Archiv für den Monat: Dezember 2021

Etienne Dupuis

 

Der kanadische Bartiton Etienne Dupuis ist Opernfreunden seit rund zehn Jahren ein Begriff. An seinem Stammhaus, der Deutschen Oper Berlin, begann seine Karriere. Dort hat er zahlreiche große Partien seines Fachs gesungen und ist schnell zum Publikumsliebling avanciert. Mittlerweile macht der Sänger eine Weltkarriere, die ihn regelmäßig an die Metropolitan Opera, die Pariser Opéra National, das Londoner Royal Opera House, das Teatro Real in Madrid oder die Bayerische Staatsoper führt. Der Deutschen Oper Berlin ist er immer treu geblieben und tritt dort als Posa im Don Carlo auf, der zur Zeit dieses Interviews gerade dort läuft, wo er unserem Kollegen Helmut Brinkmann über die Anfänge seiner Karriere, seine Verbindung zur Deutschen Oper Berlin, vor allem Posa, den er bald auch in einer Neuinszenierung an der Metropolitan Opera singen wird, Auskunft gab.

 

Etienne Dupuis: Backstage an der Deutschen Oper Berlin während Don Carlo 2021 (Foto O-PR Communications)

Sagen Sie doch etwas über Ihre musikalische Ausbildung und die Anfänge Ihrer Sängerlaufbahn.  Meine Mutter wollte unbedingt einen Musiker zum Sohn haben und trug daher während der Schwangerschaft ständig Köpfhörer um Musik zu hören. Nach meiner Geburt stand ein Klavier im Haus und ich spielte schon als Kind mit einem Finger die Lieder, die ich in Kinderfernsehsendungen hörte. Als ich vier Jahre alt war, begann ich mit Klavierunterricht. Mit 14 wechselte ich zum Jazzpiano. Ich habe immer gesungen, aber erst nur Popmusik. Bis ich mit 18 oder 19 zu einem klassischen Gesangslehrer ging, weil ich unbedingt singen lernen wollte. Als wir das erste Konzert gaben erinnere ich mich, dass ich das Gefühl toll fand eine Figur darzustellen, die Worte verschiedener Charaktere zu vermitteln und gleichzeitig zu singen. Ich hatte das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, und habe von diesem Zeitpunkt an nie zurückgeschaut. Ich habe in meinem Leben alles gemacht, was ich für interessant hielt. Und doch hat mich alles immer wieder zum klassischen Gesang und zur Schauspielerei zurückgeführt.

Wann wurde Ihnen klar, dass Sie eine gute Stimme haben und dass Sie das Singen zum Beruf machen würden? Dass ich eine Stimme hatte wurde mir so wirklich klar als ich 18 oder 19 war. Und zwar als ich bei dem bereits erwähnten Gesangslehrer vorsang. Ich gab hier und da ein kleines Konzert, machte bei einer Oper von Poulenc mit: Les mamelles de Tyrésias. Es machte Spaß und ich fand es toll, etwas darstellen zu können. Aber erst in meinem dritten Jahr an der Universität wurde es ernster. In diesem Sommer ging ich nach Toronto, um an einem Programm namens Summer Opera Lyric Theatre teilzunehmen. Der Herr, der es leitete, war Guillermo Silva Marin, wir nannten ihn alle Bill Silva. Damals sang ich zum ersten Mal den Marcello (auf Englisch). Und da kam mir auch zum ersten Mal der Gedanke, dass ich vom Singen leben könnte. Bill saß an meinem Tisch und ich erinnere mich, dass ich zu ihm sagte: „Ich glaube, ich könnte ein professioneller Opernsänger werden“.

Etienne Dupuis: „Les Feluettes“ in Montreal 2016 (© Yves Renaud)

Erzählen Sie doch von Ihrem Debüt auf der Opernbühne und den wichtigsten Engagements Ihrer Anfänge. Ich war im Young Artists Program der Oper von Montreal und in meinem dritten Jahr dort sang ich viele Rollen, darunter etwa der Dancaire in der Carmen. Aber meine allererste Rolle außerhalb von Montreal war in Vancouver, wo ich den Mandarino in der Turandot gab. Und gleich darauf bekam ich eine Rolle an der New Israeli Opera in Tel Aviv, Zweitbesetzung Lescaut in Manon Lescaut. Das war meine erste große Rolle an einem großen Haus. Damals war ich 26 und das hat mich sicher darin bestärkt, dass ich das Richtige tue. Ich habe immer mit meiner Stimme gesungen, habe sie nie gepusht. Aber ich war natürlich ein bisschen jung für den Lescaut. Einige Schlüsselrollen in der Anfangsphase meiner Karriere waren Marcello, dann der Silvio in den Pagliacci, den ich sowohl in, als auch außerhalb von Kanada sang. Aber das Wichtigste geschah, als ich Anfang 30 war: Ich durfte Rossinis Figaro an der Deutschen Oper Berlin singen, und kurz davor suchte man dort einen Zurga für eine Konzertfassung von Les pêcheurs de perles mit Joseph Calleja und Patrizia Ciofi. Das lief sehr gut und erregte Aufmerksamkeit. Danach wurden meine Angebote immer wichtiger und ich wurde von größeren Opernhäusern eingeladen. Der Operndirektor der Deutschen Oper Berlin, Christoph Seuferle, startete meine Karriere im Alleingang, indem er mit jedem Casting Director und Dirigenten, den er traf, über mich sprach.

Nun sind in etwa 10 Jahre seit dem besagten Debüt an der Deutschen Oper Berlin vergangen und Sie sind daraufhin viele Male an die Bismarckstraße zurückgekehrt, haben dort in Rollen debütiert, die später fester Bestandteil Ihres Repertoires wurden. Das stimmt, an der Deutschen Oper Berlin habe ich viele größere Rollen zum ersten Mal gesungen. Dieses Opernhaus hat es mir ermöglicht, mich an europäischen Theatern zu etablieren. Wie ich bereits sagte war mein Debüt an der DOB als Zurga in einer Konzertfassung von „Les pêcheurs de perles“ und zwei oder drei Monate später sang ich den Barbiere, eine Rolle, die ich dort einige Male übernommen habe. Dann gab man mir Verdi, und ich sang dort zum Beispiel zwei oder drei Jahre später meinen ersten Germont, der ein ziemlicher Erfolg wurde. Dann wurde mir Posa und Onegin angeboten, die noch immer eine große Rolle in meiner Karriere spielen und die ich an großen Opernhäusern wie München, Paris oder Wien singe. Barbiere, Posa und Onegin sind definitiv drei meiner wichtigsten Rollen, und sie alle habe ich erstmals an der Deuschen Oper Berlin gesungen.

Etienne Dupuis: Germont in „La traviata“ mit Nicole Car/Violetta, Opéra de Marseille 2018 (Credit Christian Dresse)

Noch wichtiger ist wahrscheinlich, dass Sie in Berlin Ihre zukünftige Frau kennengelernt haben, Nicole Car. Und zwar während einer Vorstellungsserie von Eugen Onegin an der Deutschen Oper. Wie kam es dazu? Das ist eine lustige Geschichte. Ich habe nämlich meinen ersten Posa und meinen ersten Onegin quasi gleichzeitig gesungen. Die erste Vorstellung von „Don Carlo“ war zufällig am allerersten Probentag für Onegin und ich erinnere mich, dass wir uns, als ich Nicole zum ersten Mal sah, nur etwa eine Stunde lang trafen, da wir nur das Quartett aus dem ersten Akt von Onegin probten. Dann musste ich gehen, um mich auf die Vorstellung von Don Carlo vorzubereiten. Eigentlich habe ich diese Probe gerne gemacht, weil ich dadurch meine Stimme etwas aufwärmen konnte. Wir hatten an diesem Abend eine phänomenale Premiere, und als die Leute am nächsten Tag fragten: „Wie ist es gestern gelaufen?“, war ich nicht gerade bescheiden: „So eine Reaktion habe ich noch nie bekommen, es war unglaublich.“ Nicole erzählt bis heute die Geschichte, wie sie dachte, ich sei ein Angeber (lacht). Es hat vielleicht noch ein paar Tage gedauert, bis sie sah, dass unter dem prahlerischen, selbstbewussten Kerl ein Mensch war, ein guter Kerl, der glücklich war, sie kennenzulernen. Wir haben uns erst angefreundet, aber sehr schnell war klar, dass wir uns zueinander hingezogen fühlten. Es ging nur darum uns selbst zu erlauben, verletzlich zu sein und zu schauen, was passieren könnte, wenn wir, zwei Opernsänger eine Beziehung eingehen würden. Die Welt zu bereisen, sie als Australierin und und ich als Kanadier und somit von der jeweils anderen Seite der Welt. Wir haben den Schritt gewagt und es nie bereut, und wir leben seit geraumer Zeit in unseren Koffern. Bei Onegin begann alles und der Rest ist Geschichte.

Etienne Dupuis: Onegin mit Nicole Car als Tatjana, Deutsche Oper Berlin 2015 (Credit Bettina Stöß)

Wie ist das mit dem Posa, mit dem der Sie momentan an der Deutschen Oper Berlin auf der Bühne stehen? Eigentlich könnte Posa fast als die Hauptfigur der Oper bezeichnet werden. Allen anderen Personen im Stück geht es, vielleicht abgesehen von Elisabetta nur um sich selbst. Der König und Don Carlo wollen nur das, was gut für sie ist, und das gilt auch für Eboli. Posa ist der einzige, der selbstlos ist, der einzige, der sich schließlich opfert um ein ganzes Land, eine ganze Nation zu retten. Ich finde er ist der interessanteste Charakter im Stück. Jedes Mal, wenn er auf der Bühne steht, jedes Mal, wenn er mit jemandem spricht sieht man, wie es in ihm arbeitet. Weil er über verschiedene Möglichkeiten nachdenkt, wie er durch seinen und durch den Einfluss anderer Flandern retten kann. Das ist sein wichtigstes Ziel, und ein sehr edles. Viel edler als Don Carlos seltsame Verliebtheit in seine Mutter und die völlige Missachtung des Königs seinem Sohn gegenüber. Er hat ihm Elisabetta versprochen und sie ihm dann einfach weggeschnappt und geheiratet. Dann Ebolis Eifersucht und Zorn… All diese Figuren scheitern in dem was sie versuchen zu tun. Auch Rodrigo scheitert letztendlich natürlich, aber sein Ziel ist so viel edler. Der Schlüssel zur Oper „Don Carlo“ besteht darin, dem edlen Bogen von Posa zu folgen. Dann übernimmt Elisabetta diese edlen Eigenschaften, indem sie ins Kloster geht und damit die ganze Situation nicht noch mehr durcheinander bringt.

Etienne Dupuis/ Foto Yan Bleney

Im Februar werden Sie diese Rolle erstmals in der französischen Fassung in fünf Akten an der Metropolitan Opera singen. Welche Unterschiede sehen Sie persönlich zwischen diesen beiden Fassungen, besonders im Hinblick auf Ihre Rolle des Posa? Nun, es ist kein Geheimnis, dass die französische Fassung zuerst geschrieben und aufgeführt wurde und die Musik an vielen Stellen der Oper ganz anders war. Das betrifft insbesondere die Rolle Posas: Das erste Duett mit Don Carlos ist ganz anders, das Duett zwischen Posa und dem König ist auch musikalisch ziemlich anders, das Quartett im vierten Akt (ich rede natürlich von der Version in fünf Akten)…. Die französische Fassung in 5 Akten ist also schon recht anders. Nun hat die italienische Fassung typischerweise nur 4 Akte und viel Musik wurde komplett neu geschrieben. Interessanterweise ist die Version, die wir an der Metropolitan Opera machen werden, soweit ich es der Partitur entnehmen kann, eine Mischung aus der französischen und der italienischen Version. Wir machen also 5 Akte, aber die Musik, zum Beispiel im Duett zwischen Posa und dem König oder im Quartett in Akt 4 ist jene aus der italienischen Fassung, aber mit französischem Text. Unterm Strich bleibt die Geschichte in der Oper die gleiche und der Charakter bleibt genau so edel wie vorher, aber musikalisch wird es näher an der italienischen Version sein. Die französische Version ist recht anders: Die Charaktere singen öfter gleichzeitig und wir bekommen eher mit, was in ihren Köpfen vor sich geht. Die Charaktere sprechen nicht unbedingt miteinander, sondern nehmen direkter Kontakt mit dem Publikum auf. In der italienischen Version ist es eher ein Gespräch. Ich denke die Version, die wir machen, ist eine großartige Mischung aus der französischen und der italienischen Version.

Ein weiterer wichtiger Pfeiler Ihres Repertoires sind Partien aus der Feder französischer Komponisten. Letzte Spielzeit gaben Sie Ihr Debüt als Werther von Massenet konzertant in Lyon. Dürfen wir uns darauf freuen, Sie bald in dieser Rolle in einer szenischen Produktion zu sehen?  Das ist wohl meine Lieblingsfrage nach der, wie ich Nicole kennengelernt habe. Ich habe mich total in diese Oper und in diese Rolle verliebt: Eine „Tenor“-Rolle, ein Verliebter, der nach einer größeren, besseren Beziehung sucht… Ich würde fast sagen nach einer Beziehung, die übermenschlich ist, fast wie eine Beziehung mit dem Himmel… Es ist so selten für einen Bariton, eine solche Rolle singen zu dürfen. Das war für mich absolut phänomenal. Außerdem gefällt mir, dass die Baritonfassung nie von Massenet selbst geschrieben wurde, sondern von einem Bariton [Mattia Battistini], der versucht hat, die Rolle zu singen. Massenet hat die Fassung dann genehmigt. Ich wollte schon immer die Massenet-Stiftung kontaktieren, um eine offizielle Bariton-Version zu erstellen und die ein oder andere Szene vielleicht transponieren können. Als ich die Rolle gesungen habe, habe ich viel von der ursprünglichen Tenorlinie restauriert. So gut ich es eben konnte, um die musikalische Richtung, die Massenet vorschwebte nicht zu beschädigen. Manchmal war es unmöglich und in diesen Fällen wäre es interessant, ein wenig nach unten zu transponieren. Aber leider konnte ich es von niemandem genehmigen lassen. Die Rolle hat mich tief bewegt, und ich habe mit jedem Opernhaus gesprochen, um diese Version in einer szenischen Produktion zu machen. Ich bekam dann auch ein Angebot, aber leider änderten sie ihre Meinung und entschieden sich doch für einen Tenor. Aber ich hoffe sehr, dass bald ein anderes Opernhaus mir die Bariton-Version von „Werther“ anbieten wird.

Sie haben auch in zeitgenössischen Opern mitgesungen. Hier ist besonders der Joseph de Rocher in Dead Man Walking, Simon in Les Feluettes und Pink in Another Brick in the Wall zu nennen. Können Sie mehr über diese Stücke sagen und über die Herausforderungen zeitgenössische Musik zu singen? Die Herausforderungen zeitgenössische Musik zu singen reichen davon, dass diese Musik schwer zu erlernen ist bis dazu, dass sie oft genauso schwer für das Publikum zu verstehen ist. Nun sind diese drei Opern sehr unterschiedlich. Dead Man Walking mit Musik von Jake Heggie und einem Libretto von Terence McNally ist eine Oper, in der viel geredet wird. Die Charaktere reden eigentlich ständig miteinander. Es ist eine phänomenale Oper, sie ist so emotional. Eine Oper über die Todesstrafe, die nicht Partei ergreift. Wir hören von den Eltern der Opfer genauso viel wie von den Protagonisten, dem Mörder und der Nonne, die ihn in seinen letzten Tagen begleitet. Können uns also eine Meinung bilden, ohne dass die Oper vorschreiben will, wie diese Meinung sein soll. Ich finde das faszinierend und das Publikum reagiert sehr gut darauf. Deshalb wird die Oper auch 21 Jahre später immer noch aufgeführt.

