Archiv für den Monat: April 2025

Ursula Schröder-Feinen

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Beim Durchforstenmeiner Sammlung anlässlich der jüngsten Elektra-Einspielung verharrte mein Blick auf der von Ursula Schröder-Feinen, der unvergessenen Sängerin meiner Berliner Tage an der Deutschen Oper Berlin. Und ich denke, meine Hommage an diese Frau, deren Todestag sich im Februar 2025 zum zwanzigsten Mal jährte und deren Stimme immer noch in mein Herz trifft,  werden unsere Leser mir verzeihen: „Ulla“ ist bis heute Teil meines Musik-Erlebens geblieben.

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 Elektra – wie könnte man die junge, beinahe unschuldige und dabei jubelnde, ehrliche, die Dimensionen des technischen Singens vergessen machende Stimme der Ursula Schröder-Feinen nicht erinnern? Sie war für eine ganze Generation die Elektra aller Träume; unvergessen aber auch ihre Salome, ihre Färbersfrau, ihre Brünnhilden, ihre lsolde, die alle so anrührend, so jung, so im besten Sinne unraffiniert waren. Viele andere Rollen , die sie erst in Gelsenkirchen und Düsseldorf und vor ihrer großen Karriere gesungen hatte (von der Post-Christl bis zur Tosca), könnte man für ihre Vielseitigkeit anführen, aber eigentlich war sie im Wagner- und Strauss-Fach die erste in der unmittelbaren Wirkung, die schlucken machte und zum Weinen brachte. ,,Heil dir Sonne“ oder „Agamemnon, Vater „ oder vor allem ihre Zeile „Barak, ich hab es nicht getan!“ hatten stets diese tief emotionale Wirkung. Unvergessen und bis heute – ich konnte jahrelang danach keine Elektra mehr auf der Bühne oder Platte hören. Ullas Elektra war und ist mir eingebrannt im Gedächtnis wie die Norma der Callas oder der Cerquetti.

Ursula Schröder-Feinen vor dem „Siegfried“-Poster an der Met/ Foto wie auch oben Erika Davidson

Ihre erste Isolde in Berlin (DOB), Beirers Bühnenabschied, ist mir in ihrer unaffektierten Schlichtheit ebenso unvergesslich (ein Wort, das sich beim Schreiben dieser Zeilen immer wieder aufdrängt) – um mit Martha Mödl zu sagen: Es sang aus ihr heraus. Man hatte bei Ursula Schröder-Feinen immer das Gefühl, es mache sich da etwas selbstständig, etwas Diaphanes, das die Rolle vor die Sängerin stellte, wie ich es selten auf der Bühne erlebt habe. Sie war ganz einfach die Färbersfrau, Isolde, Leonore. Sie begegnete ihren Partnern auf der Bühne als Figuren eines Dialogs, eines zutiefst menschlichen Miteinanders. Die Geste, wie sie ihrem Tristan im letzten Akt über die Haare strich, bleibt ebenso im visuellen Gedächtnis wie die Hand der Färbersfrau, als sie sich dem Jüngling der Versuchung zu- und abwandte. Diese schlichte, eindringliche Gestik gab dem Singen, dem wundervollen stimmlichen Erfassen der Figuren, Sinn. Und vor allen ihren Personen, die sie erschuf, steht für mich eben ihre Elektra, mit der sie Weltkarriere machte. Nie wieder habe ich diese Partie so in mich hineingelassen, wurde je wieder von ihr ausgefüllt. Von den ersten Tönen an, „Allein, weh ganz allein“, bis zum triumphalen Tod vergaß ich Raum und Zeit. Ursula Schröder-Feinen schuf mir ein magisches Fenster in ein eigenes Universum (ihres wie meines).

Version 1.0.0

Als wir uns 1998 in ihrem Haus im sonnigen Siegerland gegenübersitzen, kreist unsere Unterhaltung um das Thema Nerven und Stress. Privat war Ursula Schröder-Feinen eine der liebenswertesten, uneitelsten und direktesten Sängerinnen, die ich kennengelernt habe. Sie war zudem bemerkenswert offen und selbstkritisch. Wie sie selber die erste war, die zugab, es waren die Nerven, die Anspannung, die sie zum Pausieren getrieben haben. (Über die Karriere der Ursula Schröder-Feinen noch Details zu verlieren, erübrigt sich; sie hat in der ganzen Welt die großen Partien ihres Faches mit allen berühmten Kollegen gesungen und wurde von der Weltpresse umjubelt. Eine Zusammenfassung ihrer Karriere nachstehend.) Nach einer langen Phase des natürlichen, organischen Singens entdeckte sie, die nie aufgeregt vor den Vorstellungen gewesen war, die in der Garderobe Mineralwasser trank, wenn andere nach Champagner für die Fans riefen, ihre Nerven. „Ich stand auf der Riesenbühne der Met in ‚Siegfried‘, hatte einen Moment Zeit vor meinem Einsatz, und plötzlich dachte ich: Oh Gott, wenn ich jetzt etwas falsch mache! Die vielen Menschen da unten… –  und plötzlich lernte ich die Angst kennen, Angst vor einem Versagen, Angst, die ich nie vorher gekannt hatte. Vorher war alles so natürlich gewesen, die Sprung von mittleren Bühnen an die großen, nach Berlin, München, New York, Paris, Mailand.

Das war alles ganz normal gegangen, und auch die  großen Partien waren ganz normal gewachsen. Ich hatte nie Probleme beim Singen, nie Probleme mit den hohen Noten oder mit dem Volumen von Stimme oder Orchester, ich sang ganz einfach so, wie ich fühlte, und so war auch meine Darstellung. Aber dieses Mal an der Met: Ich hatte einfach Angst, Angst auch vor mir. Und dann ging es weiter. Die Angst blieb. Ich verkrampfte mich, fing an, technisch irgend etwas falsch zu machen. Vielleicht hätte ich da pausieren sollen und mich erst einmal finden sollen.  Pausieren ist ja schwierig. Man hat ja Verträge, bis zu sieben, acht Jahre im Voraus.  Aber das Syndrom der „verlorenen Unschuld“ ist ja vielen Sängern nur zu bekannt, wenn sie sich nach den ersten großen Erfolgen plötzlich in ganz veränderten Umständen wiederfinden. Dass Ängste zu Spannungen und Verkrampfungen führen ist vielen klar und dass man unter diesen Schwierigkeiten keine optimalen Leistungen bringen kann ja auch. Da kann man nicht einfach aussteigen. Und dann gibt man sich vielleicht auch nicht selber zu, dass man sich schlecht fühlt; man denkt: Ach, das geht vorüber, hab‘ dich nicht so. Dazu kam dann noch eine chronisch werdende Erkältung, die nicht fortgehen wollte. Und da blieb nichts weiter übrig, als eine Seption der Nasenscheidewand, was dann ein anderes Singen bedingte. Monate­ lang hatte ich vorher mit einer vereiterten Stirnhöhle gesungen, musste sogar meinen ‚Fidelio‘ in Berlin abbrechen – was man von mir nicht kannte. Ich war immer zuverlässig gewesen.“

Ursula Schröder-Feinen als Elektra an der Deutschen Oper Berlin/ Foto Kranich/ DOB

Ursula Schröder-Feinen pausierte; das war das einzige, was sie tun konnte. Ihr Gesundheitszustand und vor allem ihre psychische Verfassung ließen ein Weitersingen unter diesen Umständen nicht zu. Tiefste Depression brachte sie zu Gurus und anderen Versuchen der Selbstfindung nach Indien, wo sie zur Ruhe kam.

Vorher hatten wir als Freunde alles getan, um ihr sängerisch wieder auf die Beine zu helfen, hatten sie zu berühmten Lehrern wie Metternich gebracht. Die renommierten Stimmbildnerinnen Ira Hartmann und meine Freundin Hanna Ludwig in Salzburg versuchten ihr Heil („Bub, sie versteht mich einfach nicht – und ich sie wohl auch nicht!“, sagte Hanna zu mir und gab auf). Wir hatten sie sogar an eine kleine deutsche Bühne bringen wollen, wo eine Kollegin sich anbot, als Ersatz in der Gasse zu stehen. In Amsterdam sang sie dem damaligen und freundschaftlich verbundenen Intendanten vor, der eine Kundry suchte, aber danach um seine Kronleuchter fürchtete – die die einst so leuchtende Stimme war riesig, geborsten und wild geworden. Sie hatte sie nicht mehr unter Kontrolle.

In dieser Zeit erfuhr sie auch schmerzlich, wer Freund und Feind war.  Sie hatte nie in diesen Kategorien gedacht; und es sprach für ihre Aufrichtigkeit, das sie nicht bitter wurde. Viele der Kollegen und Agenturen, Intendanten und Bühnen, mit denen sie eng und unter Triumphen zusammengearbeitet hatte, die zum Teil auch – das muss man wirklich sagen – sehr viel Geld an ihr verdient hatten, wollten nun von der Hilfe Brauchenden nichts mehr wissen – man ließ sie fallen. ,,Es ist ein hartes Geschäft; wenn man nicht mehr in Top-Form ist, wird man links liegengelassen.“

Ursula Schröder-Feinen als Rezia in der ZDF-Produktion aus den Achtzigern/youtube

Durch ihr Leid hatte sie gelernt, keine Angst mehr vor dem Leben zu haben, ihr war das Schrecklichste passiert, was einem Sänger passieren kann; und durch diese Feuerprüfung war sie als ein gereifter Mensch hervorgegangen. Sie hatte, auch durch ihre Hinwendung zur buddhistischen Geisteshaltung, Selbstvertrauen und Sicherheit in einem neuen Leben neu gelernt. In der Begegnung mit dem Leid so vieler anderer Menschen in Indien suchte sie zurück in Deutschland ihr Zentrum in der Pflege von Alten und Bedürftigen. Sie starb nach einer schweren Grippe am 9. Februar 2005 mit nur 70 Jahren! Ich habe kaum eine Sängerin nach ihr kennengelernt, die mir mehr an Menschlichkeit vermittelte. Sie hat einen großen Teil meines Musikerlebens besetzt. Und ich vermisse sie. Geerd Heinsen

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Ursula Schröder-Feinen und ihre Kollegin Leonie Rysanek beim Salzburger Plausch anlässlich der „Frau ohne Schatten“ 1975 unter Karl Böhm/ der Fotograf war der berühmte Theaterfotograf Ellinger, der als langlebiger Chronist seit dem Krieg das Salzburger Opern- und Theaterleben dokumentierte/ Foto Schröder-Feinen privat

Statt vieler Worte zitiere ich den unersetzlichen Kutsch-Riemens: Schröder-Feinen, Ursula, Sopran,  (* 21. Juli 1936 in Gelsenkirchen; † 9. Februar 2005 in Hennef); Ausbildung bei Maria Helm in Gelsenkirchen, dann an der Folkwang Schule in Essen. Sie sang seit 1958 im Opernchor von Gelsenkirchen, übernahm 1961 dort eine Partie in der Operette »Der Vogelhändler« von Zeller; eine Woche später begann ihre Opernkarriere 1961 am Stadttheater ihrer Geburtsstadt Gelsenkirchen als Titelheldin in Verdis »Aida«. Bis 1968 blieb sie an diesem Haus. Die Karriere der Künstlerin nahm eine sehr schnelle Entwicklung. Sie trat mit glänzenden Erfolgen an den Staatsopern von Hamburg, München und Stuttgart, in Essen, Hannover und Karlsruhe auf und war 1968-1972 ein geschätztes Mitglied der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg wie auch der Deutschen Oper Berlin. 1970 debütierte sie an der Metropolitan Oper New York als Chrysothemis in »Elektra« von Richard Strauss, 1972 bewunderte man dort ihre Brünnhilde im »Ring des Nibelungen«. 1973 sang sie in Montreal die Titelrolle in »Salome« in der kanadischen Erstaufführung dieser Richard Strauss-Oper. 1975 trat sie beim Edinburgh Festival ebenfalls als Salome von Richard Strauss auf. Sie sang an der Staatsoper von Wien und an der Mailänder Scala; sie gastierte an der Grand Opéra Paris, in Genf, Straßburg, Kopenhagen, Prag und Amsterdam, an den Staatsopern von Berlin und Leipzig, bei den Festspielen von Edinburgh, in Lissabon, Genf, Chicago und San Francisco. Bei den Festspielen von Salzburg stand ihre Gestaltung der Färberin in der »Frau ohne Schatten« von R. Strauss 1974-75 im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. In Bayreuth sang sie große Wagner-Partien (u.a. 1971 Senta im »Fliegenden Holländer«, 1972 Ortrud im »Lohengrin«, 1973 Brünnhilde im Nibelungenring, 1975 Kundry im »Parsifal«). Weitere Höhepunkte in ihrem Repertoire waren die Elektra, die Tosca, die Turandot, der Fidelio, die Alceste in der gleichnamigen Oper von Gluck, die Cleopatra in »Giulio Cesare« von Händel, die Jenufa in Janáčeks bekannter Oper und die Isolde im »Tristan«. Nach einer Stimmkrise mußte sie ihre Karriere dann jedoch für längere Zeit unterbrechen. Von der groß dimensionierten hochdramatischen Sopranstimme der Künstlerin existieren nur wenige Aufnahmen. Auf Voce sang sie die Königin der Erdgeister in einer vollständigen Aufnahme der Oper »Hans Heiling« von Marschner. [Nachtrag] Schröder-Feinen, Ursula; sie trat 1976 an der Grand Opéra Paris als Brünnhilde auf. 1979 mußte sie ihre Karriere für längere Zeit unterbrechen. [Lexikon: Schröder-Feinen, Ursula. Großes Sängerlexikon, S. 22018 (vgl. Sängerlex. Bd. 4, S. 3152; Sängerlex. Bd. 6, S. 597) (c) Verlag K.G. Saur]

Anzumerken sind die vielen Live-Aufnahmen, die unter Sammlern kursieren, namentlich die vielen für den Dirigenten Günther Wich in Düsseldorf und NRW eigens mitgeschnittenen (so die Walküre 1974 in Düsseldorf). Der Tristan 1973 in Gelsenkirchen dokumentiert sie in der Partie der Isolde, die Frau ohne Schatten gibt es mehrfach (Salzburg 1975, die Met 1978, San Francisco 1976 u. a.), auch die Salome (Met, Wien u. a.), Fidelio (dto.), Parsifal bei der RAI 1970 und manche, manche mehr. Neben ihrer einzigartigen Färberin (mir unvergessen an der DOB Berlin neben der ebenfalls ewigen Rysanek als Kaiserin („Vater bist du´s?“), ist für mich als eine der unersetzlichen Aufnahmen ihre Ortrud im Bayreuther Lohengrin 1976 unter Silvio Varviso – endlich eine schön-stimmige Sopran-Ortrud an einem fulminant dirigierten Abend (warum hat orfeo das nicht längst herausgegeben?) (Foto oben: Ursula Schröder-feinen als Webers Rezia in dem ZDF-Opern-Film/youtube). G. H

Fetziges vor Gluck

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Und wieder haben uns die Brüder Dratwicki in Dankesbande geschlagen, diesmal Benoit, Directeur artistique beim Centre de musique baroque de Versailles (und gleichzeitig  Conseiller artistique beim Palazzetto Bru Zane, das von seinem bei operalounge vielfach erwähnten Bruder Alexandre geleitet wird). Benoit Dratwicki ist verantwortlich für die vielen Ausgrabungen der vor-romantischen französischen Oper, meistens des Barock, aber in diesem Falle eben auch der vor-revolutionären Epoche vor dem Sturm auf die Bastille und Napoleon. Es geht um die Oper Ernelinde, Princesse de Norvège, von François-André Danican Philidor, die 1767 an der Pariser Oper Premiere hatte und die nun mit Glanz bei Chateau de Versailles nach konzertanten Aufführungen in Frankreich auf CD (CVS 161, 2 CD) erschienen ist – wie stets bei dieser Firma luxuriös ausgestattet, mit einem  hochinformativen Artikels von Benoit Dratwicki, den wir mit Dank an den Autor nachstehend bringen.

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Ein paar Worte zur Einführung: François-André Danican Philidors Ernelinde ist eine tragische Oper in drei Akten. Sie war ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der französischen Oper. Sie zeigt die erfolgreiche Anpassung italienischer Formen und Musikstile an die französische Operntradition. Philidor (genannt: André Danican Philidor „der Jüngere“, * 7. September 1726 in Dreux; † 31. August 1795 in London)  erlangte schon früh großen Ruhm ausgerechnet als Schachmeister, und hätte er in ganz Europa an Wettkämpfen teilgenommen, wäre er aufgrund seines Könnens Weltmeister geworden.

