Archiv für den Monat: Dezember 2024

Die Sängerin begleitet sich selbst

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Die Sängerin Rachel Fenlon begleitet sich bei ihren Auftritten selbst. Das ist noch kein Alleinstellungsmerkmal. Wenn aber Schubert auf dem Programm steht, dazu noch dessen Winterreise – der Liederzyklus schlechthin, Gipfelpunkt kompositorischen Schaffens und mancher Sängerkarriere, dann stellt sich die Frage ein, ob es das je gegen hat. Bei Hauskonzerten gewiss, doch auf CD? Ich habe kein zweites Beispiel gefunden. Kaum ein Werk ist so häufig eingespielt worden wie die Winterreise. Immer und immer wieder haben sich Interpreten den vierundzwanzig Liedern nach Texten von Wilhelm Müller auf Podien und in Studios hingegeben, um letzte Geheimnisse zu entschlüsseln, neue Ansätze zu finden, die Geschichte in das jeweils aktuelle gesellschaftliche Umfeld zu stellen. Komponisten haben sich mit unterschiedlichem Erfolg an Bearbeitungen versucht. Statt eines Flügels mussten alternative Instrumente zur Begleitung herhalten. Selbst Akkordeons wurden bemühet. Die Winterreise blieb keine Domäne der Männer. Sängerinnen aller Lagen haben sie nach mutigen Anfängen der Altistin Therese Behr-Schnabel 1910 in Berlin ganz selbstverständlich im Repertoire. Sogar Chöre sind zum Einsatz gelangt. Ist die eigene Begleitung lediglich der neueste Schrei?

Mit dieser Vermutung täte man der in Großbritannien geborenen, an der Westküste Kanadas aufgewachsenen und jetzt in Berlin lebenden Sopranistin unrecht. Rachel Fenlon erklärt sich ihrem Publikum mit einen eigenen Text im Booklet der Neuerscheinung bei Orchid Classics (ORC 100343). Im vierten Lebensjahr begann der Klavierunterreicht. Mit Beginn der Gesangsausbildung habe sie sich schon als Siebzehnjährige gefragt, warum sie sich nicht selbst begleiten sollte, zumal in ihrer musikalischen Identität Stimme und Instrument gleichwertig ausgeprägt seien. Dieser Gedanke hat sie ihren eigenen Schilderungen zufolge nicht wieder losgelassen. Schließlich habe sie den Mut gefasst, bei ihrem ersten öffentlichen Konzert in Toronto, das ausschließlich aus Schubert-Liedern bestand, ihre eigene Begleiterin zu sein. Damit habe sie ihren eigenen Weg gefunden – ungeachtet warnender Stimmen, die diese Kombination nicht für machbar hielten. Als sie anfing, über den Inhalt ihre erste Platte nachzudenken, „war es keine Frage, dass es Schubert sein würde“. Während der isolierten Jahre der Pandemie, vertiefte sie sich in die Winterreise. Sie sei in Schubert auf jemanden getroffen, den tiefe Einsamkeit, leidenschaftliche Liebe und Trauer erfüllten. „Ich fand viel von mir selbst in dem Werk wieder“, das sie sich in zwei Jahren langsam und systematisch aneignete – auch während stundenlanger Spaziergänge im Wald, „um mir die Musik vorzustellen und sie in meiner Seele zu finden“. Im Sommer 2022 gab es dann die allererste Aufführung in Berlin, der eine Tournee folgte.

Auf mich wirkt die Vortragsweise von Rachel Fenlon zu unentschieden. Als ob sie sich stilistisch nicht zwischen Lied und Oper entscheiden kann. Sie verliert sich in Details, die ausgeschmückt werden wie kleine musikdramatische Szenen. Registerwechsel in die Tiefe klingen unerwartet derb und sind nicht als bewusst eingesetztes Ausdrucksmittel erkennbar. Meist ist sie gut zu verstehen, was für sie als Liedsängerin spricht. Spannungsreiches Widerspiel zwischen Stimme und Instrument, das die meisten guten Aufnahmen der Winterreise auszeichnet, kann sich nicht aufbauen, da Sängerin und Begleiterin Ein und Dieselbe sind. Rüdiger Winter

Sigrid Kehl

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Welches Weihnachtsoratorium für die Feier in den eigenen vier Wänden? Es soll schon etwas Besonderes sein. In meinen Beständen findet sich der Videomitschnitt aus der Leipziger Universitätskirche vom 15. Dezember 1963. Der dürfte besonders genug sein. Die Kirche im Zentrum der Stadt gibt es nicht mehr. Obwohl sie die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstanden hatte, wurde sie 1968 abgerissen. Proteste hatten nichts genützt. Das Gotteshaus war den hochfliegenden Neubauplänen der sozialistischen Machthaber im Wege. Leipziger Bürger haben das bis heute nie verwunden. Die Formen sind im 2017 fertiggestellten Neubau der Paulinerkirche an alter Stelle bewahrt – der Klang des Raumes in eben dieser seltenen Aufnahme. Sie kann getrost als musikalisches Denkmal gelten. Die Kameras fingen nicht nur das musikalische Geschehen ein, sie dokumentierten auch das Kirchenschiff fünf Jahre vor seiner Zerstörung. Entdeckt hatte die Fernsehaufzeichnung, die auch im Folgejahr nochmals gesendet wurde, der Leipziger Paulinerverein im Deutschen Rundfunkarchiv.

„Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn!“ Die Altpartie sang damals Sigrid Kehl. Mit einer gewissen Kühle und Distanz gelang ihr eine Wirkung der besonderen Art. Ein inniges Gefühl des Moments stellte sich nicht bei der Künstlerin, sondern beim Publikum. Nicht sie waren ergriffen, ihre Zuhörer waren es. Als mir der bewegende Mitschnitt wieder in die Hände fiel, erreichte mich die Nachricht von ihrem Tod. Neben der Kehl sind Elisabeth Breuel (Sopran), Peter Schreier (Tenor) und Günther Leib (Bariton) zu hören. Als Verkündigungsengel hat der spätere Schlagersänger und Entertainer Hans-Jürgen Beyer, einen seiner ersten öffentlichen Auftritte. Thomaskantor Erhard Mauersberger leitet den Thomanerchor, dem Bayer angehörte, und das Gewandhausorchester Leipzig.

Die Sängerin wurde am 23. November 1929 in Berlin geboren. Nach dem Studium an der Berliner Musikhochschule wurde sie in das Nachwuchsensemble der Lindenoper aufgenommen, wo besondere Begabungen zusätzliche Förderung erfuhren. Zuerst ist sie 1957 an diesem Haus als eines der Polowetzer Mädchen im zweiten Akt von Borodins Fürst Igor aufgetreten. Noch im selben Jahr wurde sie ans Opernhaus Leipzig verpflichtet, dem sie bis zum Bühnenabschied verbunden blieb. Keine Rolle ihres Fachs, die sie nicht gesungen hätte. Höhepunkt der Leipziger Karriere war die Brünnhilde in Wagners Ring in der Inszenierung von Joachim Herz, die in vielen Punkten die spektakuläre Deutung von Patrice Chéreau 1976 in Bayreuth vorwegnahm. Die Tetralogie wurde szenisch in der Entstehungszeit angesiedelt. Damit hatte sich die Sängerin nach einem allmählichen Übergang als Hochdramatische etabliert. Ihre Wirkung auf der Bühne war enorm und konnte durch Mikrophone nur bedingt eingefangen werden. Man musste die Kehl auch sehen. Sie war eine hoheitsvolle Erscheinung. Ihre Brünnhilde ist mir als kontrolliert und kühl in Erinnerung geblieben. Sie war eine stolze Wotans-Tochter, ließ sich niemals gehen – auch stimmlich nicht. Bleibenden Eindruck hinterließ sie als Amme in der damals noch selten gespielten Frau ohne Schatten von Strauss, mit der sie auch an die Berliner Staatsoper zurückkehrte. Die jeweiligen Aufführungen hatten umjubeltes Festspielniveau. Eng mit ihrer Karriere ist die Ortrud in Lohengrin verbunden gewesen, die sie auch an die Wiener Staatsoper führte.

Sigrid Kehl hat in ihrer langen und überaus erfolgreichen Karriere relativ wenige Tondokumente hinterlassen, die nicht einmal alle auf CD gelangt sind. Ihre herbe, schnörkellose Stimme mit fabelhaftem Sitz und hohem Wiedererkennungwert ist um 1970 auf einer LP aus der Reihe „Opernabend mit …“ des DDR-Labels Eterna umfassend eingefangen. Paul Schmitz, der Dirigent, wirkte damals als Generalmusikdirektor am Opernhaus Leipzig. Höhepunkt des Programms ist der Schlussgesang der Brünnhilde als Vorgriff auf die szenische Gestaltung der kompletten Partie. In einer deutsch gesungenen Gesamtaufnahme von Händels Radamisto ist sie die Zenobia. Als Mercedes wirkt die in der Leipziger Carmen-Plattenproduktion mit. In einer Szenen-Folge aus Don Carlos steuert sie die Eboli bei. Völlig in der Versenkung verschwunden ist ein Querschnitt durch Die Macht des Schicksals von Verdi mit ihrer Preziosilla, der auch bei Philips erschien.

Zwei Aufnahmen in der Diskographie verdienen besondere Erwähnung: Mitschnitte von Salome und Tannhäuser aus dem La Fenice. Sie sind in der CD-Reihe von Mondo Musica herausgekommen, deren Erlös in den Wiederaufbau des abgebrannten Opernhauses der Lagunenstadt geflossen ist. Der Klang ist nicht berauschend. Die Kehl ist als Herodias und als Venus zu hören, Rollen, die sie auch an ihrem Stammhaus in Leipzig gesungen hat. Beide Dokumente sind aber auch aus anderen Gründen interessant. Ernst Kozub gibt den Tannhäuser, während René Kollo, der sich die Partie ebenfalls erarbeiten sollte, den Walther singt. Da die so genannte Dresdener Fassung gespielt wird, bleibt Walthers schönes Solo im Sängerkrieg erhalten. Am 17. Dezember 2024 ist Sigrid Kehl gestorben. (Foto Wikipedia) Rüdiger Winter

Carlo Coccias „Matilde“

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Opera Southwest in Albuquerque, New Mexico, ist in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Unternehmen. Unter der Hand des künstlerischen Leiters Anthony Barrese spielt es nicht nur Standards wie Madama Butterfly, sondern hat auch mehr Rossini-Opern produziert als jedes andere amerikanische Unternehmen, darunter viele seltene. Es hat auch Raritäten von mehreren anderen Komponisten aufgeführt, darunter Franco Faccio (Amleto), Giovanni Bottesini (Alì Babà), Louise Bertin (Le loup-garou) und jetzt Carlo Coccias Una fatale supposizione ovvero Amore e dovere  (oder eben im Kurztitel nach der Heldin: Matilde). Selbst die Standardwerke bieten manchmal eine überraschende Wendung: Aufgrund der großen spanischsprachigen Bevölkerung in New Mexico wurde im vergangenen Frühjahr Bizets Carmen in einer spanischen Übersetzung aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert aufgeführt, und später in diesem Monat wird der New Mexico Symphonic Chorus Mesías, Händels Messias auf Spanisch, darbieten.