Etienne Dupuis: „Dead Man Walking“ in Montreal (© Yves Renaud)

Les Feluettes mit dem Text von Michel Marc Bouchard und der Musik von Kevin March ist wahrscheinlich die schönste zeitgenössische Oper, die ich je gesungen habe. Sie enthält eine Art Naivität und Einfachheit, verbunden mit einer wirklich erstaunlichen Geschichte. Es ist eine Liebesgeschichte zwischen zwei Männern und für mich was die Beziehung der beiden angeht ähnlich wie La Bohème. Es geht nur darum, eine Liebesgeschichte zu erzählen. Dabei spielt es keine Rolle, dass diese zwischen zwei Typen besteht. Das ist für mich nicht der Hauptpunkt der Geschichte. Es geht um eine gescheiterte Liebesgeschichte. Um ein ungelüftetes Geheimnis darüber, was nach dem Tod einer der beiden Protagonisten geschah. Das ist eine der Opern, die das Publikum jedes Mal, wenn ich sie sang wirklich im Herzen traf. Ich erinnere mich, dass ich dachte, noch bevor die Oper überhaupt geschrieben war, dass das Publikum sich nicht die ganze Zeit fragen sollte was es gehört hat, sondern sich auf die emotionale Last konzentrieren soll, die die Geschichte vermittelt. Die Vorstellungen waren ein großer Erfolg.

In Another Brick in the Wall von Roger Waters war die Herausforderung das originale Pink Floyd Musical und der Film. Der Komponist hat einen tollen Job gemacht, denn er hat das Ganze umgeschrieben und etwas ganz anderes erschaffen. Ich finde es was auch notwendig, das worum es geht ganz anders erklingen zu lassen. Das war auch ein großer Erfolg und kam beim Publikum sehr gut an. Insbesondere bei den Opernfans, vielleicht weniger bei den Pink-Floyd-Fans. Diese drei Opern sollten auf jeden Fall möglichst überall auf der Welt wieder gespielt werden, denn sie haben alle etwas Wichtiges zu sagen und sind musikalisch wirklich interessant. Die große Herausforderung der zeitgenössischen Oper besteht darin, dass es wirklich schwer ist, sie woanders auf der Welt aufzuführen. Dead Man Walking wurde zwar öfter gespielt, aber fast immer in den USA. Ich glaube, das Stück ging nach Madrid und nach Brisbane, aber fast nirgendwo anders, obwohl es eigentlich um die ganze Welt reisen sollte. Gleiches gilt für Les Feluettes und Another Brick in the Wall, sie alle sind mögliche Hits für ein internationales Publikum. Ich möchte gerne noch „Starmania“ hinzufügen, was auch unglaublich gut ankam. Das ist ein französisches Musical, das zu einer Oper umgeschrieben wurde, die wirklich schön und zugänglich ist. Und ich bin sicher, sie würde überall auf der Welt großartig angenommen werden. Das Stück ist von Michel Berger, das neue Arrangement von Simon Lefebvre und der Text von Luc Plamondon.

Etienne Dupuis: „Another Brick in the Wall“ in Montreal (© Yves Renaud)

Gibt es bestimmte Rollen, die Sie gerne singen würden, dazu aber noch nicht die Gelegenheit hatten? Ja und nein. Es gibt einige Rollen auf die ich mich freue, wie etwa Rigoletto. Und im Grunde sagen mir alle Verdi-Opern zu. Oder auch Rollen wie Wolfram im Tannhäuser, die ich gerne singen würde, obwohl sie etwas tiefer liegen, weil ich auch einmal etwas anderes ausprobieren muss. Ich suche immer nach Herausforderungen. Es geht mir nicht darum, unbedingt eine bestimmte Rolle zu singen, vielmehr darum mit einer großartigen Besetzung an einem großartigen Opernhaus zu arbeiten. Mit engagierten Kollegen, die das Publikum berühren wollen. Es ist ein Segen diese Kombination zu finden. Da fühlt man sich dann, als ob man genau dafür geboren wurde. Das passiert nicht immer. Ich lehne eine tolle Rolle sogar ab, wenn ich das Gefühl habe, dass das Opernhaus oder die Besetzung nicht zu mir passt.

Und zuletzt: Was steht demnächst auf Ihrem Kalender? Don Carlos an der Met, worüber wir bereits gesprochen haben. Davor werde ich in Wien Marcello und  den Albert im Werther singen. Dann kommt im Sommer in San Francisco der Don Giovanni mit Bertrand de Billy, Luca Pisaroni und Michael Canavaugh. Allesamt nette Leute, mit denen man toll arbeiten kann. Ohne zu verraten wo genau: Ich werde meinen allerersten Luna im Trovatore machen. In den nächsten Jahren werde ich noch ein paar Onegins singen, mal mit Nicole, mal alleine, noch ein paar Rodrigos, und in den nächsten zwei Jahren als Rigoletto debütieren. Es kommt wahrscheinlich noch mehr, manches vielleicht in letzter Minute, aber so sieht die Zukunft aus. Ich hoffe, dass die Theater weiter offen bleiben, weil es noch so viel mehr gibt, was wir Sänger auf der Bühne erzählen können und so viele Emotionen, die wir mit dem Publikum durchleben können. Das ist meine Hoffnung für die Zukunft. (Foto oben: Dead Man Walking in Montreal © Yves Renaud)

Seltenes von Rameau

 

Erstaunlich und verdienstvoll ist die rege Aufnahmetätigkeit von ERATO, seien es Recitals, Oratorien oder Opern. Jetzt legt die französische Firma eine veritable Barockrarität vor – die Pastorale héroïque Achante et Céphise ou La Sympathie von Jean-Philippe Rameau. Die Aufnahme entstand im Dezember 2020 in Paris und liegt nun in einer gediegenen Ausgabe auf zwei CDs vor (0190296694946).

Das Werk auf ein Livret von Jean-François Marmontel kam am 18. November 1751 anlässlich der Geburt des Herzogs von Burgund am 13. September zur Premiere. Rameau hatte also nur zwei Monate Zeit für die Komposition seiner Oper. Dennoch zählt diese zu den originellsten Schöpfungen in seinem Werkkanon. Ein besonders kühner Wurf ist die Ouverture, die den Prolog ersetzt, der sonst eine französische Barockoper einleitet. Sie gehört zum Typus der Programmmusik, beinhaltet die „Wünsche der Nation“ anlässlich der Geburt des Prinzen. Kanonenschüsse, Fanfaren, Rathausglocken und imitiertes Feuerwerk sorgen für eine äußerst lebhafte Atmosphäre und ungemein farbige Klänge, bei denen auch Disharmonien nicht ausgespart sind. In den zahlreichen Balletten – Air gracieux, Première et deuxième Gavotte, Loure, Premier et deuxième Tambourin, Musette, Premier, deuxième et troisième Regaudon – bezaubert das Ensemble Les Ambassadeurs – La Grande Écurie unter Alexis Kossenko mit graziösem oder begeistert mit turbulentem Spiel.

Die dreiaktige Handlung erzählt von der Liebe des Titelpaares, die durch den Genius der Luft, Oroès, vereitelt wird, der seinerseits Céphise begehrt. Die Fee Zirphile gibt den Liebenden ein Armband als Talismann, das beide durch Sympathie verbindet (daher der Untertitel der Oper). Oroès lässt sie von den Nordwinden in eine öde Wüste entführen und erscheint ihnen als von bösen Geistern umgebener Drachen. Zirphile aber kann sie befreien und in einen glänzenden Palast bringen. Die Geburt eines Helden – eine Anspielung auf das historische Ereignis mit dem Herzog von Burgund – krönt das Fest.

Eine illustre Besetzung wird angeführt von Sabine Devieilhe in der weiblichen Titelrolle. Die französische Sopranistin erscheint in jüngster Zeit regelmäßig in den ERATO-Studios und adelt auch diese Aufnahme durch ihre exquisite Stimme und die stilistische Kompetenz.

Neben ihr nimmt der Tenor Cyrille Dubois die männliche Titelrolle wahr – auch er ein Sänger, der in den Besetzungslisten von ERATO-Produktionen immer wieder auftaucht. Seine Stimme ist von weicher Resonanz und verblendet sich ideal mit der seiner Partnerin. Beide Titelrollensänger sind am Ende des 3. Aktes mit je einer Ariette solistisch zu hören – er mit dem schwärmerischen „Aigle naissant“, sie mit dem jubelnden „Lance tes feux“.

Der Bariton David Witczak gibt Le Génie Oroès mit virilem Nachdruck. Am Ende des 2. Aktes vereinen die drei Protagonisten ihre Stimmen in dem Trio „Aquilons volez à ma voix“. Die Sopranistin Judith van Wanroij als Zirphile lässt in ihrem Auftritt, dem Rondeau „Tendres amants“, eine typisch französische Stimme von strengem Klang hören.

In den Nebenrollen stört der Tenor Artavazd Sargsyan als Premier Coryphée und Un Berger mit bohrendem Stimmklang, während der Bassbariton Arnaud Richard als Second Coryphée angenehm tönt. Les Chantres du Centre de musique baroque de Versailles (Leitung: Olivier Schneebeli) imponieren vor allem in den majestätischen Lobpreisungen, so „Triomphe! Victoire!“ im 3. Akt oder „Vive la race de nos rois“ im Finale. Bernd Hoppe

Koffertausch mit Folgen

 

Vom Festival ROSSINI in WILDBAD stammt die Aufzeichnung von Rossinis L’occasione fa il ladro, die NAXOS auf einer Blu-ray Disc  herausgebracht hat (NBD0137V). Sie wurde im Juli 2017 im Königlichen Kurtheater des Ortes gefilmt. Festivalleiter Jochen Schönleber hat die Burletta per musica in bekannt albernem Zuschnitt inszeniert und auch die Bühne mit sparsamem Mobiliar entworfen. Ausgesprochen hässlich sind die Kostüme von Claudia Möbius in ihrem Fetzen-Look, der die Figuren nicht selten zu Vogelscheuchen macht.

Die Besetzung weist einige prominente Rossini-Interpreten auf, so den Tenor Kenneth Tarver als Conte Alberto, der in einem Gasthof auf Don Parmenione trifft, der nach Neapel reist, um seine unbekannte Braut kennen zu lernen. Verwechselte Koffer führen zu allerlei Turbulenzen. So reist Parmenione als der Conte nach Neapel, nachdem er das Porträt der schönen Berenice im Gepäck entdeckt hat. Diese wiederum tauscht mit ihrer Gesellschafterin Ernestina die Rollen, um ihren zukünftigen Ehemann auf die Probe zu stellen.

Antonino Fogliani leitet die Virtuosi Brunensis und sorgt schon in der Sinfonia für kantables Melos und lebhaftes Brio (welches man auch aus der Temporale des Barbiere kennt) hören. Lorenzo Regazzo als Don tönt reif, verfügt aber noch immer über die gebotene Eloquenz für Rossinis Geplapper. Sein Diener Martino ist mit dem Bariton Roberto Maietta jugendlich und gesanglich ansprechend besetzt. Beider Szene nach dem Koffertausch ist von munterer Agilität und Regazzo kann darüber hinaus in seiner Aria „Che sorte“ auftrumpfen. Später hat auch Martino ein beschwingtes Solo („Il mio padrone“), in welchem Maietta mit Wohlklang und stimmlicher Gewandtheit aufwartet.

Tarver lässt schon im Auftritt des Conte („Il tuo rigore insano“) eine unverminderte stimmliche Qualität hören. Auch in seiner späteren kantablen  Aria „D’ogni più sacro impegno“ bietet er schwelgerischen Tenorklang und beachtliche acuti. Vera Talerko wartet in Berenices Auftrittskavatine „Vicino è il momento“ mit einem herben Sopran von greller Höhe auf. Die Mezzosopranistin Giada Frasconi ist Ernestina im Stubenmädchen-Outfit. Besonders scheußlich erscheint sie in der Verkleidung als ihre Herrin, kann aber in der Szene mit dem Don, der sich als der Conte ausgibt, mit hübscher Stimme punkten („Quel gentil“). In der Begegnung mit dem wahren Conte („Se non m’inganna il core“) rundet sich Talerkos Sopran. Zusammen mit Berenices Onkel Eusebio (der Tenor Patrick Kabongo) verbinden sich die beiden Paare zum sprudelnden Quintetto „Orsù, spiegatevi“, in welchem alle Protagonisten ihre Kompetenz in Sachen Rossini beweisen. Auch das Finale, wo nach Auflösung aller Verwicklungen eine Doppelhochzeit gefeiert werden kann, stellt ihnen das beste Zeugnis aus. Und Fogliani kann mit dem Orchester noch einmal musikalischen Wirbel aufbieten. Das Publikum folgt der Aufführung amüsiert und spendet am Ende reichen Beifall. Bernd Hoppe

Sternstunde

 

Man sollte beides genießen: die Live-Aufführung des Rosenkavaliers in der Berliner Staatsoper wie die Videoaufzeichnung davon, denn wenn die erstere den Zuschauer schier atemlos in der Bewunderung von  Formen und Farben des opulenten Bühnenbilds von Xenia Hausner , der phantasievollen Kostüme von Arthur Arbesser zurücklässt, bereichert ihn die letztere durch das Geschick des Video Directors Felix Breisach, die handelnden Personen aus der Überfülle der optischen Reize herauszudestillieren, das Stück zum bitter-süßen Kammerspiel werden zu lassen.

André Heller, selbst noch relativ unerfahren in der Opernregie, hatte  sich als Co-Regisseur  den auf der DVD unterschlagenen Wolfgang Schilly an die Seite geholt, und gemeinsam gelingt es ihnen durch eine einfühlsame Personenregie, japanisches Schlafgemach, neureiches Stadtpalais mit Klimt samt Entourage und orientalisches Palmenhaus aus dem letzten Jahr der Donaumonarchie zum Hintergrund  für menschliche Emotionen, Tragödien wie Komödien werden zu lassen. Ideal wie auch in der Live-Aufführung dank des einfühlsamen Dirigats von Zubin Mehta ist die Ausgewogenheit von Orchester- und Stimmklang, nie werden die Sänger zugedeckt, sie haben alle Zeit, kostbare Stücke wie den Monolog der Marschallin im 1. Akt zu entwickeln, Textverständlichkeit wird nicht der Opulenz des Orchesterklangs zum Opfer gebracht und Regisseurseitelkeit strebt nicht danach, das Vorspiel zum 3. Akt zu „inszenieren“. Bei diesem hat der Zuschauer auch die Gelegenheit, die sympathische, zurückhaltende Art des Dirigierens zu beobachten, zu sehen und zu  hören, wie elegante Duftigkeit und üppiger Glanz aus sparsamer Zeichengebung erwachsen.