Als Komponist hatte er Schwierigkeiten, sich zu etablieren, da seine Musik in Frankreich als viel zu italienisch empfunden wurde, und tatsächlich war er stark von den aktuellen italienischen Trends beeinflusst. Große Erfolge feierte er jedoch mit seinen Opéra comiques (Tom Jones vor allem). Ernelinde war ein Versuch, die französischen Traditionen der tragédie lyrique mit ihren Balletten, Spektakeln und tragischen Versen mit den Formen und Ausdrucksweisen der italienischen opera seria zu verbinden. Philidors Librettist, Antonine Alexandre Henri Poinsinet, sah sich selbst als eine Art Kreuzritter und Anführer der Reformbewegung der Enzyklopädisten. In der Einleitung zum Libretto schrieb er eine Art Manifest zur Opernreform und erklärte klar seine Ziele bei der Entwicklung eines neuen Stils der französischen Oper. Tatsächlich war Poinsinet ein weniger begabter Dichter und erntete von den anderen Schriftstellern und Intellektuellen seiner Zeit nichts als Spott.

André Danican Philidor/Collection Musée de Paris

Philidors Partitur mit ihren dramatischen, groß angelegten Arien, dem Recitativo accompagnato, dem obbligato Recitativo und den dramatischen Doppelchören verbindet jedoch sehr gelungen den französischen und den italienischen Stil. Anstelle einer fünfaktigen tragédie lyrique nach französischer Tradition komponierte Philidor ein dreiteiliges italienisches Stück, in dem die Arien als Teil der Handlung behandelt wurden und nicht aus dem Drama herausgenommen und für die Divertissements reserviert waren. Er schuf Raum für dramatisch wirkungsvolle Ballette, wie es in der französischen Tradition üblich war, verzichtete jedoch auf jeglichen Versuch eines traditionellen französischen merveilleux. Obwohl seine Oper reich an Spektakulärem ist, darunter eine Gefängnisszene, Truppen zu Pferd, heidnische Rituale und Ballette, gibt es keine magischen oder übernatürlichen Elemente. Das Thema der Oper hatte für die Franzosen einen exotischen Reiz, da es sich um eine Geschichte aus der Wikingerzeit handelt; ein düsteres, kraftvolles Drama mit einer fantasievollen Balletteinlage, getanzt von Tataren, Kosaken, Isländern und Lappen. Das Thema für das Libretto stammt aus einem Operntext von Francesco Silvani. Sein Werk wurde ursprünglich von Ferrandini und später von Gasparini vertont. Die Uraufführung von Ernelinde fand am 24. November 1767 in der Pariser Oper statt. Das Werk war so beliebt, dass mehrere Versionen und sogar Parodien davon produziert wurden.

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Soweit die Historie, die in Benoit Dratwickis Artikel noch vertieft wird. Nun interessiert den „normalen“ Opernliebhaber wohl doch in erster Linie, wie das Ganze klingt, und das ist erstaunlich aufregend. Eine Glucksche Revolution von 1769 vor Gluck sozusagen (dessen Ophée liegt bei 1774, seine Iphigenie en Aulide für Paris ebenfalls bei 1774), eine packende, rasante Musik mit einer ziemlich plausiblen Handlung, absolut superb gesungen und vor allem ebenso dirigiert. Der junge norwegische Dirigent Martin Wahlberg sorgt am Pult des Orkester Nord Trondheim und der Voix Nidrosiensis (wer???) für aufregende Spannung, für ein Kaleidoskop an Farben, vor allem für eine vorwärtsdränge Klangsprache (unüberhörbar sind in der Ouvertüre die Vor-Echos zu Mozarts Don Giovanni/1787), die die Handlung vorantreibt und die Rezitative (namentlich in der Exposition des 1. Aktes) sehr erträglich handlungstragend macht.

Martin Wahlberg/Facebook

Gesungen wird auch, und das prachtvoll. In der Titelrolle ist Judith van Wanroij (die man eher etwas müde in Erinnerung hatte) hier eine entschlossene, aktive Ernelinde voller Pathos und schöner Rollengestaltung. Reinoud van Mechelen wiederholt als liebender Sandomir den guten Eindruck seiner vergangenen Einspielungen. Thomas Dolié zählt (hier als Vater Rodoald) zu Recht zu den bewährten Hauskräften auch des Palazzetto. Dazu kommen mit Glanz Matthieu Lécroat hervorragend als Bösewicht Ricimer sowie  Jehanne Amzal, Martin Barigault sowie Clément Debieuvre in kleineren Rollen. Alle zusammen sind superb, aber der eigentliche Held ist das Orkester Nord in seiner vorwärtsdrangenden Klangqualität unter Martin Wahlberg, absolut ravissant! Die Aufnahme bei Chateau der Versaille hat einen Ehrenplatz in meinem Opern-Olymp. G. H. (02. 05. 25)

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Philidor: „Ernelinde“: Chef des Danois/Kostümentwurf von René-Robert Bouquet/Gallica BNF

Ein kurzer Blick zum Inhalt: Ernelinde ist zwischen ihrer Kindespflicht gegenüber ihrem Vater Rodoald und ihrer Liebe zu Sandomir hin- und hergerissen. Obzwar Sandomir Rodoald anfangs feindlich gesinnt ist, dient er dem König schließlich aus Liebe zu dessen Tochter. Ricimer stiftet Frieden, doch die Freude ist nur von kurzer Dauer, als er seine Absicht, Ernelinde zu erringen, bekannt gibt. Obwohl es Ricimer nicht gelingt, Ernelinde für sich zu gewinnen, hält er offiziell bei Rodoald um ihre Hand an. Da er die Liebe der Prinzessin nicht erringen kann, erpresst er sie, indem er Rodoald und Sandomir verhaften lässt und bedroht. Ernelinde rettet ihren Vater, lehnt sich aber gleichzeitig gegen die Grausamkeit des tyrannischen Ricimer auf. Sandomir ist immer noch gefangen und verzweifelt: Er kann sein Leben nur retten, wenn er Ricimers Befehl, auf Ernelinde zu verzichten, nachkommt, wozu ihm auch Rodoald rät. Ernelinde, die Sandomir weiterhin liebt, zieht den Tod mit ihrem Geliebten der Ehe mit dem tyrannischen Ricimer vor. Das Liebespaar, das bereit ist, miteinander zu sterben, wird schließlich von König Rodoald gerettet, dem es auch gelingt, sein Land zu befreien. Daraufhin begeht der gedemütigte Ricimer Selbstmord. Chateau.de Versailles.

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Philidor: „Ernelinde“: Kostümentwurf von René-Robert Bouquet/Gallica BNF

Und nun Benoît Dratwicki vom Centre de musique baroque de Versailles: Philidors Ernelindeeine vorzeitige Revolution. Ernelinde princesse de Norvège [„Ernelinde, Prinzessin von Norwegen“], die erste Tragédie en musique von François-André Danican Philidor, wurde 1767 an der Pariser Oper – die damals Académie royale de musique hieß – uraufgeführt. Das Werk entstand in einem besonderen Kontext: Es handelt sich nämlich um die letzte Produktion, die auf Initiative der Geiger, Komponisten und königlichen Verwalter François Rebel und François Francoeur, unter deren Leitung die Institution seit genau zehn Jahren stand, aufgeführt wurde. Gleich nach ihrer Ernennung Anfang 1757 hatten sie es sich zur Aufgabe gemacht, die noch verbliebenen Glutnester des Buffonistenstreits zu löschen, der die französische Opernwelt zwischen 1752 und 1754 entzweit und die Verfechter der italienischen und der französischen Oper gegeneinander aufgebracht hatte. Moderne und Tradition waren von Künstlern, Literaten und Philosophen gleichermaßen heftig gegeneinander ausgespielt worden, und das Publikum nahm sich heraus, Werke je nach seinem Empfinden zu unterstützen oder zu Fall zu bringen. Doch schließlich siegte der französische Geschmack dank einiger markanter Ur- und Wiederaufführungen wie Dauvergnes „Les Amours de Tempé“, Mondonvilles „Titon et l’Aurore“ oder Rameaus „Platée“ und „Castor et Pollux“.

Sowohl aus künstlerischer Neigung als auch aus politischem Pflichtgefühl entschlossen sich Rebel und Francoeur dazu, die Meisterwerke des alten Repertoires neu aufzuführen, allen voran die wichtigsten Werke von Lully („Alceste“, „Proserpine“, „Amadis“, „Armide“, „Acis et Galatée“ und „Thésée“). Diese wurden mit prächtigen Bühnenbildern und Kostümen ausgestattet, wobei die Musik – besonders in den Balletten – ein wenig bearbeitet wurde, um ihr mehr Glanz und Sinnlichkeit zu verleihen. Gleichzeitig gaben sie neue Werke bei prominenten Komponisten in Auftrag: Rameau, Dauvergne, Berton oder Trial zum Beispiel, aber – erstaunlicherweise – auch bei einigen Musikern, die damals auf der konkurrierenden Bühne der Comédie-Italienne (der späteren Opéra-Comique) große Erfolge feierten. So komponierten Pierre-Alexandre Monsigny seine „Aline reine de Golconde“ und Philidor seine „Ernelinde princesse de Norvège“, die 1766 bzw. 1767 uraufgeführt wurden, als die Amtszeit der beiden Direktoren gerade zu Ende ging.

Philidor: „Ernelinde“: Kostümentwurf von René-Robert Bouquet/Gallica BNF

Während „Aline“ der Gattung der Ballettoper [Opéra-ballet] angehörte, die den Demi-caractère und eine gewisse Leichtigkeit des Tons begünstigte, ist „Ernelinde“ der Gattung der Tragédie en musique zuzurechnen, die die großen Leidenschaften sowie alle auf der wichtigsten Opernbühne denkbaren spektakulären Triebkräfte in sich vereinte.

Während sich die zwei Werke in ihrem Genre unterscheiden, ähneln sie einander in Stil und Form: Beide Werke führten in die Pariser Oper die italienische Art ein, wie sie seit einigen Jahren in der Opéra-Comique angewandt wurde, indem sie eine Aufteilung in drei Akte ohne Prolog aufweisen. Beide lehnen auch das Märchenhafte zugunsten eines exotischen Themas ab: Indien für „Aline“, Norwegen für „Ernelinde“. Bühnenbild und Kostüme schöpften also aus Beständen, die für die Opernbühne noch kaum gezeigt wurden, was dazu beitrug, den beiden Werken ein besonderes Profil und vor allem einen Hauch von Neuheit zu verleihen, der nicht unbemerkt blieb. Monsigny und Philidor müssen somit als zwei wesentliche Reformer der französischen Oper betrachtet werden, und das etwa zehn Jahre bevor Christoph Willibald Gluck nach Paris kam und ihren Erneuerungsversuch weiterführte, um eine radikale Revolution einzuleiten, die das alte Repertoire in nur wenigen Monaten zu Fall bringen sollte.

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Der Autor, Benoit Dratwicki/Directeur artistique beim Centre de musique baroque de Versailles (und gleichzeitig  Conseiller artistique beim Palazzetto Bru Zane,/Facebook

Das Libretto von „Ernelinde“ stammt von Antoine-Alexandre-Henri Poinsinet, der nicht verschwieg, dass er sich direkt von Ferradinis Vertonung von „Ricimero, redei Goti“ inspirieren ließ, von deren Text er meinte, er sei von Antonio Noris 1684 geschrieben worden. Tatsächlich stammte dieses Libretto aber aus Francesco Silvanis „La fede tradita e vendicata“ (1704). Das Drama basiert teils auf einer historischen, teils auf einer legendären Handlung in Skandinavien, in der die Könige von Norwegen und von Gotland (Schweden) einander feindlich gesinnt sind. Im Vorwort zu seinem Libretto verteidigt Poinsinet seine Entscheidung zur vollständigen Verdrängung des Märchenhaften, und zwar sowohl aus ästhetischen Gründen, um zu versuchen, ein „neues Genre“ an der Oper zu etablieren, als auch aus pragmatischeren Überlegungen, denn „die Ausgaben zu reduzieren“ war seiner Meinung nach „das sicherste Mittel, um es zu schaffen, aufgeführt zu werden“… Auch wenn die Verse nicht die kunstvollsten sind, und sich die Handlung nicht mit der ganzen Klarheit großer Tragödien entwickelt, muss man sich die Wirksamkeit der von Poinsinet erdachten dramatischen Situationen eingestehen. Das Libretto wurde 1769, 1773 und 1777 bei den aufeinanderfolgenden Aufführungen in Paris und Versailles überarbeitet und gewann allmählich an Kraft, wobei die avantgardistischen moralischen und philosophischen Werte wie Patriotismus, Heldentum und das Streben nach Freiheit und Gleichheit nun deutlicher hervortraten und die Liebeshandlung in den Hintergrund drängten. Daher ist es nicht erstaunlich, dass einer der Chöre von „Ernelinde“ (« Jurons sur nos glaives sanglants… » [„Schwören wir auf unsere blutigen Schwerter…“]) während der Revolution gesungen wurde.

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Philidor: „Ernelinde“: Kostümentwurf von René-Robert Bouquet/Gallica BNF

Bei seiner Uraufführung hatte das Werk etwa gleich viele Befürworter wie Gegner, die ihr Missfallen in lauten Buhrufen bekundeten. Was die Interpreten betrifft, könnte es sein, dass die Mitglieder der Académie royale de musique sich nicht genug bemühten, eine Partitur zu erlernen und sich für sie einzusetzen, die ihrer täglichen Praxis nicht entsprach. Poinsinet behauptete jedenfalls, er habe gegen den „unziemlichen Tumult der Proben ankämpfen müssen“. Von Seiten des Publikums wurde Philidor vor allem vorgeworfen, Jomelli undGluck plagiiert zu haben. Tatsache ist, dass der Komponist, der ein großer Bewunderer von Glucks 1762 in Wien uraufgeführtem „Orfeo ed Euridice“ war, die Musik dieses Komponisten in der Ouvertüre und im ersten Duett von „Ernelinde“ annähernd notengetreu übernimmt. Rameaus Anhänger waren über die Heftigkeit des Gesangs – ihrer Meinung nach voller Schreie – und über die Begleitungen entsetzt, die sie als laut und eintönig empfanden. Philidors Musik wirkte schockierend, da sie sich radikal vom bisher Gewohnten abwandte: Die Carrures, Entwicklungen und Modulationen waren von einem entschieden italienischen Stil geprägt und kündigten die damals im Entstehen begriffene Wiener Schule an. Man kann abwechselnd die Musik von Pergolesi, Haydn und sogar Mozart erahnen, doch ist vor allem die reformierte gluckistische Tragödie zu erkennen: Philidor war ein unbestrittener Meister der Opéra-comique.

Philidors „Ernelinde“: Bühnenbild/Gabriel Jacques de Saint-Aubin/ Centre de Musique de Baroque de Versaille

Er besaß ein hervorragendes Gespür für das Theater und hatte sich bereits die Grundsätze des deutschen Komponisten zu eigen gemacht. Doch Paris war noch nicht bereit, sie anzunehmen. Das Plagiat moderner Autoren war nicht der einzige Grund, der zur Kontroverse beitrug. Unter anderem scheint die Abwesenheit der ersten Sängerin der Oper, der vom Publikum angehimmelten Sophie Arnould, eine große Rolle gespielt zu haben. Da sie, wie so oft Mitte der 1760er Jahre krankheitshalber ausfiel, musste sie die Titelrolle, die extra für sie komponiert worden war, an eine ihrer Rivalinnen, Marie-Jeanne Lemière, abtreten. Die Starsängerin schäumte vor Wut, und die „Mémoires secrets“ [„Geheimen Memoranden“] berichten gallig vom „extremen Wunsch von Mademoiselle Arnould, den Sturz von „Ernelinde“ weiter zu beschleunigen“ (T. 17, S. 350, 24. Dezember 1767), um zu sehen, wie ihre Rivalin von der Bühne verschwindet. Obwohl Mademoiselle Lemière in den virtuosen Arien und in den Rollen von Schäferinnen oder Nymphen hervorragend war, hatte sie Mühe, in der edlen Figur einer verliebten Prinzessin zu überzeugen. Auch enthielt die Komposition von „Ernelinde“ nichts, was ihr entgegenkam: keine Vokalisen, keine hohen Noten, keine verzierte Melodie. Die Titelrolle, die voller Verzögerungen und tragischer Posen ist, erforderte eine perfekte Schauspielerin und eine Stimme, die die Rezitativszenen mit der emphatischen und ausgefeilten Deklamation, auf die sich Sophie Arnould spezialisiert hatte, wiedergeben konnte. Die Sängerin wurde daher heftig kritisiert, worunter das Werk zweifellos litt.