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Carlo Coccia/Wikipedia

Während die meisten von uns während der Covid-Pandemie nur eingeschränkt oder gar nicht aus dem Haus gehen konnten und Opernhäuser auf der ganzen Welt geschlossen waren, verbrachte der Musikwissenschaftler und Dirigent Anthony Barrese viel Zeit damit, sich mit unbekannten Partituren aus der kurzen Zeit in der Musikgeschichte Venedigs zu beschäftigen, als kurze Einakter, die als farse bekannt waren, populär waren (ca. 1790-1820). Diese 80- bis 90-minütigen Werke wurden in der Regel in kleineren Theatern wie dem San Moisè und dem San Benedetto aufgeführt, und das Format verbreitete sich bald auch in anderen Städten Italiens. Es war eine gute Möglichkeit, preiswerte Unterhaltung anzubieten, für die eine begrenzte Besetzung und ein kleines Orchester, in der Regel ohne Chor und mit einer einfachen Kulisse, ausreichten. Es war auch eine gute Möglichkeit, aufstrebenden Komponisten einen Weg in den Opernmarkt zu ebnen und jungen Sängern die Möglichkeit zu geben, ihre Kunst zu perfektionieren, ohne den Druck, in einer großen Produktion aufzutreten.

Rossinis erste inszenierte Oper war eine Farsa (La cambiale di matrimonio, 1810), und in den nächsten drei Jahren produzierte er vier weitere Beispiele. Rossini war jedoch nicht der Einzige, der Farses schrieb, und in den Spielzeiten 2001–2005 würdigte das Rossini Opera Festival in Pesaro die Bedeutung des Genres, indem es mehrere Farses von Rossinis Zeitgenossen unter dem allgemeinen Titel Il mondo delle farse aufführte. Eine von ROF produzierte Oper war damals Carlo Coccias Arighetto, die 1813 einen großen Erfolg hatte (und die es auf die DVD gebracht hat).

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Anthony Barrese, Musikwissenschaftler, Musikarchäologe und Dirigent an der Opera Southwest von Aluquerque/NM/ Flavia Loreto Fotografia/ operalounge-Lesern bekannt durch die vielen Berichte über seine Opernausgrabungen wie Faccios „Amleto“

Maestro Barrese, der sich durch die Partituren dieser Kurzopern arbeitete, um eine davon in einer Welt nach Covid auf die Bühne zu bringen, stieß auf Carlo Coccia und seine einaktige Farsa Una fatale supposizione ovvero Amore e dovere. Wie Rossini hatte Coccia fünf Werke geschrieben, die als Farse für den venezianischen Markt klassifiziert waren, und zwar zur gleichen Zeit, als der junge Rossini dort arbeitete. Barrese sah sich mehrere frühe Coccia-Partituren an, darunter eine Carlotta e Verter, die auf Goethes Die Leiden des jungen Werthers basiert. Eine Online- und persönliche Suche in Archiven ergab mehrere Libretto-Kopien und eine zugängliche Partitur von Una fatale supposizione im Konservatorium von Neapel. Das Autograf im Ricordi-Archiv erforderte einen persönlichen Besuch, den Barrese nach dem Abklingen der Pandemie antreten konnte. Aus diesen Quellen erstellte er eine Aufführungsausgabe, die er vom 12. bis 14. September 2024 in Albuquerque einstudierte.

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Wer war Carlo Coccia? Er wurde am 14. April 1782 in Neapel geboren und starb am 13. April 1873 in Novara. Als Knabensopran studierte er in seiner Heimatstadt Musik und ging schließlich an das Conservatorio di Santa Maria di Loreto. Obwohl er nicht bei Paisiello studierte, förderte der ältere Maestro seine Karriere und sorgte dafür, dass er als Begleiter für Konzerte ernannt wurde, die für Joseph Bonaparte, den damaligen König von Neapel, veranstaltet wurden. Coccias erste Oper, Il matrimonio per lettera di cambio, wurde 1807 am Teatro Valle in Rom aufgeführt und war ein Misserfolg. Coccia war entmutigt und wollte das Theater aufgeben, aber Paisiello ermutigte ihn, weiterzumachen, und sein zweiter Versuch im folgenden Jahr in Florenz, Il poeta fortunato, war erfolgreich.

Ritratto di Carlo Coccia Medaglione, 1890- 1899 (in Novara)/ Wikipedia

Coccia ging dann nach Venedig und schloss sich dort den Komponisten an, die an farse arbeiteten, mit La verità nella bugia. Nach einer Mischung aus Erfolgen und Misserfolgen und zunehmend unfähig, mit Rossini zu konkurrieren, nahm er 1820 eine Stelle in Lissabon als Direktor des Teatro São Carlos an. Nachdem er vier Opern zu alten Libretti für dieses Theater und eine Kantate (Il lusitano) geschrieben hatte, zog Coccia im Januar 1824 nach London, wo er Direktor des King’s Theatre in Haymarket und Lehrer an der Royal Academy of Music wurde. In London produzierte er eine Oper, Maria Stuarda, regina di Scozia (1827), die von der Kritik gefeiert wurde, aber trotz einer Besetzung mit Giuditta Pasta und Filippo Galli kein Kassenerfolg war.

1828 kehrte er nach Italien zurück und änderte seinen Stil, um ihn an die Romantik von Donizetti und Bellini anzupassen. Es gab Erfolge (L’orfano della selva, Edoardo in Iscozia, Caterina di Guisa), aber auch einige Misserfolge (darunter eine Rosmonda d’Inghilterra mit demselben Libretto von Felice Romani, das Donizetti fünf Jahre später verwendete). 1836 wurde Coccia Direktor der Accademia Filarmonica in Turin und 1840 Kapellmeister an der Kathedrale von Novara. Seine letzte Oper – Il lago delle fate wurde 1841 in Turin uraufgeführt, war jedoch kein Erfolg. Danach widmete er sich der Kirchenmusik. 1868/69 wirkte er an der von Verdi zu Ehren Rossinis geplanten Totenmesse mit einem Lacrimosa für den A-cappella-Chor mit. Er starb 1873, einen Tag vor seinem einundneunzigsten Geburtstag.

Wie so viele andere bemühte sich Coccia, im Schatten Rossinis zu überleben, aber zumindest in seinen frühen Tagen war keineswegs klar, welcher Komponist triumphieren würde. In gewisser Weise konkurrierten sie in den Jahren 1810–1813 direkt miteinander, insbesondere bei der venezianischen Farsa, und so kann ein Werk wie Una fatale supposizione Licht auf Coccia selbst und auch auf Rossini werfen.

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Carlo Coccia: „Matilde“;  Bühnenbild 2. Akt von  di Antonio Basilo 1821/ Archivio Storico Ricordi

Zunächst einmal haben Coccias erste Oper, die 1807 aufgeführt wurde, und Rossinis erste inszenierte Oper (1810) dieselbe Quelle, Camillo Federicis La cambiale di matrimonio viel gemeinsam. Da Coccia bereits in Venedig war, als Rossini 1810 ankam, und da Una fatale supposizione etwa einen Monat nach La cambiale di matrimonio im San Moisè uraufgeführt wurde, ist es wahrscheinlich, dass Rossinis Librettist Gaetano Rossi von Coccias Oper aus derselben Quelle wusste.

Das Genre der Farsa folgte demselben Muster mit einigen Variationen. Alle endeten glücklich, aber einige waren wirklich Opern semiserie, während andere eher eine Farce waren. Una fatale supposizione nähert sich dem Genre Semiseria, ebenso wie Rossinis L’inganno felice – beide mit demselben Librettisten, Giuseppe Foppa, und beide mit demselben Topos: eine unschuldige Ehefrau, die von einem abgewiesenen Verehrer fälschlicherweise beschuldigt wird, mit den daraus resultierenden Turbulenzen. Normalerweise, wie in L’inganno felice, befiehlt der Ehemann, dass die von Verleumdungen betroffene Ehefrau getötet wird, aber ein mitfühlender Gefolgsmann überlässt sie stattdessen sich selbst in einer wilden Umgebung; schließlich kommt die Wahrheit ans Licht, das Paar versöhnt sich und der Ankläger wird bestraft.

Carlo Coccia: „Matilde“;  Bühnenbild 1. Akt von  di Antonio Basilo 1821/ Archivio Storico Ricordi

Coccia selbst komponierte La donna selvaggia, eine Oper in zwei Akten mit genau diesen Zutaten (die der Librettist Foppa auf der Grundlage seines eigenen Prosadramas von 1800 verwendete). In dieser Variante wird der „wilden Frau“ des Titels vom Diener die Kleidung als „Beweis“ für ihren Tod abgenommen, sodass sie gezwungen ist, Tierfelle zu tragen, und für ein wildes Tier gehalten wird. In Una fatale supposizione sind jedoch die Kinder die Leidtragenden der Verleumdung: der Sohn des Verräters und die Tochter der fälschlicherweise beschuldigten Ehefrau.

Die Struktur der Farsa sah vor, dass die Oper mit einer ausgedehnten Introduzione beginnt, die manchmal eine Arie für eine Hauptfigur enthielt. Es folgen ein oder zwei Arien und ein Duett, die zu einem großen Ensemble führen (ein Trio, das in Una fatale supposizione zu einem Quartett wird). Diese Nummer ist wie ein Finale des ersten Aktes, aber in einer Farsa geht die Handlung weiter, oft mit einer Aria di sorbetto für eine Nebenfigur, gefolgt von weiteren Arien und/oder Duetten, einschließlich des letzten formellen Stücks für den Sopran; eine abschließende Auflösung bringt alle Figuren auf der Bühne für das Finale zusammen. Alle fünf Einakter farse von Coccia (obwohl nicht alle offiziell als farse bezeichnet wurden) folgen diesem Muster, ebenso wie die fünf farse von Rossini, die etwa im gleichen Zeitraum komponiert wurden.

