Hübscher Kitsch

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Ist das Zeffirelli, Wien 1978? Nein. Dort ging es viel lebendiger, theatralischer und packender zu, auch wenn der Regisseur jede Spitzenapplikation an den Mantillas persönlich überwachte und sich in Details verspielte. Das ist Rouen, 2023. Originaler geht es nicht. Der Palazzetto Bru Zane präsentiert die originale Carmen, wie sie 1875 an der Opéra-Comique ausgesehen hat. Oder ausgesehen haben soll. Entsprechend üppig und im ausladenden Querformat präsentieren die Herausgeber ihr Kunstwerk im festen Hardcoverbuch mit zusätzlicher Papphülle (2 DVD BZ 3001). Romain Gilberts historisch informierte Regiearbeit sieht zuerst einmal ganz hübsch aus, so wenn die schmucken Soldaten mir ihren sauber gestutzten Bärten, darunter Bariton Yoann Dubruque als Moralès und später Bass Nicolas Brooymans als Zuniga, mit der neckischen Micaela schäkern oder eine Episode mit einer jungen Schönen kommentieren, der ein alter Verehrer folgt, während ihr junger bäuerlicher Freund das Nachsehen hat. Ein bisschen wie die konservierten Bournonville-Ballette oder Choreographien aus der Glanzzeit des Mariinsky-Balletts.

Die Verantwortlichen haben viel Mühe darauf verwendet, was sie in englisch-, französisch- und deutschsprachigen Texten ausgiebig erklären, haben jahrelang Bühnen- und Kostümentwürfe, kolorierte Tafeln, Skizzen für Bühnenaufbauten, Pläne für Bewegungsabläufe, Regiebücher und entsprechenden Kritiken und Beschreibungen gesammelt, haben Berichte, Fotos, Posen studiert und daraus eine Vorstellung gefiltert, wie es möglicherweise am 3. März 1875 in der Operá-Comique aussah, als die 38jährige Célestine Galli-Marié erstmals ihre spätere paraderolle sang. Carmen war bei der Uraufführung ein mäßiger Erfolg, der in einen „internationalen Triumph“ mündete. Der Erfolg setzte erst langsam ein. Die Galli-Marié sang zehn Jahre später noch die hundertste Aufführung an der Opéra-Comique, wo bereits 1904 die tausendste Aufführung gefeiert wurde. Wir können uns nur schwer vorstellen, weshalb das Werk nicht auf Anhieb einschlug. An der fehlenden szenischen Opulenz der vier Schauplätze, der Pracht der Kostüme kann es nicht gelegen haben. Auch wenn man solchen Rekonstruktionen skeptisch gegenübersteht, hat die zahme Aufführung aus Rouen mit dem Orcheste de l‘Opéra de Rouen Normandie und dem Choeur accentus/Opéra de Rouen Normandie und einem Kinderchor des Konservatoriums unter dem damals 29jährigen und mittlerweile zum Musikdirektor der Wiener Volksoper berufenen Ben Glassberg eine liebevolle Betulichkeit und einen provinziellen Touch. Es wurde übrigens bewusst darauf verzichtet, auf historische Instrumente zurückzugreifen, Kürzungen zurückzunehmen und die gesprochene Dialoge zu verwenden, da die Initiatoren beweisen wollten, „dass eine solche Wiederaufführung in jedem heutigen Theater funktionieren kann, das Carmen ins Programm nimmt, mit einem modernen Orchester, mit seinen Sängern, die mit der üblichen Fassung vertraut sind, und sogar mit ausländischen Künstlern, deren Französisch vielleicht nicht präzise genug ist, um alle gesprochenen Dialoge erfolgreich wiederzugeben“.

Wir wissen, dass es zur Zeit der Uraufführung die Funktion des Regisseurs nicht gab, „Die Opéra-Comique hatte einen régisseur général, einen allgemeinen Regisseur – im Jahr 1875 Charles Ponchard -, dem es oblag, für den reibungslosen Ablauf der Aufführung zu sorgen: Er protokollierte die verschiedenen Bewegungsabläufe der Künstler und die Platzierung der Bühnenbilder, aber er war nicht für die Inszenierung zuständig“. Dennoch war alles sorgfältigst und ausführlich vorbereitet. Seit Oktober 1874 wurde für die Uraufführung geprobt. Die Proben wurden in zahlreichen Exemplaren des Regiebuchs festgehalten. Dieses diente neben den vier kolorierten Lithografien als Grundlage für diese Rekonstruktion. Die Lithografien halten Momentaufnahmen von jedem Akt fest.: „die fünfte Szene im Akt, das Vorspiel zum zweiten Akt, die Kartenszene im dritten Akt und das Ende der ersten ersten Szene im vierten Akt (nachdem die Quadrilla vorbeigezogen ist)“.