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Philidors „Ernelinde“: Opernstar Sophie Arnould sollte  die Titelsängerin sein und musste zugunsten von Marie-Jeanne Lemière verzichten/Marmorbüste von Antoin Houdon im Pariser Louvre/Wikipedia

Verbreitung: Im Jahr 1767 wurde das Werk nur siebzehnmal aufgeführt, ein für die damalige Zeit eher magerer Erfolg. Trotz dieser Widrigkeiten triumphierte „Ernelinde“ schließlich und wurde für einige Zeit wieder ins Repertoire aufgenommen: die Oper wurde 1769 gespielt, als der dänische König zu einem offiziellen Besuch in Paris weilte (was es aus diplomatischen Gründen erforderlich machte, das Libretto zu überarbeiten und den Titel in „Sandomir roi de Danmark“ zu ändern, wovon die Erstausgabe der Partitur zeugt). 1773 wurde „Ernelinde“ in das Programm der Hochzeitsfeierlichkeiten des Grafen von Artois (des späteren Karl X.) in Versailles miteinbezogen und schließlich 1777 für das Publikum der Pariser Oper wiederaufgenommen.

Ihr Nachruhm endet hier, zehn Jahre nach der Uraufführung. Doch mehr als das Werk selbst war es vor allem der Kontext, der dafür verantwortlich war. Die Flut neuer Komponisten in Paris in den frühen 1780er Jahren führte zu einer ständigen Erneuerung des Repertoires, aus dem nur einige wenige Opern dauerhaft hervorgingen: die Opern von Gluck und eine kleine Anzahl von Werken von Piccinni („Dido“), Sacchini („OEdipe à Colone“) und Salieri („LesDanaïdes“). „Ernelinde“ wurde ebenso wie Grétrys „Céphale et Procris“, Floquets „L’Union de l’Amour et des Arts“, Johann Christian Bachs „Amadis de Gaule“ oder Grétrys „Andromaque“ – alles Opern aus dem Jahrzehnt 1770-1780, die beim Publikum gut angekommen waren – endgültig abgesetzt. Einerseits hatte sich der Geschmack geändert, andererseits zwang der Brand der Oper im Jahr 1781, der die Lager verwüstete, die Verwaltung dazu, nur erfolgreiche Werke zu spielen, mit denen eine kostspielige Wiederherstellung von Bühnenbild und Kostümen zu rechtfertigen war. Dies traf auf „Ernelinde“ allerdings nicht zu. Bis 1792 hegte Philidor jedoch die heimliche Hoffnung auf eine Wiederaufnahme seines Werkes und überarbeitete die Partitur sogar, um ihr vorromantische Züge zu verleihen. „Ernelinde“ war zwar verstummt, doch ihr Ruhm überlebte sie. Noch 1791 lobte Pierre- Louis Ginguené die Oper als ein Werk, „das Epoche macht und seinem Autor den Ruhm sichert, als erster auf unserer Opernbühne das einfach deklamierte Rezitativ und die Arien, Duette, Terzette und andere gemessene Musikstücke nach der italienischen Methode an die Stelle der alten, einschläfernden französischen Psalmodie gesetzt zu haben“ (Encyclopédie méthodique).

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Philidors „Ernelinde“: der Tenor Joseph Legros sang den Sandomir/Stich von Lecrerc Macret 1770/Wikipedia/Gallica BNF

Eine Aufführung von „Ernelinde princesse de Norvège“ im Jahr 2024, wirft für den Forscher und Interpreten ernsthafte Fragen auf. Zunächst hinsichtlich der Wahl der Fassung. 1767? 1769? 1773? 1777?… Hier musste nach dem Ausschlussverfahren vorgegangen werden. Die Version von 1777 ist zwar die dramaturgisch ausgereifteste, sieht aber für alle Rezitative eine Orchesterbegleitung vor und verwischt so die Einzigartigkeit und Modernität, die Philidor in den 1760er Jahren auszeichnete. Die Fassung von 1773, die für eine königliche Hochzeitsfeier bestimmt war, enthält pompöse Feste und glänzende Ballette, die die Handlung verwässern und ihre Wirkung abschwächen. Die Musik der Originalfassung schließlich aus dem Jahr 1767 ist nur als Manuskript überliefert und teilweise verloren gegangen. Folglich bleibt die Version von 1769 übrig, die der ersten Veröffentlichung der Musik entspricht. Siewar sowohl die praktischste in Bezug auf die Quellen als auch die ausgewogenste in Hinsicht auf ihren Gehalt. Diese Fassung wurde hier aufgenommen.

Darüber hinaus erfordert das Werk zwar die gleiche Aufmerksamkeit wie das übrige Barock- und Klassik- Repertoire der Académie royale de musique in Betracht auf Musikquellen, Besetzung oder Stimmton, doch Philidors ausgesprochen moderner Stil verlangt, sich mit bestimmten Aspekten auseinanderzusetzen, wie etwa mit der Verzierung der Gesangslinien oder der ersten Punkt betrifft, kann man anhand der einzelnen Stimmhefte, die noch heute in der Bibliothèque de l’Opéra de Paris aufbewahrt werden, in etwa beurteilen, inwiefern Philidors Kompositionsweise für Singstimmen eine Besonderheit darstellt: Um seine gesungenen Melodien aufzuwerten, behält der Komponist einige Verzierungen aus der Zeit Rameaus bei, aber anstatt sie mit Verzierungszeichen in der traditionellen Form (wie das für die französische Musik seit der Zeit Lullys charakteristische +) zu präsentieren, schreibt er alle Noten der Ornamente aus und versteift die Verzierung, indem er ihr eine genau definierte Dauer, Tonhöhe und auch den Stimmfall auferlegt. Dies ist vor allem bei den Tremblements, Ports de voix und Sanglots der Fall. Diese Entscheidung war keineswegs nebensächlich, sondern ein großer Schritt, um den italienischenBelcanto in Frankreich zu assimilieren, der sich allerdings erst Anfang des 19. Jahrhunderts durchsetzen sollte. Im Bereich der Oper ist der Keim dieser Entwicklung in „Ernelinde“ bereits deutlich zu erkennen.

Philidors „Ernelinde“: der Bass Nicolas Gélin sang den Rodoald, hier als Castor mit Rosalie Campagne als Phébe in Rameaus Oper 1772 in Paris/BNF Gallica

Ein weiterer wesentlicher Aspekt für die richtige Interpretation von Philidors Musik ist die Art der Deklamation, die auf die Rezitative angewandt wird. Die Kompositionsweise ist hier scheinbar sehr modern, mit einer schlichten Basslinie in langen Werten nach dem Vorbild des italienischen Rezitativs. Zwar lädt sie a priori zu einer vollkommenen Freiheit und einer großen Variationsmöglichkeit des Gesangflusses ein, doch es zeigt sich, dass die rhythmische Notation und die Prosodie, die sich (in der Tradition von Lully und Rameau) auf den starkenTaktteil konzentrieren, den Sänger zu einer gewissen Emphase zwingen, die nicht die völlige Flexibilität zulässt, die er vermeintlich hat. Dieses Rezitativ, das nicht versucht, das gesprochene Wort zu imitieren, sondern vielmehr die Gemütsbewegungen zu übertreiben, wird übrigens von einem reichen Basso continuo begleitet, der schwer völlig flexibel sein kann: Von den 1670er Jahren bis nach der Revolution unterstützte in der Pariser Oper eine Gruppe von 5 bis 7 Bässen (der Petit choeur [kleine Chor]) einstimmig die Sänger. In den 1760er Jahren waren dies ein Cembalo, zwei oder drei Violoncelli und ein Kontrabass. Diese Besetzung wurde auch für die vorliegende Aufnahme eingesetzt, wodurch sich die „Ernelinde“-Rezitative deutlich vom zeitgenössischen italienischen Recitativo secco unterscheiden, das bescheidener von einem Cembalo und einem Cello oder sogar nur von einem Fortepiano begleitetwird.

Philidors „Ernelinde“/ Schach: Une partie d’échecs à l’aveugle contre l’ambassadeur de Turquie/Wikipedia

Dank der Forschungsarbeit von Hilary Metzger (die hier das erste Cello des Continuos spielt) wurde außerdem – zum ersten Mal in der Diskographie des französischen Repertoires dieser Epoche – die Technik der Akkordbegleitung durch eines der Celli des Petit choeur angewandt, wie sie in zahlreichen europäischen (und insbesondere französischen) Quellen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts belegt ist. Das klangliche Ergebnis ist absolut neuartig, ebenso wie die daraus resultierende theatralische und poetische Wirkung. Es handelt sich zweifellos um eines der mutigsten Experimente der Performance practice, die in den letzten Jahren in diesem Bereich durchgeführt wurden. Diese beiden Aspekte – Verzierung und Deklamation – führten dazu, dass die Solopartien mit Stimmen von besonderer Qualität besetzt wurden und dadurch an die Sänger der Uraufführung erinneren (soweit wir heute in der Lage sind, sie anhand von Musikquellen und zeitgenössischen Kommentaren zu erahnen). Das heißt, beredte Stimmen, die der Kunst des Sprechens verpflichtet und fähig sind, alle Feinheiten der musikalischen Gestaltung zu beherrschen. Als Ernelinde brauchte man keine glänzende Stimme – wie die von Mlle Lemière, die daran scheiterte –, sondern eine farbenreiche, die alleindurch ihr Timbre rühren und durch ihre Vortragskunst Mitleid erregen kann, wie die von Sophie Arnould, hätte sie diese für sie konzipierte Rolle interpretiert. Ihre Stimme war nicht kräftig – man nannte sie liebevoll « le plus asthme de l’Opéra » [das heftigste Asthma der Oper] –, aber dafür besonders ausdrucksstark. Für den Sandomir brauchte man einen Hautecontre,dessen Stimme an Joseph Legros erinnerte, einen tapferen und zugleich zärtlichen Sänger, der gleichermaßen von Heroismus und Lyrik durchdrungen war. Für Rodoald und Ricimer, deren Rollen bei der Uraufführung Nicolas Gélin und Henri Larrivée sangen, konnte man sich nur brillante, durchdringende, aber agile Baritonstimmen vorstellen, die eher das romantische Zeitalter ankündigten als in der alten barocken Manier verhaftet zu sein.

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Philidors Büste an der Fassade der Pariser Oper/Salle Garnier/Wikipedia

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass Philidors Instrumentierung zwar sehr italienisch anmutet: Er setzt Oboen und Hörner ein, die vor allem eine harmonische Rolle spielen, wenige selbständige Fagottstimmen im Vergleich zum Repertoire der Ramisten und – was für die Pariser Oper erstaunlich ist – fast keine Flöten, doch sollten die geschriebenen Noten die Praxis nicht verdecken, denn damals bestand das Pariser Orchester aus vier Oboisten und vier Fagottisten. Die Bläser spielten also in kompletten „Sektionen“ und nicht als Solisten wie im restlichen Europa. Um die besondere Klangfarbe und den daraus resultierenden Masseneffekt wiederherzustellen, wurden vier Oboen und vier Fagotte um die Streicher gruppiert, wodurch das Klangergebnis deutlich verändert wurde.

Die Frage des Balletts: Obwohl die aufeinanderfolgenden Fassungen von „Ernelinde“ jede Menge Tänze enthielten, mussten wir uns dazu entschließen, nur einige wenige davon zu übernehmen: Die vorliegende Aufnahme spiegelt ein Konzert wider, dessen Rahmen nicht dazu geeignet war, dem Publikum endlose Ballettszenen in Form von Orchestersuiten darzubieten. Doch in einem Bereich, in dem man es nicht von Philidor erwartet hatte, erwies er sich als äußerst inspiriert, wie die aufgenommenen und alle anderen Tänze, in deren Noten wir Einblick nahmen, belegen.

Mögen zukünftige Gelegenheiten dazu führen, dass diese Tänze vollständig zu hören sind und vor allem, dass ein eminent theatralisches und effektvolles Werk wieder auf die Bühne gebracht wird. Benoit Dratwicki/DeepL/Red. G. H.

A la francaise

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Anna Gottlieb, die erste Pamina in der Zauberflöte, war bei der Uraufführung siebzehn. Eine neue Einspielung der Oper von Wolfgang Amadeus Mozart folgt genau diesem Vorbild. In einem Auswahlverfahren wurde sie gefunden. Ihr Name: Ruth Williams. Sie stammt wie das von Martin Wåhlberg geleiteten Trondheimer Orkester Nord aus Norwegen. Den Chor stellt das Vokalensemble Vox Nidrosiensis, das auch mit Bach-Kantaten in Erscheinung getreten ist. Aufgenommen wurde in der katholischen Kirche Saint-Michel der mittelfranzösischen Gemeinde Pontaumur. Der Dirigent schließt damit eine der französischen Opéra-comique gewidmeten Aufnahmeserie mit seinem Ensemble ab. In deren Tradition sieht er auch die Zauberflöte. Deshalb wurde entschieden, den meist drastisch gekürzten Sprechtext des Librettos von Emanuel Schikaneder komplette einzuspielen. Figuren wie Sarastro treten dadurch deutlicher und auch zwiespältiger hervor. Wer mitlesen will, wird im Boooklet mehrsprachig fündig. An der bei Aparte erschienen Ausgabe (AP367) in Buchformat wurde nicht gespart wurde.

Im erklärenden Vorwort, das entgegen den Angaben auf der Rückseite des Covers nur in Englisch und Französisch abgedruckt ist, kommt der Dirigent selbst zu Wort. Nach seiner Überzeugung ergebe Mozarts Musik nur dann ihren vollen Sinn, wenn sie als Teil des gesamten dramatischen Gefüges erlebt werde, aus dem sie hervorgehe. Hinweise oder Anhaltspunkte für die aktuelle musikalische Umsetzung hätten sich in verschiedenen Quellen gefunden. Bei den Vorarbeiten sei man schließlich auch auf das Aufführungsmaterial gestoßen, das nach Einschätzung von Wåhlberg selten erforscht worden sei und in keiner der Urtext-Ausgaben Berücksichtigung gefundene habe. Es stamme aus dem Archiv des Theaters auf der Wieden, dem Uraufführungshaus und offenbare faszinierende Informationen. Es gebe Markierungen, Phrasierungs- und Bogenangaben, die die Partitur detailliert beschreiben würden und auch Hinweise darauf, wo Pausen, Pizzicato-Spiel und die Balance der Instrumente zu beachten seien, so der Dirigent.

Bisher unveröffentlichte musikalische Fragmente wurden eingebaut. Am auffälligsten ist eine kurze Flötenfantasie während der Prüfung des Schweigens im zweiten Akt, die Tamino erfolgreich besteht (CD 2, Tr. 17). Im Ergebnis solcher Forschungen klingt in der an Verzierungen reichen neuen Aufnahme manches anders. Warum aber der ungenannt bleibende dritte Sklave, der seinen Peiniger Monostatos an den Galgen wünscht, schwäbelt, erklärt sich nicht. Es hört sich allerdings vergnüglich an, wenn er sagt: „Pamina, des reizende Mädl ischt enschprunge.“ Der Gag fällt umso mehr auf, als sich einige Solisten, mit ihren Dialogen in deutscher Sprache schwer tun. Wenn man sie denn vollständig bietet wie hier, hätte an der Aussprache gefeilt werden müssen. Das gilt allerdings nicht für den jetzt 36-jährigen schweizerischen Bariton Manuel Walser, der den Papageno gibt und auf dem Besetzungszettel des Booklets an erster Stelle erscheint. Diese ungewohnte Position – mag sie zufällig sein oder nicht – ist allemal durch Leistung unterfüttert. Gewandt in Wort und Musik zeichnet er ein in sich geschlossenes Porträt. Mit seinem einnehmendes Timbre und ist er von allen Mitwirkenden am besten zu verstehen. Für mich schafft der stimmlich und darstellerisch glänzend aufgelegte Walser gemeinsam mit dem Tamino von Angelo Pollak die gesanglichen Höhepunkte der Neuerscheinung. Bereits ihr erster gemeinsamer Auftritt gleich nach der Ouvertüre lässt erahnen, warum der Dirigent das Werk Mozarts in formaler Nähe zur Opéra-comique sieht. Pollak, der noch keine dreißig sein dürfte, schloss sein Masterstudium in Gesang erst 2019 ab. Zuvor war er an der Wiener Universität für Darstellende Kunst und Musik in ein Hochbegabten-Förderungsprogramm für Klavier und Violoncello aufgenommen worden. Gnädig hört man darüber hinweg, dass sich seine Stimme fast überschlägt, wenn er in jugendlicher Großspurigkeit dem zuvor nie gesehenen Sarastro mit geschwellter Brust entgegenschleudert: „Erzittre feiger Bösewicht.“

Dem folgenden Auftritt des Sprechers, der zu den ergreifenden Szenen der Oper zählt, weiß Eric Ander schlichte Würde zu verleihen. Der 32jährige Bastian Kohl dürfte einer der jüngsten, wenn nicht gar der jüngste Sarastro auf dem Musikmarkt sein. Er kommt nicht salbungsvoll daher, sondern mehr als Konkurrent von Tamino, der seine erotischen Begehrlichkeiten hinter priesterlichen Ritualen zu verberben weiß. Auch der in Mulhouse geborene Oliver Trommenschlager, der den Monostatos singt, befindet sich noch im Frühstadium seiner Karriere. Die Pamina von Ruth Williams, der für die Produktion ein Vocal-Coach zur Seite stand, hat es nicht leicht neben Kollegen, die bereits gut im Geschäft sind. Dennoch nötigt es Respekt ab, wie selbstbewusst sie die anspruchsvolle Aufgabe durchsteht.