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Carlo Coccia: „Matilde“;  Bühnenbild 3. Akt von  di Antonio Basilo 1821/ Archivio Storico Ricordi

Zur Handlung: In Una fatale supposizione ossia Amore e dovere (Eine fatale Vermutung, oder Liebe und Pflicht) ist Dolibanos Frau Sofia kürzlich gestorben und Dolibano ist in den Besitz eines Briefes seines alten Freundes Guglielmo Vodmar gelangt, aus dem hervorgeht, dass Guglielmo eine Affäre mit Sofia beendet hat und dass Matilde in Wirklichkeit sein Kind ist und nicht das von Dolibano. Matilde kann nicht verstehen, warum ihr Vater versucht, Guglielmos Sohn Federico, der ihr Verehrer ist, von ihr fernzuhalten, und sie drängt den treuen alten Diener Pantarotto, zu verraten, dass ihr Vater glaubt, seine verstorbene Frau sei untreu gewesen. Obwohl sie es nicht glaubt, stimmt sie zu, das Geheimnis für sich zu behalten. Als Dolibano darauf besteht, Matilde fortzuschicken, ist Federico wütend und versucht, dies zu verhindern. Matilde verteidigt jedoch ihren Vater und stimmt zu, zu gehen, womit sie ihre Unterwerfung unter die Pflicht (das „Dovere“ des Untertitels) bestätigt. Dennoch verhindern Federicos Männer Matildes Abreise und alle kehren zu Dolibanos Schloss zurück. Hier enthüllt Federico, dass auch er einen Brief von seinem Vater hat, der auf dem Sterbebett geschrieben wurde und in dem er gesteht, dass seine Anschuldigungen der Untreue falsch waren und Matilde in Wirklichkeit Dolibanos Tochter ist. Der Weg für ein Happy End ist frei.

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Coccias „Matilde“: Cast Opera Southwest 2024

Musikalisch bewegt sich die Partitur zwischen Musik, die im 18. Jahrhundert zu Hause wäre, wie die Sinfonia, und Musik, die viele als „Rossini-ähnlich“ bezeichnen würden, außer dass Rossini unbekannt war, als Coccia seine Partitur schrieb. Es gibt sogar Passagen mit Phrasen, die denen ähneln, die wir in späteren Rossini-Partituren hören werden. In diesem frühen Stadium ihrer Karriere klingt Coccia nicht so sehr wie Rossini, sondern Rossini manchmal wie Coccia. Was der Partitur fehlt, ist ein charakteristisches Rossini-Crescendo. Coccias Partitur enthält jedoch Neuerungen, wie die Verwendung von Blasinstrumenten allein als Begleitung für einen Teil des Quartetts, und die Musik folgt dem Text genauer als es Rossinis Musik oft tut. Coccia wusste auch, wie man eine einprägsame Melodie schreibt: Selbst die Arie für Fiammetta, das Dienstmädchen, hat eine Ohrwurm-Melodie.

Die Oper scheint in Venedig ein Erfolg gewesen zu sein, denn sie erlebte auch in mehreren anderen Städten ein respektables Nachleben, darunter Neapel, Turin, Padua, Palermo und Barcelona. Der wohl bekannteste Sänger bei der venezianischen Premiere war Nicola de Grecis, ein Bass, der Pantarotto sang. In Neapel (Teatro del Fondo, Sommer 1812) wurde die Tenorrolle jedoch von dem jungen Domenico Donzelli übernommen, der seit vier Jahren in Neapel sang. Er war bereits so bekannt, dass Coccia eine neue, formellere Arie für ihn schrieb.

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Opera Southwest in Albuquerque, New Mexico

Opera Southwest in Albuquerque brachte die Oper vom 12. bis 14. September 2004 als Matilde zur modernen Uraufführung, ein Titel, der für das amerikanische Publikum leichter zu merken ist als Una fatale supposizione. (Tatsächlich wurde sie nach ihrer Premiere in italienischen Städten als La Matilde oder La Metilde aufgeführt.) Die Besetzung bestand aus den Nachwuchskünstlern Will Kellerman (Dolibano), Alexandra Wiebe (Matilde), Eric Botto (Federico), Kim Stanish (Fiammetta) und Joshua Hughes (Pantarotto). Anthony Barrese dirigierte und Martha Collins führte Regie. Das Unternehmen plant, die Aufführung in naher Zukunft über iTunes oder YouTube der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wie ein Indiana Jones der Oper hat Maestro Barrese einen weiteren Schatz gehoben, und weit weg von Venedig war Coccias kleine Farsa nach zweihundert Jahren des Schweigens wieder ein Hit. Charles Jernigan/DeepL

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Auf Dokumenten ist Carlo Coccia eigentlich ganz gut repräsentiert: Die tapfere Firma Bongiovanni hat seine Caterina di Giusa aus Savona von 1990 unter Massimo de Bernart im Programm, auch seine Clotilde von 2003 unter Fabrizio Dorsi.   Ebenfalls bei der Firma gibt es aus Savona (2005) als DVD den Arrighetto erneut unter Fabrizio Dorsi.

Und wie Charles Jernigan schreibt, hat Opera Southwest vor die Matilde in naher Zukunft über iTunes oder youtube der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bei youtube gibt es zudem auch einiges: eine Alicia „Ash“ Hurtado steuert eine Arie aus der Matilde bei; es finden sich ein Requiem aus Bologna von 2017, natürlich Coccias Anteil aus der Messa per Rossini (8. Lacrimosa – Amen), eine Sinfonia in Sol Maggiore, Einzelstücke aus den Opern La donna selvaggia und Maria Stuarda (Opera Rara), Kammermusik und Lieder und schließlich eine etwas bizarre Hino constitucional von 1820 aus Lissabon (2024). G. H.

Jungfrau in der Anstalt

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Das badische Heidenheim hat knapp 50 000 Einwohner, eine Fußballmannschaft in der  Ersten Bundesliga und seinen Namen tragende Opernfestspiele. Die haben sich, seit der Dirigent Marcus Bosch mit seinem Orchester Cappella Aquileia dafür verantwortlich ist, zu einem Hort der Verdi-Pflege entwickelt, in den letzten Jahren kontinuierlich Frühwerke des Italieners aufgeführt und in der Spielzeit 2023 sogar neben Giovanna d’Arco im Congress Centrum noch Don Carlo im Rittersaal der Burgruine.

War man einige Jahrzehnte lang bei Sommer-Festspielen noch relativ sicher vor Auswüchsen des Regietheaters, gab es nur sporadisch eine kiffende Mimi in Macerata oder eine Maria Devia als Violetta im Miniröckchen in der Arena di Verona, so hat sich spätestens mit dem Freischütz in Bregenz gezeigt, dass sein Siegeszug in die letzten Winkel des Opernerlebens wohl unvermeidlich ist.

Weiß die Regie mit einer Handlung, und sei sie noch so stark an eine Zeit, in einen Raum gebunden, nichts anzufangen, dann kann diese als Traum, besser noch als Wahnvorstellung, hier der Jungfrau von Orléans, dargestellt werden, die bei Regisseur Ulrich Proschka in einer Nervenklinik allerlei medizinischen Prozeduren unterworfen wird, um sie vor den Wahnvorstellungen zu befreien, sie habe den  göttlichen Auftrag erhalten, Frankreich gegenüber den Engländern zu verteidigen. Letztere stellen das medizinische Personal und die himmlischen Stimmen, Talbot ist der Chefarzt, der Chor betätigt sich als sehr, sehr viele Ober-, Stations- und Assistenzärzte, zu denen sich noch Krankenschwestern in strenger Tracht mit Häubchen und Schürze gesellen. Ach, wie oft hat man dieses Personal in den letzten Jahren bereits auf Opernbühnen gesehen!

Pfähle säumen das einschließlich Bettpfanne naturalistisch gestaltete Krankenzimmer ein, außerhalb desselben treibt eine wohl nur in der Phantasie Giovannas vorhandene  Hofgesellschaft, die zugleich die Dorfbewohner darstellt,  ihr Unwesen, zum Teil phantasievoll, zum Teil abscheulich, so mit Monsterbrillen verunstaltet, gekleidet( Bühne und Kostüme Lena Scheerer). Wie bei Schiller (Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude), von dem Verdi auch das von der historischen Wahrheit abweichende Ende auf dem Schlachtfeld übernommen hat,  gibt es am Schluss die versöhnende Verklärung,  aber nur im Gesang, während auf dem Krankenbett bereits der gut verschnürte Leichnam der Jungfrau liegt.

Musikalisch eine reine Freude sind der Czech Philharmonic Choir of Brno (Petr Fiala) und die Cappella Aquileia unter Marcus Bosch, die das Brio, den Drive und den dauernden Eindruck von Spontaneität für den jungen Verdi haben. Die Gesangssolisten sind mit Miniports ausgestattet, die natürlich auf dem Bildschirm nicht zu übersehen sind. Sophie Gordeladze ist eine optisch attraktive Giovanna mit rotem Haarschopf. Ihr Sopran ist leicht, hell, meistens höhensicher und eher eine Gilda oder Violetta, kann mit „Ah, son guerriera“ punkten, für das sie die notwendige Agilità hat, ist in der Extremhöhe aber manchmal recht spitzig.  In der tieferen Lage wünscht man sich mehr Substanz. Héctor Sandovals Tenor hat für den Carlo wenig Glanz, klingt trocken, streckenweise belegt, mit unüberhörbaren Problemen beim passaggio. Um die Voraussetzungen für den Verdi-Gesang weiß der Giacomo von Luca Grassi, dem eher die kraftvollen, verdammenden Töne gelingen als die mitleidsvollen.  Machtvoll äußert sich Martin Piskorski in der kurzen Partie des Delil, düster Rory Dunne als Talbot.