Wie Zinnsoldaten treten die Soldaten auf, wie Kinder aus dem Dickens-Museum marschieren die Kinder, puppig wirken die gezierten Gesten der Verkäuferinnen, wie Ballett-Pantomimen die übertrieben lebhaften Gesten der Männer und die Koketterie der Fabrikarbeiterinnen, artig der Auftritt des Escamillo im Operettenrokoko der Taverne. Alles wie von einem Zuckerguss überzogen, von einer marzipanfarbenen Glasur, wobei über den porzellanzarten Gesichtern ein zusätzlicher Weichzeichner zu liegen scheint, so dass jede geschneckelte Haarlocke der Carmen wie aufgemalt wirkt – natürlich war die Beleuchtung 1875 eine ganz andere, viel intimere. Antoine Fontaine, der auch die Bilder des unbekannten Bühnenbildners nachbaute, sagt dazu; „1875 beleuchtete man die Bühne mit Gaslampen, deren Licht viel gedämpfter war als unser aleketrisches Licht, vor allem ohne die Scheinwerfer (die es natürlich noch nicht gab). Die Sänger waren sehr stark geschminkt und mussten sich, um sichtbar zu sein, auf der Bühne so weit vorn wie möglich platzieren. Wir haben mit … zusammengearbeitet, um das Bühnenlicht nach den Bühnenskizzen von Daumier oder Degas zu erschaffen, unterstützt durch Standleuchten von schwacher Intensität, platziert hinter jedem Spannrahmen, um die passende Lichtstimmung zu rekonstruieren“. Die im Osman geborene, in Los Angeles ausgebildete Deepa Johnny ist eine  mehr als ordentliche Carmen. Der sich vom lyrischen zum Heldentenor mausernde Stanislas de Barbeyrac verkörpert mit Geschmack den naiven José, der sich von Micaela anschmachten – herrlich ihre steif angewinkelten, ihn auf leichten Abstand haltenden Hände – und Carmen verführen lässt. Die Rumänin Iulia Maria Dan ist eine stimmlich rundere Micaela als man in einem kleinen Haus erwarten würde. Faustine de Monès und Floriane Hasler sowie Florent Karrer und Thomas Morris treffen als Zigeunerinnen und Schmuggler den rechten leichten Comique-Ton und werfen sich am Ende des Schmuggler-Quintett herrlich in Pose, Palazzetto-Hauskraft  Nicolas Courjal ist ein robuster Escamillo.

Interessanter sind vielfach ihre Kostüme. Couturier Christian Lacroix nennt seine Mitarbeit, „die Erfüllung eines meiner ältesten Träume“. Etwas jedoch lässt sich trotz aller Akribie nicht herstellen, denn „ein letztes delikates Thema für mich war die Patina, die ich immer sehr schätze und einsetze, um den Kostümen ein wenig mehr Seele und Epochenbezug zu geben… Aber paradoxerweise geht es hier darum, Bühnenbild und Kostüme in ihrem Glanz und ihren Farben an jenem Abend des 3. März 1875 zu zeigen, auf die Gefahr hin, dass sie ein wenig kitschig glamourös erscheinen“. Rolf Fath (Fotos Marion Kerno & Julien-Benhamou, Rouen 2024).

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Und als PS.: Um obiges aufzugreifen: Es wurde übrigens bewusst darauf verzichtet, auf historische Instrumente zurückzugreifen, Kürzungen zurückzunehmen und die gesprochene Dialoge zu verwenden, da die Initiatoren beweisen wollten,„dass eine solche Wiederaufführung in jedem heutigen Theater funktionieren kann, das Carmen ins Programm nimmt, mit einem modernen Orchester, mit seinen Sängern, die mit der üblichen Fassung vertraut sind, und sogar mit ausländischen Künstlern, deren Französisch vielleicht nicht präzise genug ist, um alle gesprochenen Dialoge erfolgreich wiederzugeben“.

Was für eine armselige Kapitulation! Warum nahm der Palazzetto – der sich angeblich die Wiederbelebung der französischen Oper auf die Fahne geschrieben hat – nicht die Chance wahr, statt der an jedem Stadttheater gespielte und absolut jedem Schulkind bekannte bekannte Version der Carmen 1885 nicht die viel, viel spannendere Urfassung (!) von 1884 zu präsentieren, wie sie jüngst (2024) René Jacob in der Hamburger Elbphilharmonie so außerordentlich überzeugend gezeigt hat (Link zum youtube Video-Stream der Hamburger Aufführung vom 25.3.2024)? Zumal mit einer sehr (!) viel aufregenderen Besetzung und eben vielen, vielen Unterschieden zur spätere Fassung von 1875, mit mehr und anderer Musik und vor allem dem kompletten Dialog, der interessante Aufschlüsse über die handelnden Charaktere gibt, namentlich Carmen und Don José. Ein weiterer Beitrag zu eben der Originalfassung folgt bei uns/operalounge.de in Kürze. Aber das hätte man sich vom Palazzetto Bru Zane doch wirklich erwartet. Geb´s der Himmel, dass der Jacobs-Mitschnitt zumindest als CD erscheinen wird.  G. H.