokale, das Instrumentale wird in den Gesamtklang einbezogen. Das Ensemble wird nur durch eine Continuo-Gruppe verstärkt. Im dritten Stück der Schützschen Exequien, dem Canticum Simeonis, stellen die Sängerinnen und Sänger unter Beweis, wie zurückgenommen und leise sie singen können. Wie verschieden man allerdings dieses großartige Werk, das Schütz in einer dunklen, todbringenden Zeit komponierte – er verlor allein innerhalb weniger Jahre Eltern, Ehefrau, zwei junge Töchter und den Bruder –, interpretieren kann, zeigt ein Vergleich dieser Einspielung mit der Aufnahme der Chapelle Royale unter Leitung Philippe Herreweghes. Während das Baseler Ensemble auf Strenge, Schlichtheit in Klang und Ausdruck, setzt Herreweghe mit den französischen Musiker:innen mehr, lässt noch andere Farben hören und stärkere Affekte walten. Beide Lesarten haben ihre Berechtigung, und letztlich ist es eine Geschmacksfrage, welche man bevorzugt.

Fazit: Eine sehr gelungene Produktion, herausragende Interpretationen spannender und zum Teil sehr bewegender Musik, die zu jeder Jahreszeit und Stimmungslage passt und letztlich die bedrückenden wie hoffnungsvollen Aspekte des Todes zum Ausdruck bringt (Deutsche Trauermusiken des 17. Jahrhunderts; Heinrich Schütz: Musikalische Exequien + Werke von Johann Hermann Schein, Andreas Gleich, Sebastian Knüpfer, Johann Schelle, Johann Georg Ebeling, Johannes Kessel, Johann Rosenmüller; Voces Suaves, Johannes Strobl; Arcana / Outhere Music 483). Helge Grünewald