Das Publikum zeigt sich begeistert und geizt auch nicht mit Szenenapplaus, allerdings stellt sich das Regieteam dem Urteil des Auditoriums nicht (Coviello COV92419). Ingrid Wanja

Tüchtiger Fabio Biondi

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Von seinem Erstling bis zu seinem Schwanengesang hat Fabio Biondi das gesamte Theater Verdis aufgeschlagen. Un giorno di regno, die unglückselige Buffa von 1840, hat er im Rahmen des Warschauer Festival „Chopin and his Europe“ im August 2022 im Warschauer Teatr Wielki dirigiert, den Falstaff, die Commedia liricia, mit der sich Verdi 53 Jahre später von der Bühne verabschiedete, in diesem September beim Verdi Festival in Parma. Der König für einen Tag liegt nun auf CD vor, in einer dieser umfangreichen signalroten Hardcover-Boxen, mit denen vor allem Biondis Warschauer Moniuszko-Aktivitäten dokumentiert werden (2 CD NIFCCD 096-097). Lange war Biondi ausschließlich Italiens Mann für die Alte Musik, spielte als Geiger in allen relevanten Formationen, bevor er 1990 sein eigenes Ensemble, Europa Galante, gründete und sich ab den 2010er Jahren auch verstärkt dem klassischen und romantischen Repertoire zuwandte.

Beim Warschauer Festival widmete er sich beispielsweise Bellinis Norma und den Capuleti e i Montecchi ebenso wie Verdis Macbeth und Il Corsaro. Bei den Aufnahmen in Warschau muss eine ausgezeichnete Stimmung geherrscht haben. Zumindest vermittelt Biondi auf Anhieb eine ansteckende Spiellust und –Freude. Er macht klar, dass es sich bei dem Stück um eine lange zu Unrecht geächtetes Werk Verdis handelt und dieser für das, milde ausgedrückt, konventionelle Komödienlibretto, das man ihm aufdrückte, nichts konnte und aus Formeln und Schablonen das Beste machte. Die lustvoll gespielte Ouvertüre versprüht Esprit und Leichtigkeit, zugleich Draufgängertum und Leidenschaft. Das verführerische Fluidum und eine polacca-tänzerische Leichtigkeit durchziehen die zwei kurzen Akte um den Cavaliere Belfiore, der im Auftrag des Hofes die Rolle des polnischen Königs Stanislaus Leszczyński spielt und für allerlei Turbulenzen auf dem Schloss des Barons Kelbar in der Nähe von Brest sorgt. Immerhin bringt er die jungen Liebenden, Edoardo und Giulietta, unter die Haube, bevor er seine wahre Identität und die Heirat mit der Marchesa del Pioggio bekannt gibt.

Die feinsinnige Begleitung der Europa Galante-Musiker, ihre instrumentale Eleganz und rhythmische Alertheit sowie Biondis offenkundige Lust am kokettierenden und sich umschmeichelnden Spiel der Stimmen kreieren eine elegant beschwingte Komödienstimmung und verleihen selbst den schwächeren Nummern musikalische Güte und Einheitlichkeit. Der Podlasische Opern und Philharmonische Chor steuert die wenigen prägnanten Chorweinwürfe bei. Die Rezitative freilich ziehen sich ein wenig, doch die Cavatinen der Marchesa, wenig individuell und scharfkantig Tina Gurina, und der Giulietta, als welche Vivica Genaux immer noch eine ausgesprochen gute Figur macht, sind ausgesprochene Schmankerl im ersten Akt. Dazu gehören das Terzett der Damen mit Edoardo, in welchem sie den jungen Offizier umgarnen, den Giulio Pelligra mit Charme und der Erfahrung singt, die er sich in vielen Partien des jungen Verdi erworben hat, wenngleich nicht ohne Anstrengung, wie die Arie zu Beginn des zweiten Aktes zeigt. Zu den Höhepunkten des ersten Aktes gehören zudem das Sextett mit dem betörenden Rossini-Drive und das Duett des Barons Kelbar mit dem Tesoniere La Rocca, in dem Ugo Gualiardo und Riccardo Olivera gekonnte Buffonistenlaune und Witz vermitteln. Wie ein lächelnder Monarch inmitten: Germán Olivera als zurückhaltend kultivierter Belfiore.    Rolf Fath

 

Indien-Oper aus Polen

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„Nel tenebror notturno, mio duce, cupo ed oppresso, turbato in cor, Fuor delle mura che l conduce, Qul forza occulta guida il tuoi passi“. Unweit der heiligen Gräber von Benares fragt Ratef seinen Freund Idamor, weshalb sie diesen nächtlichen Ausflug unternehmen. Idamor gesteht, dass er die Priesterin Neala liebt und sie bei ihren Gebeten zu sehen hofft, mit denen sie die aufgehende Sonne begrüßt. Das Italienisch ist nicht das Eleganteste, doch der sich andeutende Konflikt zwischen dem Dienst im Heiligtum und der weltlichen Liebe, wurde mehrfach behandelt. Intensiviert wird er durch die Tatsache, dass Idamor, der einen Paria, einen Ausgestoßenen, vor seinen Verfolgern in Sicherheit bringt, selbst ein Paria ist, der sich zum Helden hochkämpfte. Wüsste man es nicht besser, würde man den im Dezember 1869 in Warschau uraufgeführten Paria des Stanislaw Moniuszko nach einem französischen Drama, für das er sich schon als junger Mann begeisterte – und das die Vorlage zu Donizettis Il paria lieferte –  für eine etwas altmodische Seria eines weniger bekannten Italieners halten.

Denn auf der Neuaufnahme singt David Astorga den Auftritt des Idamor und die anschließende Cavatine in Italienisch (!), und das mit der Eleganz der alten Schule und dem stürmischen Impetus des jungen Verdi, mit einem klaren und tonschönen Tenor und gewinnendem Vortrag. Nach dem DUX-Mitschnitt vom April 2019 in Poznań im originalen Polnisch steht jetzt mit der von Fabio Biondi im August 2023 im Teatr Wielki in Warschau dirigierten Aufnahme eine italienische Alternative für Moniuszkos letzte vollendete Oper zur Verfügung (2 CD NIFCCD 093-094).

Die Ausstattung des poln. /engl. Beiheftes, das beispielsweise den zweisprachigen Bios der Mitwirkenden drei bis vier Seiten und für Biondi natürlich sechs Seiten einräumt, ist konkurrenzlos. Wenig über den Warschauer Bassisten Wladyslaw Miller, der 1850 in Warschau sein Debüt in Belisario gab, ab 1862 an zahlreichen italienischen und südamerikanischen Bühnen wirkte und u.a. 1872 den Philip in Neapel sang, wofür ihm Verdi das kleine Duetto mit Posa („Restate“) schrieb. Dieser Miller verfasste eine italienische Übersetzung, die einer internationalen Verbreitung des Werkes förderlich sein sollte. Vergebens.

Wie Moniuszkos Opern, die häufig ein bestimmtes Polenbild der ländlichen Güter und adretten Dörfer idealisierten, blieb auch das indische Kasten-Drama Paria, dessen Chören etwas steifleinen wirken, eine lokale Angelegenheit, mit der sich die polnischen Bühnen erst nach 1945 regelmäßig befassten. Nun also die durchaus befeuernde und stellenweise mitreißende Aufführung unter Fabio Biondi, wobei Lukasz Borowicz, der bei DUX das Werk mit dem Poznań Philharmnic Orchestra einstudiert hat, nicht unterschätzt werden darf. Fabio Biondi bringt nochmals eine Priese mehr Italianità mit, die dem Stück und den geschmeidig ineinandergreifenden Szenen einen gewaltigen Drive gibt, der beispielsweise nach der wirkungsvollen Arie des Brahmanenpriesters Akebar des charaktervoll gegerbten Bass des Aleksey Bogdanov im packenden ersten Finale gipfelt. Die Musiker von Europa Galante und des Philharmonic Choir folgen dem Meister mit bedingungsloser Hingabe. Leidenschaft und Hingabe kaschieren die Dürftigkeit mancher handwerklicheren Artigkeiten Moniuszkos, die ohne bemerkenswerterweise exotische Couleurs auskommt. Marta Torbidoni, eine gefragte Abigaille und Odabella, bringt für die Priesterin Neala einen klangvoll lodernden Sopran mit, der mexikanische Bariton Germán Olivera als Idamors Vater und der brasilianische Tenor Matheus Pompeu als sein Vertrauter runden das sehr gut besetzte Ensemble ab.   Rolf Fath

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PS.: Etwas verärgert liest der Opernfreund nicht ein einziges Wort zur befremdlich-italienischen Fassung der hier eingespielten Oper (wie auch der italienischen Halka bei NIFF) . Sicher, Herr Miller wollte Moniuszkos Oper auf die internationalen Sprünge helfen, aber wir Hörer in moderner Zeit hätten doch gerne irgend etwas zu eben dieser Version gelesen. Wo und ob ist sie überhaupt aufgeführt worden? Wo hat Biondi sie gefunden? Das ist doch recht schlampig, so etwas nicht zu erwähnen. Ganz sicher gewinnt der etwas steife Paria durch die glattere italienische Sprache,. aber dennoch … Exotisch allein ist nicht genug, caro Maestro. (Zur Oper s. Die vergessene Oper 57) G. H.

 

Verdienstvoll

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Alles andere als ein Grand Seigneur, so der Titel der CD mit dem Bariton Nicola Alaimo, ist der bekannteste aller Donizetti-Baritone, Enrico, der seine Schwester Lucia di Lammermoor mit einer erzwungenen Ehe in den Wahnsinn treibt. Auch den wesentlich unbekannteren Herren, denen sich der Italiener widmet, würde man nicht unbedingt Grandezza zubilligen, allerdings sind sie teilweise aus nachvollziehbaren Gründen auf einem Rachfeldzug oder aus dynastischen Erwägungen heraus gezwungen, sich von der zwar geschätzten, aber unfruchtbaren Gattin zu trennen.