Fast fünf Stunden dauert die Aufführung ohne Striche, also auch mit dem brutal-selbstverliebten Bericht des Ochs von Lerchenau über seine Art, sich die Mägde seines Guts gefügig zu machen. Da dürfte der Zuschauer hin- und hergerissen sein zwischen Abscheu angesichts der mitleidslosen Brutalität verbunden mit dem Charme, den Günther Groissböck der hier durchaus zwielichtigen Figur zu verleihen versteht, verbunden mit einer so schlank geführten wie bis in die tiefsten Tiefen hinunter höchst präsenten Bassstimme.

Eine nicht nur wegen ihrer phantastischen Kostüme höchst attraktive Marschallin ist Camilla Nylund mit schlankem, kühlem Sopran und unendlich vielen vokalen Facetten wie des feinen Tongespinsts „Rose“ am Schluss des 1. Akts, des akustischen  Schleiers über „vorbei“ im 3. Akt. Nicht zu soubrettig ist die hübsche Sophie von Nadine Sierra, eher ein lyrischer Sopran, der den Wandel der Klosterschülerin zur selbstbestimmten jungen Frau glaubwürdig machen kann. So androgyn der Mezzosopran von Michèle Losier klingen kann, wenn sie Männerhosen trägt, so herrlich süffig hört sich ihr Mariandl an, kann sie auch darstellerisch die doppelte Brechung von einer Frau, die einen Mann darstellt, der eine Frau spielt, vermitteln. Roman Trekel ist der neureiche Faninal im Goldanzug und mit kultiviertem Gesang. Anna Samuil ist mit der Leitmetzerin im Charakterfach angekommen. Karl-Michael Ebner und Katharina Kammerloher singen und spielen rollengerecht Valzacchi und Annina, das Intrigantenpaar. Atalla Ayan bemüht sich um Tenorglanz als Italienischer Sänger. Daneben gibt es viele, viele durchweg gut besetzte Rollen, die leider auf der Rückseite der Videokassette ohne Booklet nicht aufgeführt sind und die man doch dankbar für die wunderbare Aufführung lobend erwähnt hätte. Aber vielleicht ist das nur bei dem Besprechungsexemplar so. Festzustellen bleibt, dass man in den letzten Jahrzehnten selten so glücklich aus einem Opernhaus kam oder einen Videorecorder abschaltete wie nach dem Genuss dieser Aufführung (Arthaus 109445). Ingrid Wanja  

Und noch eine …

 

Einen Riesenpublikumserfolg garantiert immer noch, wenn so gut gemacht wie an Londons Opernhaus Covent Garden, Mozarts Zauberflöte, und selbst hundertmal belachte Scherze Papagenos finden immer wieder dankbare Zuhörer. Dabei ist auch dieses Werk nicht ohne Fallstricke und könnte den Zorn von Feministinnen und Cancel Culture Verfechtern erwecken mit Sarastros oder des Sprechers, von Tamino kritiklos aufgenommen und wiedergebenen, Aussagen. Obwohl von Schikaneders Weltoffenheit zeugend, der durch Papagenos Mund schwarzen Menschen wie schwarzen Vöglen ihre Daseinsberechtigung garantiert, wird in London aus dem Mohren Monostatos ein einem blassweißen Nosferatu ähnlicher Höfling und aus dem „weil ein Schwarzer hässlich ist“ wird ein  „weil ein Sklave hässlich ist“. Ansonsten hat im September 2017 Thomas Guthrie die Produktion von David MacVicar angenehm aufgefrischt, entfaltet die Bühne von John MacFarlane märchenhaften Zauber, sorgt die Lichtregie von Paule Constable für wohliges Erschauern bei den Proben, die Tamino und Papageno bestehen müssen.

Zufriedenstellen bis sehr gut ist die Besetzung. Von der Deutschen Oper Berlin kennt man die Australierin Siobhan Stagg, die eine bezaubernde Pamina ist, deren leuchtender lyrischer Sopran ein strahlendes „die Wahrheit“ verkündet, eine schöne Arie  mit feinen Piani und ein sehr zärtliches „Tamino“ singt. Dieser ist Mauro Peter, ein ansehnlicher  Märchenprinz mit angenehmem Tenor, empfindsam in der Bildnisarie, allerdings nicht immer ganz frei in der Tonproduktion. Auch ohne jede weanerische Attitüde kann Roderick Williams die Zuneigung des Publikums mit den üblichen Späßen gewinnen, verliert nicht einmal dessen Sympathie durch Vogelmord und darf sogar einmal das Wandern als des Müllers Lust intonieren. Seine Papagena Christina Gansch tritt gleich mit einer Schar im Libretto doch nur angedachter Kinder auf. Den größten Applaus heimst die Königin der Nacht von Sabine Devielhe ein, obwohl die Sopranstimme recht dünn klingt, aber die Koloraturgeläufigkeit, die Souveränität im Umgang mit den Extremhöhen sind  erstaunlich . Eine gewaltige Röhre setzt der Bass Mika Kares für den Sarastro ein, in der Tiefe brummelig, ansonsten hart und hölzern klingend, da hätte man sich mehr vokalen Balsam gewünscht. Auch sein Sprecher Darren Jeffery ertönt recht dumpf, während der Tenor von Peter Bronder eher dünn als prägnant erscheint. Gut aufeinander abgestimmt sind die drei Damen mit Rebecca Evans, Angela Simkin und Susan Platts, natürlich Publikumslieblinge die drei Knaben. Julia Jones steht am Dirigentenpult, und was man aus dem Orchestergraben hört, klingt so angenehm wie angemessen, sieht man die Dirigentin, so erscheint ihre Zeichengebung  als eine besonders fürsorgliche (Opus Arte OA1343D). Ingrid Wanja

 

Halb Flotows Martha, halb Monty Python’s Flying Circus ist die Produktion von Mozarts allzu dokumentierte Oper  Die Zauberflöte für die Glyndebourner Festspiele im Jahre 2019 in der Regie und mit dem Bühnenbild von Barbe & Doucet, wer immer das sein mag. Die Geschichte ist in einem viktorianischen Hotel angesiedelt, Sarastro ist der Chefkoch, und Taminos und Paminas Bestreben richtet sich auf die Aufnahme in die edle Gesellschaft der Sterneköche. So besteht die endgültige Entscheidung auch nicht aus dem Bestehen von Feuer-und Wasserprobe, sondern aus dem Kochen eines Gerichts mit anschließendem Abwasch. Die Verlegung in ein Hotel früherer Zeiten hilft auch aus der Verlegenheit, den Monostatos als Schwarzen auftreten zu lassen zu müssen, er ist nun Heizer und dadurch nur vom Ruß geschwärzt, so dass niemand Rassismus wittern kann. Die Königin der Nacht und ihre Damen kämpfen für das Frauenwahlrecht und dürfen zum Finale mitfeiern. Das ist alles sehr lustig und abwechslungsreich, vor allem weil neben den Sängern auch allerlei Pappfiguren und Marionetten auftreten (Patrick Martel), Groteskes und auch ab und zu Obszönes geboten wird und immer wieder überrachende Gags die Aufmerksamkeit wachhalten. Die humane Botschaft des Stücks allerdings ist nun, erdrückt von Jux und Tollerei, nicht mehr wahrnehmbar. Unterhaltsam ist die Aufführung ohne jeden Zweifel.

The Orchestra of the Age of Enlightenment unter Ryan Wigglesworth spielt einen frischen, espritreichen Mozart, der Glyndebourne Chorus unter Aidan Oliver hat sichtlich und hörbar am munteren Spiel wie am Singen Freude.

Der Tamino von David Portillo, zunächst im Schlafanzug, dann in karierten Knickerbockern, aber immer mit bravem Krägelchen, singt nicht ganz akzentlos, aber empfindsam die Bildnisarie, hat mehr Schmelz in seinem Tenor, als ein englischer Mozarttenor wohl aufzubieten hätte. In der Höhe wird die Stimme etwas eng. Eher ein Koloratursopran als ein lyrischer mit entsprechender Wärme in der Stimme ist Sofia Fomina, die Pamina, die so auch in ihrer Arie etwas gläsern-kühl wirkt. Auch Caroline Wettergreen ist nicht die ideale Königin der Nacht, dazu ist er Sopran zu soubrettig, man wünscht ihn sich einfach dramatischer. In ihrer ersten Arie will sie noch höher hinaus, als man es gewöhnt ist, und wird dann schrill, perfekt gelingt Der Hölle Rache. Gut aufeinander abgestimmt sind die drei Damen mit Esther Dierkes, Marta Fontanals-Simmons und Katharina Magiera. Brindley Sherrat hat trotz komischer Kochmütze die optische Autorität für den Sarastro, der Bass klingt mittlerweile etwas schütter. Verquollen hört sich die Stimme von Michael Kraus für den Sprecher an, sehr präsent ist auch vokal Jörg Schneider als Monostatos. Obwohl natürlich Weanerisches gegenüber einem englischen Publikums seine Wirkung verfehlen würde, kann sich Björn Bürger als Papageno auch mit Hochdeutsch und einer schönen Baritonstimme zum Zentrum des Geschehens und zum Publikumsliebling machen. Alison Rose ist ihm eine attraktive Partnerin als Papagena. So kann man Zauberflöte machen, muss man aber nicht unbedingt Opus arte (OABD 7268D). Ingrid Wanja     

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Der Kini höchstpersönlich lässt sich von Zettler, dem Ersten Hofillluminator, und Klarei, dem Chef des Livrées, in die Geheimnisse der neuen Theatertechnik einführen und besteht auf einer Lichtprobe. Er ist entzückt von den neuen technischen Möglichkeiten. Dann erreichen bereits die  ersten Gäste die Herreninsel (Bühne: Volker Thiele). Gräfin Larisch-Wallersee, die Erbprinzessin von Thurn und Taxis und die Freifrau Truchsess von Wetzhausen gehen auf Position. Schon eilt Kaiser Franz Joseph II. in seiner Paradeuniform als Tamino durch den Park und lässt sich von den drei adeligen Damen, die sich nach ihrem kurzen Auftritt mit einer Maß stärken, aus seiner Ohnmacht wecken. Es ist mehr als nur eine hübsche Idee, die Enoch zu Guttenberg dieser bayrischen Zauberflöte zu Grunde legte, indem er ein Fest des Märchenkönigs im Spätsommer 1884 auf Herrenchiemsee mit der Tradition der in Adelskreisen beliebten Scharaden verband, bei der die Adeligen in die Theaterrollen schlüpften, zum Ausgangspunkt eines Spiels im Spiel und einer zumeist kurzweiligen Inszenierung der zu Des Königs Zauberflöte umfunktionierten Zauberflöte machte – erstmals 2010 in Herrenchiemsee sowie im November 2013 im Münchner Prinzregententheater. Ich gebe zu, ich hatte das zuerst für eine der üblichen Zauberflöten-Fassungen für Kinder gehalten.

Mit Jankerl und Alltagskleidung führt ein altersloser Papageno durch das Geschehen, was der mit allen komödiantischen Wassern gewaschene Gerd Anthoff mit der raumgreifenden Fabulierkunst des Volksschauspielers und geistreichen Seitenhieben auf Opern- und Weltgeschehen bewerkstelligt. Er dient als Scharnier zwischen den einzelnen Zeit- und Spielebenen. Sein singendes Alter Ego ist Max Emanuel Herzog in Bayern (Jochen Kupfer), der jüngste Bruder der Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Sie selbst, Sissi, spielt die Pamina, der Franzl, Kaiser Franz Joseph I., ist, wie gesagt, der Tamino, Cousin Ludwig II. übernimmt den Sarastro (Tareq Nazmi). Jörg Dürrmüller, der einen reifen Tamino und Franz Joseph gibt, und Susanne Bernhard, können nicht das Karlheinz Böhm- und Romy Schneider-Bild ersetzen; doch am meisten vermisst man als Erzherzogin Sophie von Österreich, die selbstredend die Königin der Nacht gibt, die spätere Doyenne des Josefstädter Theaters Vilma Degischer. Es fehlt auch eine Hand, wie die Ernst Marischkas, der zwischen Kitsch und Kunst, zwischen historischer Plausibilität und „so könnte es gewesen sein“ etwas mehr Ordnung in das brillant ausgetüftelte Geschehen und seine weltpolitische Dimension bringt.

Das Beiheft der DVD (FARAO Classics A 108095) nennt Enoch zu Guttenberg für die Musikalische Leitung und Inszenierung, es singt die Chorgemeinschaft Neubeuern, es spielt das von Guttenberg 1967 gegründete Orchester KlangVerwaltung. Anfangs witzelt der Dirigent mit Anthoffs Papageno, der die „wahre Geschichte der Zauberflöte“ erzählt und auf erfrischende Weise auf Distanz zu dem esoterischen Geschwätz der Eingeweihten und den freimaurerischen Ritualen geht. Den Text hat ihm Klaus Jörg Schönmetzler vorgeschrieben, die Dialoge wiederum stammen von zu Guttenberg und Schönmetzler.  Die feinsinnig erdache und bewusst amateurhaft angezettelte Aufführung bewegt sich trotz aller netten Ideen – Otto Fürst Bismarck, welchen Papageno als „gescheiter als wie hier alle zusammen“ vorstellt, spielt den Pickelhauben-Monostatos (Martin Petzold) – doch in den Bahnen einer braven Liebhaber-Aufführung aristokratischer Theater-Fans. Enoch zu Guttenberg dirigiert diese Zauberflöte als drastisch zupackenden, in der Szene der Geharnischten – mit dem preußischen Kronprinzen und dem später in Sarajewo ermordeten österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand – bedrohlich überdüsterten Theaterspaß, an dessen Gelingen Susanne Bernhard, Antje Bitterlich, der edle Tareq Nazmi, Jörg Dürrmüller, Jochen Kupfer als hoch besetzter, schuhplattelnder Papageno, Martin Petzold als Monostatos, die drei Damen Miriam Meyer, Olivia Vermeulen und Heike Andersen sowie Gudrun Sidonie Otto als Papagena, als deren mögliche historische Darstellerin die Macher die ungarische Schauspielerin Lila von Bulyovsky ausgemacht hatten, großen Anteil haben. Zu den „Strahlen der Sonne“ erscheint Sissi dann endlich im Sternenkleid (Kostüme: Claudia Krämer, Ingrid Bettega, Brigitte Huber).        Rolf Fath

„Schön, dass es viel zu tun gibt!“

 

Der in Berlin ansässige Komponist Max Doehlemann ist in vielen Genres tätig, hat aber eine besondere Vorliebe für Vokalkompositionen. Neben dem Musiktheater bespielt er vor allem auch Genres wie das Kunstlied, das heute in einer Krise zu sein scheint. Über die Frage, was das Lied im 21. Jahrhundert noch erhaltenswert erscheinen lässt, und warum jüdische Inhalte in der zeitgenössischen Musik so selten thematisiert werden, hat sich René Brinkmann mit dem Berliner Musiker unterhalten.