Pauline Texier als Königin der Nacht folgt den hochdramatischen Erwartungen, die der gewaltige Donner bei ihrem ersten Erscheinen weckt, zunächst sehr verhalten, steigert sich aber im Verlauf ihrer ersten Arie immer mehr. International sind die drei Damen mit Julie Goussot, Natalie Perez und Alienor Feix besetzt, was man auch hört, weil sie in den Dialogen ihre eigenen Akzente einbringen und gelegentlich durch die gesprochenen Passagen radebrechen, was letztlich aber nicht sonderlich stört. Schließlich steht nirgendwo geschrieben, woher sie stammen. Auch der umtriebige Papageno, den sie mit Speis und Trank versorgen, weiß nicht, wer sie eigentlich sind. Ihm ist wichtig, dass er am Ende seine Papagena findet, die in Person von Solveig Bergersen stimmlich und darstellerisch vorzüglich zu ihm passt. Wie in fast jeder Einspielung der Zauberflöte wissen die drei Knaben Felix Hofbauer, Ludwig Meier-Meitinger und Benedikt Ebert für sich einzunehmen zu. Sie kommen aus dem Tölzer Knabenchor und agieren mit betont individuellen Stimmen und nicht als kollektives Neutrum. Der feierliche Gesang der beiden Geharnischten Kristoffer Emil Appel und Filip Eshetu Steinland gelingt ausgesprochen ergreifend.

Martin Wahlberg/Facebook

Überhaupt geht von der Aufnahme eine starke real-assoziative Wirkung aus. Da zwitschern Vögel, knarren Türen, läuten Glocken. Die virtuelle Bühne mit ihren eigenen Geräuschen ist allgegenwärtig. Martin Wåhlberg waltet an seinem Pult wie ein Musikregisseur, der die Zügel straff in seinen Händen hält, gleichzeitig aber den Eindruck zulässt, als sei manches dem Zufall überlassen und spontan aus der jeweiligen Situation geboren. Das gilt auch für die Tempi. Für das Publikum an den Lautsprechern kann die Aufnahme so zum reinsten Vergnügen werden, vorausgesetzt, es wird keine traditionelle Darbietung mit Stars der Opernbühne erwartet, die extra für eine Produktion anreisen. Vielleicht kommt ja Wåhlberg der Uraufführung von 1791 klanglich nahe. Auch, weil die meisten Solisten derselben noch jungen Generation angehören wie seinerzeit. Rüdiger Winter

At Large

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Fast jeder Opernfreund kennt ihn und fast keiner hat ihn (bisher) je gesehen. Den Jahrhundert-Ring aus Bayreuth, die 3 Tenöre in den Thermen des Caracalla, Tosca an Originalschauplätzen, viele Male das Neujahrskonzert aus Wien und die junge Anna Netrebko, die mit dem jungen Rolando Villazon unter der Uhr auf dem roten Sofa herumturnt, sind dank seiner Arbeit in viele Wohnzimmer eingekehrt und gehören bis heute nicht nur zu den Sternstunden der Musik, sondern auch der Videoregie. Es ist Brian Large, dem die Aufnahmen zu verdanken sind, der nun ein fünfhundert Seiten dickes Buch geschrieben hat, der uns von den ersten Seiten als Kinderantlitz unter streng gerade gezogenem Scheitel entgegensieht und als Cover ein schönes, entspanntes, Freude ausstrahlendes Gesicht zeigt, zufrieden mit dem bisher gelebten, erfüllten Dasein und offen für Neues.

Von einem „bildungsroman“ spricht das in englischer Sprache geschriebene, unterhaltsame, faktenreiche und  mit einem flüssigen Stil aufwartende Buch, das wie eine Oper in Ouvertüre und drei Akte aufgeteilt ist, wobei zum Vorspiel die Familiengeschichte und die Kindheit gehören und wobei schon bemerkenswert ist, dass Künstler und BBC TV, wo sein Wirken begann, das selbe Geburtsjahr haben. Co-Schreiberin ist Jane Scovell, durch Biographien auch anderer Künstler bekannt geworden, das Vorwort stammt von Renée Fleming.

Nach einer Ahnenreihe von Bäckern sind Vater und Mutter von Large Musiker, die Familie zieht vor dem „Blitz“ auf London aufs Land, und deutsche Altersgenossen können nur mit Neid vermerken, dass er nach der von Ami-Soldaten geschenkten ersten Banane nur ein Jahr lang auf die zweite warten musste. „Coming to the Ring was life-changing“ stellt die Weichen für das weitere Leben, nachdem ein missglückter Aida-Besuch in die Ersatz-Oper Walküre (auch mit Tieren, die er sehen wollte) und damit in ein der Oper, aber auch generell der klassischen Musik geweihtes Leben führte.

Orte und Menschen haben seine Entwicklung beeinflusst, zu ersteren gehörte Prag, zu letzteren die Tänzerin Zdenka Podhajská, the Propeller Girl, das nicht mehr dazu kam, ihn zu adoptieren. Der ausgebildete Pianist wird mit Biographien von Smetana und Martinu zum Schriftsteller, dem eine Wiedereinreise in die Tschechoslowakei verwehrt wird, weil er aufgedeckt hatte, dass Smetana an Syphilis starb.

Larges Geschichte ist auch die von BBC TV, das ihn mit Benjamin Britten in Verbindung und zur Fernsehinszenierung vieler seiner Opern brachte. Das Buch ist eigentlich ein Who is who der Klassik, es geht um Yehudi Menuhin, um Strawinsky, um Bernstein, für den Bewunderung und Abscheu einander abwechseln, um eine Wagner-Bio von neun Stunden Dauer, Christmas Carols aus Bad Tölz, den bow-legged Vickers, die Bier saufende und rülpsende Birgit Nilsson und Anja Silja, die sich weigert, nach Wieland Wagners Tod noch einmal die Salome aufzunehmen.

Anlässlich der Last Night oft he Proms gelangt der Leser auch zu Einblicken in die Technik der Videoaufnahmen, lernt Janet Baker, Peter Pears, Jacqueline du Pré kennen und natürlich Georg Solti und Covent Garden.  Und immer wieder bewundert er die Ausgeglichenheit des Autors zwischen Sympathie, Antipathie (selten) und einem hilfreichen Realitätssinn.

Einbezogen wird der Autor in den Kampf um die Originalsprache, Gwyneth Jones zuliebe übersetzt er den Holländer ins Englische.  Beverly Sills mag ihn nicht, weil er Engländer ist. A Dream come true heißt, dass Large den Ring in Bayreuth aufnehmen darf. In diesem und einem weiteren Kapitel gibt es zwei kleine Ungenauigkeiten, denn Hitler wurde von den Wagner-Enkeln Onkel Wolf und nicht Adolf genannt, Giuseppe Sinopoli starb nicht Tage nach seinem Zusammenbruch in  der Deutschen Oper Berlin, sondern noch im Orchestergraben.

Das USA-Debüt sieht Large in St.Louis mit Albert Herring,  Mahagonny und Ballo in Maschera sind seine Met-Debuts, die ihm auch die Erkenntnis vermitteln, wie wichtig Exxon und andere Sponsoren für das amerikanische Musikleben sind.

Eine Zeit lang muss Large zwischen London und New York mit der Concorde fliegen, um alle Aufträge auszuführen, so wenn er gleichzeitig an der Met Lulu und an Covent Garden Hoffmann aufnimmt. Oder aber es gibt zwei Aufnahmen an einem Tag, so an der Met Elektra mit Nilsson und Ballo mit Pavarotti.

Alles was man über diesen flüsterte, wird im Buch bestätigt, später die drei Tenöre gut charakterisiert mit: Carreras bedankte sich immer, Domingo meistens, Pavarotti nie. Dafür wird aber das Wirken der ersten Frau Adua gewürdigt, und ein tragischer Akzent ist die Tatsache, dass Pavarotti der ebenfalls an Bauchspeichelkrebs Marylin  Horne einen Arzt empfahl, der sie heilte und den er selbst nicht in Anspruch nahm. Auch Karajan, allerdings kurz vor seinem Tod, kommt nicht gut weg, interessant ist, was Large über ein Konzert mit Jessie Norman, über Leontyne Price, Grace Bumbry, über die „Nachtigall“ und über die „Lerche“ zu berichten weiß,und das nicht als üblen Klatsch, sondern in sympathisch humor- und verständnisvollem Ton, so dass sich der Leser nie als unbefugter Türlöchergucker, sondern als Teilnehmer an einem von Liebe zur Kunst und von Humanität geprägtem Leben  fühlt.

Elf Jahre widmet Large Bayreuth, 27 Salzburg, und auch Columbia Artists und Peter Gelb greifen nach ihm und lassen ihn die Rückkehr von Horowitz nach Moskau aufnehmend begleiten. Dessen Steinway muss mitreisen, so wie die KGB-Agenten die Delegation nicht aus den Augen lassen, und in diesen Abschnitten zeigt sich Large als  humorvoll schwierige Situationen meisternd und darstellend.

Carlos Kleiber ist ihm „poetry in motion“, aber er teilt nicht dessen Meinung, dass Maazels Tristan zu langsam sei. Kein Erfolg wird ein Berliner Neujahrskonzert unter Abbado als Tradition. Hildegard  Behrens verunglückt bei der Aufnahme des Met-Rings, Christa Ludwig zeigt sich störrisch.

Large berichtet ungeheuer viel über seine künstlerische Arbeit, aber wenig über sein Privatleben. „He saved my life and in so doing became part of it“,  ist die Nachricht, die den Leser erfreut, weil er einem Künstler, der vielen Menschen viel Freude bereitet hat und hoffentlich noch bereitet, sein privates Glück gönnt. Jack Mastroianni heißt der Partner, der ihn zur Krebsfrüherkennung schickte.

Dass Katherine Battle recht zänkisch war, wusste man, dass Domingo Noten punktierte, ahnte man, dass Mirella Freni eine gute Freundin sein konnte, davon überzeugt Large den Leser, und dass Cecilia Bartoli bei der Beerdigung von Larges Vater sang, zeigt, dass sie eine dankbare Schülerin ist. So kann Large neben künstlerischen und sicherlich auch finanziellen Erfolgen auch im rein menschlichen Bereich sich gewertschätzt fühlen, und er konnte es sich bald leisten, Aufträge abzulehnen, wenn ihm das Konzept (Achim Freyers Ring) nicht gefiel.

Der letzte Star, der im reich bebilderten Buch auftaucht, ist Jonas Kaufmann, dessen Chénier Large aufnimmt, und weil es einfach zu viele sind, mit denen er zusammen arbeitete, gibt es noch ein Kapitel Et Alia, in dem Van Cliburn, Leopold Stokowski, Pierre Boulez, Karel Ancerl, Bernd Haitink, Seiji Ozawa und andere auftauchen, in dem Sinopoli der höchste Intellekt zugesprochen wird, Gergiev die dunkelste Gestalt ist. Es tauchen noch weitere interessante Namen auf, die nicht alle genannt werden sollen, denn was der Autor zum Beispiel mit Montserrat Caballé erlebte, ist erfahrenswert, es gibt einen umfangreichen Bildteil, und der potentielle Leser sollte es sich darüber hinaus nicht entgehen lassen, die Bekenntnisse eines so kunst- wie menschenliebenden Zeitgenossen zur Kenntnis zu nehmen (500 Seiten, 2025 VmkK Verlag für moderne Kunst GmbH Wien, ISBN 978 399153 127 2). Ingrid Wanja

Verdienstvoll

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Weg vom Salonlied, den Romanze mit sentimentalem Text, wollte Ildebrando Pizzetti mit seinen Liriche, von denen es über vierzig gibt und die ihn während seiner gesamten Laufbahn, zwischen Naole aus dem Jahre 1899 bis hin zu den Tre Canti d‘Amore aus den Fünfzigern, beschäftigten. Dem Dirigenten Gavazzeni, auch im Bereich der Oper besonders an dieser Zeit interessiert, hat der Komponist viel zu verdanken, so weil auf sein Konto eine Aufnahme seiner bekanntesten Oper, vom Assassinio nella Cattedrale nach dem Versdrama von T.S. Eliot geht mit Leyla Gencer, Nicola Rossi-Lemeni und Nicola Zaccaria. In Wien wurde das Werk mit Karajan und Hans Hotter, Christa Ludwig und Ruggero Raimondi aufgeführt.

Das Liedschaffen Pizzettis umfasst einen kleinen Zyklus im neapolitanischen Dialekt, Texte von Freunden aus seiner Heimatstadt Parma,  den unverzichtbaren D’Annunzio, Griechisches sowie Michelangelo und Petrarca und Hugo. Pizzetti komponierte übrigens nicht nur, sondern verfasste auch wissenschaftliche Werke u.a. über Lieder.

Sämtliche, auch die bisher noch nie veröffentlichten  Stücke für Stimme und Klavier finden sich auf den (großzügig!) auf drei CDs verteilten Darbietungen von Vansisiem, einem Lied-Duo, bestehend aus dem Sopran Paola Camponovo und dem Pianisten Alfredo Blessano, das sich in dieser Epoche besonders wohl zu fühlen scheint, denn voraus ging der CD eine mit Liedern von Malipiero, und 2016 erhielt es in Verona einen Preis für Respighi-Aufnahmen, arbeitete u.a. auch zusammen mit Helmut Deutsch.

Der erste Beitrag, Epitaphe, lässt einen zarten Sopran vernehmen, der geschmeidig geführt wird und viel Wärme ausstrahlt, während die Vigilia nuziale wie gezwitschert klingt und eine glasklare Höhe vernehmen lässt. Die Diktion ist nicht durchgehend ein Verständnis ermöglichend, so dass die Texte doch im Booklet recht schmerzlich vermisst werden. Ein gelungener Intervallsprung nach unten kann da nur teilweise versöhnen. Für Remember nimmt die Stimme einen angemessenen Erzählton an, während im Incontro di Marzo Frische und Spritzigkeit vorherrschen, eine kindliche Naivität gekonnt vorgetäuscht wird.

Der Hörer sollte nicht in den Fehler verfallen, alle drei CDs hintereinander weg zu hören, dazu sind zwar nicht die Lieder einander zu ähnlich, sondern die Beschaffenheit der Sopranstimme, die recht klein und recht begrenzt in den Ausdrucksmöglichkeiten ist, so dass ein Wiegenlied eher kindlich-naiv als mütterlich klingt, Erotica aber auch gar nichts Sinnlich-Schwüles an sich hat. Immerhin gibt es Abwechslung mit dem volkstümlichen Touch für Angeleca und Assunta, Sprechgesang und an Janacek Erinnerndes. Zerbrechlich gläsern geben sich die Sonette von Petrarca, schön geheimnisvoll Oscuro é il Ciel und zumindest dramatische Akzente hat La Vita fugge.