So geht es auch dem Conte in Gemma di Vergy, der befürchtet, die verstoßene Gattin sei durch seine Schuld ums Leben gekommen und der dem Sänger die Möglichkeit gibt, ein angenehmes Timbre, das sich weder eindeutig dem des Brunnenvergifters noch dem des baritono nobile eindeutig zuordnen lässt, zu demonstrieren, dazu viel Brio für die Cabaletta aufzubringen und mit einer schönen Fermate zu prunken. Allerdings wird auch bereits hier deutlich, dass die Extremhöhe deutlich an Farbe und Fülle verliert. Als Alahor in Granata, womit Granada gemeint ist, kommt er als Rächer des Vaters und Befreier der Schwester in die Heimat zurück und beweist sich als Sänger raffinierter Koloraturen und einer ebensolchen Kadenz. Auch aus dem Rezitativ weiß der Sänger viel zu machen. Noch dazu mit dem eigenen Sohn aus erster Ehe sieht sich Azzo in Parisina d’Este betrogen, allerdings noch nicht im ersten Akt, wo die farbige Mittellage im „tutto spiri gioia e pompa“ sich entfalten kann, die Kontraste wirkungsvoll herausgestellt werden. Nicht um den Titelhelden Marin Faliero, sondern um den Galeerenbauer Israele geht es in „Oh miei figli! Oh dolce il canto della forte età primiera!“, wo die fröhliche Stimmung nach der Kränkung durch den Patrizier schnell zu einem  „…vili voi, superbi ingrati!“ führt und der Sänger die Gegensätze scharf herausarbeitet, mit einer generösen Phrasierung erfreut.

Auch Dom Sebastian ist nicht selbst auf der CD vertreten, sondern der glücklich vom Kreuzzug nach Lissabon zurückgekehrte Poet Camoena, der eine sanfte Klage anstimmt. Der Gatte der untreuen Maria di Rohan ergeht sich in schöner Melancholie, so in „è tomba il suol per me“, während er für „voce fatal di morte“ machtvoll auftrumpft und für „di sangue un rio“ eine schöne vokale Entschlossenheit zeigt.

Eigentlich für einen Tenor gedacht war die Titelpartie von Torquato Tasso, der auf der CD mit seiner großen Schlussszene nach der Entlassung aus dem Kerker vertreten ist. Wunderschön korrespondiert die Stimme mit dem sie sanft umspielenden Blasinstrument, konsequent wird auf ein machtvolles „Roma immortal mi fa“ hingearbeitet, und insgesamt hat die CD nicht nur das Verdienst, eine beachtliche Stimme zu dokumentieren, sondern auch das, mit fast unbekannten Werken Donizettis bekannt zu machen. Orchestra e Coro del Maggio Fiorentino unter Giacomo Sagripanti leisten dabei kompetente Schützenhilfe.

Übrigens sollte man Nicola Alaimo nicht mit dem wesentlich älteren Bass Simone gleichen Namens verwechseln! (Dynamic CDS8042I). Ingrid Wanja

Sintflut per Video

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Wer im Herbst 2023 bei den alljährlich in Bergamo stattfindenden Donizetti-Festspielen in des Komponisten azione tragica sacra mit dem Titel Il diluvio universale geraten war, konnte stellenweise vermuten, er befände sich im falschen Stück, denn das mit wenig Erfolg in Neapel uraufgeführte Werk hatte Donizetti später als Steinbruch für Anna Bolena gedient, und als Genua zu seiner Überraschung danach verlangte, hatte er Teile neu komponieren müssen. Trotzdem hatte man sich in Bergamo für die Fassung aus Neapel entschieden, und wie immer zuverlässig hat das Label Dynamic davon eine Aufzeichnung gefertigt.

Der Untertitel vermeidet nicht zufällig die Bezeichnung opera, ist wohl auch der Tatsache geschuldet, dass man nach einem Stück für die Fastenzeit verlangt hatte. Natürlich vermutet man, dass in einem Stück über die Sintflut Noah und seine Familie sowie ein Paar jeder Tierart im Mittelpunkt stehen, es geht aber im wesentlichen um das Königspaar Cadmo und dessen Gattin Sela, die heimlich den Glauben Noès, so die italienische Form, angenommen hat und dafür mit Scheidung und dem Entzug ihres Sohnes bestraft wird. Im letzten der drei Akte sind diese beiden auch neben dem Chor die Einzigen auf der Bühne, allerdings hat die Regie darin wohl auch eine Schwäche des Stücks gesehen und lässt deshalb Noè als stumme Person auf der Bühne anwesend sein. Seine drei Söhne und ebenso viele Schwiegertöchter reihen sich allesamt in Schwarz gekleidet in den Chor ein, der an einer langen Tafel aufgereiht ist, die sich zusehends mit sich schnell leerenden Rotwein(?)gläsern bedeckt. Auf der Bühne herrscht also eher oratorienhafte  Unbeweglichkeit, während die sehr viel mehr Raum einnehmende Videowand ein mit der Zeit nervendes Kunterbunt von oft mehreren Filmen gleichzeitig, oft von Wasser, was einleuchtet, aber auch Großaufnahmen von Gesichtern und vieles andere wie zum Beispiel unappetitliche Zubereitung von Mahlzeiten  zeigt. Da ist man als Betrachter der Video-Aufnahme zunehmend dankbar, dass man oft nur einen Bruchteil dessen sieht, was dem Publikum im Saal zugemutet wurde.

Wie gewohnt in Bergamo steht am Dirigentenpult Riccardo Frizzi, der sich im Booklet vehement für das Werk einsetzt, es in eine Reihe mit Rossinis Mose und Verdis Nabucco stellt, und tatsächlich  ist vor allem die Musik für den Chor höchst eindrucksvoll und wird ebenso vom Coro dell’Accademia della Scala dargeboten. Das Sextett der Noe-Nachkommen, eine Preghiera voller Innigkeit, ist einer der Höhepunkte, denn die jungen Stimmen aus der Bottega Donizetti sind geschmeidig und leuchtend. Eine Regie wird allerdings weder diesem noch den Solisten zuteil, das Duo MASBEDO beschränkt sich auf die Auswahl wilder Videopassagen, Solisten und Chor blieben wohl weitgehend sich selbst überlassen und behelfen sich mit dem Hantieren mit den Gläsern.

Die Partie des Noè verlangt nach einem basso cantante, als welcher sich Nahuel Di Pierro mit geschmeidiger, zu schöner Phrasierung fähiger Stimme darstellt. Sela ist Giuliana Gianfaldoni mit weichem, beweglichem Sopran etwas anonymer Färbung, der aber in einer höchst virtuosen Arie glänzen kann. Erstaunlich ist die Leistung der noch der Bottega Donizetti angehörigen Mezzosopranistin Maria Elena Pepi, die einen substanzreichen Mezzo für die falsche Freundin Selas, Ada, hat.

Die Videoaufzeichnung ist eine Welturaufführung, die man durchaus und vielleicht sogar intensiver auch als CD genießen kann. (Dynamic 38029) Ingrid Wanja

Hübscher Kitsch

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Ist das Zeffirelli, Wien 1978? Nein. Dort ging es viel lebendiger, theatralischer und packender zu, auch wenn der Regisseur jede Spitzenapplikation an den Mantillas persönlich überwachte und sich in Details verspielte. Das ist Rouen, 2023. Originaler geht es nicht. Der Palazzetto Bru Zane präsentiert die originale Carmen, wie sie 1875 an der Opéra-Comique ausgesehen hat. Oder ausgesehen haben soll. Entsprechend üppig und im ausladenden Querformat präsentieren die Herausgeber ihr Kunstwerk im festen Hardcoverbuch mit zusätzlicher Papphülle (2 DVD BZ 3001). Romain Gilberts historisch informierte Regiearbeit sieht zuerst einmal ganz hübsch aus, so wenn die schmucken Soldaten mir ihren sauber gestutzten Bärten, darunter Bariton Yoann Dubruque als Moralès und später Bass Nicolas Brooymans als Zuniga, mit der neckischen Micaela schäkern oder eine Episode mit einer jungen Schönen kommentieren, der ein alter Verehrer folgt, während ihr junger bäuerlicher Freund das Nachsehen hat. Ein bisschen wie die konservierten Bournonville-Ballette oder Choreographien aus der Glanzzeit des Mariinsky-Balletts.

Die Verantwortlichen haben viel Mühe darauf verwendet, was sie in englisch-, französisch- und deutschsprachigen Texten ausgiebig erklären, haben jahrelang Bühnen- und Kostümentwürfe, kolorierte Tafeln, Skizzen für Bühnenaufbauten, Pläne für Bewegungsabläufe, Regiebücher und entsprechenden Kritiken und Beschreibungen gesammelt, haben Berichte, Fotos, Posen studiert und daraus eine Vorstellung gefiltert, wie es möglicherweise am 3. März 1875 in der Operá-Comique aussah, als die 38jährige Célestine Galli-Marié erstmals ihre spätere paraderolle sang. Carmen war bei der Uraufführung ein mäßiger Erfolg, der in einen „internationalen Triumph“ mündete. Der Erfolg setzte erst langsam ein. Die Galli-Marié sang zehn Jahre später noch die hundertste Aufführung an der Opéra-Comique, wo bereits 1904 die tausendste Aufführung gefeiert wurde. Wir können uns nur schwer vorstellen, weshalb das Werk nicht auf Anhieb einschlug. An der fehlenden szenischen Opulenz der vier Schauplätze, der Pracht der Kostüme kann es nicht gelegen haben. Auch wenn man solchen Rekonstruktionen skeptisch gegenübersteht, hat die zahme Aufführung aus Rouen mit dem Orcheste de l‘Opéra de Rouen Normandie und dem Choeur accentus/Opéra de Rouen Normandie und einem Kinderchor des Konservatoriums unter dem damals 29jährigen und mittlerweile zum Musikdirektor der Wiener Volksoper berufenen Ben Glassberg eine liebevolle Betulichkeit und einen provinziellen Touch. Es wurde übrigens bewusst darauf verzichtet, auf historische Instrumente zurückzugreifen, Kürzungen zurückzunehmen und die gesprochene Dialoge zu verwenden, da die Initiatoren beweisen wollten, „dass eine solche Wiederaufführung in jedem heutigen Theater funktionieren kann, das Carmen ins Programm nimmt, mit einem modernen Orchester, mit seinen Sängern, die mit der üblichen Fassung vertraut sind, und sogar mit ausländischen Künstlern, deren Französisch vielleicht nicht präzise genug ist, um alle gesprochenen Dialoge erfolgreich wiederzugeben“.