 

Sie sind einer der wenigen zeitgenössischen Komponisten, die sich immer wieder dem Thema „Lied“ in verschiedensten Besetzungen angenommen haben. Ist das Kunstlied heute lediglich etwas aus der Mode oder was hindert Komponistinnen und Komponisten daran, das Genre zu bespielen? Ich finde, dass es schon sehr interessante Lied-Kompositionen von „Zeitgenossen-Kollegen“ gibt. Ich arbeite ja viel mit Sängern, manchmal auch als deren Klavierbegleiter – da kam mir schon manches großartige, aktuelle Lied-Werk unter die Finger. Aber generell haben Sie recht, das Genre scheint irgendwie aus der Zeit gefallen…Vielleicht fehlen im Musikleben heute dazu ja Räume und Konzert-Formate. Auch Attitüden der Zeit könnten eine Rolle spielen: Neben einem Singer-Songwriter, der scheinbar „befreit“ über sich und seine Probleme singt, wirken klassische Liedabende auf viele heute vielleicht steif und künstlich. Ich halte das für einen Irrtum.

Oder auch: Viele Komponisten heute suchen sehr spezielle Herausforderungen. Sie begründen, mal böse gesagt, ihre Ästhetik oft eher mit Vermeidung von Tradiertem, als mit dem Wunsch, selbst eine originäre, eigene musikalische Sprache zu sprechen. Es fragt sich nur, ob man so -allein durch Vermeidung – zu echtem, persönlichem Ausdruck findet. Ich glaube: nein. Lied-Komposition verlangt Formung und man muss wie in einem Musik-Labor quasi eine musikalische Essenz entwickeln. In unserer Zeit-Ästhetik wollen sich viele aber nicht festlegen, sie trauen dem eigenen musikalischen Ausdruck im Grunde nicht so recht und bevorzugen deshalb wabernde, offenere Formen. Vielleicht auch ein Grund?

Was sind denn aus Ihrer Sicht die besonderen Herausforderungen für Komponisten im 21. Jahrhundert in Bezug auf Vokalkompositionen, abseits der Oper? Mir fällt dazu ganz praktisch ein, dass es doch ganz verschiedene Arten des Singens gibt, die praktiziert werden. Neben klassischem Gesang gibt es Musical-Gesang, Jazz, Rock oder auch Rap – ganz zu schweigen von den Gesangs-Arten anderer Kulturen. Es gibt in Europa schon lang keine klare Formung mehr in die Richtung, dass man die klassische Art zu singen (wie in Oper oder Oratorium) als Leitbild oder besonders zentrale Kunstform ansieht. Singen ist natürlich per se eine menschliche Grund-Äußerung und ein Grundbedürfnis jeder Kultur, aber wenn eine Kunstform daraus wird, kann sich das sehr unterschiedlich anhören. Die damit verbundenen musikalischen Horizonte sind total verschieden.

Ich selber habe zum Beispiel auch schon Musical-Songs komponiert, habe jahrelang mit singenden Schauspielern gearbeitet (besonders am Berliner Ensemble). Jazz ist mir auch nicht fremd und ich habe in Projekten gespielt mit orientalischen oder nordafrikanischen Sängern. Wenn ich als Komponist dann immer wieder „zeitgenössisches Kunstlied“ entwickelt habe, geschah das aus einer Erfahrung von Vielfalt heraus. Ich denke, viele Musiker heute gehen solche verschlungenen Wege durch verschiedene Stilwelten. Es gibt eine große Freiheit, Musik kann so vieles ausdrücken – und natürlich auch Schönheit. Eine Gefahr liegt vielleicht darin, dass man im künstlerischen Weg durch die große Welt der Möglichkeiten Abkürzungen nimmt, ohne die Welten wirklich durchdrungen zu haben – da kommt als schlechter Mix so eine Verflachung oder „Verpoppung“ dabei heraus. Letzteres bitte nicht falsch verstehen: Ich habe grundsätzlich nichts gegen Pop, wohl aber gegen eine anbiedernde Verpoppung, die ich zutiefst ablehne – ein wichtiger Unterschied ist das für mich!

Ich könnte mir vorstellen, dass auch die Wahl des Textes eine Rolle spielt, denn ähnlich wie das Lied in der Musik ist in der Literatur auch die Lyrik schon seit Jahren in einer Krise: Die großen Verlage veröffentlichen nicht mehr sehr viel moderne Lyrik, die anscheinend auch vom Publikum nicht mehr viel nachgefragt wird. Da hatten es die romantischen Komponisten zur Hoch-Zeit des Liedgenres schon besser, oder? Nachdem Bob Dylan für seine Songtexte den Literatur-Nobelpreis bekommen hat, könnte man vielleicht auch der Meinung sein, dass sich die Idee „Lyrik“ eben auch eher in den Bereich des Pop verlagert haben könnte. Viele Singer-Songwriter machen doch auf ihre Weise moderne, vertonte Lyrik. Das klassische Kunstlied-Genre ist sicherlich eine Musik mit viel größerer harmonischer und melodischer Komplexität – diese Art, Musik zu denken, war im 19. Jahrhundert konkurrenzlos anerkannt. Dann hat sich die klassische Musik des 20. Jahrhunderts vielfach in sehr spezielle Richtungen entwickelt – Richtungen, die nur selten das ins Zentrum gerückt haben, was die menschliche Stimme ausmacht. So gesehen hatten es die Romantischen Komponisten wohl wirklich besser. Es gab damals einen viel klareren, vorgegebenen Stilrahmen, den das Publikum auch verstand. Auch Stilbrüche oder sogar Umbrüche waren da leichter. Aber jede Zeit hat ihre interessanten Seiten, und genauso die heutige!

Inwiefern muss es denn überhaupt Lyrik von heute sein? Ist es nicht auch interessant sich einen, sagen wir, Heine-, Goethe- oder Schiller-Text herzunehmen und diesen mit moderner Musik neu zu interpretieren? In meinem Zyklus „Orte“ (davon ist gerade eine Studioaufnahme entstanden) habe ich unter anderem tatsächlich einen Goethe-Text vertont. Außerdem Trakl. Ich habe auch schon Paul Valéry, Shakespeare oder Eugenio Montale zur Grundlage genommen, meist in der Originalsprache. Oder Robert Gilbert, oder auch Jahrtausende alte Psalmen. Natürlich geht das alles. Aber es zählt bei jeder Komposition die Einzel-Lösung. Die Musik muss immer wieder individuell auf die Welten des Textes eingehen, was hätte es sonst für einen Sinn?

Auf Ihrem neuen Album „Ruach“, einem Doppelalbum, dass Sie sich mit dem Schweizer Komponisten Bo Wiget sozusagen teilen, gehen Sie ausgehend von diesem Wort aus dem hebräischen Bibel-Text auf eine recht komplexe und zum Teil ziemlich ironische Spurensuche nach der Bedeutung dieses Worts, das – wenn ich das richtig verstanden habe – einerseits in einer gewissermaßen metaphysischen Sicht als „Geist Gottes“ gedeutet werden kann oder aber auch ganz schlicht und einfach als „Wind über dem Wasser“. Ist das so in etwa richtig erfasst? In der traditionellen jüdischen Haltung ist es absolut üblich, hebräische Traditions-Worte auf ihren Bedeutungsgehalt abzuklopfen. „Ruach“ ist so ein Wort, es kann heißen „Geist“ (so verstanden es aber eher die Christen), hat aber auch andere Bedeutungen. Maimonides oder Spinoza begründeten den Rationalismus, indem sie so Schlüsselworte der hebräischen Bibel auf ihre Bedeutung hin diskutierten – eine Tradition, die das Christentum meines Wissens nicht kennt. Ich selbst bin ja Mitglied der Jüdischen Gemeinde. Ich toure viel als Klavierbegleiter eines Rabbiners mit Kabarett-Programm, Ironie gehört schon deshalb zum Tagesgeschäft. Natürlich reflektiere ich auch viel ernsthaft über jüdische Inhalte. Ironisch bei meinen Stücken auf der CD ist wohl vor allem das erste enthaltene Stück, meine Kantate „Der Bär antwortet“ (nach einem Text von Sören Heim). Das ist eine feierliche, pantheistische Hymne an das Sternbild des Großen Bären – für Sopran, Orgel und Trompete. Bo Wiget hat natürlich auch einen feinen Sinn für Humor, auch er ist ja bisweilen im kabarettistischen Bereich tätig. Nur wichtig: Nur, weil manchmal etwas ironisch klingt, heißt das lange noch nicht, dass es nicht auch ernst gemeint sein kann.

Wie kamen Sie denn auf die Idee, von diesem Bibelbegriff aus der Genesis ausgehend, Instrumentalmusik und Lieder zu kombinieren? „Ruach“ hat viele Bedeutungen:  Geräusch, Lärm, Wind, Atmosphäre, Stimmung. Nicht unbedingt nur „Geist“. In anderen Kontexten (zum Beispiel im von mir hebräisch vertonten jüdisch-liturgischen Text „Uwa Lezion“) heißt es eher „großer, donnernder Krach“. Ich finde, gerade in diesem Spannungsfeld Geist (christliche Interpretation) versus Wind (jüdisch-rationalistische Interpretation) hat das Wort eine besondere Aura, mal frei nach Walter Benjamin gesagt. Bo und ich haben länger nach dem passenden Titel gesucht, wir waren zwischendurch schon, weil wir beide so gern Tee trinken, bei „TeeOLogische Reflektionen“ (da sollte man uns beide auf dem Cover mit Teetasse sehen, ich hatte sogar schon einen Fototermin dafür klargemacht). Aber Ruach drückt dann doch besser aus, was diese Zusammenstellung ausmacht..!

Was ich interessant finde, ist, dass die jüdische Kultur in der Musik des 21. Jahrhunderts bis dato deutlich seltener öffentlich wahrgenommen wird als beispielsweise in der Literatur, wo es nach meinem Eindruck eine lebhafte Beschäftigung mit jüdischen Themen gibt, die immer wieder auch für Diskurse in den Feuilletons sorgt – wie beispielsweise erst kürzlich beim Konflikt zwischen den Publizisten Max Czollek und Maxim Biller, auch, wenn dieses Beispiel nun ein eher unerfreuliches ist. Im Prinzip kann man sich aber ob solch breiter Aufmerksamkeit aus Sicht eines Musikschaffenden doch nur wundern: Wo sind denn die Feuilletonisten in Bezug auf die neueste Musik mit jüdischen Themen? Gibt es denn da gar nichts zu diskutieren oder wenigstens zu entdecken? Zum Thema Czollek/Biller möchte ich mich nicht äußern, obwohl ich eine Meinung dazu habe. Sie sprechen von Musik „mit jüdischen Inhalten“ – das finde ich gut formuliert, denn es ist ja durchaus fraglich, was jüdische Musik per se überhaupt sein soll. Jüdische Inhalte kommen in der öffentlichen Debatte, in Zeitungsartikeln und so weiter ja durchaus vor, aber selten dabei geht es darum, was jüdische Kultur, was jüdische Perspektiven tatsächlich aus sich selbst heraus auszeichnet. Diese Perspektiven fehlen im Bildungskanon, ganz besonders im Bereich der Musik – vielleicht hat hier insgeheim immer noch Richard Wagner die Lufthoheit? Im 19. Jahrhundert wurde Jüdisches von Musikschriftstellern wie Hugo Wolf und anderen verächtlich gemacht – das könnte fortwirken. Ein Mendelssohn- Bartholdy konnte zwar genau wie ein Gustav Mahler oder Heinrich Heine den Platz im allgemeinen Bildungskanon einnehmen, aber nur, weil sie alle zum Christentum konvertierten und nichts oder wenig explizit Jüdisches produzierten (sie wurden trotzdem weiterhin als Juden angesehen). Die Leute heute wissen überhaupt nicht, was „jüdisch“ alles bedeutet oder bedeuten kann. Vor der NS-Zeit gab es deutsch-jüdische Denker mit Weltgeltung, die über explizit jüdische Inhalte schrieben – etwa Gershom Scholem oder Franz Rosenzweig. Wir wissen, wie die Geschichte weiterging. Auch heute werden natürlich fantastische Bücher geschrieben, so hat etwa der Philosoph und Judaist Christoph Schulte, (mit dem ich auch befreundet bin) ein tolles Buch über den kabbalistischen Begriff des Zim Zum geschrieben. Das Thema kommt auch auf der CD vor! Doch all das hat in der Musikwelt erstmal keine Relevanz. Man billigt dem Judentum musikalisch jenseits von Klezmer nicht allzu viel zu. Auch nicht, dass es völlig andere Sichtweisen beinhalten kann, dass ganz eigene geistige, kulturelle oder auch spirituelle Welten inbegriffen sein können. Vielleicht kann ich in meiner kleinen Welt ja dazu beitragen, dass sich das ändert. Es gibt die kabbalistische Idee von verstreuten Funken, die es aufzusammeln gilt – diese Vorstellung mag ich sehr.

Inwieweit ist überhaupt Ihr Selbstbild mit dem Begriff „Neue Musik“ vereinbar? Sie selbst entstammen ja nicht einer „typischen“ Komponisten-Laufbahn… Ich finde den Begriff „Neue Musik“ abgenutzt. Sicher mag es Zeiten gegeben haben, wo der Aufbruch in unbekannte Gefilde aufregend und interessant war. Auch ich habe eine Menge ausprobiert, merkte aber eigentlich schon zu Studienzeiten in den frühen 90ern, dass ich mit der intellektualistischen, vor allem zur Klangcollage neigenden Haltung vieler Kollegen nichts anfangen konnte. Ich fand diese Musik kalt und sie erzählte für mich nichts. Ich war dann über Jahre eher mit Buchautoren befreundet als mit Komponisten-Kollegen. Ich habe Filmmusik gemacht und langjährig an Sprechtheatern gearbeitet (an Opernhäusern übrigens auch, aber weniger). Herausgekommen ist dabei eine kompositorische Haltung, dass ich mit Musik unbedingt etwas ERZÄHLEN will. Ich habe nichts gegen eine experimentelle Haltung, ich mache das selber ja auch – suche aber Anlass und Inspirationen dazu mehr im Theatralischen und Performativen als in der Montage von Klängen.

Max Doehlemann und Rabbi Walter Rothschild/doehlemann.berlin

Wie entgegnen sie der häufig vertretenen kritischen Position, die moderne Literatur hätte es geschafft, ein Publikum bei der Stange zu halten, die moderne Musik jedoch nicht? Ich finde, dass diese Position leider nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Was mich übrigens an der Haltung mancher Neue-Musik-Kollegen immer besonders gestört hat, ist dieser insgeheime Erziehungs-Anspruch, also diese Behauptung, ihre Musik sei perfekt so, aber das Publikum noch nicht so weit und müsse irgendwo „hingeführt“ werden. Ich dagegen möchte mit meiner Kunst niemanden erziehen. Sollte jemand sie nicht mögen, ist das O.K. und es ist nicht nötig, dann am Hörer nachzubessern. Voraussetzung ist natürlich schon, dass man solcher aktueller, nicht-kommerzieller Musik überhaupt eine Chance gibt – also dass man sie ernsthaft und mit offenen Sinnen anhört. Vielleicht auch zweimal. Dafür, dass das passieren kann, muss man Gelegenheiten schaffen. Und vorhandene Gelegenheiten unbedingt pflegen und erhalten.