Auf der dritten CD kann man sich über eine abwechslungsreiche Zusammenstellung der Lieder freuen, die von einem schmerzlichen E il mio Dolore über ein lustiges Galoppieren in Bebero e ilsuo Cavallo bis hin zu einem vibratoreichen My cry reicht. Ein zuverlässiger und einfühlsamer  Begleiter ist durchweg Alfredo Blessano (3 CDs, Brilliant Classics 97507). Ingrid Wanja     

Hocherfreulich

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Mit Sturmgeheule, Wellenschlagen und Krähenflug beginnt die Produktion von Verdis Macbeth in der Regie von Christoph Loy im Teatro Real von Barcelona und stimmen schon einmal, bevor die Musik beginnt, auf ein düsteres Geschehen ein. Bereits hier, wie auch noch an anderen Stellen liegen viele schöne, aber tote junge Männer am Boden, einer davon wird später immer wieder an der Seite Mabeths auftreten,  sogar im dankenswerterweise nicht gestrichenen Elfenballett ist ein solcher im Tutu zu bewundern, und auch ein Splitterfasernackter huscht aus welchem Grund auch immer verschämt über die Bühne. . Um gleich bei den Änderungen im Vergleich zu konventionellen Aufführungen zu bleiben: Nach „Pietà, rispetto, onore“ darf Macbeth noch die Schlussarie aus der ersten Fassung der Oper singen, dafür fällt die Übergabe der Krone an Malcolm weg, di in neueren Produktionen meistens deutlich zu verstehen gab, dass nun eine neue Tyrannei die vorherige ablösen würde. Eine weitere Änderung ist der Tod der Lady im Beisein des Gatten, der fürsorglich eine Decke über ihr ausbreitet, was dann die aus der entgegengesetzten Ecke mit „È morta la regina“ herbeieilende Dama  recht lächerlich wirken lässt. Aber so kleine Lapsus verzeiht man angesichts einer Inszenierung , die insgesamt den Geist des Stücks erfasst hat und wiederzugeben versteht. Dazu passt auch die hochschwangere Lady Macduff, die ein Giftblick der Lady Macbeth beim Bankett streift, die Protagonisten erst in dunkler, dann weißer Haarpracht,  weniger der Sohn Bancos, der alt genug erscheint,  sich in die Schar schöner junger Männer einreihen zu können, oder der Geist Bancos (?) in Pumps und Röckchen. Eine Choristin, die aussieht wie eine junge Lady Macbeth, regt zum Nachdenken über die noch unbefleckte Vergangenheit des Paares an. Die Produktion stammt aus dem Jahr 2016 und frönt offensichtlich der Idee der sexuellen Vielfalt. Identisch sind Hexen und Dienstpersonal, das seine Bärte auf weiblichen Gesichtern auch beim Bankett beibehält und recht naturalistisch seine Zaubersuppe zubereitet.  Das alles erzeugt genau die Stimmung, die sich Verdi und sein Librettist vorgestellt haben könnten, so wie auch die wie ein Schwarz-weiß-Film gehaltene Szene (Jonas Dahlberg) und die Kostüme (Ursula Renzenbrink), die für die Lady äußerst attraktiv sind. Die Strenge und Kühle, die Loys Produktionen oft ausstrahlen, passt sehr gut zum Stück und zur Musik.

Ein hervorragender Macbeth ist der französische Bariton Ludovic Tezier mit farbenprächtiger, geschmeidiger Stimme, großzügiger Phrasierung und reicher Agogik. Die Regie sieht ihn als von Anfang an Verstörten, Schwermütigen, eher lieber Untätigen. Seinetwegen freut man sich über die Zugabe aus der ersten Fassung der Oper, auch wenn Verdi wusste, warum er diese ersetzte. Der auf der Bühne recht rabiate, düster dräuende  Banco von Vitalij Kowaljow hat die notwendige Bassschwärze  und Durchschlagskraft für seine beiden Arien. Inzwischen hat sich der Tenor von Saimir Pirgu, der den Macduff singt, weiter entwickelt. In der vorliegenden Aufführung klingt er recht hell, seine Überzeugungskraft wird nicht dadurch erhöht, dass er sein „Dalla paterna mano“ von einem Spickzettel ablesen muss. Die begehrte lacrima nella voce hatte sich damals noch nicht entwickelt. Eine angenehme Dama ist Anna Puche, der Malcolm von Albert Casals hat wegen des Streichens des Schlusses nicht viel zu melden, markant äußert sich der Medico von David Sanchez, immer attraktiv bleibt Marc Canturri als Servo, Araldo und Assassino.

Und die Lady? Martina Serafin hat zwar nicht von Natur aus eine Lady-Stimme, bemüht sich aber mit wechselndem Erfolg um eine schneidende, scharfe Sopranstimme, die manchmal eher säuerlich klingt, aber auch Passagen schöner Herbheit aufweist, dem Brindisi wünschte man mehr Leichtigkeit, dem „La luce langue“ verleiht sie die angestrebte Dämonie, und dem „Una macchia“ eine nuancenreiche nachtwandlerische Sicherheit mit einem strahlenden hohen Ton aus dem Off.

Phantastisch ist der Chor, und „Patria oppressa“ ein Höhepunkt der Aufführung, Giampaolo Bisanti ist für die Italianità aus dem Orchestergraben zuständig und enttäuscht nicht. Alles in allem eine erfreuliche Aufnahme mit einigen Spitzenleistungen (C-Major 768804). Ingrid Wanja     

Neuer Stern am Counter-Himmel

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Der Italiener Carlo Vistoli ist ein neuer Exklusivkünstler bei harmonia mundi france. Für sein erstes Album bei der Firma versicherte er sich der Mitwirkung der renommierten Akademie für Alte Musik Berlin. Die deutsche Hauptstadt ist für den Countertenor eine Stätte des Erfolges, denn sein Orfeo in Damiano Michielettos Inszenierung der Gluckschen Azione teatrale an der Komischen Oper wurde als Sensation gefeiert.

Das Programm der CD Sacro Furore (HMM 902383), die im Juli 2023 in Berlin aufgenommen wurde, umfasst drei sakrale Werke von Antonio Vivaldi, von denen das Stabat Mater das bekannteste ist. Es wird eingerahmt von der Kantate Nisi Dominus und der Motette In furore lustissimae irae. Erstere bringt in neun Sätzen reiche Abwechslung zwischen schwungvollen und sanften Abschnitten. Sie bietet Vistoli Gelegenheit, seine farbige Stimme und das reiche Ausdrucksspektrum zu demonstrieren. Kein Couinter der aktuellen Alte Musik-Szene besitzt ein derart ausgeglichenes und angenehm zu hörendes Organ. Gleich der brillante Eingangssatz, welcher dem Stück den Titel verlieh, und das  folgende „Vanum est vobis“ sind ein starker Kontrast. Eine Komposition von geradezu magischer Wirkung ist „Cum dederit“ mit ihrer suggestiven Schilderung des Schlafes. Von pochenden, fast unhörbaren Akkorden eingeleitet, steigert sich die Musik zu tranceartiger Wirkung, denn der Sänger lässt seine Stimme  in betörender Schönheit schweben. Nie wirkt sie angestrengt oder bemüht, behält stets ihre Rundung und den schmeichelnden Wohllaut. Danach gibt es wieder einen Stimmungswechsel bei „Sicut sagittae“, wenn die Streicher fliegende Pfeile imitieren. Hier hört man Vistoli mit energischem Nachdruck – ohnehin verliert seine Stimme nie ihre maskuline Eigenart.

Affektreich kommt der Schluss des Programms daher, denn in furioser Manier schildert die Singstimme in der Motette In furore lustissimae irae die Schrecken des jüngsten Gerichts. Mit düsterer Stimmung und fulminanten Koloraturläufen sorgt Vivaldi für ein plastisches Abbild des Geschehens und Vistoli setzt die Vorgabe mit dramatischem Aplomb und bravouröser Attacke im finalen „Alleluia“ packend um.

Im Zentrum der Anthologie steht das 1712 für eine Kirche in Brescia komponierte Stabat Mater. Es ist Vivaldis frühestes sakrales Werk und schildert den Schmerz der Gottesmutter Maria beim Anblick ihres gekreuzigten Jesu. Die neun Sätze  sind durchweg in getragenem Duktus und in der Moll-Tonart verfasst, enthalten an Seufzer erinnernde Akkorde. Vistoli interpretiert das Stück sehr eindringlich mit ernstem, berührendem Ton.

Die Akademie für Alte Musik Berlin musiziert unter ihrem Konzertmeister Georg Kallweit Affekt geladen und hat in drei Konzertstücken auch Gelegenheit für orchestralen Glanz. Das Concerto für Streicher in g-Moll imponiert vor allem durch seinen letzten Satz, Allegro, der wie ein Wirbelsturm vorüber fegt. Die Sinfonia h-Moll „Al Santo Sepolcro“, die nicht im Konzert erklingen soll, sondern im Rahmen eines Gottesdienstes während der Karwoche, besteht aus nur zwei Sätzen – einer langsamen Einleitung (Adagio molto) und einer schnellen Fuge (Allegro ma poco). Auch das Concerto „Madrigalesco“ in d-Moll ist im Stil ernst und dem liturgischen Bereich zugehörig. Solist und Orchester brillieren auf diesem Album, das für Carlo Vistoli ein gelungenes Debüt bei harmonia mundi markiert. Bernd Hoppe

Peter Seiffert

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Seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts war Peter Seiffert (*4. Januar 1954 in Düsseldorf; † 14. April 2025 in SchleedorfÖsterreich) einer der weltweit umjubelten deutschen Tenöre. Gefeiert wurde er als Lohengrin, Stolzing, Bacchus, Tannhäuser, Tristan und in vielen weiteren Partien. Seine klangschöne, intensive und strahlende Stimme vereinte Metall und lyrische Emphase. Er stand in der Tradition der großen Sänger des vergangenen Jahrhunderts wie Franz Völker, Peter Anders und Fritz Wunderlich.

Einen seiner letzten international im Fernsehen ausgestrahlten Erfolge feierte er 2017 als Siegmund in der Walküre unter Christian Thielemann in Salzburg. Seinen Rang und seine Bedeutung für das deutsche Tenorfach belegen eine Vielzahl von Gesamtaufnahmen, Arienportraits sowie Konzertaufnahmen auf CD und DVD.

Sein Ideal war es, seine Höhe mit einem männlichen Tenorklang zu verbinden und immer die Bedeutung der Musik wiederzugeben. Kennzeichnend für ihn waren heldische Farbe und Metall in der Stimme. Auch das Hören von Platten von Peter Anders, Giuseppe di Stefano und vielen anderen hat ihn geprägt. Dabei wollte er Andere nicht imitieren, sondern lernen, Fehler zu erkennen und einen Weg zu finden, wie man Rollen stimmtechnisch, aber auch stilistisch gestaltet.

In Düsseldorf hat er zu Beginn den Marquis Chateauneuf in Lotzings Zar und Zimmerman, den Rodolfo in Boheme, den Hoffmann, und den Lensky gesungen. Zwei Jahre nach seinem Debut wurde er an die Deutschen Oper Berlin engagiert, wo er bis 1992 im Ensemble war. Mit der Rolle des Lohengrin kam er an der Deutschen Oper in das Wagner-Fach. Strahlkraft und Poesie waren auch in dieser Rolle seine prägenden Eigenschaften. Bejubelt wurden auch als Parsifal in London und in Hamburg unter Ferdinand Leitner.

Seine spätere Frau Lucia Popp lernte er in München bei einer Produktion der Lustigen Weiber von Windsor kenne. Später war das Paar ein gesuchtes Duo in der Arabella.

Den Weg zur Weltkarriere bahnte eine Lohengrin Premiere in Berlin im Jahre 1990. Der damals renommierte Berliner Kritiker Klaus Geitel bezeichnete seine Darstellung als Weltereignis des Wagnergesangs. Wolfgang Wagner holte ihn dann nach Bayreuth, wo er von 1996 bis 2000 den Walter von Stolzing und von 2001 bis 2005 den Lohengrin gesungen hat.

Auf diese Rollen folgte der Tannhäuser. Durch seine flexible Stimme besaß er genug Metall für die Ensembles und konnte Romerzählung intensiv gestalten. Sein Geheimnis war, den Ton ausklingen lassen, winzige Schluchzer einbauen um dann die höheren Noten zu erreichen. Seine Töne klangen oft wie Sonnenstrahlen und bewundernswert waren seine gestützte und schlank klingende Tongebung und der große Atem. Ehrliches Singen und bei den Ensembles nicht tricksen war eines seiner Markenzeichen und die Grundlage seiner langen Karriere.

Ein Höhepunkt seiner Karriere war der Tristan mit Daniel Barenboim. Diese Rolle hat er als Mount Everest bezeichnet. Neben der Schwierigkeit des Textes bestand für ihn die Herausforderung darin, seine ganze Gefühlswelt zu entfalten. Wegen der Ausdrucksmöglichkeiten war es für ihn eine der erfüllendsten Tenorpartien.

In vielen weiteren Rollen hat er in allen wichtigen europäischen Opernhäusern brilliert. Zentrale Partien waren neben Lohengrin. Tannhäuser. Tristan, Stolzing auch Kaiser (Frau ohne Schatten), Rienzi, Pedro (Tiefland), Matteo (Arabella) Bacchus, Max, Otello, Siegmund) und Florestan.

Letzte große Auftritte vor der Corona Pandemie und der Schließung der Theater waren 2019 Florestan in Köln, Erik in Japan, im Sommer ein Open Air Konzert in Dresden, Tannhäuser in Berlin und im September Tristan in Köln.

Über dreihundert Auftritte in 26 Partien kamen allein in Berlin zusammen. Zum geplanten Tannhäuser an der Mailänder Scala und dem Florestan in Graz 2020 ist es nicht mehr gekommen.

Wer Peter Seiffert im Gespräch erlebte, lernte ihn als bodenständige Frohnatur und Menschenfreund kennen. Das Publikum war für ihn eine große Familie und er strahlte immer eine unbändige Freude am Leben und Singen aus.

Peter Seiffert war ein Sänger, der seine Rollen suggestiv, männlich, stark und intensiv durchlebte. Die Stimme war klangschön, ausgezeichnet geführt und unglaublich leuchtend. Sein Parsifal war ein tumber Tor mit ungemeiner Ausdruckskraft und Strahlkraft. Im Lohengrin entfaltete er auch durch seine helle Tongebung und die betörende Tongebung eine unvergleichliche Wirkung. Durch sein Textverständlichkeit, seine immense Rollenidentifikation und seine Emphase war er immer ein Fels und ein Garant für grandiose Aufführungen.

Seine Wagnerrollen liegen in zahlreichen Aufnahmen auf CD oder DVD vor. Unbedingt hörenswert sind Lohengrin, Stolzing, Tannhäuser, Kaiser und Tristan. Empfehlenswert ist auch sein Siegmund aus München bei FARAO. Seine Recitals bei EMI und Orfeo zeigen ihn auch in italienischen Rollen und anderem Repertoire in Bestform. Als persönliche Favorit wäre darüber hinaus noch Mendelssohn – Sinfonie Nr. 2 „Lobgesang“ unter Wolfgang Sawallisch zu nennen.

Mit Peter Seiffert ist ein Sänger gegangen, für die Wort, Gesang und Schönklang ein Dreigestirn in der Oper waren. Durch den grandiosen Gesang und die fulminante Gestaltung fieberte er als Tannhäuser und Tristan in jeder Faser des Herzens mit. Für ihn war Singen Leben.

In der Gesangsgeschichte wird er als der herausragende Wagner-Tenor seiner Generation einen singulären Platz einnehmen.

Peter Seiffert war in zweiter Ehe verheiratet mit der Sopranistin Petra Maria Schnitzer. Ihr und seinen Söhnen gilt unsere Anteilnahme (Foto oben: Peter Seiffert, Parsifal, Hamburg 1988, Ioco copyright Peter Schünemann). Michael Stange

Augenzeuge Johannes

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Als Schriftsteller ist Friedrich Rochlitz (1769-1842) in der berühmten Inselbücherei verewigt. Mit dem Titel „Tage der Gefahr“ wurde 1913 sein Tagebuch der Leipziger Völkerschlacht als Bändchen Nr. 17 veröffentlicht. 1988 kam eine neue Auflage heraus. Seine anderen Schriften gerieten in Vergessenheit. Da er mit vielen seiner berühmten Zeitgenossen wie Goethe, Schiller, Wieland oder Hoffmann in Kontakt stand, taucht sein Name ehr in gedruckten Briefwechseln und in der Literaturwissenschaft häufiger als auf Buchdeckeln auf. Bekannt war er auch mit dem Komponisten Louis Spohr. Der Text seines Passionsoratorium Des Heilands letzte Stunden stammt von Rochlitz. Um das zu erfahren muss man in der neuen Aufnahme, die bei Carus (83.540) herausgekommen ist, bis zum Text im Booklet vordringen. Auf den Aufschlagseiten bleibt der Librettist, der in Wien auch Beethoven und Schubert begegnete, unerwähnt. Mit dem goldfarbenen Aufkleber „Welt-Ersteinspielung“ schmückte sich ein Plattenalbum des Werkes, das 1984 von der Internationalen Spohr-Gesellschaft als Mitschnitt aus Wiesbaden veröffentlicht  wurde und noch immer antiquarisch zu finden ist. Auch die neue Aufnahme beruht auf einem Konzert vom 31. Oktober 2023 im Bremer Konzerthaus „Die Glocke“, das vom Deutschlandfunk Kultur übertragen wurde. Anlass war die Gründung der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen vor dreißig Jahren. Mit dabei der Kammerchor Stuttgart, der von Frieder Bernius, dem Dirigenten des Oratoriums, gegründet wurde. Alles in allem ist der Live-Klang gut. Hin und wieder treten die Pauken zu stark hervor. Kommen Orchester und Chor in dramatischen Passagen gleichzeitig zum Einsatz, verlieren die Strukturen an Klarheit. Es machen greifen Dumpfheit und Gräue um sich, was nicht gewollt sein kann.