Wir wissen, dass es zur Zeit der Uraufführung die Funktion des Regisseurs nicht gab, „Die Opéra-Comique hatte einen régisseur général, einen allgemeinen Regisseur – im Jahr 1875 Charles Ponchard -, dem es oblag, für den reibungslosen Ablauf der Aufführung zu sorgen: Er protokollierte die verschiedenen Bewegungsabläufe der Künstler und die Platzierung der Bühnenbilder, aber er war nicht für die Inszenierung zuständig“. Dennoch war alles sorgfältigst und ausführlich vorbereitet. Seit Oktober 1874 wurde für die Uraufführung geprobt. Die Proben wurden in zahlreichen Exemplaren des Regiebuchs festgehalten. Dieses diente neben den vier kolorierten Lithografien als Grundlage für diese Rekonstruktion. Die Lithografien halten Momentaufnahmen von jedem Akt fest.: „die fünfte Szene im Akt, das Vorspiel zum zweiten Akt, die Kartenszene im dritten Akt und das Ende der ersten ersten Szene im vierten Akt (nachdem die Quadrilla vorbeigezogen ist)“.

Wie Zinnsoldaten treten die Soldaten auf, wie Kinder aus dem Dickens-Museum marschieren die Kinder, puppig wirken die gezierten Gesten der Verkäuferinnen, wie Ballett-Pantomimen die übertrieben lebhaften Gesten der Männer und die Koketterie der Fabrikarbeiterinnen, artig der Auftritt des Escamillo im Operettenrokoko der Taverne. Alles wie von einem Zuckerguss überzogen, von einer marzipanfarbenen Glasur, wobei über den porzellanzarten Gesichtern ein zusätzlicher Weichzeichner zu liegen scheint, so dass jede geschneckelte Haarlocke der Carmen wie aufgemalt wirkt – natürlich war die Beleuchtung 1875 eine ganz andere, viel intimere. Antoine Fontaine, der auch die Bilder des unbekannten Bühnenbildners nachbaute, sagt dazu; „1875 beleuchtete man die Bühne mit Gaslampen, deren Licht viel gedämpfter war als unser aleketrisches Licht, vor allem ohne die Scheinwerfer (die es natürlich noch nicht gab). Die Sänger waren sehr stark geschminkt und mussten sich, um sichtbar zu sein, auf der Bühne so weit vorn wie möglich platzieren. Wir haben mit … zusammengearbeitet, um das Bühnenlicht nach den Bühnenskizzen von Daumier oder Degas zu erschaffen, unterstützt durch Standleuchten von schwacher Intensität, platziert hinter jedem Spannrahmen, um die passende Lichtstimmung zu rekonstruieren“. Die im Osman geborene, in Los Angeles ausgebildete Deepa Johnny ist eine  mehr als ordentliche Carmen. Der sich vom lyrischen zum Heldentenor mausernde Stanislas de Barbeyrac verkörpert mit Geschmack den naiven José, der sich von Micaela anschmachten – herrlich ihre steif angewinkelten, ihn auf leichten Abstand haltenden Hände – und Carmen verführen lässt. Die Rumänin Iulia Maria Dan ist eine stimmlich rundere Micaela als man in einem kleinen Haus erwarten würde. Faustine de Monès und Floriane Hasler sowie Florent Karrer und Thomas Morris treffen als Zigeunerinnen und Schmuggler den rechten leichten Comique-Ton und werfen sich am Ende des Schmuggler-Quintett herrlich in Pose, Palazzetto-Hauskraft  Nicolas Courjal ist ein robuster Escamillo.

Interessanter sind vielfach ihre Kostüme. Couturier Christian Lacroix nennt seine Mitarbeit, „die Erfüllung eines meiner ältesten Träume“. Etwas jedoch lässt sich trotz aller Akribie nicht herstellen, denn „ein letztes delikates Thema für mich war die Patina, die ich immer sehr schätze und einsetze, um den Kostümen ein wenig mehr Seele und Epochenbezug zu geben… Aber paradoxerweise geht es hier darum, Bühnenbild und Kostüme in ihrem Glanz und ihren Farben an jenem Abend des 3. März 1875 zu zeigen, auf die Gefahr hin, dass sie ein wenig kitschig glamourös erscheinen“. Rolf Fath (Fotos Marion Kerno & Julien-Benhamou, Rouen 2024).

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Und als PS.: Um obiges aufzugreifen: Es wurde übrigens bewusst darauf verzichtet, auf historische Instrumente zurückzugreifen, Kürzungen zurückzunehmen und die gesprochene Dialoge zu verwenden, da die Initiatoren beweisen wollten,„dass eine solche Wiederaufführung in jedem heutigen Theater funktionieren kann, das Carmen ins Programm nimmt, mit einem modernen Orchester, mit seinen Sängern, die mit der üblichen Fassung vertraut sind, und sogar mit ausländischen Künstlern, deren Französisch vielleicht nicht präzise genug ist, um alle gesprochenen Dialoge erfolgreich wiederzugeben“.

Was für eine armselige Kapitulation! Warum nahm der Palazzetto – der sich angeblich die Wiederbelebung der französischen Oper auf die Fahne geschrieben hat – nicht die Chance wahr, statt der an jedem Stadttheater gespielte und absolut jedem Schulkind bekannte bekannte Version der Carmen 1885 nicht die viel, viel spannendere Urfassung (!) von 1884 zu präsentieren, wie sie jüngst (2024) René Jacob in der Hamburger Elbphilharmonie so außerordentlich überzeugend gezeigt hat (Link zum youtube Video-Stream der Hamburger Aufführung vom 25.3.2024)? Zumal mit einer sehr (!) viel aufregenderen Besetzung und eben vielen, vielen Unterschieden zur spätere Fassung von 1875, mit mehr und anderer Musik und vor allem dem kompletten Dialog, der interessante Aufschlüsse über die handelnden Charaktere gibt, namentlich Carmen und Don José. Ein weiterer Beitrag zu eben der Originalfassung folgt bei uns/operalounge.de in Kürze. Aber das hätte man sich vom Palazzetto Bru Zane doch wirklich erwartet. Geb´s der Himmel, dass der Jacobs-Mitschnitt zumindest als CD erscheinen wird.  G. H.

Ausnahme-Mezzo

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Schlicht Aigul nennt sich die neue Platte der russischen Mezzosopranistin Aigul Akhmetshina. Sie ist das erste Ergebnis eines Exklusivvertrages der Sängerin, die mit ihren 28 Jahren bereits die wichtigsten Zentren der Opernwelt erobert hat, bei DECCA. Und die man bereits als „Stütze“ auf der CD Freddie de Tommaso – Il Tenore bewundert hatte. Ihre Visitenkarte ist die Carmen, die sie an der Met, am Royal Opera House London und bei den Festspielen in Glyndebourne gesungen hat. Die Arienauswahl beginnt dann auch mit Ausschnitten aus Bizets Opéra-comique. Die Habanera, Seguidilla und die Kartenszene zählen zu den bekanntesten Nummern des Werkes und gehören zu den Lieblingsarien aller renommierten Mezzosoprane. Entsprechend zahlreich sind die vorhandenen Aufnahmen, was die Messlatte hoch setzt.

Mit ihrem aparten, sinnlichen Timbre kann sich Aigul mühelos gegen die Konkurrenz behaupten. Sie führt die Stimme schlank und verzichtet auf vulgäre Effekte, ohne an erotischer Wirkung einzubüßen. In der Seguidilla assistiert ihr Freddie De Tommaso als Don José. Dessen kurze Einwürfe von einem solch prominenten Tenor singen zu lassen, spricht für die seriöse Besetzungspolitik der Firma. In der Kartenszene sind es die Sopranistin Elisabeth Boudreault als Frasquita und die Mezzosopranistin Kezia Bienek als Mercédès. Auch das Royal Philharmonic Orchestra unter Daniele Rustioni ist erste Wahl als engagiert begleitender Klangkörper. Der Carmen folgt die Charlotte aus Massenets Werther mit deren Briefszene und der Arie „Va! laisse couler mes larmes“. Vielleicht ist die Stimme für diese Partie zu dunkel gefärbt, aber keineswegs fehlt ihr die Empfindsamkeit für die Rolle. Nach Auftritten in der Partie in London wird sie diese im Mai 2027 auch an der Deutschen Oper Berlin vorstellen. Als Romeo in Bellinis I Capuleti e i Montecchi hatte die Sängerin einen spektakulären Erfolg bei den Salzburger Festspielen. Drei Ausschnitte aus diesem Werk belegen ihre besondere Eignung für die Partie. Romeos ersten Auftritt mit der schwelgerischen Kavatine „Se Romeo t´uccise un figlio“, absolviert sie mit voluminösem, generös strömendem Mezzo. Die satte Tiefe, die strahlende Höhe in der Sopranregion, das sinnliche Vibrato und der energische Aplomb sind auch für die Cabaletta „La tremenda ultrice spada“ ideale stimmliche Voraussetzungen. Die Apollo Voices, auf dem Album mehrfach im Einsatz, überzeugen hier besonders. Berührend die letzte Szene an Giuliettas Grab mit der wehmütigen Kavatine  „Deh! tu, bell’anima“ von berückend schönen Tönen.

Paradenummern aus zwei populären Opern Rossinis komplettieren das Programm. Als Angelina in der Cenerentola war Akhmetshina erfolgreich am Teatro Real in Madrid aufgetreten und kann in der Schlussszene neben ihrer Virtuosität auch Anmut und Charme zeigen. Die Rosina im Barbiere di Siviglia verkörperte sie bereits in London und Paris. Mit der Paradenummer „Una voce poco fa“ zeigt sie sich als gewitzte und temperamentvolle Interpretin. Am Schluss stellt die Sängerin mit baschkirischen Wurzeln nach all den bekannten Titeln noch ein Volkslied aus ihrer Heimat vor: „The Nightingale“, arrangiert für Stimme und Orchester von Kamil Yusufovich Rakhimov. Damit gibt es immerhin eine Novität – und diese setzt durchaus einen attraktiven Schlusspunkt.