 Sie haben in diesem Interview ja nun die Gelegenheit für Ihre und die Musik Bo Wigets zu sprechen: Wen geht Ihre Musik an, wer sollte sich Ihre Musik anhören? Grundsätzlich jede oder jeder mit Interesse an Musik jenseits von Hintergrund-Berieselung. Wer für gute Party-Stimmung sorgen will, sollte vielleicht lieber eine chillige Jazz-CD einlegen (habe ich auch schon gemacht). Hier, bei „Ruach“, muss man richtig zuhören. Vielleicht bei längeren Fahrten im Auto oder in der Bahn? Gern auch zu Hause. Es besteht die Chance, gut unterhalten zu werden, vielleicht Anregungen zu erfahren oder neue Perspektiven zu gewinnen. Es gibt auch eine philosophisch-religiöse Perspektive, angesprochen fühlen dürfen sich gleichermaßen Religiöse, „Aber“-Gläubige, Atheisten oder Spötter. Ich denke, es gibt nicht nur wegen Corona ein Bedürfnis nach tieferer Reflektion, Sinnfragen und dergleichen. Vielleicht kann man sich mit unserer Musik so beschäftigen, wie man es mit einem Buch kann. Die Frage, wie man das jetzt alles in Marketing-üblichen Begriffen taggen kann, war für uns offen gestanden zweitrangig.

Sie sind, wenn ich richtig informiert bin, als Komponist ausgehend von Berlin aktiv. In meiner Wahrnehmung gibt es in Berlin eine sehr vitale Szene zeitgenössischer Musik, die aber weniger wahrgenommen wird, als die klassischen „Leuchttürme“ der Neuen Musik in Donaueschingen, Darmstadt, usw. Woran liegt das? Ist die klassische Musik in Berlin so omnipräsent, dass sich die Feuilleton-Redaktionen ein leichtes Leben machen können, indem sie immer nur über die Konzerte der Weltstars berichten? Berlin ist überhaupt sehr voll mit Kultur. Hier finden (sehen wir mal von der Corona-Zeit ab) täglich so viele Veranstaltungen statt, dass man einzelne oft kaum noch mitkriegt. Dann ist Berlin ja vieles: Hauptstadt, Flickenteppich, zerrissen durch die Geschichte, es gibt überall viel Fluktuation – wenig Ruhe und Konstanz. In etwas ruhigeren, kleineren Orten ist neue Musik vielleicht besser wahrnehmbar. Was die Feuilletons angeht: ich habe den Eindruck, dass die heute auch mehr in Richtung „Star“-Vermarktung tendieren, als dass sie lebendigem Kulturleben oder wichtigen Gegenwartsdebatten der Kultur (jenseits einiger Reizthemen) einen größeren Raum einräumen. Gleichzeitig scheint es im Musikbereich ungeheuer fest gefügt zu sein, wer oder was als wichtig und relevant angesehen wird. Während im Literaturmarkt andauernd interessante, neue Talente in den Medien auftauchen, geht es in zumindest der Klassischen Musik ziemlich altväterlich zu: Da ist nur das gut und bewährt, was man kennt und was schon mindestens 75-mal besprochen wurde.

 Ist es abseits der großen Metropolen einfacher für zeitgenössische Komponisten, sich zu etablieren? Es fällt ja doch auf, dass viele der Zentren für zeitgenössische Kultur eben nicht in den klassischen Kulturmetropolen entstanden sind, sondern eben in Städten wie Darmstadt, Kassel, Donaueschingen usw. Das ist schon möglich. Aber dass ich zum Beispiel in Berlin wohne, heißt ja nicht, dass deswegen jetzt alle Stücke nur in Berlin gespielt werden oder werden sollten. Sie haben natürlich recht, dass es in Deutschland kleinteilige regionale Netze gibt, mit Hilfe derer entsprechende Komponisten oft langjährig promotet werden und dann irgendwann als „etabliert“ gelten. Ich habe leider über solche Netze nie verfügt.

 Anschließend: Was sind Ihre Pläne für die nähere Zukunft? Ich bereite mehrere Musiktheater-Projekte vor. Ich bin involviert in das neu gegründete Jüdische Theaterschiff MS Goldberg, das im Mai seinen Betrieb aufnehmen wird. Mit dem Brandenburgischen Staatsorchester steht eine Jazz-Kooperation mit mir als Solisten und Komponisten bevor. Ich werde konzertieren, unter anderem mit der Geigerin Liv Migdal oder dem Cellisten Ramón Jaffé. Verschiedene Kompositionen sind in Arbeit und neue Veröffentlichungen wird es auch geben- als Tonträger und als Noten bei der Universal Edition. Schön, dass es viel zu tun gibt!

Hänsel, Gretel und Klein-Tristan

 

Das Engelbert-Humperdinck-Jahr ist verstrichen. Auf dem Musikmarkt gab es nur wenige Bemühungen, dem Komponisten, der am 27. September 1921 starb, neue Facetten abzugewinnen. Auch hundert Jahre nach seinem Tod – er wurde auf dem Südwestfriedhof in Stahnsdorf bei Berlin begraben – bleibt er vor allem der Schöpfer von Hänsel und Gretel. Er wird seinen größten Erfolg nicht los und letztlich immer wieder darauf reduziert. Trotz aller ehrenwerten Versuche auf Bühnen oder in Aufnahmestudios, auch die Königskinder, Dornröschen oder die Heirat wider Willen zu neuem Leben zu erwecken. Von den übrigen Werken ganz zu schweigen. Humperdinck hat Lieder, Balladen, Schauspielmusiken, diverse Orchesterstücke und Kammermusik hinterlassen und genoss zu Lebzeiten höchstes Ansehen. Wen wundert‘s, dass das Gedenkjahr mit Hänsel und Gretel ausklingt. Nicht mit einer – neue Maßstäbe setzenden – Gesamtaufnahme sondern mit einem Querschnitt durch die Oper.

Solche Opernquerschnitte sind völlig aus der Mode gekommen. In den fünfziger und sechziger Jahren – als Schallplatten noch Luxus waren – wurden sie zuhauf produziert oder aus kompletten Einspielungen extrahiert. Generationen lernten die Standartwerke durch solche Zusammenstellungen kennen. Damit wurde aber auch die Erwartung genährt, Opern bestünden nur aus Höhepunkten. Die Neuerscheinung bei Coviello Classics (COV 92106) bieten mit gut einer Stunde und neun Minuten Spieldauer einen großen Teil des Werkes ab. Eines der schönsten Orchesterstücke Humperdincks, die so genannte Traumpantomime, dem Schlaf der Kinder im Wald unterlegt, fehlt. Mit ihr hätte sich das Staatsorchester Braunschweig unter der Leitung von Generalmusikdirektor Srba Dinic noch wirkungsvoller in Szene setzen können. Ein Sprecher (Tobias Beyer) ist bemüht, die Versatzstücke zu einer verständlichen Handlung zusammenzufügen. Den Hänsel singt Isabel Stüber Malagamba, das Gretel Jelena Bankovic. Maximilian Krummen ist der Vater, Zhenyi Hou die Mutter. Als Knusperhexe ist Fabian Christen besetzt, als Sandmännchen Jinkyung Park zu hören. Bis auf die Hexe, die man offenkundig auch hätte in Aktion sehen müssen, sind die Leistungen sehr solide. Das Booklet gibt sich auskunftsfreudig zu den Biographien der Mitwirkendende, zur Geschichte des Orchesters – und des Werkes. Leser erfahren auch, dass die CD in den ersten Dezembertagen 2020 im Staatstheater Braunschweig aufgenommen wurde – offenbar nicht als Mitschnitt, sondern unter Studiobedingungen. Ein Szenenfoto bleibt unbeschriftet. Wer und was ist zu sehen? In heutigen Aufführungen erklärt sich das auf der Szene nicht zwingend. Erst auf der Seite des Theaters im Netz ist zu erfahren, dass die CD als eine Art Ersatz für den pandemiebedingten Ausfall von Vorstellungen der beliebten Oper in der Inszenierung von Brigitte Fassbaender, die vor zehn Jahren Premiere hatte, gedacht ist. Sie soll an treue Abonnenten verschickt werden und an der Theaterkasse verkauft werden. Gleichzeitig ist sie aber auch ganz offiziell bei den großen Onlinehändlern im Angebot. Also doch nichts mit aktuellem Humperdinck-Gedenken.

 

Das wurde unter dem Titel Erinnerung – Homage to Humperdinck in einem Doppelalbum der Deutschen Grammophon versucht (483 9762). Die Firma griff ins Archiv. Was sich fand, wurde auf zwei CDs versammelt. Auf dem Cover wird auch mit Jonas Kaufmann geworben. Der zieht immer und ist als Königssohn in Szenen aus den Königskindern zu hören, einem Mitschnitt von 2005 aus Montpellier unter Armin Jordan, der komplett bei Accoord erschien. Eberhard Wächter ist gesondert mit dem ergreifenden Lied des Spielmanns „Verdorben! Gestorben!“ zu hören. Ebenfalls einer Gesamtaufnahme sind fünf Nummern – einschließlich Pantomime – aus Hänsel und Gretel mit Brigitte Fassbaender und Lucia Popp mit den von Georg Solti geleiteten Wiener Philharmonikern entnommen. Sogar Fritz Lehmann, der 1954 eine der ersten kompletten Produktionen der Oper betreute, ist mit dem gesondert eingespielten Knusperwalzer von 1955 zu hören. Es spielen die Bamberger Symphoniker, die auch bei einer Rarität, den wenigsten teilweise berücksichtigten Shakespeare-Suiten, zu hören sind. Es dirigiert Karl Anton Rickenbacher. Beide Stücke sind wunderbar instrumentiert, bleiben stilistisch aber in der Nähe der Opern. Das Streichquartett in C-Dur, das Klavierquintett in G-Dur und das von Humperdinck mit Feinsinn und großem Respekt vor seinem vergötterten Meister arrangierte Tristan-Vorspiel Wagners für zwei Violinen, Viola, zwei Cellos, Bass und Klavier mit dem Schumann-Quartett. Ein kleiner Tristan also!  Zusätzlich sind Hinrich Alpers (Klavier), Yuko Noda (Cello), und Nabil Shehate (Bass) mit dabei. Für die Lieder des Komponisten bringt die Sopranistin Christine Landshamer mit ihrer lyrischen Stimme beste stimmliche Voraussetzungen mit. Die Auswahl – darunter der Zyklus Junge Lieder, das stimmungsvolle Weihnachten sowie Christkindleins Wiegenlied – ist mit insgesamt achtzehn Titel üppig. Und wenn es um Lieder geht, darf auch Dietrich Fischer-Dieskau nicht fehlen, der An das Christkind zum Besten gibt.

 

Auf die Suche nach dem unbekannten Engelbert Humperdinck hat sich auch Hänssler Classics mit Kammermusik und Liedern unter dem Titel der CD More than a myth begeben (HC21022). Es handelt sich ausschließlich um neue Produktionen aus dem Jahr  2020. Die Genres wechseln einander ab. Auf Instrumentales folgen Lieder mit dem Bariton Nikolay Borchev: In einem kühlen Grunde, Die Wasserrose, Ballade, Das Lied vom Glück, Wiegenlied, Die wunderschöne Zeit, An die Nachtigall, Altdeutsches Minnelied. Meist wird er sehr wirkungsvoll von Mitgliedern des Kammerensembles begleitet, zu dem sich die Solisten Thomas Probst (Violine), Eleonora Pertz (Klavier), Ursula Fingerle-Pfeffer (Violine), Susanne Unger (Violine), Daniel Schwartz (Viola), Clara Berger (Violoncello) Jörg Ulrich Krah (Violoncello) und Karsten Lauck (Kontrabass) zusammengefunden haben. Es hat für diese CD neben dem Menuett für Klavierquintett, dem Quartettsatz e-moll, und dem Albumblatt für Violine und Klavier („Meiner lieben Tochter Editha zum Konfirmationstage gewidmet“) ebenfalls das Tristan-Vorspiel eingespielt (Foto oben: Wikipedia). Rüdiger Winter

Keusch und innig

 

Ihrem neuen Star Sabine Devieilhe öffnet ERATO regelmäßig die Aufnahmestudios. Jüngstes Zeugnis ist die CD Bach – Handel, welche im Dezember 2020 im Temple du St-Esprit von Paris entstand (0190296677861). Die Sängerin wird begleitet vom Ensemble Pygmalion unter Leitung von Raphaël Pichon. Das Programm umfasst weltliche und geistliche Werke von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel. Es beginnt mit dem Gesang „Mein Jesu! was für Seelenweh“ von Bach, dem die Sinfonia aus der Kantate „Wir müssen durch viel Trübsal“ folgt. Die Sopranistin singt mit klarer, reiner Stimme von keuschem Klang und innigem Ausdruck. In der Sinfonia hat der Organist Matthieu Boutineau ein virtuoses Solo, das Orchester imponiert mit forschem Zugriff. Danach erklingt das erste Hauptwerk der Anthologie, die Kantate „Mein Herze schwimmt in Blut“ BWV 199. Sie ist achtteilig, besteht aus vier Rezitativen, drei Arien und einem Choral. Das erste Rezitativ gab der Komposition den Titel, Devieilhe gestaltet es voller Inbrunst, wie auch die folgende Arie „Stumme Seufzer“. Von Reue erfüllt ist „Tief gebückt“, die abschließende Arie „Wie freudig ist mein Herz“ von jubilierenden Koloraturen.

Die Beiträge von Händel stammen aus Oratorien des Komponisten und seiner Oper Giulio Cesare in Egitto. Letztere wurden sicherlich  ausgewählt, um die Virtuosität der Interpretin auszustellen. Zu hören sind „Se pietà di me“ aus dem 2. und „Piangerò“ aus dem 3. Akt. Ist Devieilhes Stimme in ihrer Keuschheit für die sakralen Werke geradezu ideal, kann sie auch in diesen beiden Soli mit deren lamento-Duktus überzeugen. Im Mittelteil der zweiten Arie („Ma poi morta“) ist zudem ihre Koloraturbravour gefragt und sie erfüllt diesen Anspruch meisterlich. Aus der Brockes Passion erklingen das Duett Maria/Jesus „Ja, ich sterbe dir zu gut“, wo der renommierte Bariton Stéphane Degout Partner der Sopranistin ist und sich mit empfindsamem Gesang bemerkenswert einbringt, sowie die Arie der Gläubigen Seele„Hier erstarrt mein Herz“.Die Solistin kann hier mit dramatischem Gestaltungswillen aufwarten. Schließlich gibt es noch einen Ausschnitt aus Händels Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno – die Arie der Bellezza „Tu del Ciel“, in der die Sopranistin mit überirdischem Gesang betört. Mit Bachs berühmter Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ BWV 51 endet das Programm. Hier kann die Sängerin nochmals mit ihrem virtuosen Vermögen punkten, das vor allem im ersten und letzten Teil gefragt ist. Der Trompeter Hannes Rux liefert sich mit der Solistin einen virtuosen Wettstreit, der im finalen „Alleluja!“ zu zweistimmigem  Jubel führt.

Fehlerhaft ins Deutsche übersetzt ist Devieilhes Statement im Booklet, dass „ in der Kantate BWV 199 Figuren von Cleopatra bis hin zum Sünder tränenreich nach ihrem inneren Frieden streben“. Natürlich existiert in Bachs Komposition keine Cleopatra. Die Aussage der Sängerin war, dass „von der Cleopatra bis zur Figur des Sünders in der Kantate BWV 199 Tränen fließen und die Seele ewigen Frieden sucht“. Bernd Hoppe

Festivalecho

Nicht unterkriegen lassen von Covid-19 wollte sich die Donizetti-Stadt Bergamo, die zu Beginn der Pandemie als abschreckendes Beispiel für eine verfehlte Krisenpolitik bekannt wurde, und so führte sie trotz allem ihr alljährliches Festival im Herbst auch im Jahr 2020 durch. Anders verhielt man sich in Wien, wo für Aufführungen von Donizettis Belisario am Theater der Stadt Wien sogar teilweise, mit Roberto Frontali und Carmela Remigio, dieselben Sänger für die Titelpartie und die Antonina verpflichtet waren, wo die Aufführungen jedoch ersatzloch gestrichen wurden.