Textdichter Friedrich Rochlitz (1769-1842) auf einem Aquarell von Veit Hans Friedrich Schnorr von Carolsfeld / Wikipedia

„Das Passionsoratorium ist mit Blick auf seine textliche wie musikalische Gestaltung in mehrerer Hinsicht besonders“, vermerken Dominik Höink und Regina Werbick in ihren ausführlichen und faktenreichen Beitrag für das Booklet, in dem alle beteiligten in Wort und Bild vorgestellt werden und auch das Libretto abgedruckt ist. Obschon Rochlitz verschiedene Figuren vorsehe, die gleichsam als Beteiligte das Passionsgeschehen miterlebbar machten, handele es sich nicht um ein dramatisches Oratorium. Emotionale Interaktionen zwischen den Figuren fehlten weitestgehend. Vielmehr werde die Komposition zu Recht als „lyrisch-dramatischer Mischtyp“ bezeichnet. „Die Funktion eines Erzählers übernimmt Johannes, jedoch nicht als auktorialer Erzähler, sondern als Beteiligter, als Augenzeuge. Ungewöhnlich ist sodann der Beginn des Werkes. Zu erwarten wäre, wie in zahlreichen anderen Passionsvertonungen, ein Einbezug der Abendmahlserzählung“, so die Autoren.

Indes beginne das Werk mit dem Chor der Freunde und Freundinnen Jesu, der auf die Gethsemaneszene Bezug nehme. Mit einem Rezitativ des Johannes werde der Ortswechsel hin zum Palast des Hohepriesters vollzogen. „In der nachfolgenden Gerichtsszene erscheint Pilatus nicht, was gravierende Auswirkungen auf die Rolle der jüdischen Protagonisten hat. Dadurch ergibt sich zunächst eine Zuspitzung des dramatischen Geschehens, jedoch wird das Gericht über Jesus zugleich zu einer rein jüdischen Angelegenheit.“ Kaiphas allein trage die Verantwortung für den Tod Jesu. An dieser Figurenkonstellation sowie weiteren Stellen im Libretto zeigten sich, wie auch bei anderen Oratorien des 19. Jahrhunderts, antijüdische Elemente, heißt es in dem Text. Und weiter: „Gelegentlich wurde die in das Oratorium aufgenommene, nicht-biblische Figur des Philo mit Pilatus gleichgesetzt, was nicht plausibel ist. Vielleicht ist hier ein Rekurs auf Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias-Dichtung zu erkennen, in dem ebenfalls eine Philo-Figur erscheint.“ Mit Blick auf die Musik sei zunächst bemerkenswert, dass Spohr gänzlich auf den Einsatz von Chorälen verzichte und damit nicht, wie etwa Mendelssohn in seinem Paulus, der Tradition Bachscher Passionen folge. Darüber hinaus sei auf die Verwendung von regelrechten Auftrittsarien verwiesen. „Obschon vielfach kontrapunktische Gestaltung die Nummern prägt und bisweilen Einflüsse barocker Vorbilder, etwa die Oratorien Georg Friedrich Händels oder die Bachschen Passionen, ausgemacht worden sind, so ist der persönliche Stil Spohrs jedoch unverkennbar, weshalb Des Heilands letzte Stunden mit einiger Berechtigung als herausragendes Passionsoratorium des 19. Jahrhunderts gelten kann“, vermerken beide Autoren.

Das Oratorium verlangt acht Solisten, denen die handelnden Figuren zugeordnet sind. Als Maria ist Johanna Winkel mit innigem Sopran als einzige Sängerin im Männerensemble zu hören. Florian Sievers (Tenor) bringt die zahlreichen Rezitative des Johannes mit großer Klarheit und Deutlichkeit zum Vortrag. Maximilian Vogler (Tenor) ist Jesus, Arttu Kataja (Bass) Petrus, Thomas E. Bauer (Bariton) Judas, Felix Rathgeber (Bariton) Kaiphas und Magnus Piontek (Bass) Philo. Rüdiger Winter

José de Nebras: „Venus y Adonis“

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Selten habe ich eine Neuaufnahme mit soviel Enthusiasmus begrüßt wie José de Nebras dramatische Buffa Venus y Adonis (1729 Madrid) bei Aparté (AP 373), wo schon Komponistenname und Operntitel uns geographisch ansiedeln. Zeitlich ist dies spanische Übergangszeit zwischen Barock (da war die iberische Halbinsel immer ein bisschen hinterher) und Prä-Gluck, noch dem Barocken sehr verpflichtet, aber doch schon mit franco-italienischem Schwung des Kommenden.

Gesungen wird ganz prächtig, und das ist für einen Stimmen- und Opernfan vielleicht noch wichtiger als musikhistorische Bedeutsamkeiten. Das Damenduo Paola Valentina Molinari und Natalie Pérez in den Titelrollen sind einfach prachtvoll, sattstimmig und rundherum eine Wucht, dazu kommen ihre Kollegen Jone Martínez und  Ana Vieira Leite; begleitet und geführt von Alberto Miguélez Rouco und seiner Truppe Los Elementos: fetzig, fabelhaft, Freude machend.

Dem stimmt auch Kollege Matthias Käther vom radio 3 zu: „An Raritäten mangelt auf dem Klassikmarkt wahrhaftig nicht. Dass aber ein hierzulande völlig unbekannter Komponist auch versierte Hörer erstaunt und beglückt, das passiert selten. Dies ist so ein Fall – da möchte man nach jedem Satz ein Ausrufezeichen setzen. Welche Sinnlichkeit! Was für hinreißende melodische Einfälle! Wie originell komponiert von der Ouvertüre bis zum Schlusschor!

Nebra war ein zentraler Opernkomponist Spaniens; dieses Frühwerk von 1729, das raffiniert italienische und spanische Traditionen, Buffa- und Seria-Einflüsse miteinander verquirlt, soll erst der Anfang einer Reihe von Gesamtaufnahmen sein, die das Ensemble Los Elementos in den nächsten Jahren einspielen will.“ ( radio3 am (21. 03. 2025).

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Wobei man ehrlicher Weise sagen muss, dass dies nicht die erste Begegnung mit dem Komponisten Nebra ist. Luis Antonio Gonzales dirigierte bei Alpha Nebras Dramma intitulata, ebenfalls bei Alpha kam unter seiner Leitung die Oper Amor valante de Amor (1728); und Alberto Miguélez Rouco spielte bei Glossa Donde hay violencia, no hay culpa (Zarzuela in 2 Akten, Madrid 1744) sowie bei Aparté Vendado es Amor,no es Ciego (Zarzuela,Madrid,1744) ein, bezeichnender Weise alle auf französischen Labels. Und sicherlich gibt es weiteres.

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Los Elementos/LE/TVE

Der Dirigent Alberto Miguélez Rouco, der die Oper rekonstruierte,  hat im Beiheft zur Aufnahme bei Aparté einen hochinteressanten Artikel zu seiner Arbeit an Venus y Addonis und zum Werk selbst  geschrieben, den wir hier mit Dank an den Autor in unserer eigenen Übersetzung widergeben. G. H.

Warum José de Nebra? José Melchor Baltasar Gaspar de Nebra Blasco (Calatayud, 6. Januar 1702 – Madrid, 11. Juli 1768) ist einer der bedeutendsten Komponisten des Spanien des 18. Jahrhunderts. Mit einem umfangreichen theatralischen und geistlichen Werkkatalog war er vielleicht der einzige spanische Komponist, der mit den italienischen Musikern im musikalischen Panorama des Madrider Hofes während der zentralen Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts mithalten konnte. Nach seiner musikalischen Ausbildung in Calatayud und Cuenca kam er 1717 nach Madrid, wurde 1719 zum Organisten der Descalzas Reales ernannt und 1722 zum Musiker des Herzogs von Osuna

Nach der Krönung von Ludwig I. im Jahr 1724 den Posten des ersten Organisten in der Königlichen Kapelle von Madrid. Als dieser starb, blieb er als Interimsorganist und begann seine erfolgreiche Karriere in den öffentlichen Theatern von Madrid, die ihm sowohl in Spanien als auch in den amerikanischen Kolonien enormen Ruhm einbrachte.

Mit der Thronbesteigung von Ferdinand VI. im Jahr 1746 gab Nebra allmählich die Komposition von Theatermusik auf, um sich der Bereitstellung von geistlicher Musik für die Königliche Kapelle zu widmen, insbesondere nachdem er zum Vizemeister der Kapelle von 1751 bis zu seinem Tod im Jahr 1768 ernannt wurde. Sein zweifellos herausragendstes Werk dieser Zeit ist das Requiem für Königin Bárbara de Braganza (1758), das sich großer Beliebtheit erfreute und bei allen königlichen Beerdigungen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein aufgeführt wurde.

Interessanterweise galt Nebra in der spanischen Musikwissenschaft lange Zeit als entschiedener Verteidiger der spanischen Musiktradition gegen die „italienische Invasion“ von Farinelli, Corselli, Scarlatti und Conforto, die den Hof beherrschten. Es genügt jedoch, einen einfachen Blick auf Nebras Musik zu werfen, um den italienischen Einfluss zu erkennen, wenn auch mit einer hervorragenden Integration der spanischer Folklore und des spanischen Geschmacks, sowohl in seinen Opern und Zarzuelas als auch in seinen religiösen Kompositionen.

Teatro del Principe Alfonso in Madrid/Wiklipedia

Wir haben es also mit einem der vielseitigsten und renommiertesten spanischen Musiker seiner Zeit zu tun, dessen Name heute selbst in Spanien fast unbekannt ist. Deshalb war es von Anfang an mein Hauptziel mit Los Elementos, sein umfangreiches Werk bekannt zu machen, angefangen bei seinem gesamten Bühnenwerk, das grundlegend für das Verständnis des musikalischen Panoramas des spanischen Barocks sind. Mit dieser allerersten Präsentation von Venus y Adonis möchten wir weiterhin unseren Beitrag dazu leisten, Nebra durch eines seiner wichtigsten Werke, das sich so sehr von späteren Zarzuelas unterscheidet, wieder zu altem Glanz zu verhelfen sowie den überschwänglichen hispanischen Barock, von dem es noch unzählige Schätze zu entdecken gibt, zu würdigen.

Venus und Adonis (Venus y Adonis) ist ein pastorales Melodram, das eine der bekanntesten Geschichten aus der antiken Mythologie erzählt. In der Version des Librettisten José de Cañizares ist die Göttin wütend darüber, dass Adonis‘ Schönheit ihrer eigenen trotzt, und macht sich daran, ihn zu töten. Sie bittet ihren Geliebten, den Gott Mars, zu handeln, und dieser ruft mit Hilfe der Göttin Kybele einen monströsen Eber, der den Hirten töten soll. Venus trifft jedoch zufällig auf den jungen Mann, und sie verlieben sich unsterblich ineinander. Als er von der Existenz des riesigen Ebers erfährt, beschließt er, ihn zu töten, trotz der Bitten der Göttin, die alles versucht, um ihn aufzuhalten. Adonis stirbt in den Armen von Venus, nachdem er von dem Tier gerammt wurde, woraufhin die Göttin beschließt, ihn zu verewigen, indem sie ihn in eine Blume verwandelt.

Venus und Adonis/Peter Paul Rubens/Wikipedia

Nachdem wir die Zarzuelas Vendado es Amor, no es ciego und Donde hay violencia no hay culpa, beide aus dem Jahr 1744, wiederhergestellt hatten, beschlossen wir, an seiner Oper (oder seinem melodramma) Venus y Adonis zu arbeiten, die 1729 als zweiter Teil von Las tres comedias en una. Es handelt sich um eine der beiden erhaltenen Opern aus seiner Jugend, bevor die italienischen Musiker, die Königin Isabella von Farnese Jahre später mitbrachte, einreisten. Im selben Jahr schrieb Nebra die Zarzuela Las proezas de Esplandián, die Autos sacramentales La semilla y la cizaña, La redención del cautivo und mehrere Komödien. Las tres comedias en una wurde von der Kompanie San Miguel am 12. November 1729 im Teatro del Príncipe in Madrid uraufgeführt und lief fünf Tage lang. Es ist möglich, dass Venus y Adonis einen Monat später, am 12. Dezember, als eigenständiges Werk im Teatro de la Cruz wiederaufgeführt wurde.  Die genauen Namen der Sänger bei der Premiere sind nicht bekannt, aber zu den Sängern, die in diesem Jahr Teil der Kompanie San Miguel waren, gehörten mehrere der talentiertesten Schauspielerinnen und Sängerinnen der damaligen Zeit, darunter Francisca de Castro, Petronila Jibaja und Paula de Olmedo.

Das musikalische Manuskript, das im Heiligtum von Loyola aufbewahrt wird, weist darauf hin, dass das Werk 1733 kopiert wurde, während im Libretto, das in der Biblioteca Nacional de España aufbewahrt wird, ein Eintrag besagt, dass es auch in Valencia aufgeführt wurde. Es ist möglich, dass die musikalische Kopie, die bis heute erhalten ist, diejenige ist, die bei der Aufführung in Valencia verwendet wurde. Tatsächlich war die erste Arie der Venus in einem Pasticcio, La Dorinda, enthalten, das Francesco Corradini 1736 in Valencia komponierte.

Diese Oper hat eine Einakterstruktur und besteht aus einer Reihe von Rezitativen, Arien, drei Duetten und zwei Chören im italienischen Stil mit deutlichen internationalen Einflüssen. Nebra, der den Publikumsgeschmack kennt, verweigert dem Publikum jedoch nicht eine Arie mit einem eindeutig spanischen Charakter: Die Arie „Cualquiera mozuela“, gesungen von der komischen Figur Celfa, ist eine hervorragende Kombination aus einem Fandango in Teil A (der an das spätere Tempestad, amigo von Vendado es Amor, no es ciego) und einem Zarabandeque in Teil B, einem beliebten Tanz afrikanischen Ursprungs,  den Komponisten wie Santiago de Murcia in ihren Werken für Gitarre verwendeten. Zu den vier ernsten Charakteren gesellen sich zwei komische, ganz in der Tradition der spanischen Zarzuela des 17. Jahrhunderts.

Die spanischen Dramatiker José de Cañizares und José de Nebra selbst erforschten alle theatralischen Mittel der damaligen Zeit aus, was zu einer großen stilistischen und thematischen Vielfalt führte: Bravour-Arien, Träume, Jagd, Tod, Rache und sogar ein Duett von „Hühnern“, in dem die komischen Figuren das Publikum begeistert haben müssen. Die Verwendung des Chors in den Rezitativen ist von besonderem Interesse, eine Praxis, die zweifellos aus der literarischen Tradition von Calderón de la Barca und Lope de Vega, Autoren des Goldenen Zeitalters Spaniens, die einen enormen Beitrag zur Entwicklung der Zarzuela leisteten. In Venus y Adonis kommentieren die Nymphen und Hirten das Geschehen in der Art eines griechischen Chors, spielen aber auch eine aktive Rolle in der Handlung in der großen Szene, in der Mars die Göttin Kybele anruft: Es sind die Stimmen, die in einem großen Effektvollen Zug auf den Gott von außerhalb der Szene reagieren, bevor die Göttin die Bühne betritt. Adonis wird in der Szene nicht vom Eber angegriffen, aber sein Tod in den Armen von Venus und seine anschließende Verwandlung in eine Blume finden auf der Bühne statt, und dies ist zweifellos einer der bewegendsten Momente des Werkes. Alberto Miguélez Rouco,/DL

Nicht überzeugend

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Zwischen Sankt Veit an der Flaum, Fiume und nun Rijeka schwankt der Name der heute kroatischen Stadt, die die Ungarn Szentvit nennen und die ihre Beherrscher genau so oft wie ihren Namen wechselte. Die Römer kämpften hier bereits gegen die Illyrer, Napoleon I. schlug sie dem italienischen Reich seines Stiefsohns Eugen Beauharnais zu, der Wiener Kongress gab sie an Österreich, das es ab 1887 von den Ungarn verwalten ließ, nach 1918 und dem Zerfall des Habsburgerreichs verwalteten die Alliierten die Küste. Da die Hälfte der Einwohner und zwar die Elite aus Italienern bestand, wollte der italienische Dichter D’Annunzio der endgültigen Entscheidung der Sieger zuvorkommen und besetzte mit einer Schar Freiwilliger das Gebiet, das bis 1945 so weit italienisiert wurde, dass schließlich 80 Prozent der Bevölkerung aus Italienern bestand, die nach 1945 nach Italien flohen oder vertrieben wurden. Tausende wurden in den Foibe, Karsthöhlen oberhalb Triests, von Tito-Anhängern ermordet.