Die CD, aufgenommen im November 2023 in London (487 02629), hat alle Chancen für einen OPUS KLASSIK. Ärgerlich ist allein die Gestaltung des Booklets, dessen Seiten durchgängig von roter Farbe triefen und dessen Text in winziger Schriftgröße kaum lesbar ist. Bernd Hoppe

Von Rittern und anderen Helden

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Nach seinem gelungenen Rossini-Album stellt der französische Bariton Florian Sempey bei Alpha Classic nun eine weitere, sehr originelle Platte vor, die im Februar 2024 in Bordeaux aufgenommen wurde (ALPHA 1104). Ihr Titel Ferrum splendidum (Glänzendes Metall) verweist auf die Vorfahren des Sängers, die im französischen Périgord als Schmiede arbeiteten. Er spricht aber auch von Sempeys Affinität zu Mittelalter-Burgen und Ritter-Romantik. Der Bariton widmete sich statt der Familientradition jedoch dem Schmieden seiner Stimme, die es inzwischen zur Weltgeltung gebracht hat. Im Programm der CD werden dann auch Helden aller Art vorgestellt, beginnend mit Blondels „Ô Richard! Ô mon roi!“ aus Grétrys Richard Coeur de Lion. Das ist ein schwungvoller Einstieg, der die Qualitäten des Sängers sogleich deutlich herausstellt – das männlich-markige Timbre, die sichere Höhe, die Emphase des Ausdrucks. Es folgen zwei Szenen aus Donizettis Lucia di Lammermoor, jedoch in der französischen Fassung, so dass der Titel Lucie de Lammermoor korrekter wäre. Die Fassung wurde 1839 in Paris uraufgeführt. Zu hören sind Ashtons „D´un amour qui me brave“ und „À moi viens, ouvre tes ailes“. In beiden ist ein grimmiger Duktus zu vernehmen, was die Gefährlichkeit der Figur kennzeichnet. Auch die Spitzennoten werden nicht als Glanztöne verstanden, sondern als Zeichen der Macht. Die kleinere Tenorrolle des Gilbert nimmt Yoann Le Lan zuverlässig wahr.

Ein kühner Sprung wird mit zwei Nummern aus Orffs Carmina Burana vollzogen: „Estuans interius“ und „Ego sum abbas“/„In taberna quando sumus“ aus „In Taberna“. Vom Orchester rasant eingeleitet, sind sie Glanzstücke in ihrem stimmlichen Prunk und der Vehemenz des Vortrags.

Aus Thomas´ Hamlet hat der Bariton zwei Szenen ausgewählt – das Trinklied des Titelhelden „Ô vin, dissipe la tristesse“, wo das Orchester den gebührenden Schwung vorgibt, den der Sänger effektvoll aufnimmt, und seine betroffene Szene nach Ophéiies Tod „Comme une pâle fleur“. Weitere französische Komponisten sind mit

Gounod und Meyerbeer vertreten. Von Ersterem erklingt Mercutios Chanson „Mab, la reine des mensonges“ aus Roméo et Juliette mit ironischen Untertönen, von Zweitem „Ô puissante magie“ aus Le Pardon de Ploërmel als groß angelegte Szene in der Manier der Grand opéra. Wolframs „O du mein holder Abendstern“ aus Wagners Tannhäuser in beeindruckend sensibler Ausdeutung und die dramatisch aufgewühlte Finalszene des Prinzen aus Tschaikowskys L´Enchanteresse zeugen von der idiomatischen Vielseitigkeit des Sängers. Sogar eine Uraufführung gibt es mit Romain Dumas´ Les mirifiques aventures du chevalier d´Éon von 1985, aus der die Szene „De Bourgogne. je suis un fruit“ vorgestellt wird – ein lebhaftes Stück mit Melismen und hastigen Passagen.

Das Orchestre National Bordeaux Aquitaine ist unter Victor Jacob der Garant für eine stimmige und farbige Begleitung. Darüber hinaus trägt es mit vier Instrumentalnummern – vom Prélude zu D´Indys Fervaal über Ausschnitte aus Tschaikowskys La Belle au Bois Dormant bis zum Vorspiel zu Wagners Lohengrin – sehr zur Attraktivität der Platte bei (08. 12. 24).  Bernd Hoppe

 

Grandios

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Auch ohne den vom Librettisten und Komponisten Arrigo Boito nicht mehr fertiggestellten fünften Akt ist man beinahe  erschlagen von den  mit Hilfe von Freunden des Musikers fertiggestellten vier Akten der Monumentaloper Nerone, deren Titel fast nicht mehr der zutreffendste ist, denn das Werk würde  mit einer ausgedehnten Liebesszene zwischen den beiden Christen Rubria und Fanuél enden, käme nicht noch ganz zum Schluss der römische Kaiser auf die Bühne, wenn auch nur, um den ihn stets begleitet habenden wunderschönen Jüngling zu erstechen.  

Jahrzehntelang  am Werk abgearbeitet hatte sich der auch als Verdis Librettoschreiber bekannte Boito an dem komplexen Stoff, wie bereits bei dem ungleich erfolgreicheren Mefistofele einen Bösewicht in den Mittelpunkt der Handlung stellend, aber anders als bei diesem nicht mit Schlagern wie „Dai campi, dai prati“ oder „L’altra notte in fondo al mare“ den Ohren schmeichelnd, sondern eher einen deklamatorischen Stil bevorzugend, erst in besagtem Liebesduett werfen Erinnerungen an das frühere Werk geweckt. Neben den Antagonisten Nerone und Fanuél tritt als dritte männliche Figur der erste Häretiker  des Christentums, Simon Mago, auf, auf den bekanntlich der Begriff Simonie für Ämterkauf zurückgeht, die weiblichen Protagonisten sind die Nero in Liebe zugetane Asteria, die zum Christentum übertritt,  und die von Nerone einst vergewaltigte Vestalin Rubria, die diesen Schritt ebenfalls vollzieht. Den Hintergrund bildet die hier von Simon veranlasste, von Nerone aber gebilligte Vernichtung Roms durch den bekannten Brand. Der Diktatur will zum Gründer eines noch prächtigeren, noch gewaltigeren Roms werden. Akustisch endet die Aufführung mit einem auch aus einer anderen, weit bekannteren Oper vertrauten „Pace, pace, pace“, gesungen von der Nun-auch-Christin Asteria.

War man bereits seit Jahren von Bewunderung erfüllt für den Mut des Opernhauses von Cagliari, unbekannte Werke nicht nur aus dem italienischen Repertoire dem Publikum vorzustellen, zuletzt Cileas Gloria mit Anastasia Bartoli in der Titelpartie, so kann man zusätzlich noch hoch erstaunt darüber sein, welchen ungeheuren Aufwand das Haus mit aufwändigsten Kostümen, Kulissen, Personal betreibt, so dass man stellenweise an Hollywood denken könnte, wäre nicht alles auch von einem exquisiten Geschmack  bei aller überborenden Üppigkeit (Bühne Tiziano Santi, Kostüme Claudia Pernigotti). Da schreckt man weder vor Bellezza noch vor Grandiosità zurück, wagt einen eindrucksvollen Kontrast zwischen Antikisierung und Modernität, so dass Nero links nach altrömischer, rechts nach Art des Risorgimento gekleidet ist, und wahrt doch eine sängerfreundliche Inszenesetzung  (Regie Fabio Ceresa) für die Interpreten anspruchsvollster Partien. Das inszenatorische Augenzwinkern mildert auch das teilweise unangenehme Pathos des Librettos etwas.

Auch in Italien und für ein dort heimisches Werk kommt man nicht mehr mit nur einheimischen und damit muttersprachlichen  Sängern aus, so dass die Titelfigur mit Mikheil Sheshaberidze besetzt ist, einem optisch den Vorstellungen von einem Nero entsprechenden Tenor, dessen Stimme nicht schön, leicht gepresst klingend, aber durchdringend und strapazenresistent ist. Zwei gestandene italienische Baritone nehmen sich der  beiden anderen Protagonisten an. Franco Vassallo bewährt sich als böser Visionär Simon Mago mit dunkel dräuender Stimme, auch vokal schlanker, aber nicht weniger eindrucksvoll und farbig ist Roberto Frontali, optisch eher eine Vater- als eine Liebhaberfigur, als die er sich im Schlussduett outet. Eine bemerkenswert schöne, tiefste Tiefen auslotende Bassstimme besitzt Dongho Kim für den getreuen Tigellino. Mit extremer darstellerischer Hingabe und schonungslos eingesetzten kraftvollen Stimmmitteln ist Valentina Boi eine eindrucksvolle Asteria, während die  sanfte Rubria mit geschmeidigem, warmem Mezzosopran rollengerecht von Deniz Uzun verkörpert wird. Auch die kleineren Partien sind rollendeckend besetzt, teilweise ist ein Solist für deren mehrerer zuständig.

Dem Label Dynamic kann man gar nicht dankbar genug dafür sein, dass es ein so selten gespieltes Werk und immer wieder die Arbeiten des verdienstvollen Teatro Lirico di Cagliari einem breiten Publikum zugänglich gemacht hat und hoffentlich auch in Zukunft machen wird (Dynamic 38047). Ingrid Wanja

     

Anspruchsvolles CD-Debut

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Contemplation! Der Titel gibt sich grüblerisch. Gemeint ist die erste CD, die ausschließlich dem Bariton Huw Montague Rendall gewidmet ist – erschienen bei Erato, wo er neuerdings unter Vertrag steht (2173236378). Diesen Namen muss man sich nicht erst merken, Freundinnen und Freunde der Oper kennen ihn. Auch wenn mancher noch rätseln mag, wie man den Vornamen richtig ausspricht. Er ist walischer Herkunft. Seine englische Form lautet Hugh, die deutsche schlicht Hugo. Onomatologisch gesehen bedeutet Huw „der Geistvolle“, der „mit großem Verstand Ausgestattete“. Seine Eltern sind die Mezzosopranistin Diana Montague und der Tenor David Rendall. Sie singt u. a. die Tauridische Iphigénie in Gardiners Aufnahme der Gluck-Oper bei Philips, er den Ferrando in Cosi fan tutte unter Alain Lombard bei Erato. Damit wäre auch die Zusammensetzung des Sohnes Nachname geklärt. Neigung und Talent zur Oper scheinen also vererbt.