Natürlich gab es nicht wie vorgesehen eine szenische, sondern eine konzertante Aufführung, vom Label Dynamic dankenswerterweise aufgezeichnet. Das Parkett war dafür leergeräumt worden, sodass die Sänger viel Platz für beachtliche Abstände voneinander hatten, zwischen den ebenfalls über einen gewaltigen Raum verteilten, dazu noch mit Masken versehenen Chor, den Bläsern ohne und den Streichern mit Masken waren Plexiglaswände aufgestellt, auch Dirigent Riccardo Frizza trug eine Maske, die ihm allerdings regelmäßig unter die Nase rutschte. Eine eigenartig beklemmende Atmosphäre also, und umso größer die Bewunderung dafür, dass eine überaus mitreißende Aufführung von hohem künstlerischem Rang gelingen konnte.

Noch während Donizetti an seiner Lucia di Lammermoor für Neapel feilte, hatte er die Arbeit am Belisario begonnen, an der Vertonung des Schicksals eines oströmischen Feldherrn, der von Vandalen bis Persern alles besiegte, was dem oströmischen Kaiserreich als Bedrohung erschien, der sich schließlich eines ruhigen Lebensabends erfreute, was natürlich wenig operntauglich ist, so dass das Libretto lieber der Legende folgte, die von Blendung  und frühem Tod nach einer ungerechten Anschuldigung wissen will.

Ursprünglich war Placido Domingo, der immer bestrebt ist, sein Bariton-Repertoire zu erweitern, für die Titelpartie vorgesehen, sagte jedoch ab, so dass Roberto Frontali die Rolle übernahm und sich als wahrer Glücksfall erwies. Übrigens hatte bereits 1970 das Stück mit Leyla Gencer als Antonina eine promintente Besetzung erfahren. Der italienische Bariton nun gleicht von Mal zu Mal stärker Renato Bruson, was Legato und Phrasierung betrifft, die Stimme ist mit den Jahren etwas dunkler geworden, trägt auch in der mezza voce sehr gut und ist purer vokaler Balsam im Duett mit seiner Bühnentochter Irene „Ah se potessi piangere“. Letztere wird vom Mezzosopran Annalisa Stroppa gesungen, mit einer Stimme bis in die höchsten Höhen wie aus einem Guss, die die Töne raffiniert modelliert, feinste Tongespinste für  „Amici, è forza separarci“ hat und die das Terzett im letzten Akt nicht nur mit leuchtender Stimme anführt, sondern auch noch mit einem schönen Schlusston krönt.  Die aus gutem Grund intrigante Gattin Belisarios mit Namen Antonina wird von Carmela Remigio angemessen exaltiert, doch nie Belcantogrenzen überschreitend  gesungen, mit tollem Pianissimo in „Sin la tomba“, ebenmäßig bis in die Tiefe bei „é a me negata“, geschickt Belcanto an die Grenzen des Möglichen, was Expression betrifft, treibend. Ein echter tenore di grazia ist Celso Albelo, der als Alamiro seine Stärken in der leider nicht oft geforderten Höhe hat, während die Mittellage recht flach klingt, in „A si tremendo annunzio“ bewegt er sich leider nicht in seiner Komfortzone, erst in der folgenden Cabaletta geht es endlich in die bemerkenswerte Höhe. Es gibt noch einen zweiten Tenor, Klodjan Kacani als Eutropio, optisch wesentlich attraktiver als die Nummer 1 und vokal durchaus markant. Den Kaiser Giustiniano singt mit machtvoller Röhre Simon Lim.

Riccado Frizza ist ein erfahrener Kapellmeister, der bereits in der Sinfonia sowohl die tiefe Tragik wie das befremdend fröhlich Beschwingte auszuloten weiß mit einem Orchester, das natürlich seinen Donizetti im Schlaf spielen könnte. Die Oper Belisario verdient, da sie hinter der gleichzeitig entstandenen Lucia musikalisch in nichts zurücksteht, unbedingt einen Platz im Repertoire (Dynamic 57907 +7907.02 2 CDs/Audio)Ingrid Wanja     

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Ungekürztes aus Innsbruck

 

Il matrimonio segreto von Domenico Cimarosa ist ein melodramma giocoso in zwei Akten nach einem Libretto von Giovanni Bertati, das am 7. Februar 1792 unter der Leitung des Komponisten im k.k. Theater nächst der Burg (Burgtheater) in Wien uraufgeführt wurde. Obwohl Cimarosas bekannteste Oper relativ selten auf der heutigen Bühne und Tonträger zu finden ist (wenngleich doch einige ältere, wenngleich gekürzte  Aufnahmen wie z. B. die von der DG, Decca oder die alte verdienstvolle RAI-Einspieling in Erinneriung bleiben), seine Zeitgenossen, unter anderen Kaiser Leopold II., jedoch so begeistertwaren, dass das ganze Stück am Abend der zweiten Aufführung wiederholt werden musste.

Die vorliegende Aufnahme (CPO 555 295-2), ein Live-Mitschnitt von der Innsbrucker Festwochen den Alten Musik (August 2016), bietet, insofern ich weiß, die einzige ungekürzte Fassung der Oper.  Alessandro De Marchi dirigiert das Orchester der Academia Montis Regalis auf historischen Instrumenten mit Präzision, Scharfsinnigkeit und Detailgenauigkeit sowie emotionale Ausdruck in eine durchaus fesselnde und überzeugende Einspielung. Das Publikum ist meistens nur zwischen den musikalischen Nummern hörbar: ihr Applaus sowie Gelächter vermitteln den Eindruck einer echten Theateraufführung.

Il matrimonio segreto enthält keine Chöre, die Oper besteht aus Arien und Ensembles. Die hervorragende Sängerbesetzung umfasst Renato Girolami (Conte Robinson), Donato Di Stefano (Geronimo), Loriana Castellano (Fidalma), Klara Ek (Elisetta), Giulia Semenzato (Carolina) und Jesús Álvarez (Paolino). Da etwa 80 Prozent von ihnen Muttersprachler sind, merkt man, dass sie verstehen was sie singen und den komplexen Text idiomatisch ausdrücken können.

Semenzato und Álvarez wirken sympathisch als ein junges Liebespaar, das heimlich geheiratet hat; Girolami verkörpert einen lustigen Grafen der sein Versprechen, Elisetta zu heiraten erfüllt, obwohl er Carolina eigentlich liebt; Castellano schildert mitfühlend die Enttäuschung von einer reichen Witwe, die in Liebe zu Paolino entbrannt ist, ohne ihr Wissen, dass er bereits mit Carolina verheiratet ist; Ek porträtiert eine eifersüchtige, wütende ältere Schwester, die möglicherweise um eine Ehe mit einem adligen Mann betrogen werden könnte; Di Stefano gibt das Gefühl von einen liebevollen, aber verwirrten Vater, der das Beste für seine beiden Töchter will.

Diese Aufnahme gehört zu der Sammlung von jeden Kenner und Liebhaber der Wiener Klassik, nicht nur weil es eine Lücke in unserer Auffassung dem musikalischen Zeitgeist in Wien während der 1790er Jahre füllt, sondern als auch eine große Vergnügung. Die Präsentation von CPO ist insgesamt gut, ein Beiheft mit vollständigem Libretto in italienischer, deutscher und englischer Sprachen ist dabei. Leider gibt es weder Seitenzahlen für einzelne Titel noch Kommentar auf Italienisch, der Sprache des Werkes.

Es wäre eine große Freude, mehr von Maestro De Marchi und seiner Academia zu hören. Wünschenswert wären Aufnahmen von Nicolò Jomellis Armida abbandonata, was Mozart und sein Vater im Teatro die San Carlo in Neapel am 30. Mai 1770 erlebt haben, sowie Martin y Solers Una cosa rara und Giovanni Paisiellos Il Barbiere di Siviglia. Daniel Floyd

Domenico Cimarosa: Il matrimonio segreto, mit Renato Girolami, Donato Di Stefano, Loriana Castellano, Klara Ek, Giulia Semenzato, Jesús Álvarez, Academia Montis Regalis, Alessandro De Marchi; CPO 3 CD 555 295-2

Mehr als nur „Samson et Dalila“

 

Würde es noch die vielen Musikgeschäfte in den guten Lagen deutscher Städte geben, die CD-Boxen würden sich dort bis unter die Decken stapeln und die Schaufenster überquellen lassen. Immer mehr Firmen gehen durch ihre Archive und Kataloge und bringen die Bestände gesammelt und wohlgeordnet heraus. Ob mit oder ohne konkreten Anlass wie runde Geburts- oder Todestage. An die Stelle der großen Klassikerausgaben in Bücherschränken sind diese Editionen getreten. Mitunter genauso Platz greifend. Alles von, und alles mit … Es ist wie ein Ausverkauf. Als müsste alles raus. Sale! Angemessen sind meist die Preise. Nun stapelt sich die musikalische Ware vornehmlich im Netz und damit nach digitaler Art. Das hat den Vorteil, dass auch kleine Ortschaften und abgelegene Dörfer ruckzuck beliefert werden können mit den auserlesenen Artikeln. Anstelle des Fachpersonals, das die gewünschte Aufnahme mit wissender Empfehlung und gelegentlichem Hochmut über den Ladentisch reichte oder zum Probehören in einen Player schob, stehen jetzt die emsigen Boten der Onlinehändler vor der Wohnungstür. Freundlich und motiviert, doch nicht immer des Deutschen mächtig. Sie stehen unter Zeitdruck und müssen nur zustellen – nicht beraten. Worum es sich konkret handelt, was sich also in den Paketen befindet, geht sie – im Gegensatz zum Verkäufer im Geschäft – nichts an. „Das wird sehr gern gekauft“, ist von ihnen nicht zu hören. Und doch, was wären wir ohne sie?

An der neuen Edition aus dem Hause Warner mit den EMI-Schätzen von Camille Saint-Saëns hätte unser Bote ein gutes Kilo zu tragen (0190296746048). Vierunddreißig CDs nebst dickem und lohnenswertem  Booklet haben ihr Gewicht. Sie stecken in einer so stabilen wie eleganten Schachtel, die etwas hermacht im Regal oder als Geschenk. Für die Gestaltung der einzelnen Hüllen wurden große Meister der französischen Malerei – allesamt Zeitgenossen des Komponisten – bemüht: Pierre-Auguste Renoir, Gustave Caillebotte, Edgar Degas, Claude Monet, Camille Pissarro, Henri Regnault. Es ist eine Pracht, sie aufgefächert auf einem großen Tisch auszubreiten. Wie ein großes Bilderbuch. So verbindet sich Musik mit bildender Kunst. Da stört es nicht, wenn hier und da auch ein Klischee aufblitzt, indem die Auswahl an Gemälden die Vorstellungen Außenstehender von Frankreich etwas vorschnell bedient. Es tönt bei Saint-Saëns nicht immer so hell, strahlend und sonnendurchflutet. Er war kein Impressionist wie seine malenden Kollegen. Er war Romantiker.

Hat er wirklich so viel komponiert, dass es dieser Menge an Tonträgern bedarf? Hat er, und noch viel, viel mehr. „Gerade diese Fülle macht die Wertschätzung des Werkes von Saint-Saëns so schwierig. Es entstand über acht Jahrzehnte in einem bewegten Jahrhundert, geprägt von Kriegen und vom Wechsel der politischen Systeme“, schreibt die Musikwissenschaftlerin Marie-Gabrielle Soret im Booklet. Sie ist Chefkuratorin der Musikabteilung der Französischen Nationalbibliothek. Wie solle man also die „Entwicklung eines Komponisten objektiv einschätzen, der Zeitgenosse von Berlioz und Ravel war, von Rossini und Strawinsky, der in der Kunst so viele ästhetische Umbrüche erlebt und so viel zum Teil widersprüchliche Kritik geerntet hat?“. Camille Saint-Saëns ist am 9. Oktober 1835 in Paris geboren und am 21. Dezember 1921 – also vor hundert Jahren – auf einer Reise in Algier gestorben. Er wurde in seine Heimatstadt Paris überführt, wo er auf dem Friedhof Montparnasse seine letzte Ruhe fand. Die Autorin tritt der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verbreiteten Behauptung entgegen, wonach sich der Komponist nicht entwickelt habe und von seiner Linie nie abgewichen sei. „Man sollte sich über sein Werk als Ganzes beugen, um die kontinuierliche Entwicklung darin erkennen zu können. Diese starke Persönlichkeit habe bald zu einer konsequenten Linie gefunden, der er die Treue hielt indem er die ‚Chimäre der Reinheit des Stils und der Perfektion der Form'“ verfolgte, statt sich „der Leichtigkeit des unmittelbaren Gefühls und den Launen der Mode hinzugeben. Es sei jedoch schwierig, so die Autorin weiter, im Stil klar voneinander abgrenzbare „Phasen oder eine typische Handschrift auszumachen, die charakteristisch für sie wäre“.

Der Komponist mit den Sängern von „Samson et Dalila“ in Cesena 1912/ Wikipedia

Bei der Zusammenstellung der Edition werden solche Überlegungen nicht präzise verfolgt. Die Einteilung geschah mehr oder weniger großzügig nach Genres: Orchestral Works, Concertante Music, Chamber Music, Instrumental Music Vocal and Choral Music, Opera, Transcriptions und Arrangements. Den Abschluss bildet die mit acht CDs größte Abteilung Historische Recordings. Saint-Saëns hat die ersten technischen Gehversuche, Musik für die Ewigkeit festzuhalten, miterlebt. In seine Zeit fällt die Erfindung von Schallplatte und Grammophon. Die ältesten Aufnahmen sind eigene Stücke, darunter ein Ausschnitt aus dem 2. Klavierkonzert und die Rhapsodie d‘Auvergne, die der begnadete Pianist Saint-Saëns am 26. April 1904 aufnehmen ließ. Unter historisch verstehen die Herausgeber aber auch alle fünf Klavierkonzerte, eingespielt Mitte der fünfziger Jahre von Jeanne-Marie Darré (1905-1999) mit dem Orchestre National de la Radiodiffusion Francaise unter Louis Fourestier (1892-1976) noch in Mono. Die Berücksichtigung dieser Produktion war insofern angemessen, weil die französische Pianistin schon mit einundzwanzig Jahren alle fünf Werke in einem einzigen Konzerte darbot und damit Musikgeschichte schrieb. Ihre Aufnahmen sind im doppelten Sinne historisch, den Jahren – und dem künstlerischen Range nach. Als modernes Pendent wurden jene mit Jean-Philippe Collard und dem Royal Philharmonic Orchestra unter André Previn aus den achtziger Jahren ausgesucht.

Im Laufe der Jahrzehnte immer wieder neu hervorgeholt: „Samson et Dalia“ mit Jon Vickers und Rita Gorr. Die von Georges Pretre geleitete Pathé-EMI-Gesamt-Aufnahme entstand 1962. 

