Wer sich mit Liedern und Balladen beschäftigt, gerät schnell in ein Labyrinth mythischer und literarischer Verzweigungen und Verknüpfungen. Da tauchen Gestalten auf, die einem seit Jahrzehnten vertraut sind. Aber auch solche melden sich zurück, die man völlig aus dem Auge verloren hat. Bruder Siechentrost ist so ein Gesell. Siechentröster wurden einst jene Geistlichen genannt, die zu den Kranken und Sterbenden gingen, um ihnen beizustehen. Jener Siechentrost, um den er hier geht, entstammt einer Legende von Paul Heyse (1830-1914), dem ersten deutschen Literaturnobelpreisträger von 1910. Zahlreiche Komponisten bedienten sich bei ihm, darunter Hugo Wolf für sein Italienisches- und sein Spanisches Liederbuch. Auch Max Bruch (1838-1920) kannte sich bei seinem Zeitgenossen Heyse aus. Seine Siechentrost-Lieder op. 54 bilden das Zentrum einer CD, die bei cpo erschien (555 422-2). Maßgeblich beteiligt ist der WDR, womit sich eine schöne Tradition fortsetzt, dass der aus Gebühren finanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk förderungswürdige Projekte produziert und für die Veröffentlichung auf Tonträgern freigibt. Es singt der aus Österreich stammende Bariton Rafael Fingerlos, begleitet von Sascha El Mouissi am Klavier. Das Siechentrost-Opus setzt sich auf zwei Liedern, zwei Duetten und einem Schlussgesang zusammen. Deshalb treten Cornelia Zink (Sopran), Magdalena Rüker (Mezzosopran), Bernhard Berchtold (Tenor) und Benjamin Herzl (Violine) hinzu.
Bei Heyse verbinden sich die Schicksale zweier Männer. Der eine, Gerhard, fühlt sich bei der Rückkehr nach langer Wanderung von seiner Angebeteten verraten, der andere, Bruder Siegentrost genannt, verlor durch die Pest Frau und Kind, trat in ein Barfüßerkloster ein und opferte sich fortan selbst für andere Kranke auf. Seine Mitmenschen aber mieden ihn, weil sie fürchteten, er habe sich angesteckt und könnte die tödliche Seuche weitergeben. Nur der unglückliche Gerhard sucht unerschrocken dessen Nähe, bricht mit seinem bisherigen Leben und schließt sich ihm an. „Da erschienen sie eines Nachmittags in einem kleinen Winzernest in der Nähe von St. Goar, vor einem Haus, aus dem man am Morgen eine junger Todte hinausgetragen hatte, das einzige Kind wackerer Eltern“ heißt es bei Heyse. Die Geächteten werden von „guten Bürgern“ in einen Zusammenhang mit dem traurigen Ereignis gebracht, unter ihnen der Eschenauer, der Vater Gerhards. Schergen werden in Bewegung gesetzt, um den „verlorenen Sohn“ einzufangen. Der ist indessen schwer erkrankt. Als sich Siegentrost von Lager entfernt, um nach heilenden Kräutern zu suchen, wird Gerhard von seinen Verfolgern entführt und auf ein Schiff verfrachtet. Vom Ufer vernimmt er die Stimme des Freundes mit einem „herzstärkendem“ Liede, reißt sich los und stürzt sich in die Fluten, um zu ihm zu gelangen. Doch er ertrinkt. Siegentrostens Lieder aber sind längst im Volksmunde heimisch geworden.
Im Booklet der Neuerscheinung wird nicht gegeizt mit Zitaten aus Heyses Legende, die auf das Jahr 1375 zurückgeht. Eckardt van den Hoogen, der Autor des umfangreichen Textes, präsentiert die einzelnen Lieder und Duette im Kontext. Das macht Sinn. Ohne ihre literarische Umgebung blieben sie weniger verständlich. Heyse, in seiner Zeit sehr populär und viel gelesen, dürften längst nicht mehr in jedem Bücherschrank zu finden sein. Deshalb ist solch dezente Nachhilfe, die nicht belehren will, mehr als angemessen. Mehrfach gehört, kann man sich sogar eine Veranstaltung in kleinem Rahmen vorstellen, bei der sie gemeinsam mit dem Prosatext vorgetragen werden. Mit Unterstützung des Klaviers durch die Violine entsteht eine poetische Stimmung, von der sich auch der Sänger und seine Mitstreiter ergreifen lassen. Fingerlos singt sehr in sich gekehrt, immer um Wortverständlichkeit bemüht. In den beiden Duetten „Gott woll‘, dass ich daheim wär“ und „Wer weiß, woher das Brünnlein quillt“ findet er zu inniger künstlerischer Gemeinsamkeit mit seinem Tenorpartner Berchtold. Der als Terzett angelegte Schlussgesang beschert ein in sich geschlossenes versöhnliches Ende eines Meisterwerkes. Nicht, dass die andere Lieder dagegen etwas abfallen. Hörer müssen aber erst umschalten von der reizvollen Form des kleinen Zyklus auf klavierbegleiteten Sologesang, darunter „Tannhäuser“, „Goldne Brücken“ und das „Klosterlied“. Bruch, in dessen Schaffen Lieder einen beträchtlichen Posten abgeben, ist im Gebrauch der Melodie nicht eben zögerlich. Seine Einfälle sind üppig und sehr bildhaft. Senkt sich die Nacht in einigen der Lieder nieder, erweist sich Bruch als spätromantischer Tonmaler vom Feinsten. Rüdiger Winter