Abwechselnd österreichischen, italienischen und slawischen Einflüssen war auch der Komponist Antonio Smareglia, ein Freund Boitos, unterworfen, dessen Oper Nozze Istriane in Triest, das auch heute noch österreichische Einflüsse nicht verleugnen kann, uraufgeführt wurde. Über diese Oper gibt es in Operalounge bereits einen Artikel, der natürlich immer noch zugänglich ist. Inzwischen gibt es aber eine neue Aufzeichnung des Verismoeinflüsse, aber auch Spuren kroatischer Volksmusik verratenden Stücks, und zwar interessanterweise aus dem Theater von Rijeka.

Es geht um ein seine Liebe noch geheim haltendes Paar, dem durch eine Intrige vorgegaukelt wird, der jeweilige Partner habe Verrat geübt, die Braut soll mit einem gutgläubigen, dem Vater eher genehmen Bauernsohn verheiratet werden, der sogar zum Verzicht bereit ist, als er von den Gefühlen seiner Erwählten erfährt, aber durch den Jähzorn seines Rivalen herausgefordert, sieht er sich gezwungen, diesen zu erstechen. Das Werk beginnt mit einem dräuenden, nichts Gutes erwarten lassenden Unwetter und endet mit der Klage der Heldin um den toten Geliebten.

Die Musik verfügt über alle Qualitäten des italienischen Verismo, lässt slawische Volksmusik erahnen, und das Rijeka Symphony Orchestra unter Simon Krečič kann in der Sinfonia durchaus beachtliche Qualitäten zeigen, wird dann aber, sobald Stimmen dazu kommen, sehr zurückhaltend wie auch der Rijeka Opera Chorus, der eher wie beiläufig eingreifend erscheint, was alles wohl der mangelnden Durchsetzungskraft einiger Mitwirkender geschuldet ist. So werden die Stimmen umschmeichelt, das häufige Parlando auf akustischen Händen getragen.

Marussa, das schöne Bauernmädchen, wurde einst von einer Leyla Gencer oder der Dauer-Aida der Arena di Verona, Maria Chiara, gesungen. Daneben ist das von Anamarija Knego nur ein Soubrettenstimmchen mit beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten, sich in der Höhe verengend, kindlich, mit einem fil di voce singend, aber immerhin geschmeidig und lieblich in lyrischen Gefilden. Überfordert erscheint der Sopran aber in seinen Zornausbrüchen, da hätte man sich eher Santuzza-Qualitäten gewünscht. Die unwissentlich ins Komplott verstrickte Luze von Stefany Findrik steuert ein sanftes Mezzosäuseln zum Drama bei. Giorgio Surian als Vater der Braut lässt erahnen, wie das Werk beim Einsatz erstklassiger Kräfte klingen könnte. Eher weinerlich als melancholisch ertönt der Tenor von Jorge Puerta, aus dem auch das gute Legato keinen stürmischen Liebhaber machen kann. Der Intrigant Biagio klingt in der Darstellung Filippo Polinellis recht schütter, der nicht genehme Bräutigam Nicola ist Jure Počkaj anvertraut und erfreut durch gute Diktion und Phrasierung, verfügt über einen weich und geschmeidig klingenden Bariton.  (cpo 555 686-2). Ingrid Wanja

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.PS.: Aber es gibt ja noch weitere und überzeugendere Aufnahmen der Oper. Vor allem bei Bongiovanni der auch klanglich mehr als anständige Mitschnitt aus Triest von 1972 mit der leuchtenden Maria Chira und dem bekannten Tenor Ruggero Biondino, dazu Alessandro Cassis und weitere unter der straffen Leitung von Manno Wolf-Ferrari (immerhin) ist ein gültiges Dokumnent des Werke. Auch die spätere Aufnahme, ebenfalls aus Triest bei Bongiovanni von 1999, mit der sich verzehrenden Svetla Vassileva, dazu Ian Storey unter Tiziano Severini, tut der Oper einen rauschenden Gefallen.

Dazu kommen zwei Radioaufnahmen mit eindrucksvollen Besetzungen: Bei der Rai gab es Renata Mattioli, Guido Mazzini Und Luigi Rumbo unter Pietro Argento in Mailand 1961 sowie 2023 in Castell´Arquato eine weitere Aufführung unter Jacopo Brusca mit Sarah Tisba, Graziano Dallavalle und Filippo Polinelli (wie auf der cpo-Einspielung hier auch blass) in den Hauptrollen, ebenfalls als Mitschnitt.

Zudem gibt es bei uns einen langen Artikel zum Werk als Vergessene Oper. Ebenfalls in dieser Reihe findet sich zu Smareglia ein Artikel zu seinem Vasallo di Szigeth. G. H.

Suche nach Licht und Schatten

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Es braucht eine gehörige Portion Ausdauer, ein musikalisches Vorhaben in dieser schnelllebigen Zeit auf vier Jahre anzulegen – und zwar auf Konzertpodien und im Studio. 2028 wird der 200. Todestag von Franz Schubert begangen. Im Hinblick darauf brachten der Bariton Samuel Hasselhorn und sein Pianist Ammiel Bushakevitz bereits im Herbst 2024 ihre Schöne Müllerin heraus (HMM 902720). Mit der CD „Licht und Schatten“ folgte jetzt der zweite Titel (HHM 902747). Bis 2028 sollen Winterreise und Schwanengesang vorliegen. Das Projekt richtet sich nach Angaben des Labels an eine neue Generation des Lied-Publikums und widmet sich der Frage, inwieweit Schuberts Lieder für unser Leben im 21. Jahrhundert relevant seien und wie diese Verbindung hör- und erfahrbar gemacht werden könne. Schubert starb am 19. November 1828 einunddreißigjährig in Wien. „Wir unternehmen den Versuch, in jene Zeit zurückzukehren und uns der Lieder von Schubert genau 200 Jahre nach ihrer Entstehung anzunehmen“, lassen Hasselhorn und Bushakevitz ihr Publikum im Booklet der Neuerscheinung wissen. „Unser harmonia-mundi-Projekt lädt also nicht nur zu einer Reise in die Vergangenheit ein, sondern blickt auch in die Zukunft!“ Es bleibt also spannend.

Lenkt die Müllerin zumindest scheinbar ins Freie und auf Wanderschaft, entstanden die meisten Lieder der neuen CD abseits der Schubertschen „Sommerfrischen während der Winter- und Frühjahrsmonate“ der Jahre 1824 und 1825 in Wien, wie der Musikwissenschaftler Roman Hinke im Booklet vermerkt. Somit fallen sie in der Spätphase des Schaffens. „Ihre Themen kreisen vordringlich um die zeittypischen Motive Sehnsucht und Einsamkeit, berühren dabei aber auch die grundlegenden Aspekte der Ichsuche, des metaphysischen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, zwischen Individuum und Ganzheit der Welt.“ Dabei würden Licht und Schatten eng ineinandergreifen. Hasselhorn und sein Begleiter, der auch mit einigen passend ausgewählten Klaviersolostücken – Länder und Deutsche Tänze – in Erscheinung tritt, versuchen sich in der kontrastreichen Darstellung dieses aufregenden Wechselspiels. Ihre thematisch inspirierte Programmgestaltung erweist sich erneut als Mehrwert an sich. Die Auswahl macht‘s. Nummern werden nicht vornehmlich nach dem stimmlichen Vermögen und den persönlichen Neigungen des Solisten ausgewählt wie das bei den meisten historischen Einspielungen Brauch gewesen ist. Vielmehr sollen die inhaltliche Zusammenhänge und Bezüge zwischen den Liedern deutlich, das Wissen um den Komponisten und sein Werk vertieft werden. Das hat auch seinen Preis.

Hasselhorn zögert nicht, ihn zu zahlen. Denn einige Titel habe es in sich. Gleich an dritter Stelle begibt er sich mit dem Lied bei Die Allmacht, für das er gut fünf Minuten braucht, an hörbare Grenzen, was gewollt zu sein scheint. Mutig testet er sich aus. Für Ausdruck wird Schöngesang geben. Und auch aus dem Flügel hat man selten so berstende Töne vernommen: „Groß ist Jehova, der Herr! Denn Himmel und Erde verkünden seine Macht!“ Dass Hasselhorn seinem Wesen nach ein sehr sensibler und feinsinniger Interpret ist, davon legt der weitere Programmverlauf reichlich Zeugnis ab. Obwohl seine Stimme dramatischer und größer geworden scheint, erweisen sich die lyrischen Stücke und entsprechende Passagen nach wie vor als sein eigentliches Terrain. Im Abendrot oder Wandrers Nachtlied II? Das Publikum dürfte sich kaum entscheiden können, welches Lied von beiden nun mehr zu Herzen geht.

Franz Schubert/OBA

Es ist guter Brauch geworden, dass junge Sänger ihre Aufnahmen mit ganz persönlichen Gedanken versehen. Nicht selten lassen sie dabei in ihr Innerstes schauen. Hasselhorn, Jahrgang 1990 ist so einer. Er hat kein Problem damit, auch über seine Gefühle zu sprechen, wenn er den literarischen Figuren, die er darzustellen hat, in ihren Handlungen, Sehnsüchten, Nöten, Ängsten und Glückmomenten, die meist nur selten von Dauer sind, nachspürt. Das fiktive lyrische Ich der Dichtungen wird sozusagen wörtlich genommen und konkretisiert. Das unterscheidet diese junge Generation von ihren meisten berühmten Großeltern-Kollegen. Fischer-Dieskau – um dieses Beispiel zu nennen, das noch immer herangezogen wird, wenn es um Liedinterpretationen geht, hätte den Jahren nach immerhin schon der Urgroßvater von Hasselhorn sein können. So hat er im Müllerin-Booklet auf die lange Zeitspanne zwischen der Entstehung der Lieder und unserer Gegenwart verwiesen – und die Frage gestellt: „Was hat das mit mir, mit uns zu tun?“ Ihm persönlich sei der Zugang zu der Geschichte von dem Müllerburschen, der sich Hals über Kopf in die Tochter des Müllers verliebt, die aber seine Liebe nicht erwidert, stets relativ schwer gefallen. „Irgendetwas kam mir immer ein wenig seltsam vor, nicht wirklich greifbar. Über die weibliche Figur erfährt man kaum etwas: Wir wissen nur, dass sie blonde Haare und blaue Augen hat.“ Mehr nicht. Lasse man die recht konventionelle Dreiecksgeschichte vom Jüngling, der ein Mädchen liebe, das aber einen andern erwählt habe, beiseite, erscheine zwischen den Zeilen eine ganz andere Lesart. Die männliche Figur bleibe allein zurück, der erhofften Liebe und Anerkennung beraubt. Jenseits der ein wenig simplen Geschichte von einer verschmähten Liebe gehe es indirekt nämlich um gesellschaftliche Ausgrenzung. Wer nicht den geltenden Normen entspreche, werde wegen seiner Individualität und damit seines ,Andersseins‘ ausgeschlossen, und an dieser sozialen Isolierung verzweifele er schließlich. „Vielleicht haben gerade deshalb diese vor 200 Jahren entstandenen Lieder für uns im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Aktualität eingebüßt“, so Hasselhorn. Das mag ein wenig offiziell klingen, aber es ist nun mal so.

Hasselhorn singt gerade in der Müllerin wie von sich. Mit Empathie und sehr viel Einfühlungsvermögen dringt er regelrecht in die Lieder ein, lässt keinen noch so verborgenen Winkel aus. Nichts entgeht ihm. Wenngleich manches auch spontan daher kommt, dürfte jede musikalische Lösung genau kalkuliert und vorher erprobt worden sein. Er spielt gekonnt mit dem Tempo, zieht es an, wenn es ihm angezeigt scheint, um dann wieder wie auf der Stelle zu treten, weil es in ein bestimmtes masochistisch angehauchtes Detail so verlangt. Dass dies nur durch ein vertrauensvolles Zusammenspiel mit dem Pianisten Ammiel Bushakevitz möglich ist, versteht sich von selbst. Beider Vortrag wirkt schlüssig und sicher. Und doch bewegt sich Hasselhorn auf dieser Wanderung in den Tod in einer Art Rausch. Von Beginn an steht fest, dass es kein gutes Ende nehmen wird mit diesem Wandergesell. Sein oft betont männlich wirkender Bariton, der ihn älter erscheinen lässt als er in Wirklichkeit ist, zeichnet sich durch eine hohe Flexibilität aus. Stimmliche Grenzen werden nicht so stark berührt wie in der neuen CD. Er ist grundsätzlich sehr gut zu verstehen. Nicht, dass Hasselhorn in seiner Interpretation den Faden verlöre. Nein, das nicht. Es fällt aber auf, dass manche Lieder dieses Zyklus durch zu viele interpretatorische Zutaten und Nuancen zur Vereinzelung neigen, sich zu sehr aus dem Großen und Ganzen herauslösen. Gewisse opernhafte Züge greifen im Ausdruck, in Spiel mit den Worten Platz. Die Lieder werden nicht mehr nur gesungen – sie werden aufgeführt. (Das große Foto oben ist ein Ausschnitt des Cover-Bildes von Uwe Arens). Rüdiger Winter

Jan Stefanis „Krakauer und Hochländer“

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Hauptstädter und Bewohner anderer Regionen sind sich häufig nicht grün. Von solchen Animositäten erzählt Jan Stefanis Oper Das vermeintliche Wunder oder Krakauer und Hochländer, welche das Verhalten der Polen vor zwei hundert Jahren offenbar so genau einfing, dass sie noch heute gespielt wird. Das mehr als 200-Seiten dicke Beiheft der wie stets ausgesprochen wertig im kleinen Buch-Hardcover verpackten Aufnahme, mit der das Warschauer Chopin Institut die 2017 entstandene Aufnahme eines Singspiels präsentiert, das den Anfang einer polnischen Oper markiert, weiß erstaunlich wenig über Jan Stefani zu berichten.

Das fängt schon beim Geburtsdatum an. Die Aufnahme (NIFCCD 80-81) nennt als Geburtsdatum des Komponisten 1750. Wikipedia und andere Quellen berichten, dass er bereits 1746 geboren wurde. Das Datum seines Todes scheint mit dem 23. Februar 1829 festzustehen. Im betreffenden Text heißt es, Stefani sei ein böhmischer Geiger und Komponist aus Prag gewesen zu sei, der in Warschau als Orchesterleiter am Nationaltheater und an der Kathedrale wirkte und überhaupt sein gesamtes Leben in Polen verbrachte und sich tief in Kultur und Traditionen einlebten. Das ist insofern wichtig, da seine Oper Das vermeintliche Wunder oder Die Krakauer und die Hochländer noch vor Moniuszkos Werken bewusst nationale Tänze und Traditionen einband und der lokalen Vielfalt huldigt. Bereits im frühen 17. Jahrhundert wurden in Polen italienische Opern am Hof in Krakau aufgeführt, worauf zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Warschau die Eröffnung eines öffentlichen Opernhauses folgte und es unter Stanislaus II. neben der Förderung der italienischen Oper bereits zur die Propagierung einer landessprachlichen Oper kam, für die Maciej Kamienskis Glück im Elend (1778) steht. Einflussreicher war Stefanis am 1. März 1794 uraufgeführte Oper, die wie Kamienskis Werk gesprochene Dialoge enthält und bis heute aufgeführt wird, gerne auch von kleinen und Amateurtruppen.

Wojciech Boguslawski, Dichter und Librettist für Jan Stefanis „Krakowiacy i górale“/Wikipedia

Wichtiger als der Komponist ist in Polen der Dichter Wojciech Boguslawski (1757-1829), Begründer einer Theaterdynastie, der den Ort der Handlung aus eigenem Erleben kannte: Mühle und Gasthaus neben einem Kloster im heute zu Krakau gehörenden Dorf Mogila. Alles entspricht eigenem Erleben, ist lebendigt, schildert die Figuren lebhaft und porträtiert die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Eine Inhaltangabe gibt es nicht, aber ein polnisch-englisches Libretto. Der alte Müller Bartlomiej hat eine junge Frau, Dorota. Dorota ist in Stach verliebt, den Sohn des Fuhrmanns Wawrzyniec. Stach ist seinerseits in Basia, Bartlomiejs Tochter aus seiner ersten Ehe, verliebt ist und wird von dieser ebenfalls geliebt. Aus purer Niedertracht versucht Dorota, die vor langer Zeit geplante Hochzeit Basias mit dem Hochländer Bryndas voranzutreiben, der just mit seinen Leuten vorbeischaut, um die alten Absprachen einzufordern. Dem Studenten Bardos gelingt es, den wegen der Absage der Hochzeit wütenden Bryndas und seine ebenso aufgebrachten Hochländer-Freunde zu besänftigen, Stach und Basia zusammenzubringen und die Beziehung Dorotas zu Bartlomiej zu kitten.