Im Doppelpack gibt es auch Samson et Dalila, die bekannteste Oper von Saint-Saëns, die nicht in seiner Heimat sondern auf Initiative von Franz Liszt in deutscher Übersetzung am 2. Dezember 1877 in Weimar uraufgeführt wurde. Am Pult stand Eduard Lassen, ein in Kopenhagen gebürtiger jüdisch-dänischer Komponist und Dirigent, der 1861 Liszt auf dem Posten als Hofkapellmeister nachfolgte und in der Stadt Goethes mit Schulspielmusiken zu beiden Teilen von Faust hervortrat. Bei der historischen Aufnahme handelt es sich um den zuerst bei Pathé veröffentlichten Klassiker der Oper von 1946 mit Hélène Bouvier und José Luccioni in den Titelrollen. Chor und Orchester der Pariser Oper wurden von Louis Fourestier dirigiert. Für die Zeit ist der Sound respektabel. Etwas eng klingen die Chöre, deren große Aufgaben daran erinnern, dass das Werk zunächst als Oratorium gedacht war. In Stereo fiel die Wahl auf die Einspielungen mit demselben Orchester unter Georges Prêtre, die 1962 entstand. Als Samson ist Jon Vickers besetzt, der am Ende die Säulen des Tempeln mit seiner Stimme zu Einsturz zu bringen scheint, als Dalia die ihm ebenbürtige Rita Gorr. Er Kanadier, sie Belgierin. Französische Oper war nun nicht mehr das Privileg von Einheimischen. Als noch modernere Produktion hätte sich in der Edition die ebenfalls hauseigene Version mit Plácido Domingo und Waltraud Meier angeboten. Mit zwei SamsonSzenen bringt sich Georges Thill als einer der bedeutendsten französischen Tenöre in Erinnerung. Im Vergleich mit ihm punkten die Callas und Caruso, die in der historischen Sektion ebenfalls auftauchen, mehr durch ihre großen Namen als mit interpretatorischer Zutat. Um Opern ist es in der Sammlung übel bestellt. Immerhin hat Saint-Saëns elf solcher Werke hinterlassen. Lediglich aus Henry VIII. singt die Sopranistin Véronique Gens die Arie der Caterine d’Aragon „O cruel souvenir!“ Im Booklet hatte Marie-Gabrielle Soret die Hoffnungen gedämpft: „Das riesige Spektrum an Werken, die in dieser Box enthalten sind, bietet zwar nur einen kleinen Einblick in sein Opernschaffen und seine Vokalwerke – was in erster Linie an einem Mangel an verfügbaren Aufnahmen liegt – erlaubt aber eine umfassende Reise durch vielgestaltige musikalische Landschaften.“

Die bedeutende Mezzosopranoistin Hélène Bouvier war die Dalila in der ersten und künstlerisch immer noch unerreichten  (Pathé-)Gesamtaufnahme 1946, die in der Warner Edition enthalten ist; hier neben ihrem Partner José Luccioni bei der Aufnahme in Paris/Wikipedia

Hierzulande sind vor allen drei Werke von Saint-Saëns bekannt und über die Maßen beliebt: Neben Samson et Dalila sind dies die so genannte Orgelsinfonie und der Karneval der Tiere. Ihre Entstehung und Verbreitung haben zudem einen deutschen Bezug vor einem schwierigen historischen Hintergrund. Der Rang der Sinfonie im Gesamtwerke wird in der Edition ebenfalls mit einer frühen und einer späten auf Aufnahme belegt. Bei der Sinfonie – es handelt sich um die dritte – liegen zwischen beiden Einspielungen zwanzig Jahre. 1954 dirigierte Ernest Bour das Orchester des Théâtre des Champs-Élysées, 1974 Jean Martinon das Orchester National de l’O.R.T.F. Die Sinfonie gelangte am 19. Mai 1886 in London unter der Leitung des Komponisten zur Uraufführung. Sie war ein Auftragswerk der dortigen Philharmonic Society. „Er widmete sie Franz Liszt, der am 31. Juli starb, ohne dass er sie noch hören konnte“, ist aus dem Booklet zu erfahren. „Saint-Saëns war sich bewusst, dass er hier ein Meisterwerk geschaffen hatte, dessen Erfolg bis heute ungebrochen ist.“ Während des Entstehungsprozesses hatte er sich auf eine Konzertreise durch die deutschsprachigen Länder begeben, wo er nicht nur mit Beifall bedacht wurde. Frankreich hatte 1871 den verheerenden Krieg mit dem Norddeutschen Bund unter der Führung Preußens sowie den mit ihm verbündeten süddeutschen Staaten verloren und musste Gebiete abtreten. Während das Zweite Französische Kaiserreich unterging, entstand das Deutsche Reich. Der Krieg war noch nicht zu Ende als der preußische König Wilhelm I. im Schloss Versailles bei Paris als Deutscher Kaiser proklamiert wurde. Der Auftakt zum Höhepunkt einer Jahrhunderte alten Erbfeindschaft war getan.

Für die Gestaltung der einzelnen CD-Hüllen wurden große Meister der französischen Malerei – allesamt Zeitgenossen des Komponisten – bemüht: Pierre-Auguste Renoir, Gustave Caillebotte, Edgar Degas, Claude Monet, Camille Pissarro, Henri Regnault.

Vor diesem historischen Hintergrund hatte sich Saint-Saens 1871 für eine nationale französische Musik stark gemacht und gemeinsam mit César Franck die Société Nationale de Musique gegründet. In der Folgezeit wirkte er nicht nur als Komponist und Pianist, sondern verfasste auch Aufsätze zu musikalischen Themen. In einer dieser Schriften witterten fundamentalistische  deutsche Wagnerianer einen Angriff auf ihr Idol, was zur Folge hatte, dass Saint-Saëns während der Tournee ausgepfiffen wurde. Die Intrigen führen sogar zu Aufführungsverboten seiner Werke auf deutschen Bühnen. „Ermüdet durch die Angriffe und Kontroversen zog Saint-Saëns sich nach Chrudim zurück, eine kleine Stadt in der Nähe von Prag“, ist im Booklet zu lesen. Er habe die Sinfonie beiseitegelegt und sich um etwas sehr viel Spaßigeres, eine „zoologische Fantasie“ – der Karneval der Tiere – gekümmert. Gemäß der Popularität des Stückes finden sich in der Edition sogar drei Versionen von La Carnaval des Animaux: die 1971 eingespielte Orchesterfassung mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Louis Frémaux, die Bearbeitung für zwei Klavier, zwei Violinen, Viola, Cello, Kontrabass, Flöte, Klarinette, Mundharmonika und Xylophon sowie diversen Solisten von 1977 und schließlich eine 1986 in London produzierte Version mit zusätzlichen Liedern des Komponisten Carl Davis und der Kinderbuchautorin Hiawyn Oram mit den King’s Singers, Klavier, Cello und dem Scottish Chamber Orchestra. Die Leitung lag in den Händen von Davis. Saint-Seans selbst hatte ein gespaltenes Verhältnis zu seinem Werk. Nach erfolgreichen Darbietungen – eine sogar im Beisein von Liszt – zog er es zurück und verfügte, dass es erst wieder nach seinem Tod aufgeführt werden dürfe. Er fürchtete, dass dieser musikalische Scherz „nicht nur seinem Ruf, sondern auch der Verbreitung seiner Kammermusik schaden würde“, ist im Booklet vermerkt. An Camille Saint-Saëns bleibt also vieles zu entdecken. Möge die Edition von Warner dazu einen Beitrag leisten. Rüdiger Winter

 

Achtungserfolg aus Wien

 

Platée, eine lyrische Komödie („ballet bouffon“) von Jean-Philippe Rameau mit einem Libretto von Adrien-Joseph Le Valois d’Orville, besteht aus einen Prolog und drei Akten und wurde am 31. März 1745 in Versailles uraufgeführt. Das Werk fand erstmals wenig Erfolg, erst neun Jahre später mit einer Wiederaufnahme des Werkes erlebte es einen Triumph. Dann verschwand die Komposition aus dem Repertoire bis zu einer Wiederentdeckung im Mitte des 20. Jahrhunderts, dank einer Produktion des Aix-en-Provence Festspiels im 1956.

Es gibt nur eine kleine Auswahl von Aufnahmen auf dem Markt: u.a. eine aus der obengenannten Aufführung von Aix-en-Provence unter der Leitung von Hans Rosbaud, sowie eine von Marc Minkowski, die 1990 veröffentlicht wurde. Eine kürzlich erschienene Aufnahme von Les Arts Florissants mit dem Arnold Schoenberg Chor unter der Leitung von William Christie wurde im Theater an der Wien in Dezember 2020 aufgenommen (Harmonia Mundi,  HAF890534950). Es handelt sich um eine Live-Aufführung ohne Publikum, die sehr klar, frisch, lebendig, detailliert und warm klingt.

Bedauerlicherweise kann Christies Aufnahme der Platée nur eingeschränkt empfohlen werden, obwohl es viele positive Eigenschaften, insbesondere das ausgezeichnete Barockorchester, hat. Die Verpackung scheint eher ein Souvenir der Bühnenproduktion als eine ernsthafte Audioaufnahme von Rameaus Werk. Als Beispiel könnten die vielen Fotos von der Inszenierung, die nicht für eine Audioaufnahme relevant sind (für eine DVD-Video hätten sie mehr Sinn), mit ausführlichen Kommentar und ein paar Bildern der ursprünglichen Interpreten und Veranstaltungsorte, in denen Rameau dieses Werk aufführte, ersetzt werden.

Ein vollständiges Libretto im französischen Original mit Übersetzungen ins Englische und Deutsche ist erfreulicherweise im Textheft zu finden. Der Aufsatz von Lionel Esparza bietet Hintergrundinformationen zur Oper an, aber das Interview mit Christie gibt mehr Auskunft über seine persönlichen Erfahrungen als über die Komposition selbst (es beginnt mit der Frage, ob ihm das Stück wirklich gefällt). Als renommierter Rameau-Experte, hätte Christie einen eigenen wissenschaftlichen Aufsatz über das Werk verfassen können. Er deutet an, dass eine Mischung von Ausgaben (der Uraufführung und der Wiederaufnahme) verwendet wurde, aber weitere Einzelheiten zu den getroffenen Entscheidungen wären wünschenswert. Weiterhin wäre es hilfreich, die Schlussszene, die Rameau für die Wiederaufnahme komponierte, in einem Anhang zu haben, um die beiden Fassungen vergleichen zu können.

Die Sängerbesetzung ist für dieses Repertoire gut, allerdings gibt es den Eindruck, dass sie durch Konzentration auf die Inszenierung von der Musik abgelenkt werden. Die namensgebende Rolle ist mehr als ein lächerlicher, eitler Charakter, sie hat Gefühle und wird manipuliert, um zu glauben, dass Jupiter sie wirklich liebt. Am Ende wird sie gefühllos zurückgewiesen, verhöhnt und erniedrigt, ohne dass sie dafür entschädigt oder ihr erklärt wird, warum sie missbraucht wurde. Daher würde eine komplexere Darstellung von Platée besser zum wiederholten Hören passen als die eindimensionale Charakterisierung auf dieser Aufnahme (vielleicht könnte Marcel Beekman auf der Bühne als Schauspieler überzeugen, aber seine stimmlichen Manierismen sind nervig).

Insgesamt ist dies ein lohnender Beitrag zur winzigen Diskographie der Platée-Aufnahmen, aber es lässt mehrere Wünsche offen und gilt als eine Fallstudie, die veranschaulicht, warum eine Audioaufnahme anders als eine Bühnenproduktion konzipiert werden muss. Die Kenntnis von Rameaus Musik ist wichtig, um einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des Musikdramas im 18. Jahrhundert zu gewinnen. Mit einigen Verbesserungen könnte diese Aufnahme als Referenz für dieses Schlüsselwerk gelten und, hoffentlich, könnte Harmonia Mundi sie wiederveröffentlichen mit einem Ansatz, den ich oben angedeutet habe. Daniel Floyd

 

Jean-Philippe Rameau: Platée, mit Marcel Beekman, Jeanine de Bique, Cyril Auvity, Marc Mauillon, Edwin Crossley-Mercer, Emmanuelle de Negri, Emilie Renard, Arnold Schoenberg Chor, Les Arts Florissants, William Christi; harmonia mundi 2 CD  HAF890534950

Hommage und Visitenkarte

 

Nach und neben Karl Böhm war der gebürtige Salzburger Leopold Hager lange Zeit der herausragende Zeuge für einen authentischen Mozart-Stil, bevor „Revoluzzer“ von Nikolaus Harnoncourt bis Teodor Currentzis mit ihren alternativen Klangvorstellungen auch bei den Salzburger Festspielen für einen grundlegenden Paradigmen-Wechsel sorgten. In gewisser Weise ist dieses von dem Bariton Rafael Fingerlos im zurückliegenden Frühjahr in Salzburg produzierte und sängerisch bestrittene Recital Mozart made in Salzburg eine nostalgische Zeitreise, bei der sich Hörer, die noch mit Böhm und Hager aufgewachsen sind, entspannt zurücklehnen können. Der zum Zeitpunkt der Aufnahme 85jährige Hager zeigt mit dem Salzburger Mozarteum-Orchester, dessen Chefdirigent er von 1969-81 war, keine Spur von Altersmüdigkeit und lässt Mozarts Musik mit weitgehend beschwingten Tempi in üppiger Klangpracht erblühen. Die generationenübergreifende Zusammenarbeit im Dienste Mozarts war dem jungen Bariton ein Herzensanliegen und sollte zugleich eine Hommage an die Stadt werden, von der seine rasche Karriere ihren Ausgang genommen hatte.

Das Recital enthält alle Mozart-Opern, in denen Fingerlos aufgetreten ist, dazu eine bravouröse Arie aus der unvollendet gebliebenen „Zaide“, vier Konzertarien und das von Hager am Klavier begleitete Kunstlied „An Chloë“. Dazu das kurze Lamento „Wie unglücklich bin ich nit“ von 1772. Dass diese große Huldigung an Mozart zugleich eine tönende Visitenkarte des Sängers ist, steht außer Zweifel und er ist sich auch wohl bewusst, dass er sich bei dieser Gelegenheit mutig einer langen und großen Tradition stellen muß.

So locker und verschmitzt, wie er sich auf dem Cover präsentiert, mit Hosenträgern über dem T-Shirt, ist Fingerlos als Sänger nicht. Da ist schon etwas eine spätere Kammersängerwürde zu ahnen. Die Stimme ist kernig und der Vortrag zeigt Energie und Autorität. Die dargestellten Charaktere aber teilen sich nur verschwommen mit, vor allem fehlt es durchweg an komödiantischer Nuancierung. Und wenn wir schon in Salzburg sind: In den beiden Papageno-Arien vermisst man den Volkstheaterton, wie ihn Erich Kunz und Walter Berry so unvergeßlich trafen. In Guglielmos Arie „Donne mie“ drängen sich Vergleiche mit dem ungleich witzigeren und charmanteren Hermann Prey auf und für das Ständchen des Don Giovanni fehlt es an dem verführerischem Schmelz eines Cesare Siepi. Mag sein, dass Fingerlos in allen drei Rollen auf der Bühne und ohne die Last bedeutender Vorbilder auf dem Rücken stärkere Wirkungen erzielt.

