Hänsel, Gretel und Klein-Tristan

 

Das Engelbert-Humperdinck-Jahr ist verstrichen. Auf dem Musikmarkt gab es nur wenige Bemühungen, dem Komponisten, der am 27. September 1921 starb, neue Facetten abzugewinnen. Auch hundert Jahre nach seinem Tod – er wurde auf dem Südwestfriedhof in Stahnsdorf bei Berlin begraben – bleibt er vor allem der Schöpfer von Hänsel und Gretel. Er wird seinen größten Erfolg nicht los und letztlich immer wieder darauf reduziert. Trotz aller ehrenwerten Versuche auf Bühnen oder in Aufnahmestudios, auch die Königskinder, Dornröschen oder die Heirat wider Willen zu neuem Leben zu erwecken. Von den übrigen Werken ganz zu schweigen. Humperdinck hat Lieder, Balladen, Schauspielmusiken, diverse Orchesterstücke und Kammermusik hinterlassen und genoss zu Lebzeiten höchstes Ansehen. Wen wundert‘s, dass das Gedenkjahr mit Hänsel und Gretel ausklingt. Nicht mit einer – neue Maßstäbe setzenden – Gesamtaufnahme sondern mit einem Querschnitt durch die Oper.

Solche Opernquerschnitte sind völlig aus der Mode gekommen. In den fünfziger und sechziger Jahren – als Schallplatten noch Luxus waren – wurden sie zuhauf produziert oder aus kompletten Einspielungen extrahiert. Generationen lernten die Standartwerke durch solche Zusammenstellungen kennen. Damit wurde aber auch die Erwartung genährt, Opern bestünden nur aus Höhepunkten. Die Neuerscheinung bei Coviello Classics (COV 92106) bieten mit gut einer Stunde und neun Minuten Spieldauer einen großen Teil des Werkes ab. Eines der schönsten Orchesterstücke Humperdincks, die so genannte Traumpantomime, dem Schlaf der Kinder im Wald unterlegt, fehlt. Mit ihr hätte sich das Staatsorchester Braunschweig unter der Leitung von Generalmusikdirektor Srba Dinic noch wirkungsvoller in Szene setzen können. Ein Sprecher (Tobias Beyer) ist bemüht, die Versatzstücke zu einer verständlichen Handlung zusammenzufügen. Den Hänsel singt Isabel Stüber Malagamba, das Gretel Jelena Bankovic. Maximilian Krummen ist der Vater, Zhenyi Hou die Mutter. Als Knusperhexe ist Fabian Christen besetzt, als Sandmännchen Jinkyung Park zu hören. Bis auf die Hexe, die man offenkundig auch hätte in Aktion sehen müssen, sind die Leistungen sehr solide. Das Booklet gibt sich auskunftsfreudig zu den Biographien der Mitwirkendende, zur Geschichte des Orchesters – und des Werkes. Leser erfahren auch, dass die CD in den ersten Dezembertagen 2020 im Staatstheater Braunschweig aufgenommen wurde – offenbar nicht als Mitschnitt, sondern unter Studiobedingungen. Ein Szenenfoto bleibt unbeschriftet. Wer und was ist zu sehen? In heutigen Aufführungen erklärt sich das auf der Szene nicht zwingend. Erst auf der Seite des Theaters im Netz ist zu erfahren, dass die CD als eine Art Ersatz für den pandemiebedingten Ausfall von Vorstellungen der beliebten Oper in der Inszenierung von Brigitte Fassbaender, die vor zehn Jahren Premiere hatte, gedacht ist. Sie soll an treue Abonnenten verschickt werden und an der Theaterkasse verkauft werden. Gleichzeitig ist sie aber auch ganz offiziell bei den großen Onlinehändlern im Angebot. Also doch nichts mit aktuellem Humperdinck-Gedenken.

 

Das wurde unter dem Titel Erinnerung – Homage to Humperdinck in einem Doppelalbum der Deutschen Grammophon versucht (483 9762). Die Firma griff ins Archiv. Was sich fand, wurde auf zwei CDs versammelt. Auf dem Cover wird auch mit Jonas Kaufmann geworben. Der zieht immer und ist als Königssohn in Szenen aus den Königskindern zu hören, einem Mitschnitt von 2005 aus Montpellier unter Armin Jordan, der komplett bei Accoord erschien. Eberhard Wächter ist gesondert mit dem ergreifenden Lied des Spielmanns „Verdorben! Gestorben!“ zu hören. Ebenfalls einer Gesamtaufnahme sind fünf Nummern – einschließlich Pantomime – aus Hänsel und Gretel mit Brigitte Fassbaender und Lucia Popp mit den von Georg Solti geleiteten Wiener Philharmonikern entnommen. Sogar Fritz Lehmann, der 1954 eine der ersten kompletten Produktionen der Oper betreute, ist mit dem gesondert eingespielten Knusperwalzer von 1955 zu hören. Es spielen die Bamberger Symphoniker, die auch bei einer Rarität, den wenigsten teilweise berücksichtigten Shakespeare-Suiten, zu hören sind. Es dirigiert Karl Anton Rickenbacher. Beide Stücke sind wunderbar instrumentiert, bleiben stilistisch aber in der Nähe der Opern. Das Streichquartett in C-Dur, das Klavierquintett in G-Dur und das von Humperdinck mit Feinsinn und großem Respekt vor seinem vergötterten Meister arrangierte Tristan-Vorspiel Wagners für zwei Violinen, Viola, zwei Cellos, Bass und Klavier mit dem Schumann-Quartett. Ein kleiner Tristan also!  Zusätzlich sind Hinrich Alpers (Klavier), Yuko Noda (Cello), und Nabil Shehate (Bass) mit dabei. Für die Lieder des Komponisten bringt die Sopranistin Christine Landshamer mit ihrer lyrischen Stimme beste stimmliche Voraussetzungen mit. Die Auswahl – darunter der Zyklus Junge Lieder, das stimmungsvolle Weihnachten sowie Christkindleins Wiegenlied – ist mit insgesamt achtzehn Titel üppig. Und wenn es um Lieder geht, darf auch Dietrich Fischer-Dieskau nicht fehlen, der An das Christkind zum Besten gibt.

 

Auf die Suche nach dem unbekannten Engelbert Humperdinck hat sich auch Hänssler Classics mit Kammermusik und Liedern unter dem Titel der CD More than a myth begeben (HC21022). Es handelt sich ausschließlich um neue Produktionen aus dem Jahr  2020. Die Genres wechseln einander ab. Auf Instrumentales folgen Lieder mit dem Bariton Nikolay Borchev: In einem kühlen Grunde, Die Wasserrose, Ballade, Das Lied vom Glück, Wiegenlied, Die wunderschöne Zeit, An die Nachtigall, Altdeutsches Minnelied. Meist wird er sehr wirkungsvoll von Mitgliedern des Kammerensembles begleitet, zu dem sich die Solisten Thomas Probst (Violine), Eleonora Pertz (Klavier), Ursula Fingerle-Pfeffer (Violine), Susanne Unger (Violine), Daniel Schwartz (Viola), Clara Berger (Violoncello) Jörg Ulrich Krah (Violoncello) und Karsten Lauck (Kontrabass) zusammengefunden haben. Es hat für diese CD neben dem Menuett für Klavierquintett, dem Quartettsatz e-moll, und dem Albumblatt für Violine und Klavier („Meiner lieben Tochter Editha zum Konfirmationstage gewidmet“) ebenfalls das Tristan-Vorspiel eingespielt (Foto oben: Wikipedia). Rüdiger Winter