Eine Szene aus dem Stück „Krakowiacy i górale“, Nationaltheater in Warschau, Regie und Inszenierung von Leon Schiller, 1950, Foto von Edward Hartwig/National Digital Archives NAC

Die Aufnahme darf sich damit rühmen, das Werk erstmals mit period instruments zu präsentieren. Die Musik wurde im Juli 2017 in Prag aufgenommen, die Sprechtexte im Februar des folgenden Jahres in Warschau. Der Aufnahme unter Václav Luks merkt man den Umstand kaum an. Sie wirkt so springmunter und animiert, wie man es von dieser Abfolge von kurzen Szenen, kleinen Arien, Duetten und Ensembles, Polonaise, Krakowiak, Polka, Mazurka und Marsch der Hochländer erwarten darf, womit – wie es der polnische Originaltitel sagt Krakowiacy i Góraledie Gruppe der Goralen gemeint ist. Eine Schlüsselfunktion kommt dem desillusionierten Studenten Bardos zu, dessen erste Kavatine der Bariton Tomás Král so zart wie ein Erstsemester singt, „Eine harte Welt, eine verdrehte Welt. Alles ist verkehrt. Wertlose Männer, die in Gold schwimmen, ehrliche Männer, die arm und kalt sind“. Jan Martiník trumpft als Hochländer Bryndas mit kraftvoller kerniger Bassfülle auf, Natalia Rubis und der Tenor Krystian Adam geben die jungen Amorosi, zupackender und harscher ist Lenka Cafourková als Dorota, die im ersten Akt eine reizende Polacca hat. Nach dem schlichten Vaudeville-Rundgesang verkünden alle die Essenz von Boguslawskis und Stefanis Spiel im moralisierenden Schlussgesang, in dem es u.a. heißt: „Ehrlichkeit, Treue, Liebe und Einverständnis, mögen sie lange in diesen sanften, bescheidenen Gefilden regieren … Möge die Welt lernen, dass dort, wo das Leben einfach ist, die Tugend immer das reinste Symbol ist.“

Václav Luks, das Collegium Vocale 1704 und Collegium 1704, die Sänger und die hingebungsvoll agierenden Schauspieler lassen uns für einen Moment daran glauben. Rolf Fath

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Jan Stefani: „Krakowiacy i Gorale“/Teatre Wielki Warschau 2024

Dazu auch die Musik-Wissenschschaftlerin Wojciech Boguslawski:  „Cud mniemany; czyli Krakowiacy i Gorale“ [Das vermeintliche Wunder oder Krakauer und Hochländer], das aus den Bedingungen des Augenblicks entstand und fest im dynamischen soziopolitischen Kontext verwurzelt ist, ist seit mehr als zweihundert Jahren eines der beliebtesten polnischen Opernwerke. Auch heute, weit im 21. Jahrhundert, wollen wir dieses Singspiel, das einst den Aufruhr entfachte, noch immer sehen; wir wollen es hören; wir wollen in die Welt eines Dorfes in der Nähe von Krakau eintauchen, wo sich eines Nachmittags unglaubliche und höchst lehrreiche Dinge ereigneten. Sentimentalität? Eine Schwäche für rustikale Folklore? Oder vielleicht ganz einfach und vor allem die Sehnsucht nach den Grundwerten, für die Boguslawski ein kompromissloser Verfechter war. Noch heute, ganze Epochen von der Welt seiner Uraufführung entfernt, ist „Das vermeintliche Wunder“, das aus seinem revolutionären Kontext „extrahiert“ wurde, eine brillante Geschichte – bemerkenswert intelligent in ihrer Einfachheit – über die Werte eines ethischen Lebens, gegenseitigen Respekt und Toleranz, den Vorrang der Tradition sowie den familiären und sozialen Zusammenhalt – und sie ist auch heute noch überraschend aktuell.

Wojciech Boguslawski war zweifellos eine der führenden Persö Wojciech Boguslawski war zweifellos eine der führenden Persönlichkeiten in der Geschichte des polnischen Theaters; man kann sogar mit Fug und Recht behaupten, dass er den ersten Platz unter dieser Elite einnimmt. Um die Jahrhundertwende gab er viele Jahre lang den Ton für das kulturelle Leben der polnischen Nation an, sowohl als ihr Heimatland existierte als auch als sie dieses Landes beraubt wurde. Als Schauspieler, Übersetzer, Dramatiker, Librettist, Regisseur und Impresario war er ein äußerst talentierter Künstler, ein intelligenter Manager und ein gebildeter Mann, der schnell zu einer Autorität wurde, die auf natürliche Weise die gesellschaftliche Meinung prägte, während er gleichzeitig die Gedanken und Gefühle der Gesellschaft in die Sprache der Kunst übersetzte.

Der Komponist Jan Stefani/Wikipedia

Jan Stefani, ein böhmischer Geiger und Komponist aus Prag, war langjähriger Leiter des Orchesters des Nationaltheaters (Teatr Narodowy) in Warschau (das später seinen nationalen Status verlor) und auch Kapellmeister der St.-Johannes-Kathedrale. Er beschränkte sich nicht darauf, wie so oft, ein Bürger eines anderen Landes zu sein, hier in Polen (höchst ehrenwerte!) Arbeit zu finden, eine Familie zu gründen und bis zu seinem Tod im Land zu bleiben. Nein: Er lernte die polnische Kultur und Musik lieben, und es muss eine kluge, tiefgründige und leidenschaftliche Liebe gewesen sein, denn „Cracovians and Highlanders“ ist ein lebendiges, schillerndes musikalisches Porträt Polens und seiner Traditionen. „An Sonn- und Feiertagen reiste er aufs Land, um den Liedern zu lauschen und den Tänzen unseres fröhlichen einfachen Volkes zuzusehen. Er kehrte in die Sta Sonn- und Feiertagen reiste er aufs Land, um den Liedern zu lauschen und den Tänzen unseres fröhlichen einfachen Volkes zuzusehen. Er kehrte in die Stadt zurück und setzte sich, noch mit einer der ländlichen Melodien im Kopf, hin und vertonte sie nach Boguslawskis Libretto“ (Kazimierz W. Wojcicki, Cmentarz Powqzkowski [Powozki-Friedhof], Band I). Aus Krakowiaks, Mazurs und Highland Dances, die auf Originaltänzen und -liedern basieren, webte Stefani ein edles Gewebe, das in der Volkskultur verwurzelt ist und aus dem auch die Hochkultur hervorgeht; mit leichter und raffinierter Hand konstruierte er ein klassisches Singspiel, das diesem Kulturkreis eigen ist und mit den besten Werken dieses Genres konkurriert, das zu dieser Zeit in Europa populär war.

Jan Stefani: „Krakowiacy Cud mniemany czyli Krakowiacy i Gorale“/ Film 1947/ Wikiwand

So kommen zwei herausragende Persönlichkeiten für ein Werk von besonderer Bedeutung zusammen, das in Bezug auf Propaganda von entscheidender Bedeutung ist und zu Recht als eines der wichtigsten Instrumente der sozialen Agitation am Vorabend des Kosciuszko-Aufstands angesehen wird – zwei Männer, für die das Polentum ein Medium der höchsten Werte war. Die zweite Teilung Polens im Jahr 1773 wird als düsterer Vorbote der bevorstehenden Nöte und Unsicherheiten angesehen. Die letzte, dramatische Hoffnung wird in einen Aufstand gesetzt, eine Massenbewegung, an der auch die unteren sozialen Schichten teilnehmen. Die Premiere von „Die Krakauer“ am 1. März 1774 beweist, dass die Hoffnungen der einen und die Verdächtigungen der anderen hinsichtlich des starken sozialen Einflusses des Werkes völlig gerechtfertigt waren. Das Publikum war begeistert, forderte Zugaben bestimmter Szenen und reagierte euphorisch auf aufeinanderfolgende Anspielungen, die im Text und in der Musik verschlüsselt waren. Das angebliche Wunder erwies sich als zu gefährlich, und nach der dritten Aufführung verbot die Zensur jede weitere. Es war zu spät. Das Werk hatte seine politische Funktion bereits erfüllt; die Botschaft hatte sich wie ein Lauffeuer im Gebiet der alten Republik verbreitet.

Am Teatre Wielki Warschau: 1950 – nagroda państwowa I stopnia dla Władysława Daszewskiego za całokształt twórczości, a w szczególności za plastyczne opracowanie sztuk Teatru Narodowego w Warszawie Jegor Bułyczow i inni Maksyma Gorkiego w reżyserii Władysława Krasnowieckiego oraz Krakowiacy i Górale Wojciecha Bogusławskiego w reżyserii Leona Schillera

Doch es war noch viel mehr geschehen: Ein Singspiel über kulturelle Konflikte, über eine mit einem Happy End gesegnete Liebe und über das Gefühl, in Frieden zusammenzuleben, fand einen festen Platz in den Herzen der Polen und erlangte in den Jahren der Versklavung, als das Wort „Vaterland“ nur eine sehnsüchtige Vorstellung war, eine besondere Bedeutung. Es scheint, dass die Gedanken von Boguslawski und Stefani weit über unmittelbare politische Ziele hinausgingen. Ahnte Boguslawski, ein Intellektueller, der eine wichtige Persönlichkeit in Freimaurerkreisen war, die Unausweichlichkeit des historischen Verlaufs der Ereignisse und schrieb er angesichts der Aussicht auf das, was viele Menschen befürchteten, aber nur schwer glauben konnten – die Auslöschung Polens von der Landkarte Europas – nicht eine kraftvolle, leidenschaftliche Botschaft für seine Nation? Einem solchen Eindruck ist schwer zu widerstehen.

Wie bereits erwähnt, hat „Das vermeintliche Wunder“ die Struktur einer klassischen Parabel – einer Parabel auf vielen Ebenen. Boguslawski, ein Meister der Bühne, plante das Drama nach allen Grundregeln des Theaters und verwebte verschiedene Handlungsstränge auf virtuose Weise miteinander. Es gibt mehrere Konfliktsituationen, die sich gegenseitig bedingen. In einem Dorf in der Nähe von Krakau ist Stach (auf Gegenseitigkeit beruhend) in Basia verliebt; Dorota liebt (unerwidert) Stach; Dorota ist die junge Frau des alten Bartlomiej, Basias Vater, und somit auch Basias Stiefmutter. Aus Eifersucht und teilweise aus purer Boshaftigkeit versucht sie, die lang geplante Hochzeit zwischen Basia und Bryndas, einem Hochländer, der gerade mit einer ganzen Gruppe von Hochlandjungen und -mädchen angekommen ist, durchzusetzen, um Anspruch auf das Mädchen zu erheben, das sich ihm versprochen hatte. Er denkt nicht daran, sie aufzugeben: Versprechen müssen gehalten werden, und das schöne Mädchen hat ihn sehr in Versuchung geführt. Hilfe für Basia und Stach kommt unerwartet von Bardos, einem Studenten, der wegen seiner Schlauheit und seiner scharfen Zunge der Universität verwiesen wurde. Bardos ist vom Leben desillusioniert.

Jan Stefani „Krakowiacy“/ Künstlerisches Archiv des Theaters. J. Słowacki Krakau 1928/ Teatre Krakowie

Ehrlichkeit, Treue, Liebe und Einverständnis, mögen sie lange in diesen sanften, bescheidenen Gefilden regieren; möge die Mode unter ehrlichen Männern niemals unsere Köpfe verdrehen oder unsere Herzen verderben … Möge die Welt lernen, dass dort, wo das Leben einfach ist, die Tugend immer das reinste Symbol ist.

Diese Worte enthalten die Essenz der Idee, die dem gesamten Werk zugrunde liegt. Dennoch wäre es ein Fehler, „Das vermeintliche Wunder“ als einfache Lobrede auf Folklore, das Landleben und traditionelle Sitten und Gebräuche zu interpretieren.

Boguslawski verweist auf grundlegende soziale Werte und gibt der Nation, die er in großer Gefahr sieht, einen unschätzbaren Hinweis darauf, wie sie ihre Kultur schützen, ihre Kontinuität sichern und damit – nicht durch Waffen oder gewaltsame Revolten, sondern durch bewusstes und konsequentes Handeln, das möglicherweise Jahrzehnte andauert, ihr Überleben als zusammenhängende Gemeinschaft garantieren kann. Denn es ist die Kultur, die in den besten Traditionen verwurzelt ist, die über das Sein oder Nichtsein der Nation entscheidet; es ist die Kultur, die am wenigsten von politischen, geografischen oder wirtschaftlichen Bedingungen abhängig ist, die das Kostbarste für jede Nation trägt, das, was sie von Generation zu Generation weitergeben kann, was ihre Besonderheit und ihre spirituelle Kraft ausmacht. Die Volkstradition, die den Status eines Eckpfeilers der Kultur erlangt hat, auf dem die Hochkultur aufbaut, wird als reine Form des kreativen Ausdrucks wahrgenommen, als die spezifischste Form der Nation, die Künstler und Gelehrte mit ihrer Einfachheit in ihren Bann zieht – sie wird als unverzichtbares Bindeglied in der kulturellen Kontinuität dargestellt.

Immer und ausnahmslos, insbesondere in Zeiten der Bedrohung und Versklavung, in denen nationale Werte nicht frei gepflegt werden können, ist es die Familie, die den Mittelpunkt für die Bewahrung dieser Werte, der Sprache, der Musik und der Tradition bildet. Der Zusammenhalt und die Stärke der Familie und ihre Unterordnung unter bestimmte Regeln sind vielleicht die einzige Garantie für diese kulturelle Kontinuität, ohne die die Nation ihre Identität verliert.

Jan Stefani „Krakowiacy“/ Ferdynand Trojanowski (Stach), Andrzej Szczepkowski (Bardos). Fot. Edward Hartwig Archiwum Teatru Narodowego Warschau 1950/ Teatre Wielki Warschau

Wenn wir das faszinierende Material dieses weisen und charmanten Singspiels für uns entdecken, fragen wir uns unweigerlich, was Krakauer und Hochländer heute repräsentieren, wenn der Kontext von Unabhängigkeit und Aufstand fast ausschließlich für Historiker und Theoretiker von Interesse ist und die politischen Anspielungen, die für einen Zuhörer des 18. oder 19. Jahrhunderts vom ersten Wort oder musikalischen Satz an verständlich waren, für das heutige Publikum in Polen oft nicht mehr erkennbar sind – ganz zu schweigen vom Publikum in anderen Ländern. Das Singspiel von Boguslawski und Stefani ist außerhalb Polens im Wesentlichen unbekannt. Innerhalb des Landes ist es jedoch nach wie vor sehr beliebt und die aufeinanderfolgenden Produktionen, die meist traditionell inszeniert werden, ziehen ein großes Publikum an. Darüber hinaus scheint die eigentliche Inszenierung – obwohl dies eine heikle Angelegenheit ist – von untergeordneter Bedeutung zu sein: Das Drama (voller Humor) und die Musik sprechen wunderbar für sich selbst: Die klugen, fließenden Verse sind witzig, suggestiv und intelligent; die leichte, anmutige, wunderbare Musik, in perfekter Symbiose mit den Worten, führt die Erzählung auf interessante Weise, fesselt unsere Aufmerksamkeit und unterhält uns. In der Tat ist Cracovians vor allem – und das muss die Absicht von Boguslawski und Stefani gewesen sein – darauf ausgelegt, zu unterhalten, das Ohr (und das Auge) zu erfreuen, die Sinne zu beglücken und uns dabei zum Guten zu bewegen. Es ist als raffinierte Unterhaltung für verschiedene Gruppen gedacht, unabhängig von ihren Bedürfnissen, Erwartungen und Fähigkeiten.

Jan Stefani „Krakowiacy“/Józef Węgrzyn sang die Tenorrolle, hier im Kostüm 1913/ Facebook

Vielleicht sind es gerade diese Farben, dieses klare Wertesystem und diese Einfachheit der Ordnung der Dinge, die Zuschauer und Zuhörer heute besonders ansprechen. In einer Welt, die von Globalisierung und der Hypertechnologisierung im Grunde aller Lebensbereiche durchdrungen ist, in der die Zeit, die man mit seinen Mitmenschen verbringt, um Gedanken und Gefühle auszutauschen, so knapp ist und doch so sehr nachgefragt wird, und in der die Figur der Familie keine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit mehr ist, sehnen wir uns vielleicht am meisten danach, in Frieden und Ruhe (trotz allem) einzutauchen, in die Freuden und Leiden des Lebens im Einklang mit dem ursprünglichen Rhythmus der Natur, der uns geziemt. Genießen wir also diese musikalisch-verbale Erzählung, die aus der Perspektive einer Welt, die sich von der Welt, über die Boguslawski und Stefani sprechen und in der sie lebten, grundlegend unterscheidet, fantastisch aktuell bleibt, nicht weniger unterhaltsam und fesselnd, voller Charme und zeitloser Weisheit. Agnieszka Klopocka/DeepL

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Den Artikel von Agnieszka Klopocka entnahmen wir dem Beiheft zur Aufnahme bei NIFF. Redaktion G. H. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.