Auf Hagers Vorschlag hin hat er in diesem Recital auch die Arien des Leporello und des Figaro aufgenommen. An sich eine reizvolle Idee, viele Sänger haben ja abwechselnd den Herrn und den Diener gesungen – man denke an Samuel Ramey, Ferruccio Furlanetto und Bryn Terfel – und ihre jeweiligen Rollenprofile haben von diesem Wechsel profitiert. Auf der Klangbühne aber sind im Falle von Fingerlos die farblichen Kontraste zwischen den Gegenspielern nicht scharf genug. Leporello ist stimmlich imposant, auch Figaro weniger aufmüpfig als herrisch. Das überraschende Prunkstück der Sammlung, auch in sängerischer Hinsicht, ist die veränderte Cabaletta der Grafen-Arie, die Mozart für den Sänger der Wiener Premiere geschrieben hatte und die selbst der Mozart-Experte Hager vorher nicht kannte. Sie erfordert eine ungeheure stimmliche Flexibilität und ist mit 14 hohen G’s eine Herausforderung für jeden Bariton. Für Fingerlos, der kein Bassbariton ist, wie er in vielen Mozartrollen angelegt ist, sondern mehr in die tenorale Richtung neigt, ist das ein gefundenes Fressen. (Solo Musica SM 377Ekkehard Pluta

Bekenntnisse eines Kiri-Te-Kanawa-Fans

 

Dieser Rosenkavalier aus Covent Garden mit Kiri Te Kanawa als Marschallin hat in meinem Leben eine derart zentrale Rolle gespielt, dass ich ihn jetzt, wo er nochmals neu bei Opus Arte als DVD (OA1341D DVD) erschienen ist, nicht sehen kann, ohne dass gleich eine ganze Backstory mitschwingt. Wegen der ich diese von Georg Solti dirigierte Produktion mit Kostümen von Maria Björnson und in der Regie von John Schlesinger immer mehr lieben werde als alle anderen Fassungen. Mit Ausnahme des Schwarzkopf/Karajan-Films, der (für mich) außer Konkurrenz läuft.

Im Jahr 1985 war ich 18 Jahre alt und hatte im deutschen Kino gerade den E.-M.-Forster-Film Zimmer mit Aussicht gesehen, der mein Leben nachhaltig verändern sollte – Italiensehnsucht und all das. Im Film hört man zweimal Te Kanawa mit Puccini-Arien. Ich verfiel dieser Stimme unmittelbar und hörte über Wochen und Monate den Soundtrack rauf und runter, wie man das mit pubertärem Enthusiasmus halt so tut. Kiri Te Kanawa selbst hatte ich nie gesehen (YouTube gab es noch nicht), live konnte ich sie in Berlin auch nicht hören, weil sie dort erst sehr viel später einmal als Arabella auftrat.

Deshalb war ich einigermaßen aufgeregt, als während der Sommerferien bei meinen Großeltern in Irland jemand sagte: „Deine Kiri ist heute im Fernsehen!“ Es war eine Übertragung dieses Rosenkavalier aus London. Und ich sehe mich noch mit fast religiösem Ernst vorm kleinen TV-Gerät meines Großvaters in Belfast sitzen, der glaubte, ich sei verrückt, drei Stunden vorm Fernseher zu verbringen. Aber genau das geschah. Ab und zu brachte meine Großmutter eine Tasse Tee vorbei und fragte, wann es denn endlich vorbei sei, damit sie wieder ins Wohnzimmer könne. Sie musste sich gedulden, weil mein Großvater entschied, dass man die Kulturbegeisterung seines ältesten Enkels nicht abwürgen sollte. (Danke! Danke! Danke!)

Ja, natürlich hat die Marschallin nicht viele Passagen im ersten Akt, wo es um Stimmschönheit geht. Jedenfalls nicht in einer Weise, die mit Puccini-Arien vergleichbar wäre und Zimmer mit Aussicht. Deshalb läuft alles auf den Moment zu, wo die Marschallin am Ende des ersten Akts auf das hohe As segelt, ein Ton, den Te Kanawa mit einer Weltentrücktheit hält, der mich mitten ins Herz traf. (Vorher gab’s auch weitere solche Passagen, etwas „Und in dem wie… da liegt der ganze Unterschied“.)

Man sieht dazu opulente Kostüme von der Frau, die zeitgleich The Phantom of the Opera kreierte. Hier gibt’s zwar keine herabstürzenden Kronleuchter und Masken, aber es ist eine ausladende Barockwelt mit Goldprunk und Liebe zum Detail. Die Farben wirken in der Neuausgabe etwas matt. Ich bin sicher, dass das live im Theater gleißender zwischen Gold und Silber (im 2. Akt) changierte. Das zu restaurieren wäre lohnend.

In diesem Gold-und-Silber-Ambiente singen neben Te Kanawa weitere vorzügliche Solisten. Besonders Barbara Bonney ist eine fabelhafte junge Sophie, die die Rosenübergabe mit berückenden Oktavsprüngen gestaltet und für mich angenehmer anzuhören ist als Barbara Hendricks auf der späteren EMI-Einspielung mit Te Kanawa. Während dort Anne Sofie von Otter als herb-sinnlicher Octavian brilliert, tritt hier Anne Howells an. Sie ist international kaum bekannt geworden, war damals aber ein Ensemblemitglied von Covent Garden und liefert einen souveränen Octavian mit heller höhensicherer Stimme ab. Und mit viel Spielbegeisterung.

Die drei Damen zusammen bilden im dritten Aufzug dann das Trio für den Moment-der-Momente. Selbstredend ist Te Kanawas „Hab mir’s gelobt“ das gesangliche Highlight dieser Aufführung. Ich erinnere mich, wie ich vor lauter E.-M.-Forster-Begeisterung 1987 nach London zog, erstmals weg von Berlin und von zuhause (nach Italien kam ich erst später als Student). In London ergatterte ich einen Job als Platzanweiser in Covent Garden. Gleich in meiner ersten Woche stand eine Abschiedsgala für den scheidenden Intendanten Sir John Tooley an. Und Te Kanawa sollte kommen, um mit Solti das Rosenkavalier-Trio zu singen. Schließlich fiel die vorliegende Rosenkavalier-Inszenierung in Tooleys Amtszeit.

Ich schlich mich also am Probentag auf einen Platz ganz hinten im Theater und wartete auf Dame Kiri. Genau wie das Orchester. Als sie mit zirka 20 Minuten Verspätung im weißen Tennisoutfit und mit vielen zusammengeklebten A4-Seiten unterm Arm auf die Bühne schlenderte, sagte Solti mit seiner unverwechselbaren Stimme aus dem Orchestergraben: „Kiri, you naughty, naughty girl!“ Sie lächelte und entschuldigte sich. Faltete die geklebten Seiten auseinander. Und fing an zu singen. Ich weiß leider nicht mehr, wer die anderen Solisten waren, weil alles von Te Kanawa überstrahlt wird in meiner Erinnerung. Denn was dann bei der Probe an Tönen bis in den obersten Rang von Covent Garden herüberwehte, gehört für mich zum Eindringlichsten, was ich je live gehört habe. Es war meine erste direkte Begegnung mit der Stimme, die ich so sehr verehrte. Und ich weiß noch, dass ich so gerührt davon war, dass ich weinen musste. Besonders als dann beide Soprane aufs hohe H zusteuerten und dieser Ton durchs Auditorium flog – bis zu mir, unterm Dach im Dunkeln. Man könnte sagen es war ein „Operntuntentraum“, und ich muss heute selbst lachen wenn ich das sage.

An diesen Live-Effekt kommt die DVD nicht heran. Denn Kiris Stimme hatte in der Höhe eine schwebende körperlose Qualität, die Tonträger nur ansatzweise einfangen können. Aber wie die Kameras von Brian Large die drei Damen einfangen und übereinander montieren, um das Gegeneinander der Gefühle zu verdeutlichen, das ist schon großartig. Und wenn Kiri am Schluss wieder ihren Betroffenheitsblick mit den gespannten Lippen aufsetzt, dann verfehlt das seine Wirkung nicht. Offensichtlich weiß sie immer, wo die Kamera ist. Und sie kommuniziert durch die Kamera direkt mit ihren Fans, ohne dabei die Rolle der Marschallin zu verlassen. Das hier ist keine Marie-Theres, die lange allein sein wird. Dafür ist sie viel zu souverän und sich ihrer Anziehungskraft bewusst. Was eine interessante Interpretation der Rolle ist.

Aage Haugland ist ein guter Baron von Ochs, rund und plump, wie aus dem Bilderbuch. Auch die übrigen Rollen sich mit Sorgfalt besetzt: Dennis O’Neill als italienischer Sänger, Jonathan Summers als Faninal, Phyllis Cannan als Marianne etc. Aber: Schlussendlich bleibt es die Te-Kanawa-Show, getragen von Georg Solti am Pult. Dass er seine Diva liebt, spürt man in jedem Moment, denn er gibt ihr immer wieder Zeit zum Atmen. Und wenn die Herzstillstandmomente kommen, erlaubt er sogar ein Ritardando, was bei Solti nicht unbedingt selbstverständlich ist. Das gilt übrigens auch für Bonney, die vom Dirigenten ebenfalls wie auf Händen getragen wird. Von den diversen Gerüchten rund um Beziehungen zwischen Dirigent und Sopranen hörte ich während meiner Platzanweiserzeit von einem Geiger im Orchester. Auch ihn hier im Film kurz zu sehen … ist eine Erinnerung an meine „wilden“ Tage in London und Covent Garden, die mein Verständnis von Oper nachhaltig geformt haben.

Schwärmt für Kiri Te Kanawa: Autor und Operettenchampion Kevin Clarke/Foto ORCA

Das alles nun nach 35 Jahren nochmals komplett zu sehen, statt nur Ausschnitte auf YouTube, ist wunderbar. Ob die Magie sich auch auf andere überträgt, die keine hoffnungslosen Kiri-Fans  sind, kann ich nicht beurteilen. Als Rosenkavalier-Film ist die Schwarzkopf-Fassung viel überzeugender, gar keine Frage. Verglichen mit etlichen Regieexperimenten der letzten Jahre finde ich die Schlesinger/Björnson-Fassung wie eine Flaschenpost aus einer anderen Zeit, als man Oper – zumindest in England – noch im historischen Kontext der Originalhandlung beließ und klar eine Geschichte erzählte, die mit dem Libretto deckungsgleich ist.

Man kann die Opus-Arte-Neuausgabe auf DVD also als historisches Dokument sehen. Auf der EMI-Einspielung von 1991 mit der Staatskapelle Dresden, unter Bernhard Haitink, klingt Te Kanawa noch souveräner als hier, allerdings finde ich Soltis raschere Tempi und Energie überzeugender. Das Covent-Garden-Orchester spielt unter Soltis Drill hervorragend. Und die Kostüme von Björnson für Dame Kiri – inklusive weißer Perücke im letzten Akt – bleiben singulär schön (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)Kevin Clarke

 

Der Artikel von Freund Kevin Clarke hat uns bei operalounge.de zutiefst gerührt, erinnert seine nostalgische Schwärmerei uns doch alle an eben diese unvergesslichen Momente im Leben jedes einzelnen, in denen die Zeit stillstand und die uns alle so nachhaltig geprägt und beeinflusst haben. Ein jeder hat diesen Schatz an Eindrücken und erinnert sich an eben diesen einen, ganz wichtigen, unvergleichlichen Moment wie durch eine Lupe schauend in das eigene Erleben. Wir haben deshalb beschlossen, mit Kevins Artikel eine neue Reihe zu begonnen: „Glück, das mir verblieb …“ und werden solche bleibenden Eindrücke sammeln und vorstellen. Danke Kevin.

Aufregend

 

Sie war in vielen Produktionen der erotischste, liebenswerteste Cherubino in Mozarts Le Nozze di Figaro, jetzt hat sich die französische Sängerin  mit auch spanischen Wurzeln Marianne Crebassa mit der Seguedilles genannten Erato-CD einer der weiblichsten Heldinnen der Oper, nämlich Bizets Carmen angenommen, deren drei Arien sie zu Beginn, in der Mitte und ganz am Schluss ihrer Aufnahme zum Besten gibt. Dazwischen allerdings wird man mit weit weniger Bekanntem konfrontiert, Opernarien und Chansons in französischer oder spanischer Sprache, erstere vom Orchestre National du Capitole de Toulouse unter Ben Glasberg, letztere von Alphonse  Cemin auf dem Klavier begleitet.

Crebassas Carmen ist keine schwerblütige, dunkle Erotik versprühende, sondern eine sehr moderne mit straffer und manchmal ganz leicht scharfer Stimme dem Hörer mitteilend, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen ist. In der Habanera versieht sie „L’amour“ mit vielen unterschiedlichen Schattierungen, zieht das Schlank- dem Üppigsein vor, ist voller vokaler Raffinessen wie einer Piano-Fermate, einem Schluss mit bemerkenswertem Crescendo, üppig nicht durch Klangvolumen, sondern durch die schöne dunkle Farbe. Auch die Séguedille ist von verführerischer, maliziöser Leichtigkeit, rhythmisch ausgefeilt und sich bedeutsam gebend erst mit „qui m’aime“. Das Chanson bohéme schließlich besticht durch die Atemlosigkeit, besser Hurtigkeit, die schon beinahe schwindelerregend ist. Es gibt natürlich auch einen Don José, Stanislas de Barbeyrac, der auch in anderen Tracks und dort ausführlicher werdend auftaucht und eine sehr angenehme Tenorstimme hören lässt.

Als Salud aus De Fallas La vida breve scheut die Sängerin auch ein schönes Pathos nicht, erfreut den Hörer durch eine schwelgerische Trauer in der Stimme, die schlank und farbig in die Tiefe hinabsteigt. Massenets Dulcinée ist von eleganter Leichtigkeit mit schönem Triller prunkend, lässt den dunklen Hintergrund des Geschehens erahnen, während Offenbachs Périchole in ihrer Séguedille Leichtigkeit und Spritzigkeit versprüht.

Vier aus den sechs Canciones Castellanas von Jesús Guridi verzücken den Hörer durch feine Tongespinste, durch ein zartes Leuchten der Stimme, durch duftig Hingetupftes. In Massenets Nuit d’Espagne wetteifern Stimme und Gitarre (Thibaut Garcia) im zunehmend Fordernden miteinander. Camille Saint-Saens ist mit El Desdichado vertreten, in dem Mezzosopran und der Sopran von Adriana Gonzáles reizvoll miteinander wetteifern. Es folgen fünf Chansons von Federico Mompou, in denen die Stimme, wo es angebracht erscheint, sehr schön instrumental geführt wird, bitter-süß klingt und alles von einer sehr interessanten Begleitung profitiert. Fast in Sopranhöhen und das ohne Mühe schwingt sich der Mezzosopran in De Fallas Séguedille, ehe mit Ravels L’Heure espagnole der vorläufige und mit Bizets Carmen der endgültige Schlusspunkt für eine wegen ihrer eindringlichen Schönheit, ausgefeilten Technik und bestechenden Stilgefühls überaus hörenswerte Stimme und deren CD erreicht ist. Übrigens gibt Marianne Crebassa ihr Rollendebüt als Bellinis Romeo 2022 an der Mailänder Scala.( Erato 019296676895Ingrid Wanja