Verschiedenen Biographien im Netz zufolge studierte Montague Rendall am Royal College of Music London und absolvierte das Internationale Opernstudio Zürich. Auftritte gab es in Covent Garden London, an der Lyric Opera von Chicago, am Théâtre des Champs-Élysées in Paris und bei den Festspielen in Glyndebourne, Salzburg und Aix-en-Provence. Im Repertoire hat er Almaviva und Figaro, Papageno, Pelléas, Aeneas von Purcell. Als Konzertsänger tritt er mit Liedern und Sakralwerken von Brahms, Händel, Fauré und Vaughan Williams auf. In jüngster Zeit hatte er eine Reihe bemerkenswerter Debüts, so in Ambroise Thomas’ Hamlet in einer Neuinszenierung an der Komischen Oper Berlin, seinen Einstand an der Opéra National de Paris in den Partien des Papageno und des Mercutio (Roméo et Juliette), an der Opéra National du Rhin, an der Staatsoper Hamburg sowie an der Santa Fe Opera. Geboren wurde er 1993. Wer ihn auf Bühnen oder in Filmclips gesehen hat, wird kaum nach seinem Alter fragen. Der Sänger verströmt Jugend, Charme, Weltläufigkeit und gute Manieren. Ein Sympathieträger durch und durch. Er weiß sich zu bewegen und kann – wenn es denn sein muss – auch still stehen.

Für das mehrsprachige Booklet hat er einen eigenen Text beigesteuert. Bei vielen Firmen hat sich das so eingebürgert, wenngleich es nicht immer nötig ist. Sein Text nun – kontemplativ wie es der Titel der Neuerscheinung selbst verlangt – hat es in sich. Ein junger Sänger will es nicht beim möglichst perfekten Gebrauch der menschlichen Stimme belassen. Und sich auf keinen Fall Szenen, Arien oder Lieder in einer x-beliebigen Sprache phonetisch einpauken. Er will verstehen, was er singt, ist durch vertiefte Betrachtung auf eigenen Erkenntnisgewinn aus, den er auch noch weitergeben möchte an sein Publikum. Ein Sänger mit philosophischen Ambitionen also, was mich an Fischer-Dieskau erinnert. Hört man es auch? Auf jeden Fall gefällt es. Und vielleicht gerade deshalb, weil sich Montague Rendall Gedanken macht. Der Text beginnt so: „Wer sind wir, was ist unser Zweck und was bleibt von uns nach unserem Tod? Wir sind nichts als Sternenstaub, Wesen kosmischen Ursprungs, schwebend in der Weite des Universums. Unsere flüchtige, vergängliche Existenz ist ein Rätsel, welches das kollektive menschliche Bewusstsein fesselt und unsere Geschichte formt wie die unablässigen Gezeiten die Küste formen.“ Künstler, die Visionäre unserer Welt, würden diesen existentiellen Konflikten auf den Grund gehen wollen, wobei sie ihre Kunst als Leuchtfeuer einsetzten, um diese Mysterien zu durchmessen und ständig zu erforschen, gibt sich Huw Montague Rendall, der allerdings nur für sich sprechen kann, überzeugt. Kontemplation habe ihm wie ein Spiegel Einblick in die vielfältige Art dieser Rätsel ermöglicht. Genau dieses Konzept sei der Kompass bei der Musikauswahl für dieses Programm gewesen. „Musik hat sich in meinem Leben immer wieder als beherrschende Kraft erwiesen, die mir in den heftigen Lebensstürmen Orientierung gibt.“ Sie sei eine unschätzbare Gefährtin und biete tiefe Einsichten in die labyrinthische Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche. Die „sorgfältig ausgewählten Kompositionen wirken wie ein Spiegel, indem sie die Vielfalt der Lebenswirklichkeit wiedergeben und zu besinnlichen Reisen in mein Unterbewusstsein anregen. Ohne diesen harmonischen Leitfaden und die dadurch gebotenen nachdenklichen Offenbarungen wäre mein Leben völlig anders verlaufen“. Diese Offenheit dürfte sein Publikum für ihn einnehmen.

Huw Montague Rendall (Papageno) und Elisabeth Boudreault (Papagena) bei der CD-Aufnahme im Studio / Warner Classics (YouTube Screenshot)

Die Auswahl will also mehr sein eine Auswahl an Vielseitigkeit und Können, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Sie folgt einem intellektuell ausgeklügelten Konzept. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Auch die Abfolge der Nummern nicht. Wenn beispielsweise auf die Szene des Fritz „Mein Sehnen, mein Wähnen“ aus Korngolds Die Tote Stadt Mahlers Lieder eines Jahrenden Gesellen folgen, geschieht dies mit hintersinnigem Bedacht, der – wenn alles gut geht – auch dem Publikum an den Lausprechern oder unter Kopfhörern aufgehen soll. Ein prüfender Blick in die im Booklet abgedruckten Texte erübrigt sich, weil jedes Wort zu verstehen ist, womit eine der Stärken des Interpreten herausgestellt sei. Noch mehr gewinnen die Stücke, wenn sie aus dem schwerfälligen konzeptionellen Überbau gelöst werden. So jedenfalls meine eigene Hörerfahrung mit dieser CD. In Anbetracht ihres träumerischen Ansatzes, eingebettet in raffinierte Tempi, könnte man schwören, die Gesellen-Lieder selten melancholischer vernommen zu haben. Damit dieser Eindruck nicht zu rasch wieder verfliegt, hilft nur der entschlossene Gebrauch der Pausentaste. Denn die sich unmittelbar anschließende Szene des Billy Budd „Look Through the Port“ aus der Britten-Oper wäre nach Mahler wohl des Guten zu viel. Bis auf den Liederzyklus nehmen die Nummern keinen Schaden, wenn sie in loser Abfolge und auch einzeln konsumiert werden. So ein Fall ist der herzzerreißend vorgetragene Monolog des arbeitslosten leichtfüßigen Billy Bigelow aus Carousel von Richard Rodgers, dem Broadway-Musical vom Feinsten. Eine dramatische Story teilt sich in einer eingängigen musikalischen Form mit, wie sie nur amerikanische Komponisten zuwege bringen. Bigelow sinnt über seine prekäre Lebenslage und das ungeborene Kind, dessen Vater er ist, nach. Er wird ein schlimmes Ende mit ihm nehmen. Wer am Vortrag von Montague Rendall Gefallen findet, wird zuletzt danach fragen, warum dieser Monolog eine kontemplative Reaktion in Gang setzen soll. Und selbst die Szene Papagenos mit Papagena (Elisabeth Boudreault) und den drei Knaben (Oliver Barlow, Sam Jackman und Benjamin Gilbert) aus dem zweiten Akt der Zauberflöte – genügt sie sich nicht in ihrer singspielartigen Klarheit und betörenden musikalischen Eingebung? Der Interpret sieht es etwas anders, wenn er schreibt: „Diese musikalischen Meisterwerke führen gelegentlich zu Betrachtungen über so vielseitige Themen wie Sterblichkeit, einen berauschenden Liebestrank und die ungeheure Kraft einer persönlichen Entscheidung. Sie dienen als zeitlose Anleitung für das Überwinden von Zeiten aufgewühlten Leids und sich auftürmenden, bedrängenden Unglücks. Die Macht der Musik lässt sich mit den unvorhersehbaren Strömungen eines mächtigen Flusses vergleichen: manchmal muss man die Stärke aufbringen, um gegen den reißenden Strom anzuschwimmen, während man sich andererseits der Strömung überlässt und sich von ihr stromabwärts treiben lässt. Musik zeugt, wie dieser Fluss, von der ehrwürdigen Schönheit der Natur und der Widerstandskraft des menschlichen Geistes.“

Mercutio (Huw Montague Rendall) kommt Roméo (Benjamin Bernheim) nahe. Eine Szene aus Gounods „Roméo et Juliette“ 2023 in der Pariser Oper / YouTube Screenshot

Noch mehr Mozart gibt es mit der großen Conte-Arie aus dem dritten Figaro-Akt „Hai già vinta la causa! … Vedrò, mentr’io sospiro“ und Don Giovannis Canzonetta „Deh, vieni alla finestra“ aus dem zweiten Akt. Szenen, die im Vergleich mit dem übrigen Angebot, etwas abfallen. Was noch? Mercutios Mab-Ballade aus Gounods Roméo et Juliette sowie Rezitativ und Arie des Valentin „O sainte médaille – Avant de quitter ces lieux“ aus Faust vom selben Komponisten – ein Fach, mit dem er seine eigentliche Domäne gefunden zu haben scheint. Montague Rendall passt die Stimmfarbe den Figuren an, haucht Töne aus und unterdrückt die Ängste nicht, mit denen der Bruder Marguerites in den Krieg zieht. Von der existentiellen Introspektion Hamlets, verewigt in Ambroise Thomas’ monumentaler Oper nach Shakespeares Meisterwerk, bis zu den skurrilen romantischen Eskapaden von Monsieur Beaucaire in der Sicht von André Messager (beide Werke werden vom Sänger als einzige direkt genannt) sei diese aufreizende Vorstellung von „vielleicht“ immer gegenwärtig. Dieser einzelne Begriff, gleichbedeutend mit möglich und ungewiss, beschäftige ihn ständig. „Kann sein“, „was wär wenn“. Derartige Betrachtungen führten zu einer geheimen Türschwelle; ein kurzer Blick durch das Schlüsselloch sei eine entmutigende Aussicht. „Wie steuert man durch das vertrackte Labyrinth grenzenloser Möglichkeiten?“ Diese Musikzusammenstellung zeuge von der unbeugsamen Natur der menschlichen Seele und ergründe „unsere angeborene Fähigkeit“ zu gesunden und durch Introspektion zu wachsen.

Montague Rendall, der vom Opéra Orchestre Rouen unter Ben Glassberg begleitet wird, lässt nicht locker: „Wir haben das außerordentliche Glück, in einer Zeit zu leben, in der der Diskurs über mentale Gesundheit stark zugenommen hat und die Hilfsmöglichkeiten sich vermehrt haben. Dieses günstige Umfeld hat zahllose Einzelpersonen dazu angeregt, mit ihren persönlichen Geschichten ins Rampenlicht zu treten, um Beziehungen zu Menschen mit gleicher Erfahrung aufzubauen. Dieses Album will Selbstbetrachtung fördern und bietet denjenigen Trost, die sich auf den Weg zur Selbstfindung machen.“ Und weiter: „Kontemplation hat mich zu einer beeindruckenden Introspektion befähigt, die mir den Weg zu meinem tiefsten Selbst bereitet hat. Voller Erwartung zeige ich nun diesen Weg auf und hoffe, mit Ihnen eine tiefempfundene Verbindung herzustellen. Voller aufrichtiger Gefühle biete ich Ihnen dieses Album an und lade Sie ein, mich auf diesem Weg zu begleiten.“ (Foto oben: Huw Montague Rendall in einem Ausschnitt aus dem Booklet seiner neuen CD / © Simon Fowler). Rüdiger Winter